Mit Schwefel, Charme und Chaos - Allyson Snow - E-Book
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Allyson Snow

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Beschreibung

Wer früher stirbt, hat länger was von der Hölle. Melyns Leben nähert sich dem perfekten Höhepunkt - ihrer Hochzeit. Dumm nur, dass sie auf dem Weg zur Trauung bei einem Verkehrsunfall stirbt. Als wäre das nicht bereits ärgerlich genug, landet sie ausgerechnet in der Hölle und zwischen den Fronten zweier zankender Höllenfürsten. Doch Melyn ist fest entschlossen, sich den schönsten Tag ihres Lebens nicht ruinieren zu lassen - nicht mal von ihrem eigenen Tod und erst recht nicht von einem sündhaft heißen Teufel. Dabei weiß Talan eines ganz genau: Melyns Leben war eine einzige Lüge. Leider nützt ihm dieses Wissen recht wenig, denn Melyn ist unkooperativer, als er erwartet hatte. Totbleiben? Kommt für Melyn nicht in Frage. Ihre Entschlossenheit, der Hölle den Rücken zu kehren, beschwört eine Katastrophe nach der anderen herauf. Als hätte er nicht schon mit Melyn alle Hände voll zu tun, muss er sich auch noch damit abfinden, dass ständig jemand versucht, ihn - den Teufel höchstpersönlich - vom Angesicht der Welt zu löschen! Alle Bände der Reihe ›teuflischer wird's nicht‹ sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Fans erwartet ein Wiedersehen mit den Charakteren des Fantasy-Bestsellers ›Teufel gesucht, Katastrophe vorhanden‹. Leserstimmen: "Es war wie immer ein Vergnügen der schönsten Art ich habe stellenweise sooo gelacht und Melyn hat mich stellenweise an mich selber erinnert." (Tiara) "Auch mit diesem Roman hat sie mich wieder vom ersten bis zum letzten Wort gepackt, aus dem Alltag gerissen und mir wunderbare Lesestunden beschwert. Ich habe mich mehr als einmal vor Lachen fast weggeschmissen." (Gaby)

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Mit Schwefel, Charme und Chaos

Allyson Snow

Inhalt

Kapitel 1 Hochzeiten sind zum Sterben schön

Kapitel 2 Teufel haben es nicht leicht

Kapitel 3 Nur mal schnell Bücher holen

Kapitel 4 Im Zweifel gegen die Angeklagte

Kapitel 5 Wenn Zwei sich streiten, türmt die Dritte

Kapitel 6 Die Geister, die niemand rief

Kapitel 7 Freundlichkeit ist die schlimmste aller Tugenden

Kapitel 8 Lebe lieber untot

Kapitel 9 Problem: Chaos – Lösung: Noch mehr Chaos

Kapitel 10 Hokuspokus, hol die Streichhölzer

Kapitel 11 Sei Feuer und Flamme

Kapitel 12 Klimawandel in der Hölle

Kapitel 13 Kauf den Engel im Sack

Kapitel 14 Schwierigkeiten wachsen mit den Herausforderungen

Kapitel 15 Große Brüder nerven furchtbar

Kapitel 16 Morddrohungen sind durchaus eine Verhandlungsbasis

Kapitel 17 Nur wer fällt, kann fliegen

Kapitel 18 Streit ist auch eine Art Vorbereitung

Kapitel 19 Einbrechende Launen

Kapitel 20 Mörderisch wirkungsvolle Segnungen

Kapitel 21 Teufel zu verkaufen, nur minimal abgenutzt

Kapitel 22 Segne unser täglich Chaos

Kapitel 23 Rom ist zum Sterben schön

Kapitel 24 Lügen haben rotes Haar

Kapitel 25 Teuflische Pläne im Himmel

Kapitel 26 Opfer sind wünschenswert

Kapitel 27 Im Himmel ist die Hölle los

Kapitel 28 Papier ist geduldig

Epilog

Steves Geschichte – ihr seid gefragt!

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Kapitel 1Hochzeiten sind zum Sterben schön

Es gibt viele Möglichkeiten, die eigene Hochzeit zu ruinieren. Spontan nicht mehr ins Kleid passen. Ein unbemerktes Stück Petersilie zwischen den frisch gebleichten Zähnen. Eine Festgesellschaft, die bereits vor dem Ja-Wort sternhagelvoll ist. Oder ein Bräutigam, der gar nicht erst auftaucht.

Melyn hatte diese Risikofaktoren gewissenhaft ausgeschlossen. Sie hatte sich jeden Tag in den blütenweißen Fummel gequetscht, um sicherzustellen, dass er noch passte; nach dem heutigen morgendlichen Zähneputzen nichts mehr gegessen; und es galt striktes Alkoholverbot vor der Trauung. Außerdem hatte sie Bradleys Trauzeugen angedroht, ihm die Leber bei lebendigem Leibe zu entfernen und vor seinen Augen zu braten, wenn er ihren zukünftigen Gatten nicht pünktlich vor dem Altar ablieferte. Aber niemals – absolut niemals – hätte sie damit gerechnet, dass sie auf dem Weg zur St Mary’s Cathedral einfach starb.

Zumindest nahm Melyn an, dass sie tot war. Wie sonst könnte sie auf diesen unappetitlich zerquetschten, in das verbeulte Wrack einer Limousine eingekeilten Fleischklumpen sehen, der ihr Brautkleid trug? Es sei denn, es war noch die Nacht vor der Trauung und ihr von Nervosität durchtränktes Hirn servierte ihr einen hübschen Albtraum, wie ihre perfekt geplante Hochzeit doch noch im absoluten Desaster enden könnte.

Der Fahrer des Lastwagens, der den Luxusschlitten blöderweise in der Seite gerammt hatte, hockte im Rinnstein und kotzte in unregelmäßigen Schüben auf seine Schuhe. Der Chauffeur der Limousine tätschelte ihm ununterbrochen mit bebender Hand den Rücken. Die beiden hatten mehr Glück gehabt als Melyn. Zwar lief dem Chauffeur Blut aus einer langen Schnittwunde an der Stirn über das Gesicht, aber lebensbedrohlich sah das nicht aus.

Eine nervige Sirene kam näher. Tatütata. Der Krankenwagen bog um die Ecke und raste so rasch auf die Kreuzung, dass Melyn unwillkürlich auf den Gehweg flüchtete. Der medizinische Rennfahrer bremste abrupt neben dem Schrotthaufen. Die hinteren Türen flogen auf, und zwei Männer stürzten heraus.

»Grund zur Eile gibt’s wohl nicht mehr«, rief ihnen Melyn zu, aber die Rettungshelfer begutachteten aufmerksam das, was von der ehemals hübschen Braut (Sie war wirklich hübsch gewesen!) übrig geblieben war.

»Da ist nichts mehr zu retten. Die ist hinüber«, stellte einer fest.

»Die Hochzeit fällt wohl ins Wasser«, sagte der zweite Sanitäter. »Ob das Büfett schon aufgebaut ist?«

Solchen Unsinn konnte sie unmöglich träumen. Na toll, also doch keine Halluzination, ausgelöst durch kalte Füße. Was sie zu der wichtigen Frage führte: Und jetzt?

Wenn sie das dort in dem Blechklumpen war und nun buchstäblich neben sich stand, dann war sie jetzt ein Geist, aber was machten Geister so nach ihrem Tod? Musste sie sich jetzt eine heruntergekommene Hütte zum Spuken suchen? Oder war sie an dieses Autowrack gebunden und musste ihr Leben nach dem Tode auf einem Schrottplatz zubringen? Das würde mit den anderen Unfallopfern dort sicherlich ein ziemliches Gedränge werden.

Immerhin schien Melyn als Geist nicht wie eine zermatschte Erdbeere auszusehen. In ihrem nunmehr ätherischen Dasein erstrahlte ihr Kleid nämlich wie vor dem Zusammenstoß mit dem unaufmerksamen Verkehrsrowdy. Sogar das Blumenarmband, das sie vor der Trauung ihrer Brautjungfer hatte überreichen wollen, war noch da. Ihr linker Arm stand auch nicht so seltsam ab wie bei ihrer Leiche, und sie entdeckte auch keine offene Bauchdecke, als sie an sich hinabsah. Wie ungemein tröstlich, sie würde die Menschen also nicht mit ihrem fürchterlichen Aussehen zu Tode erschrecken, sondern musste sich kreative Spuke ausdenken und …

Aus dem Nichts manifestierte sich neben ihr ein Mann. Sollte Melyn sich um ihre geistige Gesundheit sorgen, wenn Kerle so plötzlich vor ihr auftauchten, als hätte Scotty beim Beamen geniest? Ach, warum sich die Mühe machen? Theoretisch müsste Melyn jetzt aufgebracht sein, weil der schönste Tag ihres Lebens in einem verdammten Krematorium enden würde! Und das noch vor dem besten Moment – dem ersten Kuss als Mann und Frau! Warum hatte dieser elende, verblödete LKW sie nicht erst auf der Rückfahrt erwischt? Am Ende der Straße ragten die beiden gotischen Türme der St Mary’s Cathedral über den Dächern auf. Herrgott noch eins, sie war fast da gewesen!

Der Fremde sah sie wortlos an, und Melyn starrte zurück. Er trug ein weites, kariertes Hemd, und solch fluffig liegenden Haare hätte sie auch gerne.

»Ha, ich hab ihr Handy gefunden«, rief einer der Rettungshelfer, worauf sich der LKW-Fahrer erneut übergab. Er würgte inzwischen die blanke Galle heraus.

»Es scheint noch heil zu sein. Sollen wir ihren Bräutigam anrufen?«, fragte der Sanitäter. »Nicht, dass er denkt, sie hätte kalte Füße bekommen. Mein Kumpel ist von seiner Braut sitzengelassen worden, der war danach nie wieder der Alte. Ihr Zukünftiger weiß dann wenigstens, dass es nicht an ihm lag.«

Zu erfahren, dass die Liebste leider tot war, schlug mit Sicherheit wesentlich weniger aufs Ego, als wenn Melyn ihn versetzt hätte. Bevor sie dem Volltrottel mit einem ordentlichen ›Buh‹ den Schreck seines Lebens einjagen konnte, bekam der Mann in dem Karo-Hemd endlich den Mund auf.

»Warum stehst du hier herum und gehst nicht weiter?«

»Jetzt sag bloß, nicht mal Geister dürfen an einem Unfallort gaffen«, beschwerte sie sich. Im Weg stand sie definitiv nicht. Ein Kind rannte durch sie hindurch, bevor es bei dem Briefkasten nicht so viel Erfolg mit seiner Ignoranz hatte und scheppernd dagegen lief.

»Ich meine, warum du nicht weitergehst – Richtung Himmel, Hölle oder Geisterreich.«

»Klingt mir alles nicht nach erstrebenswerten Flitterwochen.« Melyn beäugte ihre vermutlich ebenfalls geisterhafte Gesellschaft. Ihn umgab ein goldener Schimmer, als wäre er eine Christbaumkugel, die im Licht der Weihnachtskerzen schillerte. »Wer bist du überhaupt?«

»Dein Schutzengel. Steve.«

»Den Job hast du ja wohl vergeigt.«

»Deine Zeit war gekommen«, verteidigte sich der unaufmerksame Hallodri.

»Das behaupte ich auch immer, wenn ich eine Aufgabe vermassle.« Sie legte den Kopf schief und schürzte die Lippen. »Alternativ tue ich so, als hätte ich es ›delegiert‹.«

Steve verdrehte die Augen. »Den Job eines Schutzengels kann man nicht delegieren.«

»Tja, dann wirst du die Verantwortung für dein Versagen wohl allein tragen müssen.«

Melyns Engel rieb sich über das Gesicht. »Lass uns jetzt gehen, damit du erfährst, wo du landest!«

»Du willst mich doch nur loswerden.«

»Ganz genau«, brüllte Steve plötzlich. »Auf dich aufzupassen war ein furchtbarer Job! Ich bin erst seit drei Jahren für dich zuständig, und ich weiß nicht, wie oft du beinahe vor ein Auto gelaufen, an einer Klippe entlang getaumelt, fast besoffen in der Badewanne ertrunken bist, und von dem Elefanten möchte ich gar nicht erst anfangen!«

»He«, protestierte sie. »Er hat nicht mehr zurück in seinen Zirkus gefunden und war verängstigt.«

»Das Vieh war stocksauer!«

»Davon habe ich nichts gemerkt.«

»Ja, weil ich dich weggezerrt habe, bevor er auf dich treten konnte wie andere in einen Haufen Hundekacke«, blaffte ihr Schutzengel. »Jetzt komm. Die warten nicht ewig auf dich.«

Ehe Melyn fragen konnte, wer zur Hölle ›die‹ waren, ergriff er ihren Arm, und plötzlich lösten sich die Straßen Edinburghs in Millionen Pixel auf. Die Stimmen der Rettungshelfer verstummten, genauso wie der Straßenlärm, und es wurde alles grau. Buchstäblich. Eigentlich hätte sie eher Dunkelheit erwartet, so wie bei einer hübschen Ohnmacht, oder diesen berühmten Tunnel, an dessen Ende ein Licht auf einen wartete.

Aus den verschwommenen Flecken eines deprimierenden Picassos formten sich recht detaillierte Häuser, Bäume und Straßen. Wenn man sie fragte, könnte das Jenseits ein wenig Farbe vertragen. Welcher selbstmordgefährdete Architekt hatte das entworfen? Selbst Melyns Haut war so fahl, dass ein Zombie einen gesünderen Teint aufwies. Sie drehte die Spitzen ihrer Haare zwischen den Fingern. Die mühsam zusammengetönte Mischung aus Rot und Blond (die selbstverständlich absolut natürlich aussah!) und der darüberliegende Schleier erinnerten an eine Schlammpackung.

Dafür befand sie sich in einer Stadt, die in Sachen Architektur wirklich etwas hermachte. Gut, eine Villa im Kolonialstil direkt neben einen Betonklotz der 20er-Jahre zu setzen, war ein sehr ungeschickter Kontrast, aber mit dem Wolkenkratzer daneben könnte man es als Lehrstrecke für der Entwicklung der Baustile betiteln.

Melyn zeigte an Steve vorbei. »Ist die Villa frei? Die ist echt niedlich. Wie viel Geld muss man dafür hinblättern? Hach, verflucht, warum leben wir nicht in früheren Zeiten, wo den Verstorbenen Reichtümer mit ins Grab gelegt wurden? Ich wette, die legen mich mit meinem billigsten Kleid in den Sarg, und die Manolos reißt sich Bradleys Schwester unter den Nagel. Die war schon immer scharf drauf und …«

»Bitte sei einfach still«, flehte der Engel.

Melyn beäugte ihn kritisch. »Du hast nicht sonderlich gute Nerven, oder?«

»Wie denn?«, stöhnte Steve. »Jeder meiner Schützlinge trampelt darauf herum. Du genauso. Eigentlich müsste ich jetzt meinen nächsten Pflegling bekommen, während du wie die Motte vom Licht von der Kathedrale dort angezogen werden solltest, aber nein, du begaffst lieber die Gegend!« Steve deutete an ihr vorbei, zu einer riesigen Kirche, auf die Dutzende Menschen mit schlurfendem Gang wie degenerierte Zombies zusteuerten. »Dort wirst du das Buch deines Lebens finden und …«

»Buch meines Lebens?«

»Ja, alles was in deinem Leben passiert ist, steht da drin. Bücher über jedes Leben, das jemals gelebt wurde und derzeit gelebt wird, aufbewahrt in der Kathedrale.«

»Also kann jeder darin lesen?«

»Theoretisch schon.«

»Habt ihr noch nie was von Datenschutz gehört?«

Steve fuhr sich durch die Haare und zerrte daran. »Vor dem himmlischen Gericht gibt es keinen Datenschutz, irgendwie müssen die ja festlegen, wohin du gehörst.«

Melyn schnaubte. »Überall auf der Welt verhängen sie Strafen in Trillionenhöhe, wenn man nur einen Mail-Empfänger falsch eingibt, und ihr setzt euch einfach darüber hinweg.«

Steve begann, sich die Stirn zu reiben. Er sollte mal nicht so tun, als hätte er es unfassbar schwer. Sie war schließlich an ihrem Hochzeitstag gestorben, weil er nicht aufgepasst hatte!

»Ich werde dich jetzt verlassen«, fauchte der inkompetenteste Bodyguard der nördlichen Hemisphäre. »Diesmal für immer. Es warten andere Aufträge auf mich. Sollten wir verdammt viel Pech haben, schaffst du es in den Himmel und darfst den ›ewigen Freuden‹ frönen.« Steve lachte bitter. »Die bedeuten übrigens, dass du im Himmel entweder was mit Verwaltung machst oder irgendwelchen Deppen auf der Erde die Hand hältst, bis sie den Löffel abgeben.«

»Deine Nächstenliebe ist wirklich entzückend. Es wundert mich, dass Überbevölkerung bei dieser Einstellung überhaupt noch ein Problem ist«, spottete Melyn. »Ich kann nicht behaupten, dass du mir irgendetwas gehalten hast, dafür ist aber während des Crashs neben mir eine weißhaarige Frau aufgetaucht und hat mir die Hand gegeben. Ich war ja schon immer gegen den Handschlag – es ist ein völlig bescheuerter Brauch, bei denen Männer Frauen entweder die Finger zerquetschen oder sie so lasch halten, dass man sich fragt, wie sie sich mit dem toten Fisch einen runterholen und …«

Steve ergriff ihren Arm und bugsierte sie in Richtung der Straße, stellte sie mit dem Gesicht zu der Kathedrale und legte Melyn die Hand auf den Rücken, um ihr einen Stoß zu geben. »Stell dich dem Gericht und sieh, was das Leben nach dem Tod für dich bringt. Nur tu mir den Gefallen und lauf mir nie wieder über den Weg.«

»Da bin ich ja in hundert Jahren nicht dran.« Gut, sie gab es ja zu. Eigentlich diskutierte sie nur, weil sie so nervös war. Himmlisches Gericht klang recht schwerwiegend, und wer wollte schon freiwillig in die Hölle? Gut aussehende Teufel waren bestimmt nur die Erfindung irgendeines Marketing-Directors.

»Das kann dir ziemlich egal sein, du hast jetzt alle Zeit der Welt«, behauptete Steve. »Nur besondere Ausnahmen dürfen sich in der Reihenfolge beim Himmlischen Gericht vordrängeln.«

»Was muss man denn da für ein Sonderfall sein?«, fragte Melyn.

»Wenn man mit einem der Höllenfürsten geschlafen hat«, knurrte Steve.

»Du klingst ja so, als hättest du mit dem Höllenfürsten geschlafen. Was ist passiert? Hat er dich am nächsten Tag nicht angerufen?«

Melyns Schutzengel platzte nicht nur im übertragenen Sinne vor Wut, er löste sich mit einem ohrenbetäubenden Knall in einer weißen Wolke auf, bevor sie nachfragen konnte, warum er Höllenfürst in der Mehrzahl erwähnt hatte.

Schön. Dann ging sie eben mit den anderen. Irgendwie kam es ihr vor, als wäre sie die Einzige, die halbwegs ihre Gedanken beisammenhatte. Die grau getünchte Masse stierte mit leeren Blicken vor sich hin und wankte zielstrebig auf das Kirchenportal zu. Das wurde mit Sicherheit eine extrem lahme Veranstaltung. Aber hatte sie nicht alle Zeit der Welt? Dann hatte sie die auch für das Jüngste Gericht. Mit ein wenig Glück fand sie vorher einen Weg hier raus. Sie war nie ein Freund davon gewesen, Tatsachen kampflos zu akzeptieren, und zur Hölle – sie hatte fünf Jahre lang auf Bradleys Heiratsantrag gewartet. Sie würde sich den schönsten Tag im Leben bestimmt nicht von ihrem Tod ruinieren lassen!

Kapitel 2Teufel haben es nicht leicht

»Seit meiner Geburt habe ich mein Leben unserem Herrn und seinem Sohn Jesus verschrieben. Jeden Tag senkte ich das Haupt voller Demut vor Gott, stellte all meine Kraft, meine Taten und meine Gedanken in seinen Dienst. Keine Verführung gab es, der ich nicht widerstand, so schwöre ich es, sonst soll mich sein Zorn treffen, wie er einst das Volk Edom traf …«

Der schwafelnde Pfaffe war kein Prüfling für das himmlische Gericht, sondern ein wandelnder Mordanschlag auf Talans Nervenkostüm. Bestünden die Wände des Anhörungszimmers nicht aus Wolken, Talan würde sich daran den Schädel einschlagen. Diese monotone Stimme, die geheuchelte Bescheidenheit konnte sogar einen Teufel dahinraffen!

Der Geist des Priesters fingerte an seinem Kollar und schwadronierte weiter: »Der Herr prüfte mich oft und war mir gnädig. Aus seiner Güte schöpfte ich meine Kraft, immer wieder voranzuschreiten und den Menschen Hoffnung zu geben, in seinem Namen, damit sie sehend wurden angesichts seiner Barmherzigkeit …«

»Ist ja gut«, winkte Talan ab. »Wir haben es kapiert. Du hast bei den Predigten eifrig die Gläubigen zu Tode gelangweilt und bist ständig mit deinem Klingelbeutel durch die Gemeinde gezogen. Hast du überhaupt nichts Spannendes zu bieten? Mord, Erpressung, Raub?«

»Niemals«, rief der Pastor empört aus. »Ich habe mir nie etwas widerrechtlich angeeignet. Ich stehe im Dienst der Kirche, unseres Herrn. Ich widme mich ihm seit über sechzig Jahren, und sobald Spendengelder hereinkamen, gab ich sie für die Bedürftigen aus. Wir haben jeden Donnerstag einen Scrabble-Abend veranstaltet und …«

Talan drehte sich zu dem Engel um, der neben ihm saß und mit einem dämlichen Grinsen dem Gewäsch gelauscht hatte. »Nimm ihn zu dir in den Himmel. Sein Fegefeuer mutiert bei dem Geschwafel sonst zu einem Waldbrand in Kalifornien.«

Viktor runzelte die Stirn. »Das ist überhaupt nicht möglich.«

»Hast du aus Australien nichts gelernt? Viele süße Koalas sind verbrannt, nur weil Shytan nicht genügend Kaffee intus hatte und aus Versehen den falschen Knopf gedrückt hat.«

»Aus Versehen … Als ob dein Bruder irgendwas aus Versehen macht.« Der geflügelte Wichtigtuer rückte die Brille zurecht und betrachtete Talan missmutig. »Wir müssen erst in das Buch seines Lebens sehen.«

»Kein Bedarf.« Was sollte in der Schwarte schon stehen? Wie viele Omas der auf die Wange geküsst hatte?

Erneut maß ihn Viktor, als wäre es ein verfluchtes Sakrileg, diesen öden Schinken nicht durchzuackern. Betont langsam blätterte er die Seiten durch. Wenigstens hielt der Kleriker den Mund und sah dem Engel stumm dabei zu. Auch Seelen konnten offenbar schwitzen, denn auf der blassen Stirn des Pfaffen bildeten sich dicke Schweißtropfen.

Endlich sah der elysische Staubwedel auf und warf seinem Klienten einen Blick über den Brillenrand zu. Das Lächeln auf Viktors Lippen war so beifällig, dass Talan langsam bereit war, sich im Weihwasser zu ertränken, Hauptsache, er kam hier endlich weg.

»Menschen wie dich sollte es öfter geben, dann hätten unsere Schutzengel ein sehr viel ruhigeres Leben und die Hölle wäre überflüssig. Innerhalb kürzester Zeit wären wir gewisse hochnäsige Idioten los.« Viktor lächelte süffisant in Talans Richtung. »Nichts für ungut.«

»Ohne die angeblich hochnäsigen Idioten würdet ihr euch, in Selbstherrlichkeit versunken, permanent bei den Proben des himmlischen Chores einen runterwedeln. Trotz der dicken Brillengläser würdest du deine Palme allerdings sowieso nicht finden und dann eine fremde erwischen.« Talan grinste schief. »Nichts für ungut.«

Viktors Gesicht färbte sich puterrot, selbst auf seinem Hals bildeten sich dunkle Flecken. »Deine Beleidigungen …«

»… sind außerordentlich erfrischend, oder?«, ergänzte Talan munter. »Die gehören zum Unterhaltungsprogramm.«

»Ich will kein Unterhaltungsprogramm. Ich will lediglich die Seelen zuteilen«, zischte Viktor.

»Dann solltest du diesen Deppen endlich in den Himmel beordern, sonst wird das nichts.«

Der Bibelprediger hatte die gesamte Zeit mit offenem Mund zugehört, doch als sich Viktors wütender Blick ihm zuwandte, schloss er ihn schnell und verbeugte sich sogar. Noch ein Stück weiter und seine Nase versank in den Wolken, die den Boden des Raumes bildeten. Mit einem Fingerschnippen verwandelte Talan das strahlende Gewölk in grünlich schimmernden Dunst, der nach verfaulten Eiern stank.

Noch während der Kleriker ächzend zurückzuckte, setzte Viktor wieder sein unerträglich würdevolles Lächeln auf. »Dein Platz ist im Himmel.«

Ging doch!

Dieser elendig langweilige Kirchendiener war darüber offenbar so erleichtert, dass er den Schwefel prompt vergaß und sich erneut so tief verbeugte, dass er beinahe vornüberfiel, mit dem Gesicht in den heimeligen Geruch der Hölle. »Ich danke Euch, gütiger Herr«, näselte er erstickt.

»Ich bin nicht der Herr. Ich bin lediglich der Zuständige für die Seelenverteilung«, erwiderte Viktor und grinste so bescheiden, dass Talan zu glucksen begann.

Viktor warf ihm einen strafenden Blick zu und deutete schließlich mit der Hand scheinbar wahllos auf die Wände. »Geh, mein Sohn, und tritt ein in die paradiesischen Sphären.«

»Mit Freuden werde ich meine Dienste auch in diesem Dasein anbieten und mit all meiner zur Verfügung stehenden Kraft …«

Talan ließ dem Pfaffen aus dem Nichts einen Lavastein auf den Fuß fallen. Das Gekreische war nur unwesentlich besser als das Gewäsch, aber im Namen der drei teuflischen Brüder, irgendwann war auch mal gut.

Der Priester humpelte eilig durch die Wolkenwand und war, der Hölle sei Dank, verschwunden. Talan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Sind wir endlich fertig?«

»Das war gerade mal der zweihundertste«, erwiderte Viktor pikiert. Er warf einen Blick auf seine Liste. »Wir haben noch mindestens dreihundertfünfzig vor uns, und es kommen ständig neue dazu.«

»Wir sollten ein Sterbestopp verhängen«, brummte Talan.

Wo zum Henker war sein Bruder? Über die Seelen zu urteilen war nämlich Shytans Job! Talan war für die Bestrafungen zuständig und nicht für das Aussieben derer, denen er buchstäblich Feuer unter dem Hintern machen durfte. Aber weil der holde Herr unauffindbar war, musste Talan mal wieder einspringen. Shytan wusste genau, dass er das hasste! Man hörte sich einen Klienten (Shytan bestand auf dieser schwachsinnigen Bezeichnung.) nach dem anderen an, las sich durch deren dröges Leben, und man durfte nicht mal auslosen, ob man die Seele anschließend in die Hölle steckte, zum Spuken zurück auf die Erde schickte oder sie der ewigen Ödnis des Reiches der geflügelten Pisser – kurz Himmel – aussetzte. Nein, dafür gab es Kriterien und Richtlinien! Eine weitere Stunde diesen Mist und er würde dahinsiechen, als hätte man ihm den Schierlingsbecher gereicht. Er konnte sich bereits jetzt kaum auf seinem Stuhl halten und rutschte zentimeterweise nach unten.

»Setz dich ordentlich hin!«, fauchte Viktor.

Talan glitt betont langsam weiter. Er musste die Füße in den flauschigen Boden stemmen, um nicht gänzlich den Abflug zu machen. Dabei starrte er Viktor provokant an. Dessen Federn hingen über den (natürlich reinweißen) Chefsessel hinaus und verliehen ihm den Charme eines explodierten Straußes weißer Callas. Viktor presste die Lippen aufeinander, als müsse er sich mit aller Kraft einen Kommentar verkneifen, und schließlich drückte er den Rücken durch.

Bevor er den Mund aufmachen konnte, sagte Talan: »Ich wette, du hast dir nicht nur einen Stock in den Hintern geschoben, um so steif zu sein, sondern gleich einen ganzen Mammutbaum.«

»Kannst du nicht einmal mit mir reden, ohne mich zu beleidigen?«

Talan wiegte den Kopf. »Lass mich kurz überlegen … Nein.«

Bedauerlicherweise war Viktor der Erwachsenere von ihnen und wusste, dass jegliches Widerwort eine ewige Diskussion nach sich zog. Er warf Talan einen verächtlichen Blick zu und tippte auf die Liste. »Die Nächste ist Melyn Fraser.«

Normalerweise trat bei der Nennung des Namens die Seele unverzüglich ein, und das tödlich langweilige Spiel begann von vorn. Aber nichts geschah. Talan erwischte sich, wie er erwartungsvoll auf die Schäfchenwolken starrte.

Viktor räusperte sich. »Melyn Fraser.«

Gäbe es hier Stecknadeln, könnte man sie fallen hören. Keine Seele erschien.

»Vielleicht hat sich der Stock in deinem Darm jetzt bis zum Mund vorgearbeitet, dass du nuschelst«, mutmaßte Talan.

»Melyn Fraser«, brüllte Viktor plötzlich.

Talan musste sich an den Armlehnen seines Stuhles festhalten, um nicht herunterzufallen.

»Wo ist der zuständige Schutzengel?«, maulte Viktor in den Raum hinein. Keine Sekunde später materialisierte sich ein Mann in einem Holzfällerhemd vor ihnen.

Ehe Talan fragen konnte, ob Karo-Hemden ernsthaft wieder en vogue waren, schnarrte Viktor: »Steve, wo ist Melyn Fraser?«

Der Schutzengel glotzte ihn fassungslos an wie ein zurückgebliebenes Schaf. »Ist sie nicht da?«

Talan ließ den Blick ausführlich durch den dunstigen Raum schweifen. »Also, wenn sie sich nicht gerade unter Viktors Frauenrock …«

»Das ist eine Toga!«, brummelte Viktor, aber Talan hob einfach die Stimme, um ihn zu übertönen.

»… versteckt, dann offenkundig nicht.«

»In die tiefsten Güllegruben der Hölle mit diesem Weib!«

Steves Aufschrei kam so unvermittelt, dass Talan tatsächlich den letzten Rest Halt auf seinem Stuhl verlor und zu Boden krachte. Unter den fassungslosen Blicken der Engel schob er sich in den Schneidersitz. »Ich würde ja deinen Wunsch erfüllen«, ächzte Talan. »Aber dazu müsste sie hier auftauchen.«

»Sie ist die personifizierte Pest«, fluchte Steve. »Sie macht immer das Gegenteil von dem, was man ihr sagt.«

Er ballte die Fäuste, Viktor runzelte die Stirn, Talan hingegen rieb sich die Hände. Eine flüchtige Seele einzufangen klang nach Abwechslung. Womöglich sprang er etwas zu motiviert auf; er wartete auch nicht auf die beiden geflügelten Lemminge, sondern marschierte einfach durch die Wand in die Geisterwelt. Diese Melyn ließ er sich definitiv nicht entgehen.

Kapitel 3Nur mal schnell Bücher holen

Gott, war das unübersichtlich hier.

Melyn war eine ganze Weile durch die Straßen gestromert, bevor sie sich entschlossen hatte, den anderen Seelen in die Kathedrale zu folgen. Nun starrte sie in dem Kirchenschiff nach oben. Über drei Etagen führten schmale Wendeltreppen mit kunstvoll verzierten Geländern zu Emporen, vollgestopft mit Bücherregalen. Auch im Erdgeschoss bogen sich die Bretter unter den zahlreichen Werken. Die Regale standen eng beieinander, und die grauen Menschen ergossen sich regelrecht in die Zwischenräume. Nur in die unterirdischen Etagen ging niemand. Die Treppe hinunter war mit purem Gold überzogen, an ihrem Fuß war es so dunkel, dass man von oben nicht erkennen konnte, was dort unten verborgen lag.

Eine Weile sah Melyn dem Treiben zu. Sie beobachtete eine Frau, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt. Als sie zwischen den Regalen wieder hervorkamen, umklammerten sie jeweils ein Buch. Im Gegensatz zu den Besuchern und der Kathedrale selbst strahlten die Bücher umso farbenfroher. Das der Mutter leuchtete in einem satten Blau, ihre Tochter trug einen schmalen weinroten Band. Sie stellten sich in die Schlange vor einer Kabine, die am Ende jeder Regalreihe stand, verschwanden schließlich in ihr und – solange Melyn auch wartete – kamen nicht mehr heraus.

»Suche das Buch deines Lebens und empfange das Urteil des ehrwürdigen Gerichts«, faselte es plötzlich hinter ihr.

Melyn drehte sich um und sah sich einer hageren Gestalt gegenüber, die sie um einen Kopf überragte. Sein Schädel war bis auf ein Büschel weißen Haares auf der Stirn kahl. Sein Gesicht entstellten unzählige Muttermale und eine wulstige Narbe auf der rechten Wange. Er trug eine formlose, schwarze Kutte und starrte sie aus wässrigen grauen Augen an.

»Eigentlich suche ich den Ausgang«, erwiderte Melyn.

»Den Weg zum ehrwürdigen Gericht findest du mit dem Buch deines Lebens.«

Was, zum Teufel, hatten die alle nur mit den Wälzern?

»Wer bist du?«, fragte sie neugierig.

»Der Wächter der Bibliothek.«

Hach, wie pathetisch. Ob der die Leben stalkte, die er hier bewachte? Vielleicht saß der Kerl ja jeden Abend in einem gemütlichen Sessel, mit einer Tasse Tee und krümelte unzählige Seiten mit Schokolade und Keksen voll. Ob er noch eine Mitbewohnerin brauchte?

»Wenn ich ehrlich bin, sehe ich mich nach dem Weg zurück auf die Erde um. Ich heirate heute.«

Der Blick des Kuttenmannes blieb ausdruckslos. »Suche das Buch deines Lebens und empfange das Urteil des ehrwürdigen Gerichts.«

»Das kann ich in fünfzig Jahren immer noch machen.«

»Suche das Buch deines Lebens und empfange das Urteil des ehrwürdigen Gerichts.«

»Eigentlich wollte ich morgen einen Serienmarathon mit ›The Big Bang Theory‹ einlegen.«

»Suche das Buch deines Lebens und empfange das Urteil des ehrwürdigen Gerichts.«

»Weißt du, du hast schon sehr viele Warzen. Ich kann dir ein Mittel dagegen empfehlen.«

»Suche das Buch deines Lebens und empfange das Urteil des ehrwürdigen Gerichts.«

Wenn man sie fragte, tickte hier niemand so richtig sauber. War der Mann überhaupt echt? Oder war er ein Androide? Konnte man bei ihm einen Stecker ziehen? Melyn spähte hinter ihn, aber sie sah kein Kabel. Vielleicht war ja eine seiner Warzen ein Reset-Knopf? Offensichtlich hatte sich da was aufgehängt und er sagte immer wieder den gleichen Mist auf. Sie drückte mit dem Zeigefinger auf die Hautwucherung auf seiner Nase, da sprang er wie von der Tarantel gestochen zurück. Den defekten Roboter konnte sie damit wohl ausschließen.

»Wie kannst du es wagen, den Hüter der Bibliothek zu berühren?«, fauchte ebenjener und fuhr sich durchs Gesicht. »Wieso ist dein Geist so rege? Und …«

»Melyn!«

Mist, die Stimme gehörte eindeutig ihrem nicht sonderlich stressresistenten Schutzengel.

»War ein Wahnsinnsgespräch«, warf Melyn dem Bibliothekshüter eilig an den Kopf und wirbelte herum. Sie stürzte wahllos in den nächstbesten Gang und rauschte an zigtausend Büchern vorbei, so schnell es ihr Kleid zuließ. Herr im Himmel, wenn sie das nächste Mal heiratete, wählte sie einen Rock mit A-Linie und keinen im Meerjungfrauenstil. Sie sah darin zwar fantastisch aus, aber die nötige Schrittweite für gepflegte Verfolgungsjagden war nicht gegeben. Sie trippelte mehr, als dass sie rannte!

Das Ende des Korridors kam in Sicht, sie sah die Außenmauer auf sich zukommen und schlüpfte in einen Quergang. Sie könnte schwören, ihr Herz hämmerte. Doch als sie die Hand auf die Brust presste, war da nichts. Bevor sie sich allzu viele Gedanken darüber machen konnte, hörte sie Steves donnernde Stimme.

»Es wird Zeit für dein Urteil!«

Sie wollte keine übermäßige Kritik an dem Schutzengel üben, aber als Motivator war er untauglich. Sie pfiff auf das Urteil. Sie wollte nicht in den Himmel oder in die Hölle. Sie wollte in die St Mary Cathedral in Edinburgh, genau genommen vor den Altar und neben Bradley! Es musste doch von hier einen Weg zurück geben! Es gab immer einen. Selbst in einer Einbahnstraße konnte man den Rückwärtsgang einlegen.

Melyn hörte ein Rauschen, als würde eine Horde Tauben die Bibliothek überfallen, und sah hoch. Steve schwebte über den Bücherborden, seine breiten Flügel schimmerten strahlendweiß, und sie spürte den Zug der aufgewirbelten Luft. Der Engel könnte in diesem Augenblick vom Cover eines Fantasy-Romans stammen, allerdings ein jugendfreier, sonst würde Steve sie jetzt als halbnackter, geflügelter Highlander verfolgen.

Sie duckte sich, als er sich wie ein betrunkener Schmetterling um die eigene Achse drehte und sein Blick in ihre Richtung schweifte. Zwei Seelen gingen an ihr vorbei, Melyn sprang zwischen sie und passte sich ihrem gemächlichen Tempo an.

»Warum, zum Teufel, sind die alle grau?«, hörte sie Steve fluchen. »Achtet auf das Brautkleid.«

Melyn hatte keine Ahnung, mit wem er sprach. Wer auch immer es war, er half ihr bestimmt nicht, und Steve hatte recht: Das Kleid mochte zwar so grau sein wie der Rest der Seelen, trotzdem war es nicht sonderlich unauffällig. Sie tappte mit den beiden vergeistigten Toten weiter, aber die bogen in unterschiedliche Richtungen ab. Blöder Mist.

Steve schwebte noch immer über den Regalen, als etwas am Ende der Kirche seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen schien. Er entfernte sich von ihr.

Melyn angelte in ihrem Rücken nach dem verdammten Reißverschluss und verrenkte sich beinahe den Arm, als sie ihn hinunterzog. Beim Betreten der Kathedrale hatte sie einen Mann, lediglich mit einem ausgebeulten Elefantenrüssel-Tanga bekleidet, gesehen. Mit Sicherheit ein Sexunfall. Und wie viele Menschen starben auch in der Dusche? Es war also weniger auffällig, hier halbnackt herumzumarschieren als in dem Brautkleid. Ein kleiner Moment der Wehmut erfasste sie, als sie es auf den Boden sinken ließ. Sie hatte die schönste Braut sein wollen, die Bradley sich wünschen konnte, stattdessen suchte sie nun einen Ausgang aus dem Totenreich.

Sie stieg aus dem vielen Stoff. Wenigstens konnte sie jetzt schneller laufen.

»Warte, ich habe da hinten einen Schleier gesehen«, rief Steve.

Oh verflixt, den Schleier hatte sie völlig vergessen. Melyn duckte sich und huschte von einer Regalreihe zur nächsten und bog schließlich wahllos in einen Gang ein, der sie hoffentlich von Steve wegführte. Der Schutzengel flatterte nicht mehr wie eine aufsässige Motte im Kirchenschiff herum. Verflucht, wo war er? Gerade bog sie um eine Ecke, als vor ihr ein Mann auftauchte.

»Hallo, Schmuckstück«, begrüßte er sie.

Die gute Nachricht: Es war nicht Steve. Die schlechte: Er roch nach Schwefel, und wenn er nicht an Verdauungsproblemen litt, stammte er wohl direkt aus der Hölle. Dann verbargen aber seine Schuhe hervorragend den Pferdefuß, zwischen dem grauen Shirt und dem Bund seiner Jeans lugte auch kein buschiger Schwanz hervor. Es war ein großgewachsener Mann mit einer geraden Nase, sanften Gesichtszügen, und sein Haar war rot wie Feuer. Es fiel glatt über seine Schultern, und sie konnte keinerlei Gehörn darunter entdecken. Ob es so weich war, wie es aussah?

»Du bist die Erste, die mir zur Begrüßung an den Haaren zieht«, spottete der Kerl.

Melyn ließ schnell die Hand sinken und trat zurück, bis sie mit dem Rücken an ein Regal stieß. Seine blauen Augen gefielen ihr. In ihnen funkelte freundlicher Spott, und auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln. Mittlerweile roch sie unter dem Schwefel noch etwas anderes – glimmende Kohle, wie ein Lagerfeuer, das langsam verlosch. Ein bisschen erinnerte sie der Geruch an den Schweinebraten zum Saint Martin's Day, und Melyn kam zu einer neuen Erkenntnis: Auch Toten konnte bei dem Gedanken an Essen der Magen knurren.

Das lenkte sie für einen Moment ab, und plötzlich stand er viel zu nah vor ihr. Siedend heiß wurde ihr bewusst, dass sie lediglich Korsage, Slip und Schuhe trug.

He, waren das seine Finger an ihrem Hintern? Er grinste sie frech an und beugte sich vor. Seine Lippen kamen immer näher, und er schloss die Augen. Der wollte sie küssen! Melyn konnte nicht behaupten, dass sie wusste, was sie tat. Sie folgte ihrem Instinkt und dessen grandioser Einfall bestand darin, wahllos ein Buch aus dem Regal zu zerren und dem rothaarigen Aufreißer ins Gesicht zu schlagen.

»Au!« Der Schlawiner taumelte. Zur Sicherheit schlug sie ein weiteres Mal zu, und er krachte rücklings gegen ein Regal. »Dafür steck ich dich bis zu den splissigen Haarspitzen in eine Lavagrube!«

»Splissig?«, echote Melyn. Sie schleuderte dem Schwefelgigolo den Wälzer entgegen, und ein Hauch des Triumphes überkam sie, als ihn eine Kante am Kinn traf und einen hässlichen roten Kratzer hinterließ. Allerdings wurden seine Augen jetzt nahezu schwarz. Entweder war er ein Roboter und sie hatte den Weltzerstörungs-Knopf gedrückt, oder er war verdammt wütend.

Er warf sich ihr entgegen, und Melyn riss das nächste Buch aus dem Regal. Es war verflixt schwer, aber sie erwischte damit die Nase ihres Angreifers und hörte das Brechen des Knochens. Blut spritzte auf den Ledereinband, und er fiel auf die Knie. Sie würde gern behaupten, sie hätte ihren Gegner gezielt ausgeknockt. Die Wahrheit war aber, dass ihr der Wälzer aus den Fingern rutschte, direkt auf den rothaarigen Hinterkopf.

»Warum hat man in solchen Momenten nie Popcorn dabei?«

Melyn zuckte zusammen, als sie Steve hinter sich hörte, und wirbelte herum. Steve feixte, der andere Mann lag auf dem Boden, die Hände schützend über seinem Kopf und spähte zu ihr hoch.

»Du spinnst doch!«, maulte er sie an und schob sich von ihr weg, in Richtung des Schutzengels.

Steve grinste breiter. »Nun, Talan, hältst du mich jetzt immer noch für zu dämlich, eine Tote abzuliefern?«

Talan schnaubte so heftig, dass Blut aus seiner Nase stob, und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Auf jeden Fall.«

Fast hätte Melyn über Steves pikierten Gesichtsausdruck gelacht. Er packte den Blutenden am Kragen, zerrte ihn auf die Füße und schubste ihn in ihre Richtung. »Dann fang du sie.«

Talan klammerte sich an Melyns Armen fest, auf der vergeblichen Suche nach seinem Gleichgewicht. Sie griff nach einem weiteren Buch, Talan machte einen Satz zurück, und sie warf es nach ihm. Er fing es auf, und diese Sekunde, die er brauchte, um zu realisieren, dass sie ihn nicht erwischt hatte, musste als Vorsprung reichen.

Sie rannte, als wäre nicht nur der Teufel, sondern auch die himmlischen Heerscharen hinter ihr her. Sie zählte die vielen Regalreihen schon nicht mehr, an denen sie vorbei sauste.

»Wenn du mir nicht ständig im Weg stehen würdest, hätten wir sie längst«, hörte sie Steve schimpfen.

»Wie soll ich was sehen, wenn du überall deine Flügel hinhängst?«, erwiderte Talan.

Oh Mist, ihre Stimmen war viel zu nah!

Die untersten und obersten Bretter der Bücherwände zierten Stangen und dort war eine Leiter eingehängt. Melyn warf sich dagegen, klammerte sich an den Sprossen fest und verlagerte ihr Gewicht nach vorn. Ihre Haare wehten, als sie das Regal entlangbretterte. Leider war so eine Leiter nicht so schnell, wie sie gehofft hatte. Sie fühlte sich gepackt und schlichtweg heruntergezerrt. Der Geruch von glimmender Holzkohle kroch in ihre Nase, und Talan prallte mit seinem vollen Gewicht auf sie und drückte sie gegen die Bücherwand.

»Du solltest auf Salat umsteigen. Mein eingebauter Gewichtszähler sagt, du seist zu schwer«, ächzte Melyn.

»Ich werde deinen Schädel aufbohren, damit ich nachsehen kann, ob du ein Gehirn hast oder einen Affen, der Schellen aneinanderschlägt«, drohte Talan. Er legte den Arm um sie und presste sie an sich. Er hatte wirklich stattliche Oberarme, die nicht aus Silikonpolstern bestanden, sondern aus gut trainierten Muskeln. Das war sicherlich der feuchte Traum so mancher Frau, dennoch zappelte sie, wenn auch vergeblich, in seinem Griff. Zu allem Überfluss lag eine Hand auf ihren Brüsten.

»Hör auf, mich zu betatschen«, fauchte sie.

»Irgendwo muss ich dich festhalten!«

Oh, dann fasste sie ihn auch an. Sie langte nach hinten, packte sein Ohr wie bei einem ungezogenen Bengel und zog fest daran. Talan wimmerte vor Schmerz, und sie könnte schwören, Steves Gelächter dicht hinter ihnen zu hören. Das war dermaßen ansteckend, dass sie unwillkürlich grinste. Mit aller Kraft rammte sie Talan ihren untoten High Heel in den Fuß, und endlich ließ er sie los. Sie machte einen Satz vorwärts, allerdings bekam Steve sie am Schleier zu fassen, der wiederum in ihren Haaren ziepte. Melyn stieß ihm den Ellbogen in die Rippen, aber statt loszulassen, bog er ihren Kopf so weit zurück, dass sie es in ihrem Nacken knacken hörte. Wieso wurde Melyn das Gefühl nicht los, die wollten sie trotz ihres bereits untoten Zustandes gerade umbringen?

»Du elendes …«

Was sie genau war, sprach Steve nicht mehr aus. Aus dem Nichts prasselte eine Ladung Gestein auf sie nieder, als hätte jemand eine Lore über ihnen ausgekippt.

»Bei Petrus‘ goldener Türklinke«, donnerte Steve. »Warum bewirfst du auch mich damit?«

»Meine Hand-Augen-Koordination muss gelitten haben, tut mir seeehr leid«, ertönte Talans heitere Stimme. Wenn man sie fragte, klang er nicht, als täte ihm irgendetwas leid. Steve schien es ebenfalls nicht zu glauben, er pflegte offenbar einige ungelöste Konflikte mit Talan. Während Melyn noch aus dem Schutthaufen herauskrabbelte, rauschte er bereits mit gespreizten Flügeln auf den Steinewerfer zu, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn dermaßen durch, dass die roten Haare flogen.

»Ich habe die Nase voll von dir«, brüllte Steve. »Wie schön war die Zeit, als du in dieses finstere Loch gebannt warst. Es war wie Urlaub!«

»Denk ja nicht, ich hätte vergessen, wer mich dorthin gebracht hat«, wetterte Talan zurück, und prompt begannen die blütenreinen Flügel des Schutzengels zu brennen. Steve jaulte, schrammte an den Regalen entlang und kokelte unzählige Bücher an, bevor er sich auf dem Boden wälzte, bis seine Federn nur noch rauchten. Er atmete eine Sekunde durch, dann warf er sich auf Talan, packte ihn unter den Armen und erhob sich mit ihm in die Höhe. Vergeblich zappelte Talan in dem Griff des Engels. Steve ließ ihn nicht nur fallen, er schleuderte ihn, wie andere kegelten.

Talans Flug endete an der obersten Kante eines Regals, wo er sich wie ein altersschwacher Koala daran festklammerte. Doch das Gestell knarzte, schwankte und keine Sekunde später neigte es sich durch den Schwung gefährlich. Talan verlor endgültig das Gleichgewicht und kippte mit sämtlichen Büchern einfach um. Das Bord krachte gegen das daneben und dieses wiederum gegen das nächste. Wie Dominosteine stießen sich die Regale gegenseitig um. Ein ohrenbetäubendes Getöse hallte durch das Kirchenschiff. Minutenlang, bis sich gespenstige Stille über das Chaos senkte.

Talan lag fassungslos vor sich hinstarrend inmitten des Durcheinanders, während Steve in der Luft flatterte und nicht wesentlich intelligenter dreinsah.

»Wow«, entfuhr es Talan. »Ich stelle ja nun schon seit mehreren hundert Jahren hauptberuflich Blödsinn an, aber das habe ich bisher nicht hingekriegt.« Er kletterte zu dem landenden Steve und schüttelte diesem überschwänglich die Hand. »Herrliches Chaos, vorbildlich, ich gratuliere dir. Ich konnte dich ja nie sonderlich gut leiden, aber jetzt bin ich beeindruckt. «

Steve entriss ihm seinen Arm. »Daran bist du schuld! «

Talan lachte. »Definitiv nicht.«

Wie hieß es so schön? Wenn zwei sich streiten, freut sich die Dritte? An Melyn schienen die momentan nicht im Geringsten zu denken, also schob sie sich rückwärts zum Geländer und riskierte einen schnellen Blick. Wenn sie sprang, rauschte sie buchstäblich bis zum Keller durch, unter ihr befand sich nämlich die goldene Treppe. Wollte sie nicht dem zankenden Gesindel Gesellschaft leisten, gab es für sie nur diesen Weg. Als Mensch würde sie das nicht überleben, als Verblichene konnte man sicher unmöglich erneut sterben, oder? Melyn dachte kaum zu Ende, da schwang sie sich über die Balustrade.

Der Flug war lang und endete mit einem harten Aufprall. Aber weder war sie toter als tot, noch schien sie sich etwas gebrochen zu haben. Sie kroch so weit in den Schatten, bis sie sicher sein konnte, von oben nicht mehr zu sehen zu sein. Erst dann atmete sie tief durch und sah sich um. Selbst hier gab es Bücher, aber wesentlich weniger als in den oberen Etagen. Sie rappelte sich auf und warf einen Blick auf die Bände vor ihrer Nase. Jemand machte sich doch über sie lustig. Ein Titel, geschrieben mit goldener Schrift, lautete ›Melyn Fraser‹.

Das war ihr Buch. Sie zerrte es heraus und hielt einen Moment inne. Es war größer als ein normales Taschenbuch, beinahe wie ein Sachbuch. Es wog schwer in ihrer Hand, und unter ihren Fingern spürte sie weiches smaragdgrünes Leder.

Ihr Blick huschte über die engbeschriebenen Bögen. Da brat ihr jemand einen Storch – das war ihre Handschrift!

›Melyn verliebte sich in den Nachbarsjungen, der sie immer kleine Kartoffel nannte, aber jener erwiderte ihre Liebe nicht. Also beschloss sie, Tim einen Streich zu spielen. In der Silvesternacht schnitt sie den Gurt seines Sattels an, sodass Tim beim Ausritt am nächsten Tag vom Pferd fiel und sich das Bein brach.‹

Sie könnte schwören, dass ihre Wangen feuerrot brannten. Herrgott, die hatten sogar ihre Jugendsünden aufgeschrieben. Sie war gerade mal elf Jahre alt gewesen und unrettbar in Tim verliebt. Aber der hatte lieber mit einer anderen die Naschtüte vom Kiosk geteilt. Einmal hatte sie mit Tränen in den Augen danebengestanden, und was hatte dieser Mistkerl getan? Sie ausgelacht und über den gesamten Schulhof gebrüllt: ›Die kleine Kartoffel sucht jemanden für was Süßes, na, wer will?‹

Was hatte sie mit dem Taschenmesser an dem blöden Gurt gesägt. Himmel, war ihr das peinlich. Nie im Leben durfte das jemand lesen! Melyn riss die Seite heraus, stopfte sie sich in den Mund und kaute darauf herum. So! Den Rest des Buches klemmte sie sich so gut es ging in den Ausschnitt ihrer Korsage. Es war zwar unbequem, wie es ihre Brüste quetschte, trotzdem würde sie es nicht zurücklassen. Es war ihre Vergangenheit und die sollte nicht in der Öffentlichkeit der Zwischenwelt herumstehen. Hätte Melyn gewollt, dass Fremde jeden ihrer Schritte aufzeichneten, hätte sie eine Schrittzähler-App mit GPS installiert.

Was nun? Da oben lauerten zwei Männer auf sie, die nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen waren. Es würde nicht lange dauern und die suchten hier unten nach ihr. Unterirdische Gewölbe besaßen meistens einen geheimen Ausgang, oder? Je weiter Melyn ging, umso kühler und dunkler wurde es. Die kleine Tür fügte sich so gut in die Mauer ein, dass Melyn sie im ersten Moment nicht sah, sondern enttäuscht auf die zugemauerte Sackgasse starrte. Als Melyn die Hand auf die Klinke legte, ließ sie sich problemlos öffnen, und sie schlüpfte hindurch. Vielleicht konnte sie sich hier verstecken und ausruhen. Den schweren Riegel schob sie vor, erst dann riskierte sie einen Blick in den Raum hinein. Auch hier war es düster. Die einzige Lichtquelle stellten fünf Kerzen dar. Melyn stolperte über scheppernden Plunder, als sie darauf zuging und nach dem Leuchter griff. Je länger sie sich umsah, umso aufgeregter kribbelte es in ihrem Magen.

Heiliger Bimbam, sie war wohl in der Schatzkammer gelandet. Sie könnte schwören, dass hier die Heiligtümer des Christentums lagerten. Eisennägel ruhten neben einem halbvermoderten Holzkreuz mit der Aufschrift ›INRI‹. In einer Nische glänzte das Gold einer Truhe in dem diffusen Kerzenschein. In den dicken Ringen steckten zwei lange Holzstäbe. Das sah ihr gewaltig nach der Bundeslade aus. Auf der anderen Seite stand eine windschiefe Krippe. Es würde sie herzlich wenig wundern, wenn hier auch der Esel, die Schafe und die Heiligen Drei Könige konserviert herumlagen. Und den Dornenkranz auf einem weichen Polster hatte bestimmt niemand mal eben aus einem Stück Rosenranke geknotet. Und zu welchem biblischen Ereignis gehörte die alte Kanone? Zu den Kreuzzügen? Oder Moment. Melyn erinnerte sich dunkel an eine Schutzheilige der Artillerie, die immer mit einer Kanone dargestellt wurde.

An den Wänden hingen ein verschlissenes Tuch und ein halbes Dutzend Gemälde. Bei einem hüpfte Melyns untotes Herz vor Schreck besonders hoch. Glänzende Ölfarben zeigten auf einer Holzleinwand eine Maria mit einem pausbäckigen Jesus im Schoß, neben denen Josef hockte. Die Eltern schienen keine Angst zu haben, dass der Baby-Jesus spontan losstrullte, er trug nämlich keine Windel. Die Art der Farben, der Stil der Malerei – das war eindeutig ein Michelangelo. Es ähnelte dem Tondo-Doni-Rundbild, aber es sah anders aus. Sie ging näher und erkannte das Wappen, sechs Kugeln auf goldenem Grund. Für dieses Bild würde sich Bradley Arme und Beine ausreißen. Er hatte oft von Michelangelo gesprochen. Dieser hatte für reiche Florentiner Auftragsarbeiten angefertigt und offenbar auch für die Familie de Medici. Bradley wüsste sicher mehr darüber. Michelangelo hatte in Bradley seinen größten Fan. Wenn er könnte, würde Bradley den Petersdom kaufen, um ihn seiner Sammlung einzuverleiben.

Es hätte sie überrascht, wenn es hier keine Bücher gegeben hätte. Nur waren sie nicht säuberlich in Regale einsortiert, sondern stapelten sich auf jedem freien Fleck. Sie waren ebenso unterschiedlich wie die Schmöker draußen. ›Petrus‹ las sie auf einem Einband. Das war doch nicht wahr, oder? Der Petrus? Da würde sie gern mal ihre Nase hineinstecken. Gerade wollte sie den Schinken aufschlagen, da zuckte sie zusammen. Vor der Tür krachte es gewaltig, und sie hörte Steves Gebrüll. »Komm raus, Melyn!«

Ähm … Nein. Allerdings hämmerte ihr so wahnsinnig verständnisvoller Schutzengel gegen die Tür, dass sie im Rahmen erzitterte.

»Du machst die Tür kaputt«, sagte Talan, und sie könnte schwören, er lachte dabei. Wenn er gute Laune hatte, verbannte er sie womöglich nicht ins tiefste Lavaloch, sobald er ihrer habhaft wurde. »Andererseits würde ich gern sehen, wie du sie an den Haaren zum Gericht schleifst«, setzte Talan nach.

Melyns Wunsch, sich freiwillig zu stellen, verblasste.

»Du könntest dich einfach hinter ihr materialisieren und Buh rufen«, schlug Talan vor.

Bevor Melyn allerdings in Panik um sich schlug, erwiderte Steve: »Wenn das ginge, hätte ich das längst gemacht, du Schlaumeier. Aber über dem Raum liegt ein Zauber.«

Der Zauber einer offen stehenden Tür, die Melyn verrammelt hatte. Aber sie brüllte diese fehlende Logik bestimmt nicht nach draußen. Sie war für jede Sekunde Verschnaufpause dankbar. Nur hielt die Tür sicher nicht lange stand, und einen anderen Ausgang gab es nicht. Sie musste Steve und Talan ablenken. Oder niederwalzen. Nur wie? Ihr Blick fiel auf die Kanone. Sie parkte mit der Mündung bereits Richtung Tür. Ob das Ding noch funktionierte? Melyn raffte wahllos Bücher an sich und stopfte sie in das Rohr. Während sie sich gegen das Geschütz stemmte und es genauer ausrichtete, polterte es von draußen an diese, dass der Staub aus den Ritzen rieselte.

»Warum braucht ihr so lange?«, fragte eine Stimme, die weder zu Steve noch zu Talan gehörte. Sie war eher näselnd, aber wer immer es auch war, er würde ihr sicher auch nicht helfen.

Melyn hielt eine der Kerzenflammen an die Lunte und grub vor Anspannung die Zähne in ihre Unterlippe. Nach einer gefühlten Ewigkeit begann die Zündschnur endlich zu zischen, und Melyn konnte sich wirklich zu ihrem Timing gratulieren. Die Tür sprang auf, Melyn warf sich in Deckung, und die Kanone donnerte los.

Der gesamte Raum schien zu erbeben, in ihren Ohren pfiff es, und als sie die Augen öffnete, sah sie Steve, Talan und einen weiteren Engel inmitten unzähliger Holzsplitter und herumfliegender Papierschnipsel am Boden liegen. Wirklich bedauerlich, sie hatte sie nicht in die nächste Zwischenwelt gesprengt. Die Haare des Teufels breiteten sich auf verrußten Flügeln aus. Sie tappte vorsichtig näher, den Kronleuchter hielt sie dabei umklammert. Keiner der Drei rührte sich. Aus Steves übrigem Gefieder ragte die Türklinke, Talan klammerte sich noch in der Bewusstlosigkeit an dessen Hemd fest. Obwohl Melyn wusste, dass sie abhauen sollte, betrachtete sie einen Moment lang die unzähligen Sommersprossen auf seinem Gesicht. Das personifizierte Böse war verdammt attraktiv.

»Sehr hübsch, nicht wahr?«, spottete eine dunkle Stimme neben ihr.

Melyn schreckte hoch, holte instinktiv mit dem Kerzenleuchter aus, doch bevor sie irgendetwas treffen konnte, fühlte sie sich an der Kehle gepackt und hochgehoben. Sie wusste, wie sie sich gegen einen solchen Griff verteidigen konnte. Sie wollte es zumindest versuchen, aber sie war wie gelähmt. Kein Muskel gehorchte ihrem Befehl. Sie hielt nur den dämlichen Leuchter erhoben, als wäre sie eine schlechte Kopie der Freiheitsstatue. Sie starrte in die gleichen blauen Augen, wie sie Talan besaß, nur waren die Haare dieses Mannes wesentlich kürzer und vor allem tiefschwarz. Seine Züge wirkten in dem flackernden Licht wie in Stein gemeißelt, hart und streng. Obwohl er ihr die Kehle zudrückte, hielt sie die Luft an.

»Es wird Zeit, dass wir uns ausführlich über dein Urteil unterhalten.«

Verflixt, sie hatte es geahnt.

Kapitel 4Im Zweifel gegen die Angeklagte

 

Niemals war Talan dermaßen oft in einer so kurzen Zeitspanne niedergeschlagen worden. In seinen Ohren dröhnte es, als benutze ein Airbus seinen Gehörgang als Startbahn. Er musste sich an dem Türrahmen abstützen, um nicht sofort wieder umzufallen, als er sich auf die Beine hievte.

Die beiden ätherischen Fusselfänger sahen nicht viel besser aus. Auf Viktors Stirn zeichnete sich ein langer roter Streifen ab, als hätte ihn dort ein Einband getroffen. Für einen Moment schielte der Engel, bis er den Kopf schüttelte und ihn sich stöhnend hielt. Als Steve sich bewegte, fiel mit einem metallischen Klirren eine Türklinke auf den Boden.

»Sie hat euch fertiggemacht«, grinste Talan und versuchte, den pochenden Schmerz in seinem eigenen Schädel zu ignorieren.

»Sie hat dich verkloppt wie auf dem Schulhof«, murrte Steve.

»Nur weil ich ihr ein Erfolgserlebnis verschaffen wollte.«

»Ha«, entfuhr es Viktor, und sein Blick blieb wütend an Talan hängen. »Ich würde ja sagen, es war nötig, dass dir jemand mal die letzten Gehirnzellen zurechtrückt, aber das hätte ich liebend gern selbst übernommen.«

»Uh, ich zittere«, seufzte Talan und drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. »Was hättest du getan? Mir den Hintern versohlt? Warte, das kannst du gern …«

»Lass deine verdammte Hose an!«

Talan hatte bereits die Hände am Gürtel, aber Viktors Aufschrei ließ ihn innehalten. »Dieses empörte Rot auf den Wangen steht dir gut«, stänkerte er. »Und wenn ich es mir genau überlege …«

Weiter kam er nicht, denn sie hörten die liebliche Stimme Shytans aus dem Dunkel des Raumes schallen, in dem sich Melyn verbarrikadiert hatte. »Haltet sofort die Klappe, sonst verwandle ich euch in Ziegen und beschere euch ein Dasein in einem Streichelzoo.«

»In einem Streichelzoo wird man wenigstens regelmäßig gefüttert und nicht mit Büchern bombardiert«, brummte Steve. Seine Flügel hingen so tief, dass sie über den Boden schleiften. »Gegen Kuschelrunden hätte ich auch herzlich wenig.«

Viktor starrte Steve pikiert an, Talan breitete die Arme aus. »Wenn es denn sein muss, dann lass uns Freundschaft schließen«, rief er.

»Fahr zur Hölle«, lautete Steves nicht sonderlich eloquente Antwort.

Shytan schob sich durch den Türrahmen und musste dabei den Kopf einziehen. Über seiner Schulter hing die zappelnde Melyn. Der Schleier fiel ihr über das Gesicht und sie pustete ihn mehrfach frustriert weg.

»Shytan, ich weiß ja, dass du eine seltsame Art hast, Frauen deine Aufwartung zu machen, aber kannst du das nicht in dein Schlafzimmer verlegen?« So finster Shytans Gesicht auch wirkte, Talan entging nicht, wo seine Hand ruhte – auf Melyns Hintern. Talan hatte sich von Kindesbeinen an schwergetan, seinen Bruder zu lieben, jetzt überkam ihn zusätzlich das Verlangen, ihm die Finger mit einem stumpfen Messer scheibchenweise abzuschneiden. Aber bei seinem höllischen Element, Melyn sah hinreißend aus.

Auch sie war verrußt, doch standen ihr die Schmauchspuren wesentlich besser als den vertrottelten Engeln. Aus Melyns Ausschnitt ragte das Buch ihres Lebens hervor. Ihre Unterwäsche bildete mit dem Weiß einen hübschen Kontrast zu den dunklen Spuren. Moment mal … Talan löste den Blick von ihrem verführerisch eingepackten Leib, und als Shytan sich mit ihr ein Stück zur Seite drehte, sah er ihr ins Gesicht. Sie zappelte, entkam jedoch nicht Shytans Griff. Sie schrammte nur mit der Stirn an der Mauer entlang. Ihre Lippen presste sie zu einem dünnen Strich zusammen, ihre Wangen hingegen leuchteten rot.

»Sie hat Farbe«, entfuhr es Talan.

»Lobet und preiset die diabolischen Mächte, mein Bruder ist nicht farbenblind«, ätzte Shytan.

»Aber …«

»Ruhe. Wir gehen jetzt zurück«, knurrte Shytan und drehte sich zu Viktor um. Der Engel schien sich von seiner Kopfverletzung noch nicht erholt zu haben. Er stierte in das Dunkel des Zimmers, aus dem Shytan mit Melyn gekommen war, und machte einen Schritt über die Türschwelle.

»Wo willst du hin?«, schnarrte Shytan.

»Ich war noch nie in diesen Räumlichkeiten«, erwiderte Viktor. »Dort sollen wundersame Dinge verborgen …«

»Den Krempel kannst du dir später ansehen.« Shytan riss ihm ein Buch, das in seinen Federn steckte, heraus. Viktor zischte, und im nächsten Moment löste sich Shytan samt Melyn in Luft auf.

Wenn sein Bruder dachte, er bekäme Talan auf diese Weise los, sollte er sich die Gehirnwindungen mit Weihwasser durchspülen lassen. Melyn besaß eine Menge Temperament, er wollte unbedingt erleben, was sie als Nächstes anstellte.

Keine Sekunde später materialisierte sich Talan im Wolkenraum des himmlischen Gerichts, gefolgt von seinem ätherischen Lieblingsrivalen Viktor. Jener öffnete den Mund, wurde jedoch von Melyn übertönt, die eindeutig genug davon hatte, wie ein alter Teppich herumgetragen zu werden.

»Lass mich sofort runter, oder ich schwöre dir, du wirst es bereuen«, zeterte das renitente Weibsstück.

Shytan kniff ihr zum Dank in die Rückseite ihres Oberschenkels, sein wütender Blick galt eindeutig Talan und Viktor. »Ihr sollt die Seelen zuteilen und euch nicht in der Kathedrale herumtreiben«, donnerte er.

Talan wickelte eine von Melyns Strähnen um seinen Finger, zog aber die Hand schnell zurück, als sie nach ihm ausholte. »Wir haben lediglich die Bibliothek vor ihrer Zerstörungswut bewahren wollen.«

»Meine Zerstörungswut?«, entfuhr es Melyn, und sie hörte auf, sich auf Shytans Schulter zu winden. »Wer hat mit glühenden Kohlen um sich geworfen und das Regal umgekippt?«

»Wer hat mich mit einem Buch verprügelt?«

»Die Feder ist nun mal stärker als das Schwert«, giftete Melyn.

»Die Seelen kennen nur einen Weg. Den zu ihrem Buch und dann zum himmlischen Gericht«, blaffte Shytan dazwischen. »Wenn ihr euch einen Spaß daraus macht, ihrem eingeschränkten Geist andere Anweisungen zu erteilen und dabei wieder zu sehr nuschelt, seid ihr selbst schuld.«

»Ich hör wohl nicht richtig«, protestierte Melyn. »Eingeschränkter Geist?«

Shytan reagierte nicht. Talan gab es nur ungern zu, aber er stierte seinen Bruder genauso überfahren an wie Viktor. Der älteste Fürst der Hölle, die personifizierte schlechte Laune, nahm jemanden in Schutz?

»Hast du endlich eine Sünderin gefunden, die dir das Gehirn weichbläst?«, erkundigte sich Talan erfreut.

»Pass auf, dass ich dir nichts weichblase«, blaffte Shytan.

»Inzest ist zwar sehr wohl der Hölle zuzuschreiben, aber so attraktiv finde ich dich dann doch nicht. Außerdem brennt mir eine ganz andere Frage auf der Seele. Warum-«

»Du bist so nützlich wie eine aufgeplatzte Hämorride. Da lasse ich dich einmal die Seelen zuteilen und es kommt nichts als Unfug dabei heraus! Mal wieder! Vielleicht bin ja ich der Idiot in der Gleichung – weil ich ständig hoffe, dass du mal etwas hinbekommst.«

»Beim letzten Satz will ich dir nicht widersprechen, aber …«

»Noch ein Wort und mir ist unsere Verwandtschaft völlig schnuppe und ich stecke dich persönlich in ein magisches Netz und schieße dich auf den Mond.«

Wenn sein Bruder ihn einmal ausreden lassen würde, könnte Talan womöglich auch mal wichtige Fragen stellen! Wieso war diese Seele farbig? In der Zwischenwelt waren alle grau! Außer die Engel und natürlich Talan. Das lag daran, dass es bei Talan schlichtweg eine Schande wäre, seinen Haaren die Farbe von Asche zu geben. Gut, schön, der Grund war, weil er ein Teufel war.

Melyn schien das alles nicht zu beeindrucken. Sie griff über Shytans Rücken nach unten, und als sie die Hand mit einem Ruck wieder hochzog, hielt sie den Bund von Shytans Unterhose gepackt. Talan hatte seinen Bruder noch nie so blass werden sehen.

»Hölle und Verdammnis!« Shytan warf Melyn von seiner Schulter, und mit einem ›Uff‹ schlug sie auf dem Boden auf. Die Wolken zerstoben und gaben einen kurzen Blick auf die darunterliegenden Fliesen frei, sein Bruder wirbelte zu ihr herum und starrte auf Melyn hinunter. Aus seinen Fingern schossen Flammen. Der hatte eindeutig vor, auf der Stelle Grillkohle aus ihr zu machen.

Talan schob sich mit einem schnellen Schritt dazwischen. »Merdian hat vor, in einer Kirche zu heiraten«, platzte er heraus.

»Was?«

Talan könnte schwören, dass Shytans Gebrüll noch im Fegefeuer zu hören war. Jeder Mensch hätte mit diesem Blutdruck längst einen Herzinfarkt bekommen. Shytan war schon immer ein übellauniger Schwefelpupser gewesen, doch seit Merdian, der mittlere der Höllenbrüder, das sterbliche Leben gewählt hatte, war er so unausgeglichen wie ein Stier in Pamplona. Nicht nur, dass die Arbeit für ursprünglich drei Herrscher der Finsternis auf zwei verteilt werden musste, dass Merdian sich verliebt hatte, stieß Shytan so sauer auf, als hätte jemand die Hölle mit weißem Plüsch und dickbäuchigen Amors dekoriert, um daraus eine besonders kitschige Wolke Sieben zu machen.

Immerhin war Melyn zurückgewichen und hielt, der Hölle sei Dank, mal den Mund. Braves Täubchen. Verkohlte Frauen reizten Talan nicht sonderlich, es wäre schade um sie. So etwas Verrücktes war ihm bisher nie begegnet. Und was sollte er sagen? Er fand es unglaublich anziehend. Mit ihr könnte das Leben in der Hölle endlich wieder in Schwung kommen, jedenfalls, wenn sie nicht in den Himmel kam.

»Benehmt ihr euch jetzt endlich, damit wir mit der Verteilung der Seelen weitermachen können?«, schnarrte Viktor. Jeder Engel mit Verstand wäre unter Shytans Blick in seinen Flügeln zusammengeschrumpft, aber Viktor war entweder unglaublich mutig oder unglaublich dämlich. Er rückte nur seine Brille zurecht. »Ich bin sicher, sie ist ein Fall für die Hölle. Dann könnt ihr sie meinetwegen ins hinterste Loch stecken und den Zugang wegsprengen.«

»Wenn ihr mich einfach zurück auf die Erde lassen würdet, könntet ihr euch zu dritt bis zu den höchsten Sternen lieben und ich würde euch dabei nicht unterbrechen«, stichelte Melyn und rappelte sich auf.

Talan revidierte das mit dem braven Täubchen. Sie hatte nicht respektvoll geschwiegen, sondern nur an der nächsten Beleidigung gefeilt. »Ha«, entfuhr es ihm. »Ich wette, dein Verlobter ist froh, dass er dich vor der Trauung losgeworden ist. Nur ein Masochist kann ernsthaft die Ehe mit dir wollen.«

»Ruhe, verflucht noch eins«, brüllte Shytan. Er packte seinen Bruder und stieß ihn zu den Stühlen. Dass Talan genau dazwischen fiel, war sicherlich keine Absicht.

Melyn deutete auf Shytans Hosenbund. »Da steht ein Stück vom Saum heraus.« Shytan rauchte bereits aus den Ohren, buchstäblich. Wenn sie ihn zusätzlich wie einen übermotivierten Kessel pfeifen hören wollte, war sie auf dem richtigen Weg. Sein Bruder überraschte ihn allerdings erneut. Statt Melyn einmal gut durchzubraten, streckte er die Hand auffordernd in ihre Richtung aus. Hatte er keine Angst, dass sie hineinbiss? »Zeig mir das Buch deines Lebens.«

»Nein.« Melyn verschränkte die Arme und drückte die Korsage so fest an ihren Körper, dass ihre Brüste beinahe samt Buch aus dem Ausschnitt quollen. »Da stehen private Sachen drin.«

»Wen du noch alles verprügelt hast?«, stichelte Talan, zog sich an einem Stuhl hoch und setzte sich.

»Zum Beispiel.«

»Sie ist eindeutig ein Fall für die Hölle«, mischte sich Viktor ein.

»Nur weil sie penetrant, nervtötend und vorlaut ist, ist das nicht zwangsläufig der Fall, Viktor«, knurrte Shytan. »Genau genommen sind das Attribute, die das elysische Federvieh auszeichnen.«

»Wenigstens türmen bei uns nicht alle auf die Erde« fauchte Viktor. »Es war schließlich dein Bruder, der sterblich wurde, um nicht mehr bei euch sein zu müssen.«

»Immerhin war er schlau genug, nicht euer Reich der Selbstgefälligkeit zu wählen«, ätzte Shytan.

»Er hat es auf die Erde geschafft?«, fragte Melyn nach Talans Meinung viel zu interessiert.

»Petrus hat nicht umsonst gesagt, dass ihr ein Haufen Vollidioten seid«, brummte Viktor hingegen.