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Spannend, romantisch, sexy und geheimnisvoll!
Declan Fitzgerald verlässt seine Bostoner Anwaltskanzlei, um sich einen alten Traum zu erfüllen: Er möchte Manet Hall in neuem Glanz auferstehen lassen, ein altes Plantagenhaus in der Nähe von New Orleans. Bei der Renovierung stößt er jedoch auf die dunkle Vergangenheit des Hauses – ein Verbrechen, das vor hundert Jahren auf Manet Hall geschah. Nur die junge Angelina Simone schenkt ihm Glauben. Gemeinsam müssen sie das Geheimnis lösen – für die Liebe ihres Lebens ...
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Seitenzahl: 599
Prolog12345Manet Hall678910Manet Hall1112131415Manet Hall1617181920GlossarÜber das BuchÜber die AutorinCopyright
Für Leslie Gelbman,
eine Frau, die den
Wert der Zeit
verstanden hat
God stands winding His lonely horn,
And time and the world are ever in flight;
And love is less kind than the gray twilight.
And hope is less dear than the dew of the morn.
William Butler Yeats
Im Delta herrschte der Tod in all seiner grausamen Schönheit. Tief gruben sich die dunklen Schatten ein. In deren Schutz bedeutete jedes Flüstern im Sumpfgras oder Schilf, im Gewirr der Schlingpflanzenfalle die Geburt neuen Lebens oder plötzlichen Tod. Sein grüner Atem war schlecht und seine Augen glühten gelb im Dunkeln.
Lautlos wie eine Schlange wand sich sein Fluss – schwarzes Wasser, aus dessen Oberfläche unter einem prallen weißen Mond die Luftwurzeln der Zypressen wie bleiche Knochen brachen.
Fast ohne es zu kräuseln, zog der lange, knorrige Leib eines Alligators seine Bahn durch das dunkle, vom Mond gesprenkelte Wasser. Verschwiegen wie ein Geheimnis war auch die Bedrohung, die von ihm ausging. Doch wenn er zuschlug, seine tödlichen Kiefer sich in der unbesonnenen Bisamratte festbissen und sein Schwanz mit einem triumphierenden Peitschenhieb das Wasser teilte – dann hallte der Bayou wider von einem einzigen kurzen Schrei.
Und das Kroko sank mit seiner Beute tief hinunter auf den schlammigen Boden.
Auch andere hatten die grausamen, stillen Tiefen dieses Flusses kennen gelernt. Und wussten, dass er selbst in dieser brutalen Sommerhitze kalt war, sehr kalt.
Der Bayou mit seinen unermesslichen Geheimnissen war nie ganz still. Nachts unter dem hoch stehenden Vollmond betrieb der Tod emsig sein Geschäft. In einer Jubelwolke der Gier sirrten die Moskitos, die gefräßigen Vampire der Sümpfe. Als Musikanten der Sumpfmusik stimmten sie ein in das Summen und Brummen und Tröpfeln, das nur von den Schreckensschreien der Gejagten übertönt wurde.
In den hohen Ästen einer Eiche, im Schatten von Moos und Blättern, schrie eine Eule ihre beiden Klagelaute. Aufgeschreckt rannte ein Sumpfkaninchen um sein Leben.
Eine Brise sorgte für Aufruhr in der Luft, dann war sie verschwunden wie der einsame Seufzer eines Geistes.
Die Eule stürzte sich mit rasch ausgebreiteten Flügeln von ihrem Ast.
Während die Eule hinabstieß und das Kaninchen starb, schlief nahe des Flusses ein altes graues Haus mit schwankendem Pier im Dunkeln. Dahinter reckte sich über aufgeschossenem Gras ein großes weißes Herrenhaus und wachte im Mondlicht.
Zwischen beiden verlief das gewundene Band des Bayou – strotzend vor Leben und voll des Todes.
Das Baby weinte. Abigail hörte es in ihren Träumen, vernahm das zarte unsichere Wimmern, das Rascheln der sich unter weichen Decken regenden winzigen Glieder. Sie verspürte ein Hungergefühl, ein Verlangen in ihrem Leib, fast als wäre das Kind noch in ihr. Noch ehe sie ganz wach war, quoll die Milch heraus.
Rasch stand sie auf. Es war das reinste Vergnügen – diese Überfülle in ihren Brüsten, ihre Empfindsamkeit. Ihre Zweckmäßigkeit. Ihr Baby brauchte sie und sie würde es versorgen.
Sie trat an die Récamier und nahm den weißen Morgenrock, der über der Lehne hing. Sie sog den Duft der Treibhauslilien ein – ihre Lieblingsblumen –, die wie Speere in einer Kristallvase steckten, einem Hochzeitsgeschenk.
Vor Lucian war sie auch mit Wildblumen in einfachen Flaschen zufrieden gewesen.
Wäre Lucian zu Hause gewesen, wäre er ebenfalls wach geworden. Und obwohl sie ihn angelächelt, ihm zärtlich das seidige blonde Haar gestreichelt und ihm gesagt hätte, er solle liegen bleiben, hätte er sich doch auf den Weg zum Kinderzimmer gemacht, ehe sie mit dem mitternächtlichen Stillen von Marie Rose fertig gewesen wäre.
Sie vermisste ihn – wieder spürte sie einen Stich im Leib. Aber als sie in ihren Morgenmantel schlüpfte, erinnerte sie sich daran, dass er am nächsten Tag zurückkam. Vom frühen Morgen an würde sie nach ihm Ausschau halten und warten, bis sie ihn die Eichenallee entlanggaloppieren sah.
Egal, was die anderen denken oder reden mochten, sie würde hinauslaufen, um ihn zu begrüßen. Und wenn er dann von seinem Pferd sprang und sie mit seinen Armen hochhob, würde ihr Herz vor Freude hüpfen, wie es immer hüpfte, wenn sie ihn nur ansah.
Und auf dem Neujahrsball würden sie tanzen.
Summend zündete sie eine Kerze an und schützte diese mit ihrer Hand, als sie auf die Schlafzimmertür zuging und auf den Korridor des großen Hauses hinaustrat, in dem sie einst Dienerin gewesen war, jetzt aber, nun ja, wenn auch nicht Tochter des Hauses, so doch wenigstens die Ehefrau des Sohnes.
Das Kinderzimmer lag im zweiten Stock des Familienflügels. Den Kampf, den sie deswegen mit Lucians Mutter ausgetragen hatte, hatte sie verloren. Bei Josephine Manet gab es feste Regeln für das Benehmen, für die Nutzung der Räume des Hauses und für die Art und Weise, wie Traditionen gepflegt wurden. Madame Josephine, überlegte Abigail, als sie lautlos an den anderen Schlafzimmertüren vorbeihuschte, hatte von allem eine unumstößliche Vorstellung. Auf jeden Fall gehörte ein drei Monate altes Baby in das Kinderzimmer und in die Obhut eines Kindermädchens und nicht in eine Wiege in einer Ecke des elterlichen Schlafzimmers.
Flackernd tanzte das Kerzenlicht über die Wände, als Abigail die immer schmaler werdende Treppe nach oben stieg. Wenigstens war es ihr gelungen, Marie Rose sechs Wochen lang bei sich zu behalten. Und die Wiege zu benutzen, die Teil ihrer eigenen Familientradition war. Ihr grand-père hatte sie geschnitzt. Ihre eigene Mutter hatte darin geschlafen und dann siebzehn Jahre später Abigail darin gebettet.
In dieser alten Wiege hatte Marie Rose, dieser winzige Engel, die ersten Nächte verbracht, in unmittelbarer Nähe ihrer sie abgöttisch liebenden, aufgeregten Eltern.
Ihre Tochter würde einmal die Familie ihres Vaters und deren Gepflogenheiten respektieren. Aber Abigail war entschlossen, dass ihr Kind auch die Familie ihrer Mutter respektierte und deren Lebensstil kennen lernte.
Josephine hatte sich über das Baby und die handgemachte Wiege aufgeregt und zwar mit solcher Ausdauer, dass Abigail und Lucian schließlich nachgegeben hatten. Auf diese Weise würde Wasser den Fels besiegen, hatte Lucian gemeint, denn es arbeitet unermüdlich, bis der Fels schließlich nachgibt oder mürbe wird.
Jetzt verbrachte das Baby seine Nächte im Kinderzimmer und lag in dem in Frankreich hergestellten Kinderbett, in dem seit über einem Jahrhundert die Babys der Manets ihren Schlaf fanden.
Abigail tröstete sich damit, dass dieses Übereinkommen seine Richtigkeit und sogar seine Annehmlichkeiten hatte. Ihre petite Rose war eine Manet. Sie würde eine Dame sein.
Wie Madame Josephine schließlich immer wieder mit Nachdruck betont hatte, werde auf diese Weise der Schlaf der anderen Hausbewohner nicht durch quengelige Schreie gestört. Egal, wie man solche Fragen sonst im Bayou regeln mochte, hier in Manet Hall hütete man die Kinder im Kinderzimmer.
Wie sich ihre Lippen gekräuselt hatten, als sie dies sagte. Bayou – als wäre es ein Wort, das man nur in Bordellen und Bars aussprach.
Doch es machte nichts, dass Madame Josephine sie hasste, dass Monsieur Henri sie ignorierte. Es war auch nicht von Belang, dass Julian sie mit Blicken bedachte, mit denen kein Mann die Frau seines Bruders ansehen sollte.
Lucian liebte sie.
Es war auch nicht schlimm, dass Marie Rose im Kinderzimmer schlief. Ob sie nun durch ein Stockwerk oder durch einen Kontinent voneinander getrennt waren – Abigail spürte Marie Roses Bedürfnisse wie ihre eigenen. Das Band war so stark, so wahrhaftig, dass es nie zerrissen werden konnte.
Mochte Madame Josephine auch Schlachten gewinnen, den Krieg hatte Abigail gewonnen, das wusste sie. Sie hatte Lucian und Marie Rose.
Im Kinderzimmer brannten Kerzen. Das Kindermädchen Claudine traute dem Gaslicht nicht. Claudine hielt Marie Rose bereits im Arm und versuchte sie mit einem Zuckernuckel zu beruhigen, aber die vor Wut geballten Fäuste des Babys zitterten.
»Wie wütend sie werden kann.« Abigail stellte die Kerze ab und lachte, als sie mit bereits ausgestreckten Armen das Zimmer durchquerte.
»Die weiß genau, was sie will und wann sie es will.« Claudine, eine hübsche Cajun mit müden dunklen Augen, drückte das Baby noch einmal kurz an sich, ehe sie es Abigail reichte. »Sie hat bis jetzt noch so gut wie keinen Lärm gemacht. Ich weiß gar nicht, wie du sie da unten hören kannst.«
»Ich höre sie mit meinem Herzen. Na komm, bébé. Maman ist da.«
»Die Windel ist nass.«
»Ich leg sie trocken.« Abigail rieb ihre Wange an der des Babys und lächelte. Claudine war eine Freundin – diese Schlacht hatte sie gewonnen. Wie tröstlich war es doch, sie im Kinderzimmer, im Haushalt zu haben, eine Gesellschaft, die keiner aus Lucians Familie ihr anbieten würde.
»Geh doch wieder ins Bett. Wenn ich sie gestillt habe, wird sie bis morgen schlafen.«
»Sie ist ein echter Goldschatz.« Claudine strich mit ihren Fingerspitzen über Marie Roses Locken. »Wenn du mich nicht brauchst, mache ich vielleicht einen Spaziergang zum Fluss. Jasper wird dort sein.« Ihre dunklen Augen leuchteten. »Ich habe ihm gesagt, dass ich vielleicht gegen Mitternacht vorbeikomme, wenn ich weg kann.«
»Du solltest diesen Jungen dazu bringen, dass er dich heiratet, chère.«
»Oh, das werde ich. Also wenn du nichts dagegen hast, Abby, laufe ich für ein, zwei Stunden runter.«
»Ich habe nichts dagegen, aber gib Acht, dass du dir bis auf ein paar Flusskrebse nichts einfängst. Ja nichts anderes«, fügte sie hinzu, als sie sich alles zurechtlegte, was sie zum Wechseln der schmutzigen Windel von Marie Rose brauchte.
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin vor zwei Uhr wieder zurück.« Sie stand schon in der Verbindungstüre, als sie sich noch einmal umdrehte. »Abby? Ist dir, als wir Kinder waren, je der Gedanke gekommen, du könntest eines Tages Herrin dieses Hauses sein?«
»Ich bin keine Herrin hier.« Sie kitzelte das Baby an den Zehen und brachte Marie Rose zum Glucksen. »Und diejenige, die es ist, wird wahrscheinlich schon aus Trotz hundertzehn Jahre alt werden, damit ich es ja nicht werden kann.«
»Wenn das eine schafft, dann sie. Aber eines Tages wirst du es sein. Du bist ein Glückskind, Abby, und es sieht wirklich gut für dich aus.«
Allein mit dem Baby, streichelte und koste Abby es. Sie puderte und pflegte es und wickelte es ordentlich. Als Marie Rose mit trockener Windel und frischem Nachthemd versorgt war, machte Abby es sich in einem Schaukelstuhl bequem und entblößte ihre Brust für diesen winzigen, hungrigen Mund. Bei den ersten gierigen Zügen, auf die ein Ziehen in ihrem Schoß antwortete, entfuhr ihr ein Seufzer. Ja, sie war ein Glückskind. Weil Lucian Manet, der Erbe von Manet Hall, der strahlende Märchenprinz, ein Auge auf sie geworfen hatte. Und sie liebte.
Sie neigte den Kopf, um das Baby trinken zu sehen. Marie Roses Augen standen weit offen und waren auf das Gesicht ihrer Mutter gerichtet. Zwischen ihren Brauen kräuselte sich die Haut vor Anstrengung.
Ach, sie hoffte so sehr, diese Augen würden blau bleiben wie die von Lucian. Das Haar des Babys war dunkel wie das ihre. Dunkel und lockig, aber seine Haut war weiß wie Milch – wieder ganz wie die seines Papas und nicht dunkel wie der matte Goldton seiner Cajunmama.
Sie würde von beiden das Beste haben, überlegte Abby. Das Beste von allem.
Es war nicht allein das Geld, das große Haus, der gesellschaftliche Status, obwohl sie sich auch dies jetzt für ihr Kind wünschte, nachdem sie es selbst gekostet hatte. Vielmehr ging es um die Akzeptanz, die Erfahrung, das Wissen, an einen solchen Ort zu gehören. Ihre Tochter und alle Kinder, die nach ihr kamen, würden lesen und schreiben, würden mit angenehmer Stimme richtiges Englisch und Französisch sprechen.
Keiner würde je auf sie herabsehen.
»Du wirst eine Dame sein«, murmelte Abigail und streichelte die Wange des Babys, während Marie Roses Hand ihre Brust knetete, als wolle sie den Milchfluss beschleunigen. »Eine gebildete Dame mit der Gutmütigkeit deines Vaters und der Vernunft deiner Mutter. Morgen wird Papa wieder zu Hause sein. Es ist der allerletzte Tag eines ganzen Jahrhunderts, und du hast das ganze Leben vor dir.«
Sie sprach mit leiser Stimme, einem Singsang, der sie beide einlullte.
»Es ist so aufregend, Rosie, meine Rosie. Morgen Abend werden wir einen großen Ball geben. Ich habe ein neues Kleid. Es ist blau wie deine Augen. Wie die Augen deines Papas. Hab ich dir schon erzählt, dass ich mich als Erstes in seine Augen verliebt habe? So schöne Augen. So freundlich. Als er von der Universität nach Manet Hall zurückkehrte, sah er aus wie ein Prinz, der in sein Schloss heimkehrt. Ach, was hatte ich für Herzklopfen.«
Sie lehnte sich zurück und schaukelte im flackernden Kerzenlicht.
Sie dachte an die Neujahrsfeier des nächsten Abends, an das Tanzen mit Lucian und das im Walzertakt rauschende, schwingende Kleid.
Er würde stolz auf sie sein.
Sie erinnerte sich an ihren ersten gemeinsamen Walzer.
Damals im Frühling, als schwerer Blütenduft die Luft erfüllte und das Haus wie ein Palast erstrahlte. Sie hatte sich von ihrer Arbeit davongestohlen und in den Garten geschlichen, weil sie unbedingt sehen wollte, wie das strahlend weiße Herrenhaus sich mit seinen Balustraden wie schwarze Spitze und den flammenden Fenstern vom Sternenhimmel abhob. Aus diesen Fenstern und aus den Türen auf der Galerie, auf welche die Gäste sich begeben hatten, um Luft zu schnappen, war Musik nach draußen gedrungen.
Sie hatte sich vorgestellt, drinnen im Ballsaal zu sein und zur Musik herumzuwirbeln. Und so hatte sie sich in der Dunkelheit des Gartens im Kreis gedreht. Und hatte im Drehen gesehen, dass Lucian sie vom Weg her beobachtete.
Es war ihr ureigenstes Märchen, erinnerte sich Abby. Der Prinz, der Aschenputtels Hand nahm und sie, kurz bevor es Mitternacht schlug, zu einem Tanz aufforderte. Sie hatte keinen gläsernen Schuh und keine Kürbiskutsche, aber die Nacht hatte sich dennoch verzaubert.
Noch immer hörte sie die Musik, die aus den Balkontüren durch die Luft in den Garten geschwebt war.
»Ist der Ball dann vorbei und bricht an der Tag...«
Leise sang sie den Refrain, während sie das Baby an die andere Brust anlegte.
»Sind die Tänzer dahin mit den Sternen...«
Sie hatten im vom Mondlicht beschienenen Garten vor der Kulisse des Hauses, das sich hinter ihnen wie ein königlicher Schatten in Weiß und Gold erhob, zu diesem schönen, traurigen Lied getanzt. Sie in ihrem einfachen Kattunkleid, Lucian in seinem eleganten Abendanzug. Und wie im Märchen, wo alles möglich war, verliebten sie sich während dieses schönen, traurigen Liedes.
O ja, sie wusste natürlich, dass alles schon vor diesem Abend begonnen hatte. Für sie bereits, als sie ihn das erste Mal sah: rittlings auf der kastanienbraunen Stute, auf der er von New Orleans zur Plantage geritten kam. Die Sonne hatte so hell durch die Blätter und das Moos an den Eichen entlang der Allee gestrahlt, dass ihr Licht ihn wie Engelflügel umfing. Sein Zwillingsbruder – Julian – war neben ihm geritten, aber sie hatte nur Augen für Lucian gehabt.
Sie war erst seit ein paar Wochen im Haus gewesen, angestellt als Hilfsdienerin und ständig bemüht, Monsieur und Madame Manet zufrieden zu stellen, damit sie ihre Stellung behielt und ihren Lohn verdiente.
Er hatte sie jedes Mal, wenn sie sich im Haus begegneten, angesprochen – freundlich und korrekt. Aber sie hatte gespürt, dass er sie beobachtete. Nicht auf die Weise, wie Julian das tat, mit gierigen Augen und einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Aber doch mit einer Art Verlangen, wie sie sich jetzt gern erinnerte.
In den folgenden Wochen war sie ihm oft begegnet. Er passte sie ab. Das wusste sie jetzt und schätzte es hoch ein, denn er hatte es ihr in ihrer Hochzeitsnacht gestanden.
Aber tatsächlich begonnen hatte es erst am Abend des Balls. Nachdem das Lied zu Ende war, hatte er sie einen kleinen Augenblick länger festgehalten. Dann hatte er sich verbeugt, wie ein Herr sich vor einer Dame verbeugt. Anschließend küsste er ihre Hand.
Als sie schon gedacht hatte, es sei vorbei und der Zauber würde nachlassen, steckte er die Hand, die er gerade geküsst hatte, in seine Armbeuge. Fing an mit ihr spazieren zu gehen, mit ihr zu reden. Über das Wetter, die Blumen, den Klatsch im Haus.
Als ob sie Freunde wären, überlegte Abigail jetzt mit einem Lächeln. Als wäre es für Lucian Manet die natürlichste Sache der Welt, mit Abigail Rouse eine Runde durch den Garten zu drehen.
Danach waren sie viele Nächte durch den Garten spaziert. Drinnen im Haus, wo die anderen sie sehen konnten, waren sie weiterhin Herr und Dienerin. Aber den ganzen rauschhaften Frühling hindurch schlenderten sie als junges Liebespaar über die Gartenwege und tauschten sich über ihre Hoffnungen und Träume, ihre Sorgen und Freuden aus.
An ihrem siebzehnten Geburtstag überreichte er ihr ein Geschenk, eingewickelt in Silberpapier mit einer hellblauen Schleife. Die Emailleuhr hing als hübsche runde Scheibe von den goldenen Flügeln einer Brosche. Die Zeit fliege nur so dahin, wenn sie zusammen seien, meinte er, als er ihr die Uhr an den verblichenen Baumwollstoff ihres Kleides heftete. Und er würde sich liebend gern mit ihr aufschwingen, anstatt sein Leben fern von ihr zu verbringen.
Er hatte ein Knie gebeugt und sie gebeten, seine Frau zu werden.
Das war unmöglich. Oh, unter Tränen hatte sie versucht, ihm dies zu vermitteln. Er sei unerreichbar für sie und könne jede Frau haben, die er wollte.
Jetzt in der Erinnerung hörte sie sein Lachen, sah die Freude, die sich auf seinem schönen Gesicht ausgebreitet hatte. Wie könne er unerreichbar für sie sein, da sie doch gerade eben seine Hand in der ihren halte? Und wenn er wirklich jede haben könne, dann sei das sie.
»Und jetzt haben wir einander und dich«, flüsterte Abby und schob das dösende Baby auf ihre Schulter. »Und was macht es schon, wenn seine Familie mich dafür hasst? Ich mache ihn glücklich.«
Sie drückte ihr Gesicht in die weiche Biegung des Babynackens. »Ich lerne zu reden, wie sie reden, mich zu kleiden, wie sie sich kleiden. Aber ich werde nie so denken, wie sie denken. Doch Lucian zuliebe benehme ich mich so, wie sie sich benehmen, jedenfalls nach außen hin, wenn man es bemerkt.«
Zufrieden rubbelte sie den Rücken des Babys und schaukelte weiter. Als sie aber schwere Schritte auf der Treppe hörte, die sich stolpernd nach oben bewegten, erhob sie sich rasch. Sie schlang ihre Arme schützend um das Baby, als sie auf das Bettchen zuging.
Sie hörte Julian eintreten und wusste, ohne ihn anzuschauen, dass er betrunken war. Er war fast immer betrunken oder stand kurz davor.
Abby sagte nichts. Sie legte das Baby in die Wiege und streichelte Marie Rose zur Beruhigung, als diese zu wimmern anfing.
»Wo ist das Kindermädchen?«, herrschte er sie an.
Abby wandte sich ihm noch immer nicht zu. »Ich möchte dich nicht hier haben, wenn du getrunken hast.«
»Erteilst wohl jetzt Befehle?« Er sprach unartikuliert und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Aber seine Gedanken waren klar. Er war davon überzeugt, dass Alkohol ihm half, einen klaren Kopf zu bekommen.
Und wenn es um die Frau seines Bruders ging, war für ihn alles klar. Wenn Lucian etwas hatte – und war eine Frau denn etwas anderes als ein Ding? –, dann wollte Julian es auch haben.
Sie war klein, fast zerbrechlich gebaut. Aber sie hatte gute, kräftige Beine. Er konnte dort, wo der Feuerschein aus dem Kamin des Kinderzimmers durch ihr dünnes Nachtgewand schimmerte, deren Umrisse erkennen. Diese Beine würden sich genauso leicht um ihn schlingen, wie sie das bei seinem Bruder taten.
Ihre Brüste waren fest und prall, praller noch, seit sie die Kleine hatte. Einmal hatte er sie mit der Hand berührt, und sie hatte ihn dafür geohrfeigt. Als hätte sie ein Recht zu bestimmen, wer sie berührte.
Er schloss die Tür hinter sich. Sein Appetit war durch die Hure, die er sich heute Abend gekauft hatte, nur noch heftiger geworden. Es war Zeit, ihn zu stillen.
»Wo ist die andere Bayou-Schlampe?«
Abbys Hand ballte sich zur Faust. Jetzt wandte sie sich um, stellte sich mit ihrem Körper schützend vor die Wiege. Er sah Lucian so ähnlich, aber die Härte, die er ausstrahlte, fehlte bei Lucian. Julian hatte etwas Dunkles, Bedrohliches.
Sie fragte sich, ob an den Worten ihrer grand-mère was dran sei. Dass sich nämlich bei Zwillingen die Charakterzüge gleich im Mutterleib aufteilen. Einer bekommt die guten, der andere die schlechten.
Sie wusste nicht, ob Julian schon verdorben auf die Welt gekommen war. Aber sie wusste um seine Gefährlichkeit, wenn er betrunken war. Höchste Zeit, er erfuhr, dass auch sie gefährlich war.
»Claudine ist meine Freundin, und es steht dir nicht zu, so über sie zu reden. Geh hinaus. Du hast nicht das Recht, hier hereinzukommen und mich zu beleidigen. Dieses Mal wird Lucian davon erfahren.«
Sie sah, wie sein Blick von ihrem Gesicht abwärts glitt, verfolgte, wie sich die Lüsternheit in seine Augen schlich. Schnell zog sie ihren Morgenmantel über die Brust, die vom Stillen noch halb entblößt war. »Du bist abscheulich. Cochon! Mit deinen lasterhaften Absichten auf die Frau deines Bruder ein Kinderzimmer zu betreten!«
»Hure des Bruders.« Er glaubte ihre Wut und ihre Angst jetzt riechen zu können. Ein berauschender Duft. »Wenn ich fünfzehn Minuten eher zur Welt gekommen wäre, hättest du für mich die Beine breit machen müssen. Aber meinen Namen hättest du nicht an dich gerissen, wie du seinen an dich gerissen hast.«
Sie reckte ihr Kinn vor. »Ich sehe dich gar nicht. Keiner tut das. Neben ihm bist du nichts. Ein Schatten, ein Schatten, der nach Whiskey und Bordell stinkt.«
Sie wollte weglaufen. Er machte ihr Angst, hatte ihr von jeher Angst gemacht, eine Art Urangst in ihr geweckt. Aber sie würde es nicht riskieren, ihn mit dem Baby allein zu lassen. »Wenn ich Lucian davon erzähle, jagt er dich weg.«
»Er hat keine Macht hier, das wissen wir doch alle.« Er näherte sich, pirschte sich an wie ein Jäger im Wald. »In diesem Haus hält meine Mutter das Zepter in der Hand. Ich bin ihr Liebling. Daran ändert auch der Zeitpunkt der Geburt nichts.«
»Er wird dich wegschicken.« Ihr brannten die Tränen in der Kehle, weil sie wusste, dass Julian Recht hatte. Josephine war die Herrscherin von Manet Hall.
»Lucian hat mir einen Gefallen getan, indem er dich heiratete.« Er sprach jetzt mit träger, schleppender Stimme, fast als würde er Konversation machen. Er wusste genau, dass sie nirgendwohin weglaufen konnte. »Sie hat ihn bereits aus ihrem Testament gestrichen. O ja, das Haus bekommt er, daran kann sie nichts ändern, aber ihr Geld bekomme ich. Und ohne Geld lässt sich das hier nicht unterhalten.«
»Nimm das Geld, nimm das Haus.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer abweisenden Geste, die ihn einschloss. »Nimm alles und fahr damit zur Hölle.«
»Er ist schwach. Mein Bruder, dieser Heilige. Das sind Heilige immer, bei all ihrer Frömmigkeit.«
»Er ist ein Mann, viel mehr Mann als du.«
Sie hatte gehofft, ihn wütend zu machen, ihn so in Rage zu bringen, dass er sie schlug und aus dem Raum stürmte. Doch er lachte nur, tief und leise, und rückte näher.
Als sie seine Absicht in seinen Augen las, öffnete sie den Mund, um zu schreien. Seine Hand holte aus, und er packte eine Strähne ihres dunklen Haars, das in Locken bis zur Taille fiel. Sein Zerren erstickte ihren Schrei zu einem Keuchen. Seine freie Hand umfing ihre Kehle und drückte zu.
»Ich nehme mir immer, was Lucian gehört. Sogar seine Huren.«
Sie trommelte auf ihn ein, schlug nach ihm und biss ihn. Als sie wieder Luft bekam, schrie sie. Er zerrte an ihrem Morgenrock, grapschte nach ihren Brüsten. Das Baby im Kinderbett fing zu wimmern an.
Angespornt vom Klageruf ihrer Tochter, kratzte Abby sich mit ihren Fingernägeln frei. Sie wirbelte herum, stolperte dabei aber über den zerrissenen Saum ihres Nachthemds. Ihre Hand umschloss den Griff des Schürhakens. Sie schwang ihn wild und ließ ihn dann mit voller Kraft auf Julians Schulter niedersausen.
Unter Schmerzgeheul fiel er rücklings gegen den Kamin, und sie flüchtete sich zum Bettchen.
Sie musste das Baby holen. Das Baby nehmen und wegrennen.
Er erwischte sie am Ärmel und wieder schrie sie, als der Stoff riss. Als sie in das Bett langte, um ihre Tochter herauszuholen, zerrte er sie zurück. Er schlug sie, schnitt mit seinem Handrücken wie mit dem Messer über ihre Wange und stieß sie dann mit dem Rücken gegen einen Tisch. Eine Kerze fiel zu Boden und erlosch flackernd in ihrem eigenen Wachs.
»Miststück! Hure!«
Er war wahnsinnig. Das erkannte sie jetzt an dem wilden Glanz seiner Augen, den vom Alkohol geröteten und erhitzten Wangen. In diesem Moment wurde aus der Angst Entsetzen.
»Dafür wird er dich umbringen. Mein Lucian wird dich töten.« Sie versuchte wieder festen Halt zu bekommen, doch schon schlug er wieder zu, diesmal mit der Faust, so dass der Schmerz vom Gesicht in ihren ganzen Körper ausstrahlte. Benommen wollte sie zum Kinderbett kriechen. Sie hatte Blut im Mund, süß und warm.
Mein Baby. Lieber Gott, lass nicht zu, dass er meinem Baby etwas antut.
Sie spürte sein Gewicht auf ihr – und seinen Gestank. Sie sträubte sich, schrie um Hilfe. Die schrillen Schreie des Babys vermischten sich mit den ihren.
»Tu's nicht! Tu's nicht! Du machst dich unglücklich.«
Aber als er ihr mit einem Ruck das Nachthemd über die Taille zog, wusste sie, dass sie flehen und kämpfen konnte, so viel sie wollte, es würde ihn nicht aufhalten. Er würde sie erniedrigen und beflecken, weil sie es war. Weil sie Lucian gehörte.
»Das ist es doch, was du willst.« Er drang brutal in sie ein, und Machtgier durchströmte ihn wie dunkler Wein. Ihr Gesicht war weiß vor Furcht und Grauen und wund von den Schlägen seiner Hände. Hilflos, dachte er, als er seine rasende Eifersucht in ihr austobte. »Das ist es doch, was ihr alle wollt. Ihr Cajunhuren.«
Stoß um Stoß vergewaltigte er sie. Er schäumte über vor Erregung, sie gewaltsam zu nehmen, bis sein Atem wie kurze Grunzlaute zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen austrat.
Abigail weinte jetzt, ein ersticktes Schluchzen. Aber sie schrie auch. Schrie irgendwie, während er ihr seine Wut, seine Eifersucht und seinen Ekel einbläute.
Als die große Standuhr Mitternacht schlug, umschloss er ihre Kehle mit seinen Händen. »Sei still. Du verdammtes Weib.« Er rammte ihren Kopf in den Fußboden, drückte fester zu. Und noch immer durchbohrte das Geschrei sein Gehirn.
Auch Abby hörte es. Die grellen Schreie des Babys hallten gemeinsam mit den langsamen, gesetzten Schlägen der Mitternachtsstunde durch ihren Kopf. Sie schlug um sich, lehnte sich kraftlos auf gegen die Hände, die ihr die Luft abschnitten, versuchte den abscheulichen Eindringling von ihrem Körper fern zu halten.
Hilf mir. Muttergottes. Hilf mir. Hilf meinem Baby.
Ihr Blick verschleierte sich. Ihre Fersen trommelten im Todeskampf wie verrückt auf den Fußboden.
Das Letzte, was sie hörte, war ihre schreiende Tochter. Das Letzte, was sie dachte, war Lucian.
Die Tür des Kinderzimmers sprang auf – und Josephine Manet stand im Kinderzimmer. Sie erfasste sofort, was geschehen war. Kaltblütig.
»Julian!«
Die Hände noch immer im Klammergriff um Abbys Kehle, schaute er auf. Sollte seine Mutter den Wahnsinn in seinen Augen erkannt haben, beschloss sie, darüber hinwegzusehen. Mit ihrem ordentlich für die Nacht geflochtenen Goldhaar und dem streng bis zum Hals zugeknöpften Morgenrock trat sie auf ihn zu und starrte hinab.
Abbys Augen waren weit offen und starr. Aus ihrem Mundwinkel sickerte Blut, und auf ihren Wangen blühten Blutergüsse.
Leidenschaftslos beugte sie sich hinab und legte ihre Finger an Abbys Hals.
»Sie ist tot«, verkündete Josephine und ging mit raschen Schritten auf die Verbindungstür zu. Sie öffnete diese und warf einen Blick in das Zimmer des Kindermädchens. Dann schloss sie sie wieder und verriegelte sie.
Mit dem Rücken an der Tür verharrte sie einen Moment, die Hand an den eigenen Hals gelegt, und überlegte, was über sie hereinbrechen könnte. Schande, Ruin, Skandal.
»Es war... ein Unfall.« Seine Hände begannen zu zittern, als sie von Abbys Kehle glitten. Jetzt wirbelte der Whiskey durch seinen Kopf und benebelte ihn. Er brannte in seinem Leib, dass ihm übel wurde.
Er konnte die Flecken auf ihrer Haut sehen, dunkel, tief und anklagend. »Sie hat versucht... mich zu verführen, dann hat sie mich angegriffen...«
Wieder lief sie quer durchs Zimmer, ihre Pantoffeln klapperten auf dem Holz. Josephine kauerte sich nieder und schlug ihn, ein fester Schlag von Fleisch auf Fleisch. »Sei still. Schweig und tue genau, was ich sage. Ich möchte nicht noch einen Sohn an diese Kreatur verlieren. Bring sie runter in ihr Schlafzimmer. Geh durch die Galerie nach draußen und warte dort, bis ich komme.«
»Sie war Schuld daran.«
»Ja. Jetzt hat sie dafür bezahlt. Bring sie runter, Julian. Und beeil dich.«
»Sie werden...« Eine einzelne Träne sammelte sich in seinem Augenwinkel und tropfte herunter. »Sie werden mich hängen. Ich muss weg.«
»Nein. Nein, sie werden dich nicht hängen.« Sie drückte seinen Kopf an ihre Schulter und streichelte ihm über dem Körper ihrer Schwiegertochter das Haar. »Nein, mein Schatz, sie werden dich nicht hängen. Tu jetzt genau, was Mama sagt. Trag sie runter ins Schlafzimmer und warte auf mich. Alles wird gut werden. Alles wird wieder ins Lot kommen. Ich verspreche es dir.«
»Ich möchte sie nicht anfassen.«
»Julian!« Die mitfühlende Stimme schlug um in eisigen Kommandoton. »Tu, was ich sage. Jetzt gleich.«
Sie erhob sich und trat an das Kinderbett, in dem sich das Geschrei des Babys zu einem kläglichen Wimmern abgeschwächt hatte. In der Brisanz der Situation hielt sie es für das Naheliegendste, einfach die Hand auf Mund und Nase des Kindes zu legen. Kein großer Unterschied zum Ertränken eines Sacks voller Kätzchen.
Und doch...
Das Kind hatte das Blut ihres Sohnes in sich und somit auch ihr eigenes. Sie konnte es verachten, vernichten durfte sie es nicht. »Schlaf jetzt«, sagte sie. »Wir werden später entscheiden, was wir mit dir machen.«
Während ihr Sohn die junge Frau, die er geschändet und getötet hatte, aus dem Zimmer trug, machte Josephine sich daran, das Kinderzimmer in Ordnung zu bringen. Sie hob die Kerze auf und rieb das erkaltete Wachs ab, bis keine Spur mehr davon zu sehen war.
Sie stellte den Schürhaken an seinen Platz zurück und wischte mit den Fetzen von Abbys Morgenrock die Blutspritzer weg. Dies alles erledigte sie mit Umsicht und ohne darüber nachzudenken, was zu den Beschädigungen in diesem Raum geführt hatte. All ihr Tun war nur darauf ausgerichtet, ihren Sohn zu retten.
In der Gewissheit, dass alles seine Ordnung hatte, schloss sie die Durchgangstüre wieder auf und ließ ihr inzwischen schlafendes Enkelkind allein.
Am Morgen würde sie das Kindermädchen wegen ihrer Pflichtvergessenheit aus dem Haus werfen. Sie würde Manet Hall verlassen haben, ehe Lucian zurückkehrte und bemerkte, dass seine Frau nicht da war.
Das Mädchen hatte sich das alles selbst zuzuschreiben, befand Josephine. Es führte nie zu etwas Gutem, wenn man versuchte, sich über seinen Platz im Leben zu erheben. Jedes Ding hatte seinen angestammten Platz, und diese Ordnung hatte Gründe. Hätte das Mädchen Lucian nicht verhext – denn sicher war irgendein hier gebräuchlicher Hexenzauber im Spiel gewesen –, wäre sie noch am Leben.
Der Skandal war für die Familie schlimm genug gewesen. Das Durchbrennen. O Gott, was für eine Peinlichkeit! Zuzusehen, wie der Erstgeborene mit einem völlig mittellosen, barfüßigen Weib davonlief, das in einer Hütte im Sumpf aufgewachsen war, und dennoch hoch erhobenen Hauptes weiterzuleben.
Dann der saure Geschmack der Heuchelei, die danach kam. Es war wichtig, das Gesicht zu wahren, selbst nach einem solchen Schlag. Und hatte sie nicht alles Mögliche getan, dass diese Kreatur sich so kleidete, wie es sich für die Familie Manet gehörte?
Seidenbeutel und Schweineohren, ging es ihr durch den Kopf. Was nützte all die Mode aus Paris, wenn das Mädchen nur seinen Mund aufzumachen brauchte und nach Sumpf klang? Du liebe Zeit, sie war eine Dienerin gewesen.
Josephine betrat das Schlafzimmer und zog hinter sich die Tür zu. Sie richtete ihren Blick auf das Bett, auf dem die tote Frau ihres Sohnes lag und zum blauseidenen Betthimmel hinaufstarrte.
Jetzt, überlegte sie, war Abigail Rouse nur noch ein Problem, das beseitigt werden musste.
Julian saß zusammengesunken in einem Stuhl, den Kopf in den Händen. »Hör auf zu schreien«, murmelte er. »Hör zu schreien auf.«
Josephine ging zu ihm und packte ihn an den Schultern. »Sollen sie dich holen kommen, möchtest du das?«, fragte sie ihn. »Möchtest du deine Familie ins Elend stürzen? Gehängt werden wie ein gemeiner Dieb?«
»Es war nicht mein Fehler. Sie hat mich verführt. Dann hat sie mich angegriffen. Sieh nur. Sieh.« Er drehte seinen Kopf. »Sieh doch, wie sie mir das Gesicht zerkratzt hat.«
»Ja.« Einen Augenblick, nur einen kurzen Augenblick geriet Josephine aus dem Gleichgewicht. Trotz ihrer Hartherzigkeit, die sie verkörperte, regte sich etwas in ihr und lehnte sich auf gegen das Entsetzen vor der Tat, die alle Frauen fürchten.
Wer und was sie auch war, Abigail hatte Lucian geliebt. Wer und was sie auch war, sie war nur wenige Schritte vor dem Bettchen ihres Kindes vergewaltigt und getötet worden.
Julian hatte ihr Gewalt angetan, sie geschlagen und geschändet. Sie getötet.
Betrunken und wahnsinnig hatte er die Frau seines Bruders umgebracht. Gott hab Erbarmen.
Dann schob sie dies alles resolut beiseite.
Das Mädchen war tot. Ihr Sohn nicht.
»Du hast dir heute Abend eine Prostituierte genommen. Wende dich nicht ab von mir«, herrschte sie ihn an. »Ich weiß Bescheid über das, was Männer tun. Hast du dir eine Frau gekauft?«
»Ja, Mama.«
Sie nickte zufrieden. »Dann war es die Hure, die dich gekratzt hat, sofern jemand die Dreistigkeit besitzt, dich danach zu fragen. Du warst heute Abend zu keiner Zeit im Kinderzimmer. Verstanden?« Sie nahm sein Kinn in die hohle Hand, damit seine Augen auf ihrer Augenhöhe blieben. Und ihre Finger gruben sich in seine Wangen, als sie leise, aber in deutlichen Worten auf ihn einredete. »Welchen Grund hättest du auch gehabt, dorthin zu gehen? Du bist ausgegangen, um zu trinken und dich mit Weibern zu amüsieren, und nachdem du von beidem genug hattest, bist du nach Hause gekommen und ins Bett gegangen. Ist das klar?«
»Aber, wie sollen wir erklären –«
»Wir werden nichts erklären. Ich habe dir gesagt, was du heute Nacht gemacht hast. Wiederhol das.«
»Ich – ich bin in die Stadt gegangen.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Schluckte. »Ich habe getrunken, dann bin ich in ein Bordell gegangen. Ich bin nach Hause gekommen und ins Bett gegangen.«
»Genau. Genau so war es.« Sie streichelte ihm die zerkratzte Wange. »Jetzt werden wir ein paar Sachen von ihr einpacken – Kleider, ein wenig Schmuck. Und das machen wir überstürzt, wie sie es auch getan hätte, als sie beschloss mit einem Mann durchzubrennen, mit dem sie sich insgeheim getroffen hat. Ein Mann, der durchaus auch der Vater des Kindes da oben sein könnte.«
»Welcher Mann?«
Josephine seufzte schwer. Er war ihr Liebling, aber an seinem Verstand verzweifelte sie oft. »Macht nichts. Julian. Du weißt nichts davon. Hier.« Sie trat vor den Kleiderschrank und entschied sich für einen langen schwarzen Samtumhang. »Wickle sie darin ein. Beeil dich. Na mach schon!« Der Ton, in dem sie das sagte, brachte ihn auf die Beine.
Ihm war flau im Magen und seine Hände zitterten, aber er wickelte die Leiche so gut es ging in den Samt, während seine Mutter Sachen in eine Hutschachtel und einen Koffer stopfte.
In der Eile ließ sie eine Brosche fallen, an deren Goldflügeln eine kleine Emailleuhr hing. Sie stieß mit der Spitze ihres Pantoffels daran, so dass sie in eine Ecke rutschte.
»Wir werden sie in den Sumpf tragen. Wir müssen zu Fuß gehen und uns beeilen. Im Gartenschuppen liegen ein paar alte Pflastersteine. Damit können wir sie versenken.«
Den Rest, überlegte sie, erledigten dann die Krokos und die Fische.
»Selbst wenn man sie findet, ist das weitab von hier. Der Mann, mit dem sie weggelaufen ist, hat sie umgebracht.« Mit einem Taschentuch aus ihrem Morgenrock tupfte sie sich das Gesicht ab und strich ihren langen goldenen Zopf mit der Hand glatt. »Das jedenfalls werden die Leute denken, falls man sie findet. Wir müssen sie von hier wegbringen, weg von Manet Hall. Rasch.«
Langsam schlich sich auch bei ihr der Irrsinn ein.
Der Mond schien. Sie redete sich ein, der Mondschein sei ein Zeichen des Schicksals, das ihr Tun guthieß. Sie konnte den raschen Atem ihres Sohnes hören und die Geräusche der Nacht. Die Frösche, die Insekten, die Nachtvögel, sie alle vereinten sich zu einem kraftvollen Gesang.
Es war das Ende eines Jahrhunderts, der Beginn eines neuen. Sie würde sich von dieser Verirrung in ihrer Welt befreien und dieses neue Jahrhundert, diese neue Ära stark und rein beginnen.
Frost lag in der Luft, rau von der Feuchtigkeit. Aber ihr war heiß, sie glühte fast, als sie, bepackt mit der Last der Sachen, die sie zusammengerafft hatte, vom Haus wegstrebte. Die Muskeln ihrer Arme und ihrer Beine lehnten sich dagegen auf, aber sie marschierte wie ein Soldat.
Einmal, nur ein einziges Mal, glaubte sie etwas über ihre Wange streichen zu spüren, wie den Atem eines Geists. Der Geist des toten Mädchens, der sie verfolgte und sie für ewig anklagte, verdammte und verfluchte.
Doch die Angst machte sie nur stärker.
»Hier«, sie blieb stehen und richtete den Blick hinaus aufs Wasser. »Leg sie hier ab.«
Julian gehorchte, dann erhob er sich rasch, wandte ihr den Rücken zu und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Ich kann das nicht, Mama. Ich kann es nicht. Mir ist übel. Schlecht.«
Würgend und weinend taumelte er zum Wasser.
Nutzloser Junge, dachte sie ärgerlich. Männer bewältigten nie eine Krise. Dazu bedurfte es einer Frau, der Kaltblütigkeit und des klaren Verstands einer Frau.
Josephine öffnete den Umhang und legte Ziegelsteine auf den Leichnam. Ihr lief der Schweiß übers Gesicht, aber sie erledigte ihre grausige Aufgabe wie jede andere auch. Mit schonungsloser Effizienz. Sie holte das Seil aus der Hutschachtel und legte es in sorgfältigen Schlingen um den wieder eingewickelten Körper: oben, unten, in der Mitte. Mit einem zweiten Seil verband sie die einzelnen Schlingen miteinander und knüpfte dann das so geschnürte Paket fest.
Sie sah hinüber zu Julian, der sie mit aschfahlem Gesicht beobachtete. »Du wirst mir helfen müssen. Allein bekomme ich sie nicht ins Wasser. Sie ist jetzt zu schwer.«
»Ich war betrunken.«
»Richtig, Julian. Du warst betrunken. Aber jetzt bist du nüchtern genug, um dich mit den Folgen auseinander zu setzen. Hilf mir, sie ins Wasser zu bringen.«
Wie bei einer Puppe spürte er seine Beine bei jedem Schritt weich werden und nachgeben. Die Leiche glitt fast lautlos ins Wasser. Ein leises Klatschen, eine Art Gurgeln, dann war sie weg. Ein paar Wellen kräuselten die Oberfläche, schimmerten im Mondlicht und glätteten sich wieder.
»Sie ist aus unserem Leben verschwunden«, stellte Josephine gelassen fest. »Bald wird sie nicht mehr als dieses Kräuseln sein. Als wäre sie nie gewesen. Sieh zu, dass du deine Stiefel anständig sauber machst, Julian. Gib sie keinem Bediensteten.«
Sie hakte sich bei ihm unter und lächelte, doch ihr Lächeln hatte etwas Irres. »Wir müssen zurück, brauchen Ruhe. Morgen ist ein aufregender Tag.«
Seine Mutter hatte Recht – wie immer. Declan Fitzgerald starrte durch die schmutzbespritzte Windschutzscheibe in den peitschenden Winterregen und war froh, dass ihm ihre Häme erspart blieb.
Obgleich Colleen Sullivan Fitzgerald sich gar nicht zur Häme herabließ. Sie zog lediglich eine perfekt geformte Augenbraue in einem perfekten Bogen nach oben und ließ ihr Schweigen wirken.
Als er bei ihr angehalten hatte, ehe er Boston verließ, hatte sie ihm kurz und bündig erklärt, er habe den Verstand verloren. Und dass er es eines Tages bereuen werde. Ja, er war sich ziemlich sicher, dass sie gesagt hatte: »Eines Tages wirst du es bereuen«.
Bei der Reue war er noch nicht angelangt – noch nicht –, aber als er den Unkrautdschungel, die durchhängenden Galerien, die sich lösende Farbe und die kaputten Regenrinnen des alten Plantagensitzes betrachtete, verlor er das Vertrauen in seine geistige Gesundheit.
Was hatte ihn dazu gebracht zu glauben, er könne diesem weitläufigen alten Wrack wieder zu seinem alten Glanz verhelfen? Oder, treffender, dass er es sollte? Er war halt nun mal Rechtsanwalt, ein Fitzgerald der Boston Fitzgeralds, und eher darauf gedrillt, den Hammer des Gesetzes als den des Handwerkers zu schwingen.
Es war ein himmelweiter Unterschied, ob man in der Freizeit binnen zweier Jahre ein Stadthaus wieder bewohnbar machte oder nach New Orleans zog und sich als Bauunternehmer aufspielte.
War das Gebäude denn schon in so einem schlimmen Zustand gewesen, als er das letzte Mal hier unten war? Konnte das sein? Das war jetzt fünf, nein, sechs Jahre her. Aber beim ersten Mal konnte es noch nicht so schlimm ausgesehen haben. Damals war er zwanzig gewesen und hatte zu Mardi Gras ein paar wahnsinnige Tage mit seinem Zimmerkollegen aus dem College verbracht. Elf Jahre, überlegte er und fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkelblondes Haar.
Das alte Anwesen Manet Hall hatte sich elf Jahre lang als fruchtbarer Keim in seinem Kopf eingenistet. Und unter dem Aspekt der Leidenschaft hatte er sich sogar länger behauptet als die meisten Beziehungen. Länger jedenfalls als jede seiner eigenen.
Jetzt gehörte das Haus ihm, auf Gedeih und Verderb. Und schon beschlich ihn das Gefühl, dass ihn vom Verderb mehr als genug erwartete.
Prüfend ließ er seine Augen, die so grau und jetzt auch so trostlos wie der Regen waren, über den architektonischen Aufbau wandern. In jenen weit zurückliegenden Februartagen hatten ihn die anmutigen Zwillingsbögen der Treppen, die auf beiden Seiten zur Galerie des ersten Stocks hinaufführten, begeistert. Und auch all die hohen Rundbogenfenster, der spleenige Belvedere, der auf dem Dach saß, die Eleganz der weißen Säulen und seltsam geformten Eisenbaluster. Er war fasziniert gewesen vom Formenreichtum dieser ausgefallenen Stilmischung aus Elementen der italienischen Renaissance und der griechischen Antike, die für ihn Sinnbild der Alten Welt und Südstaatenromantik zugleich war.
Schon damals hatte er sich in Neuengland auf unerklärliche Weise fehl am Platz gefühlt.
Das Haus hatte einen unheimlichen Sog auf ihn ausgeübt. Als hätte sich ein Angelhaken in seinem Gedächtnis festgesetzt, fand er jetzt. Die Innenausstattung stand bereits vor seinem geistigen Auge, ehe er und Remy eingebrochen waren, um diese auf einem Streifzug zu erkunden.
Vielleicht hatte ihm aber auch das im Überfluss genossene Bier zu dieser Hellsicht verholfen.
Einem betrunkenen Jungen, der kaum dem Teenageralter entwachsen war, durfte man nicht trauen. Aber einem stocknüchternen einunddreißigjährigen Mann auch nicht, musste Declan sich reuevoll eingestehen.
Sobald Remy hatte verlauten lassen, dass Manet Hall erneut unter den Hammer kam, hatte er ein Gebot abgegeben. Ohne es gesehen zu haben, jedenfalls nicht mehr seit mehr als einem halben Jahrzehnt. Er hatte es einfach haben müssen. Als hätte er sein ganzes Leben nur darauf gewartet, es sein Eigen zu nennen.
Den Preis fand er durchaus vernünftig, wenn er davon absah, was er noch alles reinstecken musste, um das Haus bewohnbar zu machen. Also würde er nicht weiter darüber nachdenken – nicht jetzt.
Es gehörte ihm, ob er nun verrückt war oder Recht hatte. Wie auch immer, er hatte seine Aktenmappe gegen einen Werkzeuggürtel eingetauscht. Das allein hob seine Stimmung.
Er holte sein Mobiltelefon hervor – der Anwalt aus Boston war nicht zu übersehen, aber... Noch immer in den Anblick des Hauses versunken, wählte er die Nummer von Remy Payne.
Er landete bei der Sekretärin und sah Remy sofort vor einem Schreibtisch voller Akten und Fallunterlagen sitzen. Bei dieser Vorstellung musste er lächeln, ein rasches, schiefes Grinsen, das die glatten Flächen und Kanten seines Gesichts verschob, die Wangen hohl machte und die manchmal verbissene Mundlinie aufweichte.
Ja, dachte er, das Leben könnte schlimmer sein. Der vor dem Schreibtisch könnte auch er sein.
»Hallo, Dec.« Remys träger Südstaatenakzent glitt in seinen voll bepackten Mercedes-Allradwagen wie Nebel über einen langsam fließenden Fluss. »Wo bist du, Junge?«
»Ich sitze in meinem Auto und schaue auf meinen nutzlosen Besitz, den ich verrückterweise gekauft habe. Warum zum Teufel hast du mir das nicht ausgeredet oder mich irgendwo eingewiesen?«
»Du bist hier? Du Teufelskerl! Ich hatte nicht vor morgen mit dir gerechnet.«
»Konnte es nicht mehr erwarten.« Er rieb sich das Kinn, hörte das Kratzen der Bartstoppeln. »Bin fast die ganze letzte Nacht durchgefahren und auch heute Morgen ganz früh losgefahren. Remy? Was habe ich mir nur dabei gedacht?«
»Wenn ich das wüsste. Hör zu, ich muss hier noch ein paar Dinge regeln, gib mir ein, zwei Stunden Zeit, dann komme ich zu dir raus. Ich bringe uns auch was zum Saufen mit. Wir werden dieses Rattenloch hochleben lassen und an die alten Zeiten anknüpfen.«
»Gute Idee. Das wäre schön.«
»Bist du schon drin gewesen?«
»Nein. Ich arbeitete mich darauf zu.«
»Jesus, Dec, geh rein und bleib nicht im Regen stehen.«
»Ja, ist ja gut.« Declan strich sich mit der Hand übers Gesicht. »Dann bis bald.«
»Ich bring uns was zu essen mit. Versuch um Himmels willen nicht, was zu kochen. Wäre nicht gut, wenn du den Bau abfackelst, noch ehe du eine Nacht darin geschlafen hast.«
»Blödmann.« Er hörte Remy lachen, ehe er auflegte.
Er startete den Motor wieder und fuhr bis zum Fuß dessen, was von den beiden Treppen übrig geblieben war, die den Eingang flankierten. Er ließ das Handschuhfach aufspringen und nahm die Schlüssel heraus, die man ihm nach Vertragsunterzeichnung zugeschickt hatte.
Er stieg aus und war sofort durch und durch nass. Nachdem er sich entschlossen hatte, die Kisten einstweilen im Auto zu lassen, rannte er in den Schutz der Eingangsgalerie, wobei er spürte, wie unter seinen schweren Schritten einige der Ziegel nachgaben, mit denen der Boden gepflastert war. Er schüttelte sich wie ein Hund.
An den Ecksäulen sollte etwas hochranken, überlegte er. Etwas mit kühlen blauen Blüten. Er konnte sie sehen, wenn er sich nur fest genug darauf konzentrierte. Etwas Offenes, fast wie ein Kelch, mit herzförmigen Blättern.
Das muss ich mal irgendwo gesehen haben, vermutete er, und wandte sich der Tür zu. Es war eine Doppeltür mit Schnitzarbeiten und langen gebogenen, verglasten Aussparungen an jeder Seite, darüber ein halbmondförmiges Oberlicht. Und als er mit seinen Fingern über die Türflügel strich, empfand er dabei eine Erregung, die ihn nicht mehr losließ.
»Willkommen zu Hause, Dec«, sagte er laut und schloss die Tür auf.
Die Eingangshalle entsprach genau seiner Erinnerung. Der weitläufige Fußboden aus Sumpfkiefer, die hohe Decke. Das Gipsmedaillon über ihm bestand aus einem Doppelkranz irgendwelcher Blumen. Wahrscheinlich hatte es in seiner Blütezeit mit einem fabelhaften Kristalllüster geprahlt. Jetzt brachte es gerade noch eine einzige nackte Glühbirne hervor, die an einem langen Kabel baumelte. Doch als er den Wandschalter betätigte, blinkte sie auf. Das war doch schon etwas.
Im Brennpunkt stand auf jeden Fall die Treppe. Sie stieg breit und gerade zum ersten Stock empor, wo sie nach rechts und links in die jeweiligen Flügel abzweigte.
Wozu ein allein stehender Mann ohne momentane Aussichten oder Absichten auf eine Veränderung dieses Status zwei Flügel brauchte, war eine Frage, die er sich im Augenblick lieber nicht stellte.
Das Geländer überzog grauer Staub, doch als er mit dem Finger darüber rieb, spürte er das glatte Holz darunter. Wie viele Hände hatten es wohl angefasst? Wie viele Finger hatten wohl daran entlanggestrichen?, fragte er sich. Diese Art von Fragen faszinierten ihn, sie zogen ihn an.
Und diese Art von Fragen ließ ihn auch bei geöffneter Haustür die Treppe hochsteigen, während draußen hinter dem Regenvorhang seine Habseligkeiten im Auto auf ihn warteten.
Möglicherweise hatten früher einmal Teppiche auf den Treppen gelegen. Wahrscheinlich hatten Läufer den langen Hauptflur bedeckt. Üppige Muster in sattem Rot. Fußböden, Holzteile, Tischplatten waren sicherlich ehrfürchtig mit Bienenwachs poliert worden, bis sie wie das Kristall der Lüster glänzten.
Auf Festen glitten dann Frauen in atemberaubenden Roben die Treppen hinauf und hinab – elegant und selbstsicher. Einige der Männer versammelten sich im Billardzimmer, wo ihnen das Spiel zum Vorwand diente, Zigarren zu rauchen und über Politik und Finanzen zu dozieren.
Und Bedienstete eilten im erfolgreichen Bemühen, unsichtbar zu bleiben, hin und her, um Feuer zu schüren, Gläser zu säubern und Befehle entgegenzunehmen.
Auf dem Treppenabsatz öffnete er die Holzverkleidung. Die Geheimtür war geschickt in die Wand, die verblichene Tapete, die stumpf gewordene Täfelung eingelassen. Er war sich nicht sicher, woher er wusste, dass sie da war. Jemand musste sie erwähnt haben.
Er starrte in den düsteren, muffigen Korridor. Teil des Kaninchenbaus der Bedienstetenkammern und Zugänge, wie er vermutete. Die Familie und ihre Gäste legten keinen Wert darauf, den Bediensteten über den Weg zu laufen. Ein guter Diener hinterließ bei seiner Arbeit keine Spuren, sondern verrichtete seine Aufgaben diskret, schweigsam und gut.
Stirnrunzelnd versuchte Declan etwas zu erkennen. Woher kam dieser Satz? Von seiner Mutter? So stur wie sie auch manchmal sein mochte, etwas derart Gespreiztes hätte sie nie von sich gegeben.
Achselzuckend schloss er die Tür wieder. Die Erforschung dieses Terrains würde er sich für einen anderen Zeitpunkt aufheben, wenn er eine Taschenlampe und einen Sack Brotkrumen dabeihatte.
Er lief den Korridor entlang und warf kurze Blicke durch die Türen. Leere Zimmer im grauen Licht des Regens, voller Staub und dem Geruch nach Feuchtigkeit. Manche Wände waren tapeziert, von manchen waren nur noch die tragenden Elemente übrig geblieben.
Salon, Arbeitszimmer, Bad – und das war gewiss das Billardzimmer, an das er vorhin gedacht hatte, denn die alte Mahagonitheke war noch immer an Ort und Stelle.
Er ging hinein, um sie zu umrunden, das Holz zu berühren, in die Hocke zu gehen, um die Schreinerarbeit zu untersuchen.
Auf der Highschool hatte seine Liebe zum Holz seinen Anfang genommen. Bis heute war es die Beziehung, die am längsten Bestand hatte. Er hatte eine Ferienarbeit als Hilfsarbeiter angenommen, obwohl seine Familie dagegen war. Er jedoch war dagegen gewesen, die langen Sommertage in einer Anwaltskanzlei als Gehilfe abzudienen, und hatte lieber im Freien arbeiten wollen. Um seiner Haut und seiner Figur was Gutes zu tun.
Es war einer der seltenen Anlässe, dass sein Vater sich über seine Mutter hinwegsetzte und sich auf seine Seite schlug.
Er hatte sich Sonnenbrände, Blasen und Schwielen und einen schmerzenden Rücken geholt und Splitter eingezogen. Und sich ins Bauen verliebt.
Nicht so sehr ins Bauen, überlegte Declan jetzt. Ins Umbauen. Die Eroberung von etwas bereits Geformtem, das man verschönern, reparieren und restaurieren konnte.
Nichts anderes hatte ihm je so viel Spaß gemacht oder ihm auch nur annähernd so große Befriedigung verschafft.
Er hatte sofort sein Geschick bewiesen. Ein Naturtalent, hatte der irische Mops von einem Vorarbeiter gemeint. Gute Hände, gute Augen, guter Verstand. Nie hatte Declan dieses Sommerhoch vergessen. Das seitdem für ihn durch nichts übertroffen worden war.
Vielleicht passiert es jetzt, hoffte er. Vielleicht gelänge es ihm. Es musste doch mehr für ihn drin sein, als sich von einem Tag zum anderen vorzuarbeiten und dabei das zu tun, was erwartet und akzeptiert wurde.
Mit zunehmendem Vergnügen und wachsender Vorfreude machte er sich an die weitere Erforschung seines Hauses.
An der Tür zum Ballsaal blieb er grinsend stehen. »Mann, das ist ja eine Wucht!«
Seine Stimme kam als Echo zurück und hätte ihn fast erschlagen. Entzückt trat er ein. Die Bodendielen waren zerkratzt und fleckig. Ganze Segmente waren beschädigt, denn offenbar hatte jemand versucht, eine Trennwand zu errichten, um den Raum zu teilen, die dann aber wieder jemand anderer eingerissen hatte.
Das konnte man reparieren. Irgendein Schwachkopf hatte Trockenputz und gelbe Farbe auf die ursprünglichen Stuckwände geklatscht. Auch das musste geändert werden.
Wenigstens hatten sie die Decke in Ruhe gelassen. Die Stuckatur war hinreißend, ineinander verwobene Blüten- und Fruchtkränze. Das musste ebenfalls ausgebessert werden, dazu brauchte es einen Meister seines Fachs. Er würde einen finden.
Ungeachtet des Regens stieß er die Galerietüren auf. Unter ihm breitete sich das verwilderte Durcheinander des Gartendschungels aus, durch den sich ein zugewachsener Pfad aus kaputten Ziegeln schlängelte. Wahrscheinlich waren da draußen Schätze angepflanzt. Er würde einen Landschaftsgärtner benötigen, hoffte aber, einen Teil davon selbst in Angriff nehmen zu können.
Die meisten Nebengebäude waren nur noch Ruinen. Er entdeckte den Rest eines Schornsteins, Teile einer von Rankgewächsen erdrückten Wand einer eingefallenen Arbeiterhütte, die pockennarbigen Ziegel und das rostige Dach eines alten pigeonnier – kreolische Plantagenbesitzer hatten oft Tauben gezüchtet.
Er hatte zum Haus nur anderthalb Hektar Land dazubekommen, weshalb vermutlich andere Gebäude, die einstmals zur Plantage gehört hatten, nun auf fremdem Grund und Boden ihrem Verfall entgegendämmerten.
Über die Bäume freute er sich. Unglaubliche Bäume. Die alten Steineichen, die einst die Allee gebildet hatten, tropften von Wasser und Moos, und die dicken, ausladenden Äste einer Platane erinnerten in ihren Verrenkungen an ein urzeitliches Ungeheuer.
Ein Farbtupfer weckte seine Neugier und zog ihn hinaus in den Regen. Da blühte etwas, ein großer, buschiger Strauch mit dunkelroten Blüten. Was zum Teufel blühte denn im Januar?, wunderte er sich und nahm sich vor, Remy danach zu fragen.
Mit geschlossenen Augen lauschte er einen Moment. Er hörte nichts als den Regen, sein Rauschen und Tropfen auf dem Dach, dem Boden, den Bäumen.
Er hatte die richtige Wahl getroffen, sagte er sich. Er war gar nicht verrückt. Er hatte seinen Ort gefunden. Jedenfalls empfand er ihn als solchen, und was machte es schon, wenn er es doch nicht war? Dann würde er eben einen anderen suchen. Er hatte auf alle Fälle seine Energie geweckt, danach Ausschau zu halten.
Er trat zurück ins Haus und ging summend durch den Ballsaal zurück zum Familienflügel, um sich dort die fünf Schlafzimmer anzusehen.
Als er das Erste inspizierte, ertappte er sich beim lautlosen Singen.
»Ist der Ball dann vorbei und bricht an der Tag, sind die Tänzer dahin mit den Sternen...«
Er blieb stehen, um sich die Fußleiste genauer anzusehen, und warf dabei einen Blick über die Schulter, als erwarte er, dort jemanden hinter sich stehen zu sehen. Woher war ihm das zugeflogen?, wunderte er sich. Diese Melodie, dieser Text. Kopfschüttelnd richtete er sich auf.
»Aus dem Ballsaal, du Idiot«, murmelte er. »Den Ballsaal im Kopf, hast du angefangen, vom Ball zu singen. Seltsam, aber nicht verrückt. Mit sich selber reden ist auch nicht verrückt. Das tun viele Leute.«
Die Tür zum Zimmer auf der gegenüberliegenden Flurseite war geschlossen. Obwohl er mit quietschenden Türangeln gerechnet hatte, jagte das Geräusch dann doch einen Kälteschauer über seinen Rücken.
Auf dieses Gefühl folgte unmittelbar Verwunderung. Er hätte schwören können, einen Duft zu riechen. Blumen. Lilien. Hochzeiten und Beerdigungen. Und für den Bruchteil einer Sekunde sah er sie direkt vor sich, rein und weiß, aber dennoch irgendwie ungezähmt in einer hohen Kristallvase.
Als Nächstes reagierte er mit Verwirrung. Er hatte nur ein paar Sachen vorausgeschickt, darunter seine Schlafzimmermöbel. Die Umzugsleute hatten sie in den falschen Raum gestellt, obwohl er in seinen Angaben sehr genau gewesen war. Er hatte für sich das große Eckzimmer ausgesucht, von dem aus man einen Blick auf den Garten und den Teich in dessen hinterem Teil hatte sowie aus dem Seitenfenster die Eichenallee sah.
Jetzt musste er sich mit diesem Zimmer abfinden oder das verdammte Zeug selbst hinüberschleppen.
Der Lilienduft wurde übermächtig, als er die Tür ganz öffnete. Fast betäubend. Verwirrt stellte er fest, dass es nicht einmal seine Möbel waren. Das Bett war ein Himmelbett mit Draperien aus dunkelblauer Seide. Des Weiteren standen ein geschnitzter Kleiderschrank und eine hohe Kommode darin, alles auf Hochglanz poliert. Er konnte unter dem Blütenparfüm den Duft von Bienenwachs ausmachen. Sah die Lilien in dieser hohen Kristallvase auf dem Frisiertisch stehen, dessen Beine sich wie Schwanenhälse bogen. Davor ein fein gearbeiteter Stuhl, dessen Sitz eine komplizierte Stickarbeit in Blau und Rosa war.
Bürsten mit Silberrücken, eine Brosche, an deren goldenen Flügeln eine Emaille-Uhr hing. Lange blaue Vorhänge, verzierte Wandlichter, deren Gasbeleuchtung ein weiches Schummerlicht ausstrahlte. Ein Damenmorgenrock war über die Lehne einer blauen Chaiselongue geworfen worden.
Auf dem Kaminsims Kerzenleuchter und ein Bild im Silberrahmen.
Das alles sah er, deutlich wie auf einem Schnappschuss. Aber noch ehe seine Gedanken eine Erklärung dafür zu formen vermochten, starrte er schon in ein leeres Zimmer und den Regen hinter vorhanglosen Fenstern.
»Herr im Himmel.« Er packte den Türknopf, um Halt zu finden. »Was soll das?«
Er sog die Luft ein. Nur Muffigkeit und Staub.
Projektionen, redete er sich ein. Ich stelle mir nur vor, wie dieses Zimmer einst ausgesehen haben mag. Wirklich gesehen oder gerochen hatte er gar nichts. Hatte sich einfach einfangen lassen vom Charme dieses Ortes und dessen Geist.
Aber er vermochte nicht, die Schwelle zu übertreten.
Er schloss die Tür wieder und ging auf direktem Weg zum Eckzimmer. Wie angeordnet, standen darin seine Möbel, deren Anblick ihn erleichterte und seine Balance wieder herstellte.
Das gute, stabile Chippendale-Bett mit dem schlichten Kopf- und Fußteil. In einem Punkt war er sich mit seiner Mutter immer einig gewesen, in der Liebe zu Antiquitäten und dem Respekt vor der Handwerkskunst und der Geschichte.
Dieses Bett hatte er sich gekauft, nachdem er und Jessica die Hochzeit abgeblasen hatten. Na gut, nachdem er sie abgeblasen hatte, gestand er sich mit dem üblichen Schuldgefühl ein. Er wollte einen Neuanfang und hatte sich deshalb auf die Suche gemacht und die Möbel für sein Schlafzimmer gekauft.
Die für einen Junggesellen gedachte Kommode hatte er nicht nur ausgesucht, weil er offenbar einer blieb, sondern auch, weil ihm dieser Stil gefiel, die doppelreihige Fischgrätintarsie, die Geheimfächer, die kurzen gedrehten Füße. Den Schrank hatte er ausgewählt, um darin seinen Fernseher und die Stereoanlage zu verbergen, und die schnittigen Art-déco-Lampen, weil er Stilmischungen liebte.
Als er diese Dinge jetzt hier in diesem weiträumigen Zimmer mit dem stattlichen Kamin in Dunkelgrün und den Balkontüren mit den Rundbögen, der leicht verblichenen Tapete, dem bedauernswert verschrammten Parkett sah, war er schlagartig wieder an Ort und Stelle.
Beim Blick in das angrenzende Ankleidezimmer musste er lächeln. Jetzt brauchte er nur noch einen Kammerdiener mit weißer Krawatte und Frack. Das sich daran anschließende, wohl irgendwann in den bedauerlichen Siebzigern modernisierte Bad ließ ihn angesichts der avocadogrünen Ausstattung zusammenzucken, schürte zugleich aber die Sehnsucht nach einer heißen Dusche. Nachdem die Elektrizität funktionierte, würde wohl auch warmes Wasser kein Problem sein.
Er würde noch einen raschen Rundgang durch den zweiten Stock machen, beschloss er, diesen dann im Erdgeschoss fortsetzen und sich danach auf Spritztour in die hässliche grüne Wanne begeben.
Er stieg nach oben. Wieder hatte er die Melodie im Kopf. Immer im Kreis herum wie ein Walzer. Er ließ es geschehen. Bis Remy kam, musste er mit dieser Gesellschaft vorlieb nehmen.
Dahin auch die Hoffnung, die mancher trug.
Hier wurde die Treppe schmaler. Diese Etage war den Kindern und dem Personal vorbehalten, für die man das Einfache für gut genug erachtete.
Den Bedienstetenflügel würde er sich für später aufheben, beschloss er und durchlief den Teil, der vermutlich Kinderzimmer, Vorratsräume und Speicher beherbergte.
Er streckte die Hand nach einem Türknauf aus, dessen Messing Zeit und Vernachlässigung hatten stumpf werden lassen. Ein Luftzug so kalt, dass er einem bis in die Knochen drang, fegte durch den Korridor. Überrascht sah er seinen Atem aus seinem Mund strömen und sich zu einer dünnen Wolke verdichten.
Als seine Hand den Türknauf umschloss, stieg ihm die Übelkeit so schnell und so scharf in die Kehle, dass sie ihm den Atem raubte. Kalter Schweiß perlte auf seine Brauen. Alles drehte sich.
Einen Augenblick lang erfasste ihn eine so gewaltige, so große Angst, dass er am liebsten schreiend davongelaufen wäre. Stattdessen stolperte er rückwärts, wo er sich an der Wand abstützte, während Entsetzen und Furcht ihn wie mit Mörderhänden würgten.
Geh da nicht rein. Geh nicht rein.
Woher auch immer diese Stimme in seinem Kopf kommen mochte, er war bereit, auf sie zu hören. Er wusste von den Gerüchten, dass es in diesem Haus spukte. Doch er machte sich nichts daraus.