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Ob in der Führungskunst, im Sozialwesen oder im Privaten: Empathie ist überall gefragt. Was genau damit gemeint ist, bleibt jedoch oft unbedacht. Ist Empathie eine emotionale oder eine kognitive Qualität? Kann man sie trainieren oder erlernen? Was geschieht mit uns und anderen, wenn wir uns mit Empathie begegnen? Christoph Quarch schlägt in seinem Essay überraschende Antworten vor: Empathie ist für ihn Ausdruck geistiger Verbundenheit. Die ganze heilsame Kraft des Mitgefühls entfaltet sich dann, wenn wir unsere Selbstbezüglichkeit preisgeben und einander auf einer tieferen Ebene begegnen und verstehen.
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Seitenzahl: 26
Christoph Quarch
MITGEFÜHL – DIE WAHRE GRÖSSE DES MENSCHEN
Mitgefühl ist viel mehr als bloß eine subjektive Gemütsregung
Einleitung
Die Erfahrung des Anderen
Im Raum des Zwischenmenschlichen
Die Gabe der Götter
Anmerkungen
Autor
Impressum
Was sollte er von diesem Mann halten? Den geliebten Sohn hatte er ihm eigenhändig erschlagen, dessen Leichnam grausam geschändet und Not und Verderben über sein ganzes Volk gebracht. Was sollte er halten von jenem kraftstrotzenden jugendlichen Krieger, dem größten, gefürchtetsten Kämpfer seiner Feinde? Allen Warnungen zum Trotz hatte er sich in dessen wohlbewachtes Lager geschlichen. Er hatte nicht anders gekonnt, denn er wollte das Herz des Furcht einflößenden Mannes erweichen und ihn um den geschundenen Leib seines Sohnes bitten, sodass er ihn würdig bestatten könne. Und nun stand er ihm gegenüber, hielt seine Hand in der seinen – und weinte gemeinsam mit ihm bittere Tränen. Er, Priamos, der mächtige König von Troja, weinte mit ihm, Achilleus, dem größten der griechischen Helden. Er, der greise Vater des Hektor, mit ihm, dessen ruchlosem Mörder. Was sollte er halten von ihm?
HOMER verrät es uns nicht. Er gewährt uns keinen Einblick in die Seele seiner Helden. Er zeigt uns nur ihr Tun und Lassen. Er zeigt uns nur zwei Männer – einer alt und gramgebeugt, der andere jung und strahlend in der Stunde des Triumphes –, die sich an den Händen fassen und die weinen: eine beispiellose Szene echter Größe: eine Szene, die erkennen lässt, wozu der Mensch imstande ist, und die all die Heldentaten auf dem Schlachtfeld vor der Burg von Troja in den Schatten stellt, die der Dichter in den vorherigen 23 Gesängen besungen hat. Selbst der größte Kampfesmut verblasst im Glanz dieser Begegnung zweier Feinde, die den Schlussakkord des ältesten europäischen Epos darstellt: der Ilias. Das Lied, auf dem die griechische Kultur gegründet wurde, endet mit dem Bild zweier im Schmerz vereinter Fürsten. Wer wissen möchte, was Mitgefühl ist, findet hier eine zeitlos gültige Antwort.
Aber nicht nur das: Die Szene aus dem XXIV. Gesang der Ilias gibt gleichfalls zu erkennen, was das Mitgefühl nicht ist – was jedenfalls nicht das ist, was Achilleus dort mit Priamos verbindet. Denn die Szene kündet nicht von dem, was wir, 3.000 Jahre später, unter Mitgefühl verstehen. Sie kündet nicht von Empathie und Sympathie. Wir würden sie gründlich missverstehen, wollten wir sie mit der Denkweise des 21. Jahrhunderts deuten. Das, woran wir für gewöhnlich denken, wenn von Mitgefühl die Rede ist, stammt aus einer gänzlich anderen Erfahrungswelt. Das heißt nicht, dass das, was uns als Mitgefühl geläufig ist, ein Irrtum wäre. Sicher nicht. Wohl aber nährt es die Vermutung, dass dem Mitgefühl des neuzeitlichen Menschen nicht die Größe oder Strahlkraft eignet, die im Schlussgesang der Ilias zu uns spricht.
Was versteht der Mensch der Neuzeit unter Mitgefühl? Es ist nicht einfach, diese Frage zu beantworten. Zumeist erscheint der Begriff als die deutsche Variante zu der ursprünglich griechischen, in fast allen europäischen Sprachen jedoch längst als Lehnwort geläufigen Empathie. Jedenfalls ist Mitgefühl eine korrekte Übersetzung des englischen empathy oder des italienischen empatia. Nimmt man die Wörter demgegenüber bei ihrer ursprünglichen Bedeutung, wäre das griechischstämmige Äquivalent zu