Mit scharfer Klinge - Orlando Murrin - E-Book

Mit scharfer Klinge E-Book

Orlando Murrin

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Auftakt der kulinarischen Cosy-Krimi-Reihe von Orlando Murrin um den charmanten Koch Paul Delamare – scharfsinnig, pointiert und äußerst unterhaltsam!  In dieser Londoner Kochschule geht es nicht nur dem Gemüse an den Kragen … Als Koch Paul Delamare einwilligt, an einer exklusiven Kochschule in Belgravia aushilfsweise einen Kurs zu unterrichten, fürchtet er vor allem einen Angriff auf seine Geschmacksnerven. Stattdessen gerät er in Teufels Küche, als sein Kompagnon, der gefeierte Starkoch Christian, während des Kurses ermordet wird. Schnell steht es für Paul auf Messers Schneide: Hat etwa er seinen alten Rivalen aus dem Weg geräumt? Doch an Motiven, mörderischen Absichten und Geheimnissen mangelt es keinem der Anwesenden. Grund genug für Paul, seinen Kursteilnehmern fortan nicht nur beim Messerwetzen genauestens über die Schulter zu schauen. »Köstliche Unterhaltung! Spannend und appetitanregend, mit einem charmanten Helden, den man am liebsten zum besten Freund hätte.« Tess Gerritsen Bei diesem Whodunit-Krimi aus England kocht die Spannung auf hoher Flamme. Ein kulinarischer Kriminalroman mit britischem Humor und Genussfaktor, serviert als erzählerisches Mehr-Gänge-Menü mit Mordbegleitung. Ideal zum Miträtseln und Genießen! Und mit Rezepten zum Nachkochen. »Der reinste Lesegenuss! Vollgepackt mit fabelhaften kulinarischen Tipps und Rezepten, die man sofort nachkochen möchte, gewürzt mit einer ordentlichen Portion Mord und Totschlag.« S. J. Bennett

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 445

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Orlando Murrin

Mit scharfer Klinge

Ein kulinarischer Kriminalroman

Aus dem Englischen von Kristina Koblischke

Knaur eBooks

Über dieses Buch

In dieser Londoner Kochschule geht es nicht nur dem Gemüse an den Kragen …

 

Als Koch Paul Delamare einwilligt, an einer exklusiven Kochschule einen Kurs zu unterrichten, fürchtet er vor allem einen Angriff auf seine Geschmacksnerven. Stattdessen gerät er in Teufels Küche, als sein Kompagnon, der gefeierte Starkoch Christian, während des Kurses ermordet wird – mit einem Küchenbeil!

Schnell steht es für Paul auf Messers Schneide: Hat etwa er seinen alten Rivalen aus dem Weg geräumt? Doch an Motiven, zweifelhaften Absichten und Geheimnissen mangelt es keinem der Anwesenden. Grund genug für Paul, seinen Kursteilnehmern nicht nur beim Messerwetzen genauestens über die Schulter zu schauen.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Amuse-Gueule

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Hors d’œuvre

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Entrée

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Garniture

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Dessert

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Epilog

Anmerkungen des Autors

Danksagung

Amuse-Gueule

Sonntag, 29.06.2003

Der Chef hat mir das Versprechen abgenommen, ein Rezept-Tagebuch zu führen. Unerlässlich für jemanden, der eines Tages sein eigenes Restaurant aufmachen oder ein Kochbuch schreiben will. Von wegen.

Er hat mich als »amuse« einen Käsecracker entwickeln lassen, also bitte sehr. Wir haben diesen neuen Typen in der Küche – er heißt Paul und ist ein eingebildeter Schnösel –, der die Idee hatte, den Teig zu einer Rolle zu formen und in einer Saatenmischung zu wälzen. Dann schneidet man sie vor dem Backen in Scheiben, und die Cracker haben einen hübschen Rand. Es war ziemlich viel Arbeit, aber irgendwann habe ich es hingekriegt. Ziemlich brillant, würde ich sagen.

Also hier ist es: Christians Kochbuch, Rezept Nr. 1.

Parmesan-Happen

170 g Weizenmehl, jeweils 150 g geriebenen Parmesan und gut gekühlte, gewürfelte Butter, einen Teelöffel schwarzen Pfeffer (frisch gemahlen, wie immer), 1/2 Teelöffel Meersalzflocken und eine Prise Cayenne zu einem Teig verarbeiten.

Zu zwei gleichmäßigen Rollen mit etwa 2,5 cm Durchmesser formen und kühlen, bis der Teig fest ist. Mit verquirltem Ei einstreichen und in einer Saatenmischung aus Sesam, Schwarzkümmel und Mohn wälzen (ungefähr je zwei Esslöffel) und erneut kühl stellen. In dünne Scheiben schneiden und bei 160 °C Umluft 16–18 Minuten backen, bis sie ein dunkles Goldbraun angenommen haben.

Ergibt 50–60 Stück. Halten sich gut in einer Vorratsdose und passen hervorragend zu Sherry. Der Clou ist, dem Teig kein Wasser zuzusetzen. Ein Backblech ist zu lange im Ofen geblieben – so schmecken sie noch besser. Glücklicher Zufall.

Prolog

Sonntag

Ich schaue zum zehnten Mal auf die Uhr, als er hereingeschneit kommt.

»Du siehst fürchterlich aus«, sage ich. »Was in aller Welt ist passiert?«

»Sieht schlimmer aus, als es ist«, erwidert er so fröhlich wie immer. »Hatte eine Auseinandersetzung mit einer Rolltreppe.«

Wir sind in einem dieser gehypten Bar-Restaurants am Sloane Square. Es gibt zu viele Spiegel hier, zu viele Leute, die ihre Frisur darin überprüfen, und noch dazu verkaufen sie den Taittinger glasweise. Christians rechter Arm steckt in einem Gips, sodass nur die Finger herausschauen, am linken trägt er einen Verband ums Handgelenk. Nicht gerade ideal für einen Chefkoch.

Er bestellt einen Vodka Negroni mit der Bitte, ihn in einem Highball-Glas serviert zu bekommen, damit er ihn besser halten kann, und beäugt zwei junge Damen in der Nähe, was trotz der Blutergüsse in seinem Gesicht den gewohnten Effekt hat. Warme Augen, gewinnendes Lächeln – er musste sich noch nie besonders viel Mühe geben.

Es ist Sonntag, also bestelle ich eine Bloody Mary.

»Wir haben uns zu lange nicht gesehen«, sagt er und hält mir sein Glas zum Anstoßen hin. »Tut mir leid wegen Marcus – wie geht’s dir?«

»Sorry, dass ich dich nie zurückgerufen habe. Es ist eine schwierige Zeit. Aber ich komme langsam wieder auf die Beine.«

»Wie lange ist es jetzt her?«

»Fast zehn Monate.« Dreihundertein Tage, um genau zu sein.

»Oh«, sagt er, und dann, in einem Versuch, die Stimmung zu heben: »Aber in eurer Luxusvilla wohnst du noch?« Das kommt ziemlich taktlos rüber, was ihm im selben Moment auch klar wird. »Das kleine Juwel von einem Haus, das ihr hier in der Nähe zusammen hattet?«, fügt er schnell hinzu.

»Jubilee Cottage«, erwidere ich. »Es gibt ein paar Probleme, aber noch halte ich daran fest.« Vielleicht liegt es an all den Monaten des Trübsalblasens, aber ich scheine die Kunst des Small Talks verlernt zu haben.

»Ich habe neulich an diesen Job gedacht, den wir vor ein paar Jahren in Cannes hatten«, fährt er fort. »Das waren wilde Zeiten! Weißt du noch, wie die Langustine auf der Meeresfrüchteplatte zum Leben erwacht ist und Kate Beckinsale gebissen hat? Ich werde nie wieder auf einer Yacht kochen.«

Ich lächle und rühre mit dem übergroßen Selleriestängel in meinem Drink. Ein Teller voll gegrillter Pimientos de Padrón wird aufgetragen, und ich bestreue sie mit Meersalzflocken. Spanien ist ein Land der strahlenden Farben – da kann man mutig würzen.

»Na ja … Jedenfalls habe ich gedacht, du könntest einem alten Freund aushelfen, gewissermaßen als mein Retter in der Not. Sagt dir die Chester Square Cookery School irgendwas?«

Auf dem Weg nach Victoria bin ich wahrscheinlich schon tausendmal an dem Laden vorbeigelaufen – typische Belgravia-Villa mit dekorativem weißem Stuck, wie die Glasur auf einer Hochzeitstorte. Deutlich herrschaftlicher als die Durchschnitts-Kochschule, aber dass Christian dort arbeitet, ist mir neu.

»Ich bin seit meiner Geschäftsauflösung da – die Besitzerin ist eine alte Freundin von mir. Hatte wohl Mitleid. Zum Job gehört eine hübsche kleine Wohnung im hinteren Teil des Hauses, und es macht mir nichts aus, mit den Damen ein wenig zu flirten, während ich koche. Was mich zu meinem Anliegen bringt.«

Offenbar hat Christian ein Problem. Die Schule veranstaltet Kochkurse mit Unterbringung für Amateurköche und -köchinnen, die den Wunsch haben, ihr kulinarisches Talent »auf die nächste Stufe« zu heben. Der September-Kurs beginnt morgen, aber er kann ja schlecht einhändig unterrichten.

»Ich dachte, wenn ich das Meet-and-Greet übernehme, wen könnte es da Besseres geben als meinen alten Freund Paul, um mich im Kurs zu vertreten? Ich wollte eigentlich einen Unterrichtsplan mitbringen, aber es sind ohnehin nur die Basics – Umgang mit dem Messer, braten, Schokolade. Hauptsächlich Ladys, die gerne mittags essen gehen und sich eine Pause von ihren Ehemännern gönnen. Alles Zeug, das ein Experte wie du sogar mit einem auf den Rücken gebundenen Arm unterrichten könnte.« Er wackelt mit den Fingern und lacht.

Armer alter Christian. Seit den glorreichen Tagen seiner Kochshow »Pass the Gravy!« und zwei Michelin-Sternen ist er wahrhaft tief gefallen. Sein letzter Fehlschlag war eine Brasserie-Kette, die, wie ich gehört habe, eine Menge Leute eine Menge Geld gekostet hatte.

Ich wäge sein Angebot ab. Chester Square ist keine zehn Minuten zu Fuß von meinem Haus entfernt, über den Arbeitsweg kann ich mich also nur schlecht beschweren. Andererseits – bin ich bereit, mich vor eine Klasse voller unbekannter Gesichter zu stellen? Mit Fremden zu arbeiten? Ich bin aus der Übung. Vielleicht bleibe ich lieber daheim.

»Peinliche Frage«, sage ich. »Was wird gezahlt?«

Er setzt sich sichtbar erleichtert ein wenig aufrechter hin. »Da werden wir uns schon einig, keine Sorge. Aber toll, dass du es machst – mir fällt echt ein Stein vom Herzen.«

»Das ist noch keine feste Zusage. Ich muss erst in meinen Kalender gucken«, protestiere ich. Worauf lasse ich mich da gerade ein? »Hör zu, ich rufe dich an.«

Er ignoriert das einfach. »Wir sehen uns morgen. Ich stelle dich dem Team vor und zeige dir alles, bevor die Leute kommen.« Er legt seine linke Hand sanft auf meinen Arm. Der Verband sieht ziemlich schmuddelig aus. »Das mit Marcus tut mir leid, ehrlich.«

Dann steht er auf, schenkt den Mädchen noch einen weiteren seiner stahlgrauen Blicke und lässt sie dann mit schwungvollen Schritten an der Bar sitzen – genau wie mich mit der Rechnung.

🔪

Ich hasse es, über Geld zu reden, aber seit Marcus’ Tod musste ich feststellen, wie absolut ahnungslos ich bin. Er wusste, wie man Finanzen verwaltet und mit schwierigen Situationen umgeht, während ich immer nur überfordert bin und um mich selbst kreise. Ich kann nicht fassen, wie viel es kostet, ein Haus zu unterhalten – sogar ein so winziges wie das meine. Dem Himmel sei Dank für meine Arbeit als Freelancer für Escape, damit ist zumindest der Grundstock abgedeckt. Ich liefere acht Seiten jeden Monat – Rezepte und Food-Styling. Und dem Himmel sei Dank für Julie, die dort zufälligerweise die Stelle als Food-Editor innehat und mich damit beauftragt.

Zurück im Jubilee Cottage rufe ich sie an, um ihr von Christian zu erzählen. Am frühen Sonntagabend geht sie vielleicht sogar ran. Mein Partygirl feiert mit ein paar lauten Medien-Leuten in einer Bar in Covent Garden – angeblich eine Atmosphäre wie auf dem Montmartre. »Ich rufe dich über FaceTime zurück«, schreit sie. Sie findet moderne Technologie wunderbar, völlig egal, was ich davon halte.

Ein paar Sekunden später vibriert mein Handy, und ihr strahlendes Gesicht erscheint. Heute hat sie sich für den Latina-Look entschieden, mit hochgesteckten Haaren und dramatischem Eyeliner. »Das ist besser«, sagt sie vor dem im Hintergrund an- und abschwellenden Blöken eines Akkordeons. »Es ist der Wahnsinn hier – du solltest kommen und mit uns feiern!«

Die Zeiten meiner Sauftouren mit Julie sind vorbei, aber es ist nett von ihr, mich einzuladen.

»Lustigerweise war ich selbst gerade was trinken«, antworte ich mit einem Anflug von Stolz. Seit Wochen versucht sie, mich dazu zu bringen, den Hintern hochzubekommen und auszugehen. »Aber du errätst nie, mit wem.«

»Lady Gaga? Elton John? Dolly Parton?«

»Viel besser – Christian!«

Sie staunt. Seit dem Start seiner Brasserie-Kette hat sie ihn nicht mehr gesehen. »Wow! Ich dachte, der wäre nach dem Absturz von der Bildfläche verschwunden. Sieht er immer noch so gut aus?«

»Ein paar Abnutzungserscheinungen«, sage ich kritisch.

»Weißt du noch, als er sich mit dieser Oligarchentochter eingelassen hat und wir überzeugt waren, dass man ihn nach Sibirien verschleppt hat?«

Oder die anderen Male, als er in Tokyo von einem Fan-Mob überwältigt wurde oder im Weißen Haus gekocht hat: An Material für eine zukünftige Biografie mangelt es nicht.

Ich erzähle ihr von Christians Unfall und von seinem Wunsch, dass ich den Retter spiele und für ihn einspringe.

Wie erwartet fährt Julie die Beschützerin auf. »Bezahlen sie anständig?« Ich gestehe, dass das noch nicht abschließend geklärt ist. »Nagel sie fest, Paul, und bestehe auf die Hälfte vorab. Ansonsten ist es – wenn du meine Meinung hören willst – eine hervorragende Idee.«

»Aber eigentlich habe ich mir selbst versprochen, nach der letzten Woche ein paar Tage freizunehmen«, entgegne ich lahm.

»Aber du bist ein fantastischer Lehrer. Es wird dir Spaß machen. So kommst du unter Leute, und vom Honorar kannst du dir einen Urlaub gönnen. Einen richtigen Urlaub, so wie du ihn verdienst.«

Es stimmt: Ich könnte eine Woche Strand vertragen. Für Zeitschriftenmenschen bedeutet Anfang September Weihnachten, und wir haben gerade einen nervenaufreibenden Zwei-Tages-Fotoshoot für die Escape-Festausgabe hinter uns. Das Thema war Der Nussknacker. Zusätzlich zum unvermeidlichen vollgestopften Truthahn nebst Beilagen hatte die Redaktion auf einen dreieinhalb Meter großen Tannenbaum (ganz in Blau und Silber geschmückt), drei kleine Kinder (dito) und eine Französische Bulldogge (blau-weißes Bandana) bestanden. Überall, wo man hinsah, standen bärtige Spielzeugsoldaten, zudem loderte – ich fühle, wie mir bei der Erinnerung der Schweiß ausbricht – ein knisterndes Kaminfeuer. Und das am heißesten Tag des Jahres.

»Ich hoffe, sie ist mit den Bildern einverstanden«, sage ich. »Sie« ist unsere Redakteurin, Dena, eine Tyrannin, die Karrieren so beiläufig beendet, wie sie die Dunhills ausdrückt, die sie immer noch im Büro raucht, weil niemand wagt, etwas dagegen zu sagen.

»Ich schreibe dir gleich morgen früh, sobald sie sie gesehen hat. Und bitte sag Christian zu.«

Während wir uns unterhalten, erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild. Es ist schwer, sich selbst objektiv im Spiegel zu betrachten, aber die letzten paar Jahre sind nicht gerade freundlich zu mir gewesen: Marcus’ schreckliche Krankheit, gefolgt vom Unvermeidlichen. Für zweiundvierzig bin ich wohl noch recht gut in Form – nicht, dass ich bis auf das Rumgerenne bei der Arbeit irgendwelchen Sport machen würde. Aber in meinen Augen liegt eine Traurigkeit, eine Art Skepsis, die da vorher nicht war. Auch mein Haar wird langsam grauer. Was bei Marcus vornehm aussah, lässt mich nur verblasst wirken. Von Trauer gezeichnet ist wohl der ehrliche Ausdruck. Ich versuche zu lächeln, und es ist eine deutliche Verbesserung.

Vielleicht hat Julie recht, und diese Chester-Square-Geschichte wird mir dabei helfen, aus mir herauszugehen und aufzuhören, in einem leeren Haus herumzugeistern und Marcus zu vermissen. Vielleicht erhasche ich ja einen Blick auf den Christian, den ich früher einmal gekannt und geliebt habe, bevor die Ex-Freundinnen und das Finanzamt ihn mürbe gekocht haben wie einen Sonntagsbraten.

»Okay, ich denke darüber nach«, sage ich. »Wir hören uns morgen.«

Kapitel 1

Montag

Die Eingangstür zur Hausnummer einundvierzig liegt überhaupt nicht am Chester Square, sondern auf der Seite des Gebäudes in der Eccleston Street. Dieses spezielle Haus hat mich schon immer fasziniert, weil irgendwann am hinteren Teil ein viereckiger Anbau mit einer Fensterreihe, die sich im oberen Bereich um den gesamten Anbau zieht, errichtet wurde – eine Galerie vielleicht oder eine Bibliothek?

Nach Belgravia-Standard sieht das Haus heruntergekommen aus. Die Grosvenor Estate, der alles hier gehört, hat drakonische Regeln, was die Fassadenpflege angeht, also reden wir nicht von abblätternder Farbe oder gesprungenen Fensterscheiben, aber das Gebäude wirkt ungeliebt. Die Aschenblumen in den Fensterläden sehen aus, als könnten sie neue Erde und etwas Wasser vertragen, und die Treppe müsste einmal gekehrt werden.

Neben der Tür – in regelkonformem schwarzem Lack, leicht abgenutzt – befindet sich ein Touchpad mit Zahlen und ein runder Knopf mit der Aufschrift BESUCHER. Den drücke ich, und es erklingt ein schriller Glockenton, gefolgt vom Geräusch der sich öffnenden elektrischen Schlösser. Die Tür öffnet sich ein Stück weit. Eine blasse, schlanke junge Frau in einer hochgeschlossenen weißen Kochjacke erscheint und mustert mich. Sie sieht aus, als hätte sie sich ungeheure Mühe gegeben, nicht aufzufallen. Keinerlei Make-up oder Schmuck, dazu eine glanzlose Frisur.

»Ich bin Suzie«, sagt sie. »Suzie Wheeler.«

Nicht gerade die begeisterte Begrüßung, auf die ich gehofft hatte … Vielen Dank, dass Sie so kurzfristig einspringen, Paul! Oder: Sie müssen Paul Delamare sein – unser Retter in der Not!

»Ich zeige Ihnen den Weg. Christian ist noch nicht da.«

Sie ist eine rhotische Sprecherin – rollt ihre Rs wie im Westen des Landes. Meine Mutter sprach auch so. Als die Tür hinter uns ins Schloss fällt, fällt mir auf, dass sie an den Nägeln kaut.

»Gibt es einen Code, sodass ich selbst rein- und rausgehen kann?«, frage ich.

»1904«, erwidert sie.

Zu meiner Zeit habe ich die Fragen zu mehr als einem Küchenquiz entwickelt, also gebe ich spontan zurück: »Die Erfindung des Teebeutels.«

»Und der Geburtstag vom Boss.« Sie lächelt vorsichtig. »Nicht das Jahr natürlich, der neunzehnte April.«

Das Erste, was mir beim Eintreten auffällt, ist der Geruch. Ich habe einen äußerst ausgeprägten Geruchssinn – den entwickeln alle Küchenchefs. Hier herrscht der unverkennbare »Anstalts«-Dunst aus Abendessen und Desinfektionsmittel. Sonst keine Überraschungen: ein dicker, ziemlich ausgetretener Teppich in angegrautem Gold, Beistelltische mit Zeitschriften, langweilige Vasen mit Chrysanthemen und düstere viktorianische Gemälde an Bilderschienen.

Ich folge Suzie eine breite Treppe hinauf – »Die Prunktreppe«, sagt sie naserümpfend – und einen Flur entlang. Während es unten aussieht wie in einem Wartezimmer, herrscht in diesem Stock eher Auktionshaus-Atmosphäre. Alles ist voller Schaukästen aus Holz und Glas. Ich werde mich später noch einmal genauer umsehen, aber offenbar haben wir jemanden mit Sammelleidenschaft für antike Küchenutensilien unter uns.

Wir gehen im Slalom darum herum zu einer Tür, die von einem handgemalten Schild geziert wird: Shelley Room. Suzie klopft kurz und ruft: »Ihr Besuch, Mrs Hoyt!« Dann verschwindet sie.

Ich betrete die eichengetäfelte Höhle der Eigentümerin und Direktorin der Kochschule in Personalunion. Sie steht an den bodentiefen Fenstern, von mir abgewandt mit Blick nach draußen. Ihre Silhouette – an den Säumen eingefasster Tweed-Hosenanzug und aschblondes Haar, das von einem breiten Band zurückgehalten wird – wirkt schmal vor dem grünen Hintergrund der Platanen, die sich um den kleinen Privatpark im Zentrum des Platzes reihen.

In der Mitte des Raumes steht ein riesiger, antiker Schreibtisch im Bankdirektoren-Stil mit grüner Lederauflage, gerahmten Fotos und einem Laptop darauf. Ein paar ordentliche Papierstapel werden von antiken Messingbeschwerern in Schach gehalten. Es sind diese glockenförmigen mit Griff am oberen Ende. An den Wänden reihen sich weitere Schaukästen und eine verzierte, schmiedeeiserne Schatulle mit einem in Gold gefassten Wappen aneinander. An der Vertäfelung hängen: Drucke von Kräutern, Obst und Gewürzen; gerahmte Werbeanzeigen viktorianischer Backwaren und Apparaturen; eines dieser Arcimboldo-Ölgemälde, in denen das Gesicht der porträtierten Person aus Gemüse besteht.

Ich bin noch dabei, all das in mich aufzunehmen, als die Frau sich umdreht. Sie ist nicht viel älter als ich, Ende vierzig vielleicht, elegant geschminkt und gekleidet, aber sie hält ihr Gesicht zur Seite gedreht, als verberge sie etwas.

»Rose Hoyt«, sagt sie und hält mir eine Hand entgegen. Mit der anderen betupft sie ihr Auge mit einem Taschentuch. »Bitte verzeihen Sie meinen Anblick. Ihrem überraschten Gesichtsausdruck entnehme ich, dass Christian nichts erwähnt hat.«

Mit einer gemurmelten Entschuldigung wende ich den Blick ab. Ihr Gesicht hängt auf einer Seite schlaff herunter, vielleicht wegen eines Schlaganfalls oder einer Lähmung. Etwas Ähnliches war während meiner Ausbildung in den Ferien einer der Hausmütter passiert – wir hatten furchtbare Angst, es könnte ansteckend sein.

»Allerdings«, sagt Rose mit einer nervösen Handbewegung, »habe ich ihn gebeten, zumindest zu versuchen, pünktlich zu sein.« Neben einem Verlobungs- und einem Ehering erspähe ich einen riesigen, von Diamanten eingefassten Cushion-Cut-Smaragd, wahrscheinlich Art Déco und mehr wert als mein Jahreseinkommen.

»Während wir warten, erzähle ich Ihnen ein wenig über unsere Schule und unsere Arbeit hier. Dieses Haus ist seit 1900 im Besitz meiner Familie – den Strangs –, und ich wohne hier schon mein ganzes Leben. Wie Sie sehen können, ist es recht groß. Nach dem Tod meines Mannes – Hoyt ist mein Ehename – hat unsere Tochter einen Kurs bei Leith’s absolviert. Und da dachte ich, wir könnten hier vielleicht etwas Ähnliches aufbauen. Wir unterrichten hier das, was ich ›klassische Küche‹ nenne. Eine Menge Kochschulen scheinen nur daran interessiert, dem neuesten Trend hinterherzurennen, ›Macaron Masterclass‹, ›Schnell und Vegan‹, Sie wissen schon. Aber wenn man hierherkommt, lernt man das wahre Kochen – wie man eine anständige Béchamel macht, französisch parierte Lammkoteletts oder pochierten Lachs. In anderen Worten grundlegende Küchenpraxis. Unsere Klassenstärke liegt bei acht Personen, Unterbringung eingeschlossen. Ich denke, Teil unserer Anziehungskraft ist die Tatsache, dass die Lernenden in Belgravia untergebracht sind, was sie normalerweise ein Vermögen kosten würde. Aus unserer Sicht betrachtet können wir all diese Räume, wenn wir sie schon haben, auch füllen.«

Sie blickt noch einmal auf die Uhr. Laut der meinen geht sie vier Minuten vor, aber vielleicht will sie es so.

»Ist Christian mit Ihnen den Lehrplan durchgegangen?«

»Nein«, erwidere ich. Sie reicht mir ein Blatt Papier. Ich will die Frage meines Honorars ansprechen, aber sie ist schon aufgestanden und zum Kamin hinübergegangen, neben dem ein kunstvoll vergoldeter Knauf in einen hübschen Stuckrahmen eingelassen ist. Sie zieht ihn nach unten und merkt auf meinen interessierten Blick hin an: »Sie werden feststellen, dass wir hier in vielerlei Hinsicht den alten Techniken anhängen. Das hier ist eine der originalen Dienstbotentrakt-Klingeln aus dem neunzehnten Jahrhundert, auch wenn mein Vater sie natürlich hat elektrifizieren lassen.«

Ich senke den Blick auf das Blatt Papier. Himmel! Auch dort wartet eine Art Zeitreise – zurück in die Kochausbildung der 1970er: Die Kunst der Teigherstellung meistern. Wohltemperierte Schokolade. Läuterzucker, gesponnen und als Dekor. Was hat Christian mir da eingebrockt?

»Ähm. Besteht Flexibilität hinsichtlich des Lehrplans?«, frage ich.

»Sie werden feststellen, dass der Plan eine gute Struktur vorgibt – er deckt die grundlegenden Techniken ab und schafft über den Tag hinweg ein zufriedenstellendes Gleichgewicht. Ich weiß, manche Kochschulen richten ihre Kurse darauf aus, dass die Lernenden am Ende erfolgreich ein paar bestimmte Gerichte kochen können, aber ich finde das ein wenig, nun ja, billig. Außerdem haben wir dafür Suzie«, fügt sie hinzu, als die junge Frau eintritt.

»Sie haben geläutet, Mrs Hoyt.« Fast wie in Downton Abbey.

»Kein Zeichen von ihm, nehme ich an?«, fragt Rose.

»Ich glaube, er war gestern erst spät zurück«, erwidert Suzie.

Rose spielt mit einem Ohrring. »In diesem Fall führen Sie doch Mr Delamare durchs Haus und zeigen ihm, wo alles ist.«

Ich folge Suzie nach draußen und sage, sobald die Tür ins Schloss gefallen ist: »›Mr Delamare‹ gibt mir das Gefühl, ungefähr hundert Jahre alt zu sein. Bitte nennen Sie mich Paul. Und gerne können wir uns auch duzen, schließlich sind wir Kollegen.«

Sie nickt, und wir gehen wieder hintereinander durch die Museumsstücke.

»Ich fühle mich tatsächlich ein wenig im Stich gelassen von Christian«, fahre ich in der Hoffnung fort, dass sie mir erzählt, was los ist. »Er hat versprochen, hier zu sein.«

Sie zuckt – kaum merklich – mit den Schultern, dann führt sie mich nach unten zu einer prunkvollen Tür, flankiert von einem riesigen Messing-Gong. Pink Room verkündet das Namensschild.

»Hier essen wir«, sagt sie und stößt die Tür auf.

Rosafarbene Speisesäle haben etwas an sich, dass mir die Galle aufsteigen lässt, auch wenn ich zugeben muss, dass der Raum selbst mit seinem Blick auf den Chester Square und all dem glänzenden Mahagoni durchaus elegant wirkt. An einer Wand, diskret in die bienenwachspolierte Vertäfelung eingelassen, erkenne ich einen alten Speiseaufzug und frage Suzie, ob er noch funktioniert.

Ich bin ein Fan von altertümlicher Haushaltstechnik. Als ich ein Kind war, hat meine Mutter mich immer mit in einen Porzellanwarenladen genommen, der eine magische Fußmatte besaß: Wenn man daraufgetreten ist, hat das Körpergewicht einen Mechanismus in Gang gesetzt, der ruckelnd die Tür geöffnet hat. Mein erster Anzug stammte von einem Herrenausstatter, der ein Druckluft-Röhrensystem hatte, um Bar- und Wechselgeld zwischen dem Laden im Erdgeschoss und der Rechnungsabteilung im ersten Stock hin- und herzuschicken.

»Bis ganz nach oben«, erwidert sie. In alten Zeiten zweifellos nützlich, als die Dienerschaft den trägen Herrschaften das Frühstück ans Bett bringen musste. »Aber Mrs Hoyt mag die Störung nicht, während die Leute essen, also latsche ich ziemlich viel hoch und runter.« Suzie zeigt auf eine mit grünem Fries bespannte Tür – echter Fries, den man heutzutage außer auf Spiel- und Billardtischen kaum noch zu Gesicht bekommt.

Wir lassen den Pink Room hinter uns. Sie führt mich zurück in den Flur, vorbei an den Beerdigungsblumen im hinteren Teil des Hauses. Ich wusste, dass diese alten Gebäude geräumig sind, aber dieses hier scheint sich endlos hinzuziehen. Wir treten in einen dunklen, kleinen Hof, der von Ziegelmauern umgeben ist und eine riesige schwarze Stahltür im hinteren Teil hat, die laut Suzie hinaus nach Eaton Mews führt. Eine schmale schmiedeeiserne Treppe – ähnlich einer altertümlichen Feuertreppe – führt hinauf zu einer lasierten Tür. Christian hatte mir erzählt, er habe eine Wohnung über dem alten Kutschenhaus. Das hier muss sie sein. Suzie steigt die Treppe hinauf, klopft an und wartet eine Minute, bevor sie wieder herunterkommt.

»Hast du eine Idee, wo er hingegangen sein könnte?«, frage ich.

Sie hebt eine Augenbraue, um mich wissen zu lassen, dass sie das nichts angeht, und ich folge ihr wieder ins Haus. Eine fixe Idee flattert mir durch den Kopf: Warum nicht einfach aus der Tür schlüpfen und so tun, als sei das Ganze nie geschehen? Dann denke ich an Julie, und wie sehr ich sie damit enttäuschen würde.

Also folge ich Suzie einen langen, von Deckenfenstern erhellten Flur entlang und eine kurze Rampe hinunter. Sie drückt einen grünen Knopf, und die Türen öffnen sich zischend. »Der Alte Ballsaal«, verkündet sie.

Weder eine Galerie noch eine Bibliothek, sondern ein Ballsaal – natürlich! Und jetzt das HQ der Chester Square Cookery School. An einem Ende eine Lehr-Küchenzeile, zu Demonstrationszwecken mit Deckenspiegeln ausgestattet, um dem Kochnachwuchs die Ansicht von oben zu gestatten. Davor zwei Reihen Arbeitsplätze, jeder mit eigenem Kochfeld und Waschbecken. An einer Wand Backöfen, an der anderen Kühlschränke. Marmor, Edelstahl, Gaggenau, Liebherr – ich bin beeindruckt.

Eine Türklingel erklingt – die Kundschaft trifft ein. Bevor sie verschwindet, um zu öffnen, zeigt Suzie noch auf ein Stück Papier auf der Arbeitsfläche:

 

Name

Anmerkungen

Zahlungsstatus

Lady Brash (Serena)

Reist von Bath an

The Hon. Harriet Brash

s.o.

S. Cartwright

London SE25

Ermäßigung (unter 26)

De’Lyse

Presse/Medien

kostenlos

Gregory Greenleaf

Ank. Gatwick, 9:10 Uhr

Victoria Mortimore

Aus King’s Lynn. Keine Avocados.

Lilith Mostyn

Nordwales.

Glutenfrei.

Melanie Hardy-Powell

Freundin von R.H.

(zahlt bei Ankunft)

 

Die Frau, deren Name handschriftlich ganz unten steht, musste in letzter Minute gebucht haben – immer Vorsicht bei Freundschaft mit der Chefetage. Bei dem Namen Gregory Greenleaf läutet eine Glocke bei mir, aber mir fällt nicht ein, warum.

Kapitel 3

Die Frauen, einschließlich einer auffallend hübschen, führen den Marsch an. Das Schlusslicht bilden ein sehr junger Mann und – der Gruppe etwas hinterherkeuchend – einer, der sein Großvater sein könnte.

Als sie mich sehen, bleiben sie plötzlich stehen. Großväterchen bemerkt es zu spät und tritt einer Frau vor sich in die Hacken, die daraufhin laut quietscht. Sie spähen in den Raum, gucken in alle Ecken und sogar hoch zur Decke. Dann tritt die Rudelführerin, eine zielstrebige Frau mit beeindruckender Haltung im Hosenanzug, vor und bellt: »Wo ist er denn?«

»Es tut mir leid«, sage ich und lächle sie direkt an. »Ich bin Paul Delamare. Ich leite diese Woche den Kurs.« Das kollektive enttäuschte Ausatmen klingt wie ein Luftballon mit Loch.

»Aber wir sind wegen Christian hier«, protestiert sie, sieht sich zustimmungsheischend um und klopft mit dem Fuß auf den Boden. Die anderen zucken mit den Schultern und werfen mir anklagende Blicke zu, als hätte ich ihn in einen Küchenschrank gesperrt, damit ich seinen Kurs übernehmen kann.

»Es tut mir leid«, wiederhole ich, so herzlich ich kann. »Ich dachte, Christian hätte sich Ihnen vielleicht zum Kaffee angeschlossen. Hat Mrs Hoyt nichts erzählt?«

Ich sehe, dass die Rädelsführerin eine etwas weniger zielstrebige und aufrechte Version ihrer selbst mitgebracht hat – eine Art Miniaturausgabe ihres Selbst. Laut meinem Spickzettel muss es sich bei den beiden um das Mutter-Tochter-Duo handeln, Lady Serena Brash und The Honorable Harriet.

»Was nicht erzählt?«, ruft ihre Ladyschaft und stößt ihre Tochter ohne erkennbaren Grund mit dem spitzen Ellbogen in die Seite.

»Von dem Unfall?«, erwidere ich vorsichtig.

Noch mehr Gemurmel und Kopfschütteln. Innerlich koche ich vor Wut: Wie kann Rose es wagen, die Nachricht über Christian auf mich abzuschieben? Und wo zur Hölle steckt er? Dessen ungeachtet hole ich tief Luft und sage in meinem beruhigendsten Tonfall: »Christian wird demnächst hier eintreffen – ich erkläre alles, wenn Sie sich eingerichtet haben. Suchen Sie sich einen Arbeitsplatz aus und machen Sie es sich bequem.«

Ein Gerangel um die hinteren Plätze beginnt – was wohl ausgeblieben wäre, wenn die Hauptattraktion die Gnade besessen hätte, aufzutauchen. Der ältere Herr ist nicht schnell genug und somit gezwungen, in die erste Reihe zu schlurfen. Namensschilder wären vielleicht hilfreich gewesen, auch wenn mir irgendetwas sagt, dass das hier Gregory Greenleaf ist. Er sieht aus wie ein Gregory.

Wenn Lehrer vor einem Klassenzimmer voller neuer Gesichter stehen, denken sie sich Eselsbrücken aus, um sich die Namen zu merken, also durchforste ich mein Gehirn, um mir etwas für Gregory auszudenken. Gregorianische Kirchengesänge? Nein, von einem Mönch hat er nichts. Mit der Hornbrille, den Tränensäcken und der Höckernase sieht er eher aus wie ein Vogel – ein Huhn vielleicht. Gregory Pick, wie Gregory Peck, der Schauspieler. Das wird reichen müssen.

Als alle ihren Platz gefunden haben, verteile ich die offiziellen Chester-Square-Cookery-School-Kurs-Schürzen – in strengem Weiß mit einer schwarzen Strichzeichnung der Gebäudefassade. Es erstaunt mich immer wieder, wie sehr sogar Millionäre Gratisgeschenke lieben. Die Laune im Raum scheint sich etwas zu heben.

Ich beginne damit, Christians Unfall zu erklären, auch wenn die Rolltreppengeschichte etwas dürftig klingt, und sehe, wie Lady Brash die Lippen schürzt.

Dann sage ich ein paar Worte über mich selbst. Was die Kochwelt angeht, habe ich so ungefähr alles gemacht, was man sich denken kann. Aber was die Leute wirklich interessiert, ist, wie es ist, im Fernsehen zu sein. (Antwort: angsteinflößend, grelle Lichter, Horden von Produktionsmenschen, die einen umschwärmen wie fliegende Ameisen.) Und ob ich eigentlich den und den TV-Koch kenne? (Antwort: Wir kennen einander alle und kommen, bis auf den einen, dessen Namen ich nicht nenne, gut miteinander aus.) Ein paar der Anwesenden sagen, sie kennen mich, aber vielleicht sind sie auch nur höflich. Dann schlage ich vor, dass wir uns duzen, weil das in der Küche oft so gehandhabt wird, und bitte alle, sich vorzustellen und kurz zu erzählen, was sie sich von diesem Kurs erhoffen.

Eine junge Schwarze Frau spricht zuerst. Es ist De’Lyse, die laut Rose eine erfolgreiche Bloggerin (»Callaloo and Bammy«) mit einer Trillion Social-Media-Followern ist. Sie winkt mit ihrem iPhone – das neueste Modell, wasserdicht, Teleobjektiv – und verkündet, dass sie den ganzen Kurs über Bilder und Videos auf Instagram posten wird. »Wenn irgendjemand nicht in den Videos vorkommen will, einfach aus dem Bild bleiben.« Ich sehe, wie Lady B die Oberlippe schürzt.

Ich bin kein Experte, aber wahrscheinlich stünde man nur ungern in der Schlange vor dem Badezimmer, wenn De’Lyse morgens ihre Maquillage auflegt. Sorgfältiges Contouring, schillernder Lidschatten, Hochglanzlächeln. Mehr Catwalk als Küche, aber wir werden ja sehen.

Dann übernimmt ihre Ladyschaft und verkündet, ohne Luft zu holen: »Lady Brash, aber bitte nennt mich Serena, und das hier ist meine Tochter Harriet, die im Frühjahr heiratet, also dachten wir, Zeit, die Kochkünste aufzupolieren!« De’Lyse verdreht die Augen. »So schade, dass Christian nicht da ist. Wir haben ihn ein paarmal in seinem Restaurant in Bath getroffen.« Sie zupft sich etwas vom Ärmel, das wie ein langes, seidiges Haar aussieht. Ein Collie-Haar, wenn mich nicht alles täuscht. Collies brauchen mindestens zwei Stunden Bewegung am Tag. Das dürfte erklären, warum sie so schlank ist.

Als Nächstes lächle ich der Honorable Harriet, ihrer ehrenwerten Tochter, aufmunternd zu.

»Wie Mummy schon sagte, ich bin Harriet.« Und nach einem kurzen Innehalten: »Sorry! Mir ist immer noch ein bisschen schlecht von der Taxifahrt von Paddington hierher. Nachher bin ich wieder unterhaltsamer.«

Danach fange ich Gregorys Blick ein. Im hellen Deckenlicht ist zu erkennen, dass die Büschel seiner verbliebenen Haare sandfarben getönt sind; passend zu seiner senfgelben Cordhose. Mir ist aufgefallen, dass ältere Herren gern zu Cordhosen greifen, aber leider betont irgendetwas an dem Material den Bauchspeck.

»Eigentlich aus Warwickshire, aber die meiste Zeit des Jahres verbringe ich in Biarritz.« Zustimmendes – oder neidvolles – Gemurmel. »Kleine Wohnung, Meerblick, bin heute Morgen schnell rübergeflogen. Meine wahre Leidenschaft sind gute Weine – vor allem Rotweine –, aber als ich in der Financial Times von dem Kurs gelesen habe, dachte ich mir, es ist an der Zeit, mein, äh … kulinarisches Repertoire zu erweitern.« Ich bemerke, dass er die Angewohnheit hat, beim Sprechen die Augen zu schließen. Oft ein Zeichen mangelnden Selbstbewusstseins.

Als Nächstes hebt eine lebhafte Frau Ende vierzig die Hand und winkt damit wie ein eifriges Schulmädchen. Sie hat große grüne Augen, Sommersprossen und eine Mähne aus rotem Haar. Sie wirkt wie eine katzenhafte Version von Fergie, der Duchess of York. Ihr Name ist Melanie, wie der meiner Mutter, das ist also leicht zu merken. Melanie Hardy-Powell wohnt in der Tite Street, Chelsea (eine sehr gute Adresse, wie Marcus sagen würde), und ist eine alte Freundin von Rose, auch wenn sie sich nicht oft sehen, weil sie beide so beschäftigt sind.

Ich frage, ob sie jeden Abend nach Hause fährt (mit dem Taxi ungefähr fünf Minuten). Nein, die Unterbringung ist im Kurs inklusive, also dachte sie, warum nicht einmal eine Pause von den Haushaltspflichten einlegen und ein bisschen gehobene Küche in angenehmer Gesellschaft genießen? Bei diesen Worten wirft sie mir ein flirtendes Lächeln zu – einschließlich aufblitzender Zähne.

Jetzt ist die Studentin dran, die mir zu Beginn schon aufgefallen war. Sie ist mit einer dieser neuen Haarfarben aufs Ganze gegangen, die gerade der letzte Schrei sind. Das erste Wort, das mir dazu in den Sinn kommt, ist mauve. Lilith kommt aus einer unmöglich auszusprechenden Stadt in Nordwales und hat den Kurs von ihrer besseren Hälfte zum Geburtstag bekommen. Sie spricht mit einem dieser sanften, walisischen Akzente, die einen an grüne Täler und Wasserfälle denken lassen. Gut gebaut, regenbogenfarben und nach einem biblischen Bad Girl benannt – ich weiß, dass ich keine Probleme haben werde, mich an sie zu erinnern.

Am Arbeitsplatz neben ihr – irgendetwas sagt mir, dass diese beiden entweder Freundinnen oder Feindinnen werden – sitzt »Nennt mich Vicky«, eine Apothekerin aus Norfolk. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie durch ihre runden Brillengläser Rezepte studiert und ihren Kunden mitteilt, sie sollen morgen wiederkommen. Sie und ihr Mann machen getrennt Urlaub (bei diesen Worten zwinkert sie), und sie hat sich für den Kurs angemeldet, weil sie ihren Tiefkühlschrank mehr nutzen möchte. Nicht sehr inspirierend, aber ich verspreche, es im Hinterkopf zu behalten. Hier ist es leicht, weil sie ein Outfit mit Schlangenlederaufdruck trägt: Viper Vicky. Es ist ja nicht so, als müsse sie es je erfahren.

Zu guter Letzt bleibt noch ein schüchterner junger Kerl, der aussieht, als sei er aus Versehen hier gelandet und habe eigentlich einen Kurs für Wasserfarbenmalen oder Flötespielen buchen wollen. Stephen Cartwright trägt eine Harry-Potter-Brille, den kürzesten aller raspelkurzen Haarschnitte und hat zarte, blasse Haut. Er sieht aus, als sei er zu jung, um sich einen Bart wachsen zu lassen. Ich schätze ihn auf Anfang zwanzig.

Er wurde von seinem Arbeitgeber in den Kurs geschickt, weil er darüber nachdenkt, zum Koch umzuschulen. Sein Arbeitgeber? The Royal Parks, ein Wohltätigkeitsverein, der sich um den Erhalt der königlichen Parkanlagen kümmert. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn alle älter – und gefühlt wichtiger – sind als man selbst, und beschließe, ein wohlwollendes Auge auf ihn zu haben.

Plötzlich höre ich ein Quietschen aus der hinteren Reihe. Die Honorable Harriet hat eine Spinne in ihrem Messerblock gefunden, und Mama setzt ihr mit einem Holzlöffel nach.

»Du musst sie nicht gleich umbringen«, ruft die Hon. »Die ist doch so klein.«

»Reiß dich zusammen, Harriet«, erwidert ihre Ladyschaft. »Du bist schon den ganzen Morgen so zartbesaitet – die Quittung dafür, dass du das Frühstück ausgelassen hast.«

Mit zusammengebissenen Zähnen sieht Harriet zu, wie ihre Mutter die aufgeschreckte Arachnide seitlich den Arbeitsplatz hinab verfolgt, wo diese zwischen zwei Dielen verschwindet. »Verflixt«, sagt die glücklose Spinnenjägerin und dreht den Fuß auf der Stelle hin und her. »Entwischt.«

Als ich den darauffolgenden Moment der Stille gerade nutzen will, um mit dem Unterricht anzufangen, steht eine bleiche Harriet auf, entschuldigt sich und verlässt – gefolgt vom finsteren Blick ihrer Mutter – hastig den Raum.

Kapitel 4

Wer hat Lust auf ein kleines Quiz?«, frage ich, nachdem wieder Ruhe ein- und die Hon. Harriet, noch etwas blass und zittrig, an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt ist. »Was ist der wichtigste Gegenstand in eurer Küche?«

»Der Aga«, erklärt Lady B unumwunden. Julie und ich haben eine Art Insiderwitz darüber, dass jeder, der einen dieser britischen Premium-Herde besitzt, es dir innerhalb der ersten fünf Minuten erzählt. Ihre Ladyschaft, Gregory und Melanie von York haben alle einen Aga, und ich sehe, wie sie Lilith mitleidige Blicke zuwerfen, die versucht mitzureden, aber nur einen Rayburn besitzt.

»Nein«, erwidere ich. »Ein Messerschärfer. Und ich rede nicht von den kleinen effekthascherischen Dingern mit sich drehenden Rädchen oder gar von elektrischen, die einem so viel Klinge wegschleifen, bis keine mehr übrig ist. Wenn das alles ist, was ihr während dieser Woche lernt, dann war der Kurs schon sein Geld wert. Was man braucht, ist ein Wetzstahl. Falls ihr nicht bereits einen besitzt: Es gibt sie für fünfzehn Euro online zu kaufen. Haltet ihn am Griff fest und stellt ihn senkrecht auf die Arbeitsfläche. Dann nehmt mit der anderen Hand das Messer und fahrt daran herunter, während ihr es gleichzeitig zu euch hinzieht, damit die gesamte Länge der Klinge den Stahl berührt. Benutzt eure Ohren – man sollte das Messer singen hören.«

Jeder Arbeitsplatz hat ein eigenes Messerset, also reichen wir den Wetzstahl herum, und alle probieren es selbst aus. Ich muss feststellen, dass es mir sogar ein wenig Spaß macht. Es ist interessant, Novizen bei der Arbeit zuzusehen. De’Lyse legt los, als wolle sie jemanden aufschlitzen, und massakriert dabei fast ihr Schneidbrett. Vicky und Lilith können sich nicht einigen, wer weitermachen soll, und werfen eine Münze, während der Wetzstahl unterdessen zu Vogelmann Gregory wandert, der auf ihn einhackt wie ein Specht am Baumstamm. Die Hon. Harriet übergibt ihr Messer ihrer Mutter, weil das Geräusch ihr Gänsehaut verursacht, und lässt sich anschließend bereitwillig von Melanie überreden, mit ihr Messer zu tauschen, weil Melanie die Farbe von Harriets Griff besser gefällt. Stephen scheint alles falsch herum zu machen – wie sich herausstellt, ist er Linkshänder.

Mit glänzend scharfen Klingen geht es los. Manche Menschen haben ein natürliches Talent fürs Tanzen, andere sind unglaublich gut im Bett, und ich – nicht, dass ich angeben will – kann gut mit einem Messer umgehen. Das können die meisten Küchenchefs: die elegante Drehung des Handgelenks, die fließende Anmut, die Finesse. Gib mir ein Messer und ich raube dir den Atem. Nichts verschafft mir größere Freude, als eine knubbelige Ananas mit ein paar geschickten Schnitten und Drehungen in einen Haufen goldener Dreiecke zu verwandeln oder einen Granny Smith so zu schälen, dass sich die Schale in eine einzige glänzend grüne Spirale verwandelt.

Schnitttechniken sind nicht schwer zu erlernen, erkläre ich, aber das A und O allen Tuns ist, sein Arbeitsgerät korrekt zu halten: »Um eine bequeme, natürliche Griffposition zu finden, schüttelt eurem Messer ›die Hand‹, wobei ihr die Finger der freien Hand – die das Schnittgut hält – zu ›Krallen‹ formt, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen.«

Beim »Chef-Chopper« hält man das Handgelenk frei und führt die Klinge in einer Art Hackbewegung schnell auf und ab. Ich habe einmal gestoppt und bin auf 190 Schnitte pro Minute gekommen. Pflichtschuldig demonstriere ich die Technik an einer Reihe Champignons, die nach wenigen Sekunden verschwunden ist. Bei der »Säge« wiegt man die Klinge vom Griff zur Spitze im Zickzack über das Schnittgut. Innerhalb eines Augenblicks verwandle ich ein Bund Petersilie in grünen Staub. Beim »Quetschen« drückt man die flache Klinge auf das Brett. Pressen, schieben – pressen, schieben – wiederholen. Ergebnis: flüssiger Knoblauch.

Im Fernen Osten geht man etwas anders mit Messern um – man schneidet eher, als dass man hackt. Besser für das Messer und für das eigene Handgelenk. Ich hole mein zuverlässiges Kyocera heraus – weiße Keramikklinge, schwarzer Pakkaholzgriff – und zeige meinen Schützlingen einen Trick, den mir ein koreanischer Freund beigebracht hat. Fünfundsechzig undurchschaubare Schnitte später, zuzüglich einiger extra Kniffe und Schnörkel für De’Lyses Video, und die Zwiebel besteht aus 1104 identisch winzigen Würfeln.

Als die Vorführung begeisterten Applaus erntet, fühle ich mich tatsächlich geschmeichelt. Es ist seltsam, aber auch aufregend, nach all den Monaten des Rückzugs plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen: Ich verbeuge mich.

Jetzt sind die anderen dran. Melanie zuerst. Sie fixiert die Zwiebel wie eine Katze die Maus, dann legt sie mit voller Geschwindigkeit los. Ich erinnere alle daran, – bitte! – ihre nicht schneidenden Finger mit dem Krallengriff in Sicherheit zu bringen. Kochen kann tödlich sein.

Lilith lässt ihre Zwiebel herunterfallen, und sie rollt unter die Arbeitsfläche. Ich schlage vor, dass sie eine andere nimmt und die verlorene später wieder hervorholt, aber nein, sie wird diese Zwiebel schneiden oder keine. Mein Gefühl sagt mir, sie ist der Klassenquerulant. Jede Klasse hat einen.

Lady B legt eine übertriebene Sägebewegung an den Tag, als dirigiere sie ein Orchester, während ihre Tochter geistesabwesend wirkt und nach der Hälfte aufgibt. Vicky verkündet, sie kaufe ihre Zwiebeln tiefgefroren und vorgewürfelt.

»Tiefgefroren?«, wiederholt Lady B verächtlich.

»Tiefkühlgemüse ist nährstoffreicher«, erklärt Vicky. Ich pflichte ihr bei, weil es in den meisten Fällen stimmt.

Der stille Stephen geht in der Aufgabe auf und bewegt das Messer mit seiner zarten Hand sorgfältig auf und ab. Von allen Anwesenden scheint er mir der Einzige mit tatsächlichem Kochverstand zu sein, auch wenn es vielleicht noch etwas zu früh ist, um das zu sagen.

🔪

Ich bin erleichtert, wenn auch leicht peinlich berührt, als plötzlich der Titelsong von Let’s Dance aus meinem Handy dröhnt – der Wecker, den ich mir zum Kursende gestellt hatte. Noch einer von Julies Streichen. Ich hätte sie nie auf meine Einstellungen loslassen dürfen.

»Für heute sind wir beinahe fertig«, verkünde ich, »aber bevor wir zusammenpacken, würde ich gern noch das Fleisch für die Einheit morgen vorbereiten, die, äh … Die Edle Kunst der Fleischzubereitung heißt. Nur, um noch mal sicherzugehen: Niemand hier ernährt sich vegetarisch?« Ihr wärt überrascht, wie oft einem das durch die Lappen geht.

Viper Vicky meldet sich zu Wort: »Ich habe fünf Jahre lang vegetarisch gelebt, aber am letzten Guy Fawkes Day habe ich aufgegeben. Die Bratwürstchen waren schuld.«

Um nicht übertrumpft zu werden, hebt Lilith eine mit glitzernden Acrylnägeln verzierte Hand. »Glutenfrei«, sagt sie stolz.

Ich nicke und fahre fort. »Nun, über die Frage, ob man Fleisch vor, während oder nach dem Kochen würzen soll, wird eine endlose Debatte geführt, aber bei größeren Stücken oder ganzem Geflügel empfehle ich nachdrücklich den Vortag.«

Ich lege eine Auswahl an Fleischstücken und Vögeln auf die Arbeitsfläche. Der Lieferant von Chester Square ist die teuerste Metzgerei ganz Londons, was bedeutet, Rose legt mal eben 70£ für eine Lammkeule hin.

Mit dem Ausbeinen der letzteren fange ich an: Ich entferne den Lendenknochen, dann das Kugelgelenk mit Kopf und Pfanne (der knifflige Teil) und schließlich den Schenkelknochen. Als ich beim Würzen angekommen bin, atmet Vicky scharf ein. »Ist das nicht ein bisschen viel Salz?«

»Die meisten Köche benutzen weit mehr Salz, als man es zu Hause tun würde – ebenso mehr Butter und Sahne: Das ist der Grund, aus dem das Essen im Restaurant so viel Aroma und Tiefe hat. Das Argument ist, dass ein Restaurantbesuch für die meisten Menschen etwas Besonderes ist und kein Gesundheitsausflug. Wie man zu Hause würzt, bleibt natürlich jedem selbst überlassen, aber das hier ist ein großes Stück Fleisch, und wir wollen, dass es durch und durch gut schmeckt.«

Gregory nickt wie ein Vogel auf der Stromleitung, als wolle er sagen, dass er das alles schon wusste.

Danach öffne ich ein Hühnchen, klappe es auf und entferne ein paar Rippen, bevor ich als Letztes mit meinem Kabinettstück aufwarte. Ich bin fest davon überzeugt, dass man in der Küche nicht zartbesaitet sein darf, also gehe ich zum Kühlschrank und hole das Fleischpaket heraus, das ich zuvor beiseitegelegt hatte: Es ist Tauben-Zeit. Lilith verzieht das Gesicht.

»Wildtaube. Keine von denen, die am Trafalgar Square herumflattern«, sage ich.

Mein eigenes Hackmesser passt nicht in mein Lederetui, also habe ich mir das Fleischerbeil der Kochschule bereitgelegt, ein fesches Gerät mit rotem Griff. Das Publikum keucht hörbar auf, als der erste Taubenkopf im Müll landet, gleich gefolgt vom zweiten.

»Die erste Regel des Metzgerhandwerks: ab mit dem Kopf.«

Und Christian betritt die Arena.

Kapitel 5

1,92 m pure Männlichkeit. Beeindruckendes, silbern durchzogenes Haar, frisch geschnitten und gestylt. Perfekt sitzende Jeans und Slim-fit-Hemd, ein Stück aufgeknöpft, um genau das richtige Maß gebräunter Brust zu entblößen. Ein Hauch Tom Ford for Men.

Er hat es sogar geschafft, seinen Verletzungen Sex-Appeal zu verleihen. Das Handgelenk steckt in einem strahlenden, brandneuen Verband. Der andere Ärmel ist aufgerollt (wie hat er es überhaupt geschafft, das Hemd anzuziehen?), um seinen Gips zur Schau zu stellen. Dort prangen seine Initialen C.S.W. in flottem Graffiti-Design, einschließlich eines roten Ballonherzens als Hommage an Banksy. Eine unwiderstehliche Mischung aus Stärke und Verletzlichkeit – und die perfekte Erinnerung daran, warum die Öffentlichkeit ihn liebt. Oder geliebt hat.

»Da ist Christian!«, verkünde ich.

Unnötigerweise, da er bereits von einer Gruppe bewundernder Fans umringt ist. Mir wäre es peinlich, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Alle wollen ein Selfie mit ihm, und Lady B zaubert ihr »Pass the Gravy!«-Kochbuch hervor, um es signieren zu lassen. Für die wunderbare Lady Serena kritzelt er (interessant, wie er die Hand plötzlich benutzen kann).

De’Lyse nimmt ihn für ein Mini-Interview in Beschlag, während die anderen um sie herumstehen. »Stimmt es, dass du beim Dschungelcamp mitmachen wirst?«, fragt sie. Er verschließt seine Lippen mit einem imaginären Reißverschluss, und alle lachen gemeinsam.

»Wird es ein Weihnachts-Special geben?«

»Abwarten und Tee trinken!«, erwidert er mit einem vielsagenden Grinsen. Ich bezweifle es – er hat sein Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten –, aber seine Bewunderinnen quietschen und kichern.

Mir fällt auf, dass sein Fanclub nur aus Frauen besteht. Gregory ist vorhin auf die Toilette verschwunden, aber wo steckt Stephen? Ich sehe mich um und entdecke zu meinem Entsetzen, dass er von seinem Stuhl gerutscht ist und bäuchlings auf dem Boden liegt – ohne dass es jemandem in der Hysterie um Christians Auftauchen aufgefallen war. Wie furchtbar!

Ich renne zu ihm hinüber, um seinen Puls zu prüfen – das angemessene Vorgehen in einer solchen Situation. Meine Großtuerei mit dem Fleischerbeil muss wohl zu viel gewesen sein. Ich war immer der Meinung, dass der Umgang mit Fleisch ein wichtiger Teil der Kochausbildung ist, aber die Zeiten ändern sich. Vielleicht sollte ich diese besondere Nummer aus meinem Repertoire streichen.

Als Nächstes höre ich eine Frauenstimme rufen: »Beiseite, beiseite!« (als stünden wir in einer Menschenmenge), und Lilith wirft sich neben mir auf den Boden. »Ruft einen Krankenwagen!«, schreit sie und reißt am Kragen des jungen Mannes, um sein Hemd zu öffnen. Er sieht sehr blass aus, und ich entdecke ein kleines Tattoo an seinem Schlüsselbein: ein kleiner, Harfe spielender Engel. Ich habe nichts übrig für Tattoos, aber das hier ist wenigstens unaufdringlich.

Dann materialisiert sich plötzlich Suzie neben uns und wirft sich auf ihn. »Ich übernehme das«, sagt sie und schiebt eine überraschte Lilith aus dem Weg. Wir sehen zu, wie sie seine Kleider richtet und seine Brille nach oben schiebt. »Ich bin die Gesundheits- und Sicherheitsbeauftragte. Er ist ohnmächtig geworden, das ist alles. Überlasst es mir.« Eine Minute später sitzt Stephen auf einem Stuhl, und Lilith wird losgeschickt, um eine Tasse Tee zu machen. »Er nimmt ein Stück Zucker«, ruft Suzie.

Stephen bemerkt, dass ihn alle ansehen. »Entschuldigung«, murmelt er. »Ich habe mich auf einmal ganz komisch gefühlt.«

»Diese Wirkung habe ich normalerweise nicht auf die Leute«, sagt Christian nonchalant, und alle lachen. »Aber jetzt muss ich mich verabschieden – ärztlicher Befehl.« Noch mehr Gurren und Aufplustern, während er seinen Abgang macht. Ich versuche, seinen Blick aufzufangen, aber er ignoriert mich einfach.

Inmitten des allgemeinen Geplauders bemerke ich, dass im Türrahmen eine geflüsterte Unterhaltung stattfindet. Christian ist auf seinem Weg nach draußen von Harriet abgefangen worden, und eine ungewöhnliche Abfolge von Emotionen spiegelt sich auf seinem gutaussehenden Gesicht. Überraschung – Entsetzen – und … Ich kann nicht genau sagen, was noch.

🔪

Als alle den Alten Ballsaal verlassen haben, bleiben mir nur noch anderthalb Stunden bis zum Abendessen. Ich bin stinksauer auf Christian. Einfach für einen Kurzauftritt hereinzuschneien, ohne meine Anwesenheit auch nur zur Kenntnis zu nehmen! Und was war das bitte für ein seltsames Gespräch im Türrahmen? Während ich darüber nachgrüble, fällt mir auf, dass ich noch immer nichts von Julie gehört habe. Hat Dena die Bilder freigegeben, oder werden wir den Löwen zum Fraß vorgeworfen?

Dabei kommt mir eine Idee. Chester Square liegt auf Julies Heimweg. Sie wohnt in einer hellen, geräumigen Wohnung nahe der Putney Bridge, halb vergraben unter Büchern, Partituren und Möbeln aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Statt ins Jubilee Cottage zurückzukehren, um mich frischzumachen, könnte ich hierbleiben und fragen, ob sie für einen kurzen Besuch und eine Hausführung vorbeikommen möchte.

Da es wohl höflicher ist, das von Rose absegnen zu lassen, laufe ich hinauf in den Shelley Room. Dabei fällt mir ein, dass ich immernochnicht nach meinem Honorar gefragt habe. Ich bin mir sicher, Julie wird es wissen wollen.

Die Tür steht offen, und als ich näherkomme, kann ich sehen, dass die Rektorin aufgewühlt ist. Suzie tröstet sie, eine Hand auf ihrem Arm. »Wie man jemanden so hintergehen kann«, sagt Rose und hebt geistesabwesend ein paar Papiere auf, nur um sie gleich wieder hinzulegen. »Und das, wo alles auf Messers Schneide steht …«

Als ich eintrete, tupft sie sich die Tränen von den Wangen. »Suzie ist eine große Unterstützung«, sagt sie. Sie spricht es Soo-Zee, als sei es eine exotische Frucht. »Bei dem ganzen Durcheinander mit ohnmächtigen Schülern und Christian, der vogelfrei spielt, kann ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Aber Soo-Zee hat mir versichert, es ist alles in Ordnung. Christian ist natürlich ein wunderbarer Lehrer.« Mit der Hand umklammert sie die Tischkante, und ich setze mich auf den leeren Stuhl ihr gegenüber. Sie fährt sich über die Augen und holt tief Luft. »Es waren ein paar harte Jahre für die Schule. Die Kosten, ein so großes historisches Anwesen zu erhalten, ständig steigende Preise … Offen gestanden leben wir von einem Kurs zum nächsten.« Noch mehr gedankenverlorenes Papierverschieben.

Es ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt, um über meine Bezahlung zu sprechen, aber ich frage sie, ob es in Ordnung sei, Julie einzuladen.

»Natürlich, Ihre Freundin soll ruhig kommen«, sagt Rose durch ihr Taschentuch hindurch und versucht sich tapfer an einem Lächeln. »Geben Sie ihr den Code für die Eingangstür, damit die Türklingel nicht alle aufschreckt.«