Mittelmaß - andree meyerdierks - E-Book

Mittelmaß E-Book

andree meyerdierks

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Beschreibung

Rechtsanwalt Felix K ertrinkt im Mittelmaß. Die Vorteile und Nachteile seines öden Lebens gegeneinander abwägend, platzt sein alter Freund Georg in seine Kanzlei und eröffnet ihm die Möglichkeit, aus seinem durchschnittlichen Leben auszubrechen. Aber: was ist denn so schlecht am Mittelmaß, ist der Durchschnitt nicht das Maß aller Dinge? Ehe er sich versieht, findet er sich in Verhandlungen über den Verkauf von Georgs Unternehmen an die Mafia wieder, Felix wittert seine Chance.

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Seitenzahl: 231

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Der mittelmäßige Herr K.

Kapitel 1

Mehr Durchschnitt als mich geht nicht. Es erstaunt mich noch immer, dass ich so viele Jahre meines Lebens durchschnittlich und im Wesentlichen auch zufrieden verbringen konnte, besser durfte. Man strebt ja im Leben häufig danach, aus der Masse hervorzustechen, nicht so ein Mittelmaßhanswurst zu sein. Bei Durchschnittsmenschen wie mir ist alles aber mittelmäßig, sie sehen nicht schön, aber auch nicht grottenhässlich aus. Sie haben meistens eine durchschnittliche Frau, also auch eine, die weder schön noch unansehnlich ist, ein durchschnittliches Einkommen und führen ein mittelmäßig lustiges Leben. Die Stadt im Nordwesten Deutschlands, in der ich einen Großteil meines Lebens verbrachte, ist auch Mittelmaß, so war auch ich, so wurde ich irgendwann wieder. Aufgewachsen bin ich in dieser Stadt, dort ging ich zur Schule, ich war bis zu diesem Vorfall ein mäßig angesehener Rechtsanwalt in einer Kanzlei mit zwei Partnern in dieser mittelgroßen Kleinstadt. Mir stand Durchschnitt auf der Stirn geschrieben, Langeweile war mein Parfum. Und ich fühlte mich wohl, bis ich auf Georg traf. Dazu später.

Nichts spricht im Grunde gegen Mittelmaß, man erspart sich die Mühen, der, die oder das Beste zu sein, ist aber gleichzeitig vor den Abgründen des Daseins recht gut geschützt. Man springt nie zu hoch und fällt nie zu tief, ist selten über- und nie unterfordert. So ist auch meine Heimatstadt, so war ich, meine Familie, eigentlich mein ganzes Umfeld. Wenn zum Beispiel eine Boulevardzeitung Städte mit großer Lebensqualität wählte oder die beste Universität, ist meine Stadt immer vorne mit dabei, nie aber Sieger. Und wenn bei Google Bewertungen für meine Kanzlei abgegeben wurden, lag ich immer bei 4,5, manches Mal auch bei 4,3 oder 4,8, aber nie bei 5. Und Margit war von mir nie begeistert, es war immer nur nett heute, oder ich sah ganz ordentlich aus, oder die von mir gekochte Mahlzeit war ok. Wir beide, die Bürger meiner Stadt und ich waren froh über diesen Rang des Durchschnittes, musste man doch nie eine Spitzenstellung verteidigen und flog immer unsichtbar unter dem Radar. Auf lange Sicht gewinnt das Mittelmaß immer. Ich bin sicher, Ihr wisst genau, was ich meine, Ihr seid ja wohl mehrheitlich auch Mittelmaß, Durchschnitt ist fast einjeder. Aber Ihr vermutet auch, Spaß geht wohl anders. Heute nun, nach dem Vorfall, ist alles anders, ich bin ein anderer Mensch. Dazu vielleicht später, sicher bleibt noch Zeit.

Mein Name ist, vielmehr war Felix König, früher war ich Rechtsanwalt Felix König und meine Kanzlei lag zentral am Rande der Fußgängerzone, da, wo man Parkplätze bekam und es nicht allzu weit zu den Gerichten war. Wir, meine Kollegen und ich, waren Rechtsanwälte alter Schule. Wir waren nicht die Anwälte, die komplizierte Immobilienverträge oder Konzernverkäufe in Tag - und Nachtsitzungen verhandelten. Wir verstanden uns als Organ der Rechtspflege, da verboten sich übertrieben zu Markte getragene Hektik, ein feiner Anzug und Budapester an den Füßen. Eher war ich Strickjacke, Birkenstock und milde lächelnde, fast einschläfernde Gelassenheit. Ich verstand mich als Hüter des Rechts, weniger als Hüter der Interessen meiner Mandanten. Das auch, aber nur, wenn diese mit der Rechtsordnung im Einklang standen. Das profitable Immobiliengeschäft oder M & A Business war nicht mein Zuhause. Mein Gefechtsfeld war das Arbeits- und Familienrecht. Hier galt es, einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung zu leisten. Hier war das Anwaltsleben noch recht kuschelig. Dann kam Georg.

Als Georg im Spätsommer in meiner Kanzlei auftauchte, war es, als ging die Sonne auf. Georg kam nicht einfach, er erschien. Er war in der Lage, ein Lächeln in das Gesicht der Empfangsdame zu zaubern, wo andere nur ein dünnes Lippenband zu sehen bekamen. Georg war auf jedem Empfang derjenige, um den sich hohe Gäste scharten, den schöne Frauen anlächelten, ich stand eher unbemerkt am Seitenrand. Nicht, dass ich auf Georg neidisch war. Das Leben als Gewinner ist ein anstrengendes. Bis einer der jungen Wölfe kommt und einen als Rudelführer verbeißt, muss man viele Wunden lecken. Mittelmäßige Typen wie ich gehen weitestgehend unverwundet durch das Leben.

Georg war scheinbar alles andere als Mittelmaß. Deswegen war er in der Lage, ungebremst durch das Vorzimmer zu mir durchzudringen. Schon das Erscheinungsbild beeindruckte. Nicht, dass Georg auffällig gut oder schlecht aussah. Er sah in einer besonderen Unauffälligkeit beeindruckend aus.Das Haar war lang, aber nicht so lang, dass es dandyhaft wirkte, eher so Giovanni di Lorenzo intellektuellenmäßig, ohne den nervigen Dozentenhabitus. Ja, stellt Euch eine Mischung aus di Lorenzo und George Clooney vor. Die Kleidung, schick lässig, mit Ende 50 kann nicht jeder den Jackett-Sneaker Look, Georg konnte. Georg trug Hosenträger und karierte Hosen. Bei Georg wirkten diese nicht lächerlich, wie bei den meisten, sondern modisch. Der Gang aufrecht und der Blick immer lächelnd, wohlgemerkt der Blick, nicht nur die Zähne. Und zwar so, als ob alle Aufmerksamkeit dem oder der Angelächelten gehörte. Der Auftritt Georgs wirkte nie einstudiert, er hatte die natürliche optische Überlegenheit in den Genen. So wie di Lorenzo und Clooney.

„Hallo Felix, schön Dich zu sehen“, begrüßte Georg mich, als hätten wir uns erst vorgestern und nicht vor 15 Jahren das letzte Mal getroffen. „Du hast Dich kaum verändert, gut, ein wenig rundlicher, steht Dir übrigens prima, die Haare lichter. Mensch, was hattest Du damals für eine Matte.“ „Georg“, begrüßte ich den alten Schulkameraden. „Georg“, mehr nicht, Ich war überrascht, dass Georg mich unangekündigt in der Kanzlei aufsuchte, ja, dass er sich meiner erinnerte.

„Ich kam gerade vorbei und suchte einen Parkplatz. Ich möchte ein Geschenk zum Geburtstag meiner Tochter kaufen“. Es war mir nicht bekannt, dass Georg eine Tochter hatte. Genau genommen, wusste ich sehr wenig über den Georg von heute. Der Georg von gestern war ein scheinbar sehr erfolgreicher Immobilienunternehmer, dem eine Vielzahl prominenter Gebäude in der Stadt und im benachbarten Bremen, man sagt, auch in Hamburg, ein mittelgroßes Bauunternehmen und ein Handwerksunternehmen für Klima- und Sanitär gehörte. Letzteres war die Keimzelle Georgs unternehmerischen Wirkens. Er hatte nach dem BWL-Studium, ich versuchte mich erfolglos zu erinnern, ob Georg das Studium beendet hatte, das Unternehmen mit 80 Mitarbeiter von seinem an Demenz erkrankten Vater übernommen. Schnell hatte er die Aktivitäten ausgeweitet, hinzu kam der Vorsitz im Fußballclub der Stadt, sowie die Vizepräsidentschaft der Industrie- und Handelskammer. Das war der Georg, den ich letztmalig vor 15 Jahren auf einem Juristenball getroffen hatte. Georgs damalige Freundin war eine junge und attraktive Staatsanwältin. Seitdem war es entweder ruhiger um Georg geworden, oder ich hatte den weiteren Werdegang Georgs nicht mehr aufmerksam verfolgt. Vermutlich letzteres, keine Motte schaut gerne allzu lang ins Licht.

„Wie geht es Dir Felix? Du siehst toll aus. Bist Du noch mit Margit verheiratet?“ Ich war erstaunt, dass Georg sich überhaupt an den Namen meiner Frau erinnern konnte. „Danke, Du siehst auch prächtig aus, hast Dich ebenfalls nicht verändert“. „Hui, das wächst Dir doch glatt eine Pinocchionase. Schau mich an, schütteres Haar, Bauchansatz“. Beides stimmte nicht und galt eher für mich. Georg sah fantastisch aus, wenn dies chirurgische Gründe hatte, war es toll gemacht. „Ja, Margit und ich sind noch immer verheiratet. Du weißt, ich bin eine treue Seele. Kinder haben wir keine, falls Du das fragen möchtest, leider, möchte ich sagen“. Lange war das Thema Kinder zwischen Margit und mir ein Zankapfel. Ich hatte mir sehr Kinder, wenigstens eines gewünscht. Aber, kann ja noch werden. Ich wäre ein guter Vater geworden. Ich bin geduldig, spiele gerne Mau Mau und sehe gerne Comedys im Fernsehen. Das alles gilt nicht für Margit. Margit ist hyperaktiv, sieht maximal Anne Will im Fernsehen und hasst Spiele jeder Art.

„In der Schule habe ich Dich immer um Margit beneidet, das schönste Mädchen der Klasse, und das intelligenteste. Für mich unerreichbar“, log Georg. Tatsächlich standen alle schönen Mädchen auf Georg, der schon früh das schickste Mofa, später das teuerste Auto, einen 924er Porsche fuhr. Ich hatte kein Mofa, und mein erstes Auto war der orangene Käfer der Oma. In den 70er Jahren war das Mofa neben dem Parka das wichtigste Ausstattungsstück, wenn man als Schüler etwas gelten wollte. Man fuhr die österreichische Marke Puch, alles andere war Zweite Liga. Das Mofa war Ausdruck der Vermögenslage und politisches Bekenntnis zugleich. Velo Solex war mit Sicherheit Spartakusbund, Puch Junge Union oder gar nicht politisch. Komisch, dass ich mich jetzt daran erinnerte. Margit hatte ein Rennrad. Ich war mir nicht sicher, ob Margit Georg auch anhimmelte, viele andere schon. Ich nahm eher an, dass Margit nicht in das Beuteschema Georgs passte. Sie war und blieb schön, aber auf eine unauffällige stille Art, nicht so sehr die laute Schönheit, mit der sich Georg umgab.

„Sag, Georg, Du bist doch nicht hergekommen, um ein Geschenk für Deine Tochter bei mir zu kaufen?“ Mir war in der Gegenwart Georgs jetzt ein wenig unwohl. Ich ahnte, dass Georg etwas von mir wollte, das meiner Funktion als Organ der Rechtspflege möglicherweise nicht entsprach. Georg war als hemdsärmelig bekannt. Einer, der seinen unternehmerischen Erfolg auch unfeinen Methoden verdankte. Klar, wer in der Oberliga mitspielen wollte, musste gelegentlich verdeckt faulen. „Was kann ich für Dich tun?“ fragte ich Georg, meinte aber, oder hoffte vielmehr, dass die Antwort „Nichts“ lautete.

„Felix, Du bist doch Jurist“, leitete Georg seinen Vortrag ein. Die Bemerkung war an Floskelhaftem kaum zu überbieten, immerhin befanden wir uns in meiner Anwaltskanzlei. Mein Name als Seniorpartner zierte das Messingschild am Eingang an prominentester Stelle „Ich benötige Deine Unterstützung als gewiefter und gelehrter Anwalt“. Ich war in meinen Augen und denen anderer alles, aber nicht gewieft oder gar gelehrt. Mein Examen war wie gesagt mittelmäßig, ich konnte Scheidung, Arbeits- und Mietrecht, dann wurde es eng. Vielleicht noch Verkehr, aber im Übrigen war der Mandant besser bei einem Kollegen aufgehoben. Dafür konnte ich zuhören, das schätzten die Mandanten an mir und ich hatte ein Gespür für pragmatische und preiswerte Lösungen. So ein wenig Liebling Kreuzberg, aber in Freundlich, nicht so mürrisch. Ich hatte keinen Zweifel, Georg wusste um meine Defizite. Ich wartete gespannt, dass Georg weitersprach.

„Felix, Du weißt, ich habe einen mittlerweile überregional operierenden Immobilienkonzern, der sich aus vielerlei Geschäftssparten zusammensetzt. Wie Du habe ich ein Alter erreicht, in dem man darüber nachdenkt, die Früchte seines Arbeitslebens zu genießen und mit einem teuren Rotwein, gerne einer jungen und schönen Frau im Arm die Abendsonne zu betrachten. Ich habe Carmen kennengelernt und mich verliebt.“ Georg und ich waren etwa gleich alt, also in den letzten Zügen der 50er. Ich hatte keinen Zweifel, dass Carmen jünger als Georgs Tochter war. Seien wir ehrlich. Männer verändern den Frauentyp selten, sie verjüngen ihn lediglich. Gerne senken sie auch das Niveau. Alles andere ist zu mühsam.

„Carmen ist jung, ich kenne sie, weil sie eine gute Freundin meiner Tochter Saskia ist, Du weißt, die mit dem Geschenk. Carmen ist schön und von Beruf Krankenschwester, beides Eigenschaften, die einem über das Altern hinweghelfen. Genauer gesagt, Carmen war eine gute Freundin meiner Tochter, Saskia findet unsere Beziehung, wie soll ich sagen, sie sagt jedenfalls ekelig“. Ich war auf Saskias Seite. „Aber, wo die Liebe hinfällt“. Ich ertappte mich beim Floskelzählen, Nr. 2. „Jedenfalls möchte Carmen mehr Zeit mit mir verbringen, was sage ich viel, viel mehr Zeit. Sie möchte mich mit Nichts und Niemandem teilen, schon gar nicht mit einem Beruf. Und Carpe Diem“, Nr. 3, auch wenn der Ausdruck irgendwie nicht passte. „Carpe Diem, wir möchten keinen Tag mehr mit Beschäftigungen verbringen, die unser erfülltes Zusammensein beeinträchtigen. Kurz und gut,“ Nr. 4, „ich möchte meine Unternehmungen verkaufen“. Georg lächelte mich an, als habe er mir soeben einen Lottogewinn verkündet.

Georg machte eine Pause und sah in meine Augen. Mir wurde unwohl, war mir doch nicht so recht klar, welche Rolle ich auf diesem Gefechtsfeld spielen sollte. Georg in geschäftlichen Dingen zu beraten, dem fühlte ich mich fachlich nicht gewachsen. Und menschlich? Georg war nicht über den Weg zu trauen. Ich erinnerte mich, dass Georg schon mit 18 krumme Geschäfte, damals zu Lasten seines Vaters gemacht hatte. Alle wollten von Zuhause ausziehen, die Eltern waren der Klassenfeind und auch sonst fanden wir alles und alle Scheiße. Ende der 70er Jahre, Nato-Doppelbeschluss, Pershing und „Atomkraft Nein Danke“. Alle wollten weg, bekamen aber keine eigene Wohnung. Georg konnte helfen. Die Firma seines Vaters vergab auf Bitten Georgs Wohnungen an dessen angebliche Freunde, Georg kassierte ein sattes Handgeld. Die Aktion war schlecht für Georgs Image, er scherte sich nicht darum. Nach dem Abitur ging man seiner Wege.

Noch während ich an einer Reaktion auf Georgs aus dessen Sicht scheinbar erfreulicher Ankündigung bastelte, klopfte es an der Tür. Ich rief erleichtert mit sonorem Bass ein tiefes „Herein“. Mir war klar, wer angeklopft hatte, meine Assistentin Sade Gulczür. Zwischen mir und meinen jeweiligen Assistentinnen war verabredet, dass jedes Mandantengespräch spätestens nach 30 Minuten zu unterbrechen war. „Sie wissen, Herr König, Sie haben jetzt einen Termin“, sagte Frau Gulczür erwartungsgemäß. Bis vor einigen Jahren wäre Frau Gulczür noch Fräulein Gulczür gewesen, oder sogar nur Fräulein Müller, denn der Beruf der Rechtsanwaltsgehilfin war erst seit kurzem globalisiert. Gott sei Dank, denn damit war der Typus der mürrischen Vorzimmerdame endgültig Geschichte. Das Fräulein hingegen vermisste ich sehr, weil es doch die Gesprächsebene mit den jungen Mitarbeiterinnen unzulässigerweise zu meinem Vorteil im Hinblick auf meine Autorität verschob. Frau Gulczür war 26, beherrschte alle Schreib- und sonstige Computerprogramme ausgezeichnet und sah eher mittelmäßig aus. Allzu hübsche Mitarbeiterinnen lenkten von der Arbeit ab, sorgten für Zoff unter den Partnern und auch den weniger hübschen Kolleginnen und waren im Übrigen flüchtige Gesellinnen. Zwar fehlte mir die Erfahrung mit allzu hübschen Mitarbeiterinnen, aber „Vorbeugen ist alles“. Jetzt ertappte ich mich selbst beim Phrasendreschen. Besagte Frau Gulczür nun erinnerte mich an den vermeintlich folgenden Termin und verschwand wieder in ihrem Vorzimmer.

„Tut mir leid, Georg, aber, hättest Du vorher kurz angerufen…“. „Kein Problem mein Lieber“, dieses „Mein Lieber“ hatte sich breitgemacht wie Pfannkuchenteig, ich hasste diese offensichtlich anbiedernde Lüge. „Mein Lieber, wir sollten all dieses zwanglos bei einem Dinner besprechen, am besten mit unseren besten Hälften, dann lernst Du meine Carmen kennen und ich freue mich auf ein Wiedersehen mit der schönen Margit. Meine Sekretärin verabredet mit Deiner einen Termin, gerne nächstes Wochenende, ich denke, Du kannst das einrichten!“ Letzteres klang ein wenig nach Anweisung, ich mochte mich aber täuschen. Ich nickte und quälte mir ein Lächeln auf die Lippen, wie sollte ich dies Margit beibringen. „Also, Danke für das nette und aufschlussreiche Gespräch. Ich bin sicher, in Dir den Richtigen gefunden zu haben“ dröhnte Georg und klopfte mir zwei Mal fest auf die Schulter. Den Richtigen in was, dachte ich, und mir wurde zunehmend bewusst, dass ich mich in eine Zwickmühle begeben hatte, ohne Not.

Kapitel 2

Auf dem Heimweg in meinem grauen Volvo, X 60, Hybrid, bereitete ich mich auf das Gespräch mit Margit vor. Ihr kennt das, man muss seiner Gattin etwas beichten, für das man nicht verantwortlich zeichnet, aber trotzdem die Schuld bekommt. Frauen vermögen zwischen Verantwortung und Schuld zu Euren Lasten sehr genau zu unterscheiden, tun es aber nicht. Wie würde Margit auf die Einladung Georgs reagieren? Aber es war mir, als würde ich in einem Nebel fahren, Margits Haltung zu Georg war mir weder erinnerlich, noch konnte ich mir diese vorstellen. Überhaupt war mir Margits Haltung zu vielen Dingen unklar. Auch nach nunmehr gut 40 Jahren gemeinsamen Durchslebengehens waren mir die Gedankengänge meiner Ehefrau nicht in voller Gänze vertraut. Es war, als ob Margit einen Teil ihres Denkens und ihres Charakters vor mir in einem unzugänglichen Abteil ihres Gehirns verschlossen hielt. Ich war mir auch nicht darüber im Klaren, ob dieses Verhalten vielleicht nur normal war, fehlte es mir doch damals an Erfahrungen mit anderen Ehefrauen, überhaupt mit anderen Frauen als Margit.

Ich hatte Margit 1979 in der Tanzschule kennengelernt. Die späten 70er und frühen 80er Jahre in Deutschland waren Maß und Mitte. Ein wenig Demo, aber nicht zu viel und nicht allzu kämpferisch. In Gorleben baute man Laubhütten und trug einen „Atomkraft Nein Danke“ Aufkleber als Ausdruck des Protests auf dem unscheinbaren Bundeswehrparka, von militanter Auseinandersetzung, wie bei den Corona Demos oder in Hambacher Forst 40 Jahre später war man weit entfernt. Die Kleidung erschöpfte sich in seiner Extravaganz im Minirock und Elton Johns putzigen Brillen, keiner dachte soweit, sein Gesicht in jede verfügbare Kamera zu halten und der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Schon gar nicht dachte man daran, seine Visage nach Belieben operativ dem gewünschten Alter anzupassen oder gar zu durchlöchern oder mit Bildern zu verzieren. Früher war es lustiger. Ich war ein Kind der 70er. Die 70er waren so völlig anders als die Zeiten in den 20ern des neuen Jahrtausends. Beschwert zu sein, war früher ein Happening. Demonstrationen hatten etwas unterhaltsames, politisches Engagement war Hobby. Heute ist alles so ernsthaft und endgültig. Es geht immer um Leben und Tod, den ganzen Tag. Früher nur zeitweise, so in der Schule oder Uni. Niemals aber abends beim Sport oder auf der Piste, wie man damals sagte. Vielleicht ist denen heute der Humor abhandengekommen. Ist aber deren Problem. Schaut Euch nur einmal Greta Thunberg an, das Leiden Christi. Früher Joschka Fischer hatte ersichtlich mehr Spaß, könnt Ihr Euch Greta Thunberg als fünffache Ehefrau vorstellen? Eben.

Margit war eine Schönheit auf den zweiten Blick, das war mein Glück. Ihr Haar trug sie schon damals halblang, ihre Kleidung meistens gedeckt, die Stimme leise, Lächeln eher selten. Als Abiturient galt es zwei Hürden unbeschadet zu überwinden, die Tanzschule und das Gymnasium. Die Tanzschule in der Nähe meiner Schule war ein Kind der Nachkriegszeit und spielte nach den Regeln dieser Zeit. Man gab sich modern und war altbacken. Die Auswahl des jeweiligen Tanzpartners erfolgte nach einem Ritual. Die Herren stellten sich auf der einen Seite des Tanzsaales, die Damen auf der gegenüberliegenden Seite auf. Auf ein Signal der Tanzlehrerin stürmten die hormongeschwängerten Jungs in Richtung Mädels, stellten sich vor der Zieldame auf und forderten diese, ohne dass ein Widerspruch zulässig war, zum Tanze auf. Das System war effektiv und schon in den 70ern unzeitgemäß. Wie bei der Reise nach Jerusalem waren die Sportlichen im Vorteil. So war gewährleistet, dass die Langsamen auf die Hässlichen trafen, eine ganz besonders perfide Form des Darwinismus. Keine blieb übrig.

Lassen Sie mich kurz über die Tanzschule berichten. Die Tanzlehrerin, eine gewisse Karin Schöne, deren Alter zwischen 40 und 60 nicht schätzbar war, war Dame alter Schule. Weißblondes Haar, toupiert, ein leicht französischer Akzent. Tatsächlich kam Karin aus einem Vorort Leipzigs und hatte sich mühevoll das Sächseln abgewöhnt. „Voule vous danse avec moi?“ radebrach sie herum, meinte aber. „Wollnse ein Tänschen mit mir waagen?“: Ihr Gatte Benno, gegelte Haare mit Platte, dünn wie ein Bleistift in einem schlechtsitzendem Anzug, konnte die Finger von jungen Frauen nicht lassen. Es war ekelig, wie ihm beim Anblick der Schülerinnen, wie waren gerade 15, 16 damals, geradezu der Sabber herunterlief. Karin Schöne ging so weit, dass sie dem Burschen, der ihr bei einem missglückten Tanzversuch auf die Zehen trat, kurzerhand coram publico eine Schelle versetzte. Schlechter hatten es die Mädels, wer das Pech hatte, mit Benno tanzen zu müssen, hatte binnen Sekunden seine Pranke auf seinem Po und musste seinem übelriechenden Atem ausweichen. Ihr fragt, warum man überhaupt zu Schönes Tanzbude ging: es war die einzige Tanzschule und damit die erste Möglichkeit, sanktioniert von den Eltern mit Mädels in den Nahkampf zu steigen.

Ich hatte mich neben Georg aufgestellt. Georg war damals einer meiner besten Freunde. Ins Visier hatten wir eine blonde Schönheit genommen, ich war ein schnellerer Sprinter als Georg, der damals jede Form ernstzunehmenden Sports mied. Mit weniger ernstzunehmendem Sport meine ich Golf, die Jagd, Pokern oder Bowling.

Auf ein Zeichen der Tanzlehrerin spurteten wir Pubertierenden los. Georg sah seine Felle davon schwimmen und rempelte mich schon an der Startlinie an, so dass ich ins Straucheln geriet. Georg war vor mir am blonden Ziel und nahm sich die Dame, die ihn prompt ranließ, ich bekam Margit. Oder vielmehr: Margit bekam mich. Ich verliebte mich sofort in Margit und meine Liebe dauerte beinahe bis in die Gegenwart an, ob das auch umgekehrt galt, war mir nicht klar. Margit war auf eine Art geheimnisvoll, die Männer reizte. Sie sprach wenig und wenn, dann gewählt und pointiert. Margit war überlegen und man spürte dies. Ihre Emotionen hatte sie im Griff, niemals sah ich sie schreien oder auch weinen. Niemals sah ich sie ungeschminkt, niemals sah ich sie in auffälliger Kleidung. Margit war zeitlebens, als fuhr sie mit angezogener Handbremse, Margit und ich hatten schon kurz nach der Hochzeit getrennte Schlafzimmer.

„Hallo mein Herz, ich bin da“. Margit stand mit dem Rücken zu mir in der Küche, ich konnte sie von der Eingangstür sehen konnte. Margit reagierte auf die überflüssige Begrüßung wie üblich nicht, drehte sich erst einmal nicht um. Nicht, dass Margit sich nicht über mein Nachhausekommen freute, so hoffte ich, sie nahm nur sinnloses Geschwätz, und die Begrüßung „ich bin da“ war eindeutig eine solche, nicht zur Kenntnis. Margit drehte sich um und lächelte mich an. „Zieh Dich um, wir wollten laufen gehen. Das hast Du doch sicher nicht vergessen.“

Margit war Lehrerin in Sport und Latein, eine ungewöhnliche und damit umso begehrtere Kombination. Sie kam aus einem typischen Lehrerhaushalt. Ihr Vater, Latein und Geschichte, war der typische Vertreter der altphilologischen Intellektuellenschicht der Nachkriegszeit. Sie versteckten sich hinter Cäsar und Augustus und sahen mit Verachtung auf alle Nichtaltphilologen herunter. Im Prinzip waren sie nicht von der Welt und den Herausforderungen der Moderne nicht gewachsen. Sie kleideten sich altphilologisch mit Strickjacke, lebten in nicht zeitgemäßen Sozialwohnungen und waren im Prinzip nutzlos. Dieser Spagat zwischen fehlender Zukunftsfähigkeit und Bildungsniveau dieser Dinosaurier der Lehrerklasse hatte Margit geprägt. Zu gebildet, um Revoluzzer zu sein, zu moralisch, um einen nichtintellektuellen Beruf zu ergreifen, wurde sie ebenfalls Lehrerin. Und sah auf alle gutverdienenden Klassenkameraden, die Anwalt oder Arzt wurden, mit Verachtung und Neid herauf. Um auszubrechen fehlte ihr der Mut.

Ich mochte ihren Vater nicht und ihre Mutter auch nicht, weil diese den sinnlosen Vater vergötterte. Trotzdem heiratete sie mich, ein kleiner Protest und der Versuch, aus der wirtschaftlichen Niederung herauszukommen. Um meine Gesundheit machte sie sich zu Recht Sorgen. Ich vermied Sport, so es ging, hatte Freude an gutem Essen und sprach Bier und Wein in ungesundem Maße zu. Margit tat all dieses nicht. Ich lebe heute auch gesünder, ist ja klar. Das Leben fordert mich allerdings heute auch mehr.

Ich begab mich in mein Zimmer und kramte die Sportsachen heraus. Ich weigerte mich, meine 20 Jahre alte Adidas Hose zugunsten einer atmungsaktiven und schweißresorbierenden Laufhose aus Polyester und Elasthan aufzugeben. Mich störte schon, dass die hautenge moderne Hose meine Genitalien sichtbar machen. Es störte mich die beklemmende Enge moderner Sportsachen. Warum, wenn sich man denn schon asexueller Körperertüchtigung hingab, musste dies auch noch unangenehm unbequem sein? Mit gleicher Hingabe trug ich zum Sport mein Status Quo T-Shirt. Mehr als einmal hatte Margit darauf hingewiesen, dass der Aufzug in Verbindung mit meinen ungelenken Bewegungen an Peinlichkeit schwer zu überbieten sei. Mir wars egal, in diesem Outfit erschien ich im Wohnzimmer. Margit war wie immer perfekt gekleidet: Neonfarbenes Stirnband, passend zu den Laufschuhen. Dazu eine hautenge glänzende Leggins, die Margits Scham in Andeutungen sichtbar machte. Ein Tanktop in Pink und am Arm ein Messgerät für den Pulsschlag, Blutdruck und Kalorienverbrauch. Margit verdrehte die Augen bei meinem Erscheinen und begann damit, sich warm zu machen. Mir schien diese Vorturnübung eine Verlängerung der sportlichen Qual zu sein, ich verzichtete auf schmerzende Dehnungsübungen. Nach 10 Minuten Stretching, Kniebeugen und Atemübungen lief Margit los, ohne weiter darauf acht zu geben, wo ich blieb. Ich stolperte mehr schlecht als recht hinter Margit her. Zuerst ging es angenehm leicht bergab Richtung Waldgrenze. Wir wohnten in einem Haus kurz vor der Stadtgrenze unmittelbar an einem beliebten Waldstück gelegen, das zu allem Überfluss einen sogenannten Trimmpfad beherbergte. Wir beide liefen mehr oder weniger gemütlich durch den Wald. Wenn eines der Trimmgeräte an der Strecke den ambitionierten Sportler zu Turnübungen aufforderte, hing Margit keuchend und schwitzend, wie ich sie ansonsten selten erleben durfte, an der Reckstange oder sprang über Hindernisse. Dies war meine Gelegenheit, zu Margit aufzuschließen.

Nach einer Stunde mehr oder weniger sportlicher Betätigung erreichten wir wieder unser Zuhause. Ich war abgekämpft, Margit sichtlich zufrieden mit ihren Leistungen. Der Schweiß ran ihr in Tropfen Brust und Nacken herunter. Die Brustwarzen zeichneten sich deutlich unter dem Stretchtanktop ab und ihre Lippen umspielte ein zufriedenes Lächeln. Sie strahlte eine auffordernde Erotik, wie ich sie sonst eher weniger bei ihr erlebte. Leider waren meine Kräfte erlahmt, an Bumsen war nicht zu denken, selbst für eine passive Rolle beim Sex fehlte mir die Kraft. Ich wusste, wie Margit empfand und ich wusste, was Margit anschließend unter der Dusche mit sich selbst anstellte. Es ließ mich kalt, leider.

Das beste am Sport war das Weizenbier danach. Ohne mich umzuziehen, ging ich zum Kühlschrank, öffnete eine Flasche einer herben bayrischen Halbliterflasche, deren Inhalt ich noch bei geöffneter Kühlschranktür zur Hälfte die Kehle herunterinnen ließ.

Margit betrat frisch geduscht die Küche und schenkte mir ein Lächeln. „Gut warst Du heute, ich habe gemessen, das war Bestzeit“. Auch wenn Margit anderes beabsichtigt hatte, ich war nicht stolz auf meine läuferischen Leistungen. „An Dich werde ich ohnehin nicht herankommen, meine Liebe. Das macht aber nichts, jeder hat so seine eigenen Talente“ Kurz dachte ich daran, das Phrasenzählen wieder aufzunehmen. „Erzähl, wie war Dein Tag“ forderte ich Margit auf, die sich einen Smoothie zubereitete, der mir schon aufgrund der kotzgrüngelben Farbe ungenießbar schien. „Der Lameyer hat wieder verrückt gespielt. Wir sollen von jetzt an in den Ferien Extrakurse geben, um den Schülern das während der Pandemie Versäumte nahezubringen. Weder die Kids noch die Lehrer haben Lust, auch nur eine Minute der Ferien für die Schule zu opfern. Wir hätten ja auch während des Lockdowns reichlich Zeit für Privates gehabt, da sei ja eine einmalige Aktion, eine Wiederholung der Pandemie sei schließlich unwahrscheinlich. Da sei ja eine einmalige Aktion zu verschmerzen. Freuen sollten wir uns, dass uns die Pandemie wirtschaftlich nichts habe anhaben können.“ Mittlerweile war ich wieder zur Puste gekommen. „So ganz habe ich nicht verstanden, warum die Schüler infolge der Pandemie Defizite haben sollen. Warum ist es nicht umgekehrt, wenn die Schüler die Zeit ordnungsgemäß genutzt haben, um zu lernen, haben sie doch einen Vorsprung? Und warum engagiert sich der Lameyer derart, auch ihn als Schulleiter treffen doch die Zusatzstunden?“. Ich konnte an Margits Gesichtsausdruck erkennen, dass meine Theorie so gar nicht auf ihre Zustimmung stieß. Ich hatte einen Fehler gemacht, schnell knickte ich ein, bevor Margit das Zimmer verließ, ihre Art der Diskussion.

Warum Margit Lehrerin geworden war, ist mir bis heute schleierhaft. Sie mochte Kinder nicht. Als Lehrkraft war sie nicht geeignet, Dummheit und Unwissenheit widerte sie an, aber ihre Aufgabe war es nun einmal, den Jugendlichen Dummheit und Unwissenheit auszutreiben. Sie war kein geduldiger oder nachsichtiger Mensch und so gewann sie als Lehrkraft keinen Beliebtheitspreis.

„Aber Du hast ja Recht, die Pandemie hat den Lehrkräften so viel abverlangt, da besteht zweifelsfrei ein Anspruch auf einen ungestörten Erholungsurlaub. Das gilt natürlich für dich erst recht, was hast Du nicht alles leisten müssen, meine Liebe.“ Ich hatte den Eindruck, als wäre die Laune meiner Frau wie ein Spiegelbild meiner Äußerungen fahrstuhlgleich erst im Aufwärts-, dann im Abwärtsgang. Ich empfand diese Art der Kommunikation als sehr anstrengend. Einfach dahingeworfene Sätze konnten eine sofortige Eruption Margits auslösen, dauernd war ich in Halbachtstellung. Der kritischen Betrachtung Margits konnte keiner, schon gar nicht ich standhalten. So waren Frauen eben, vermutete ich, ohne dass ich aber bis dahin über ausreichende Erfahrungssätze verfügte. Margit setzte alles daran, aus mir einen besseren Menschen zu machen. Auch vor Rüdiger machte sie nicht Halt.