Mitten unter uns - Kira Schmitz - E-Book

Mitten unter uns E-Book

Kira Schmitz

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Beschreibung

Wer hat nicht schon mal insgeheim gedacht: "Den oder die könnte ich umbringen!" ? "Mitten unter uns" ist ein Sammelband von vierzehn Kurzkrimis, einer Kriminalgeschichte und 2 Krimigedichten. Die Protagonisten sind ganz normale Zeitgenoss*innen, die in gewöhnlichen Alltagssituationen, wie sie jede/r von uns kennt, zum/r Täter*in bzw. zum Opfer werden.

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Seitenzahl: 184

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VORWORT

Die Geschichten in diesem Krimisammelband sind für Leser*innen geschrieben, die nicht unbedingt von Beginn an Action brauchen. Die Protagonisten sind weder Superkommissare noch Antihelden. Bei meinen Krimis spielen Täter bzw. Opfer die Hauptrolle. Meine Figuren entstammen keinem bestimmten Milieu oder Klientel. Es sind Menschen "mitten unter uns", Menschen wie du und ich, die aus Alltagssituationen heraus Opfer oder Täter werden.

Ich schildere das Verbrechen nicht als Einstieg, das dann in mehr oder weniger nachvollziehbaren Ermittlungen aufgeklärt wird. Vielmehr versuche ich, Leserinnen und Leser bereits am Ablauf der Vorgeschichte teilnehmen zu lassen. Die kriminelle Handlung scheint mitunter dadurch im ersten Teil der Geschichte in den Hintergrund zu geraten. Das geschieht jedoch mit Absicht und unter dem Motto:

"Das Beste kommt zum Schluss".

Wer meine Krimis kennt weiß, dass sie nicht selten mit einem Überraschungseffekt enden.

Die Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen, sowie mit tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Verwendete Ortsangaben haben keinen Bezug zu eventuell realen Geschehnissen.

INHALT

Teil 1 Kurzkrimis

Teil 2 Kriminalgeschichte

Teil 3 Krimigedichte

Wie meine Krimis entstehen

Teil 1 KURZKRIMIS

01 Morgenstund

02 Restalkohol

03 Ein einsamer roter Schuh

04 Todesfalle SMS

05 Cai-Piranhas und Bienenstich

06 Rückenlage

07 Männerbekanntschaft

08 Das Versprechen

09 Entwischt

10 Heimliche Liebe

11 Albtraum

12 Zur Krippe her kommet

13 Fundsache

14 Die Frau in der Mitte

MORGENSTUND

Klickklack, klickklack

Von weitem ist es schon zu hören, dieses Klickklack. Sie hat es eilig, wie immer. Dass man in Stöckelschuhen so schnell laufen kann, muss ich als Mann nicht verstehen. Es ist noch fast dunkel und ruhig um diese frühe Zeit, kaum jemand unterwegs. Nur sie klackert mit Bleistiftabsätzen bereits über die Gehwegplatten.

Klickklack, klickklack

"Ausschlafen, endlich ausschlafen!", dachte ich, als ich letzten Herbst in Rente ging. Im Winter zog sie in die Wohnung über mir ein. Seither weiß ich, wie hellhörig unser Haus ist. Jeden Morgen um fünf Uhr klingelt ihr Wecker. Fünf Minuten später geht die Klospülung, dann rauscht das Wasser der Dusche. Danach ist es für ein paar Minuten ruhig. Aber gerade, wenn ich wieder am Einschlafen bin, geht es los mit diesem Klickklack. Von den Badfliesen über das Parkett im Flur auf die Küchenfliesen. In der Küche hin und her. Dann wieder fünf Minuten Ruhe. Danach von den Küchenfliesen zurück in den Flur. Um 5:30 Uhr öffnet und schließt sich ihre Wohnungstür. Gleich darauf klickklackt es von Stufe zu Stufe drei Etagen nach unten.

Klickklack, klickklack, klickklack, klickklack ... acht Treppenstufen, dann einmal klickklack zum Wenden auf halber Etagenhöhe. Weitere viermal Klickklack bis zu meinem Stockwerk. Einmal Klickklack direkt vor meiner Wohnungstür. Dann erneut abwärts. Insgesamt achtundvierzig Stufen und fünf Zwischenabsätze. Weitere sechs Stufen bis zum Eingang. Dann schlägt die Haustür zu. Ich höre es noch dieses Klickklack von unten von der Straße her, Morgen für Morgen, trotz geschlossener Fenster und Läden, bis sie um die Ecke biegt. Danach bin ich so hellwach, dass an Schlafen nicht mehr zu denken ist. So geht das nun schon seit einem dreiviertel Jahr. Meine Nerven sind am Ende.

Klickklack, klickklack

Die Schritte nähern sich. Gleich ist sie am Park. Hier eilt sie immer durch, über den knirschenden Kiesweg, zum Eingang schräg gegenüber, in Richtung der Straßenbahnhaltestelle. Ich weiß das, weil ich sie beobachte. Seit zwei Wochen gehe ich morgens vor ihr aus dem Haus, registriere jeden ihrer Schritte, bereite ich mich auf den Tag heute vor. Ich weiß jetzt, dass die Laternen im Park nachts ausgeschaltet, und dass zwei Lampen seit mindestens zwei Wochen kaputt sind. Die Stadt muss sparen. Der erste Hund wird kurz nach sechs in den Park geführt. Die Zeit bis dahin muss reichen.

Klickklack, klickklack

Jetzt überquert sie die Straße. Auf dem Asphalt klingen die Schritte wieder anders als auf Knochensteinen oder Gehsteigplatten. Ich kann das inzwischen unterscheiden. Ich warte mit einer Plastiktüte in der Hand, kurz bevor sich die beiden Hauptwege kreuzen, hinter einer dicken, alten Kastanie. Die schmale Sichel des Mondes verbreitet kaum Licht. Zu schwach, um einen Schatten zu bilden. Ich hasse Plastiktüten. Normalerweise benutze ich ausschließlich Stofftaschen. Der Umwelt zuliebe. Aber für manche Dinge sind Stoffbeutel einfach ungeeignet. Das Kunststoffteil hier habe ich mir aus ihrem Fahrradkorb hinten bei uns im Hof ausgeliehen. Ihr ist die Umwelt gleichgültig. Gleichgültig, wie die Menschen um sie herum. Sicher weiß sie nicht mal, dass wir im selben Haus wohnen.

Ich höre die Kiesel knirschen. Jetzt kommt sie angehetzt. Ich öffne die Tüte, fasse sie am Rand mit beiden Händen. Mein Adrenalinspiegel steigt, die Muskeln sind gespannt. Ich springe aus der Deckung - sie schaut nicht mal zur Seite - stülpe die Tüte über ihren Kopf, ziehe mit einer Hand von hinten zu, mit der anderen packe ich ihren Arm im Fesselgriff. Gelernt ist gelernt. In meiner Jugend war ich Rettungsschwimmer.

Sie versucht verzweifelt, sich zu befreien. Ich keuche vor Anstrengung. Die Tüte wird abwechselnd prall und schlaff durch ihre hektischen Atemstöße. Schließlich wird ihr Widerstand geringer. Dann fallen die Arme nach unten und die Beine knicken weg. Ich fange sie auf, bevor sie zu Boden geht, und hebe sie in die Höhe. Sie ist schwerer, als ich dachte. Ich trage sie über der Schulter nach hinten in das halbhohe Gebüsch vor der Begrenzungsmauer. Dort lasse ich sie behutsam auf die von Unkraut überwucherte Erde unter den Sträuchern gleiten.

Der Park war ursprünglich mal ein Friedhof. Das wissen nur die wenigsten. Es gibt nur noch ein altes, steinernes Kreuz, das daran erinnert. Auf dem verwitterten Sockel steht:

RESTALKOHOL

Der Feuerwehr-Sound, wichtige Anrufer kennzeichnend, erklang ununterbrochen penetrant. Nur langsam drang er in Torstens Bewusstsein.

"Himmel, wer war denn das, jetzt mitten in der Nacht?" Er fuhr in die Höhe und tastete nach dem Telefon, um sich gleich wieder auf das zerwühlte Bett fallen zu lassen. Ihm war schwindlig, sein Kopf rebellierte.

"Wo brennt's?", krächzte er mit heißerer, kaum verständlicher Stimme.

"Guten Morgen Herr Bader. Ich sollte sie an ihren Termin erinnern, in.…", die Stimme am anderen Ende machte eine kurze Pause, "jetzt nur noch einer Stunde und zehn Minuten. Ich versuche es bereits seit zwanzig Minuten", fügte seine Sekretärin entschuldigend mit einem unterdrückten Seufzer hinzu.

"Viel Erfolg bei den Verhandlungen." Damit legte sie auf.

"Verhandlungen? Was für Verhandlungen?" Torsten Bader rappelte sich hoch, griff nach dem Wecker auf der Konsole und informierte sich über Tag und Uhrzeit. Es war Freitag, kurz nach zwölf Uhr mittags.

"Freitag!" In seinem Hirn begann es zu dämmern. Der wichtigste Termin dieser Woche. Oh Gott, wie hatte er den vergessen können? Er musste sich beeilen, wenn er noch rechtzeitig ankommen wollte. Und das mit einem Kopf, der sich anfühlte, als hätte er den doppelten Umfang. Vorsichtig stellte er sich auf die Beine, registrierte, dass der Kreislauf sich etwas beruhigt hatte. Verdutzt riss er sich die fleckigen Klamotten vom Leib, die aussahen, als hätte er die Nacht im Straßengraben verbracht und verschwand unter die kalte Dusche. Krampfhaft versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, was diesen Zustand ausgelöst hatte. Nur schleppend förderte sein Gedächtnis Bruchstücke des vergangenen Tages aus einem dichten Nebel.

"Filmriss", dachte er während er, Wassertropfen auf dem Parkett hinterlassend, durch sein Schlafzimmer zum Kleiderschrank eilte. Im Wohnzimmer entdeckte er ein Whiskyglas.

"Absacker", spekulierte er schief grinsend, kippte sich im Weitergehen den abgestandenen Rest in die Kehle, füllte das Glas in der Küche mit Wasser und spülte mit einem kräftigen Schluck zwei Kopfschmerztabletten hinunter. Für Frühstück fehlte die Zeit. Er schnappte die Tasche mit Laptop und Unterlagen, angelte im Vorbeigehen die Schlüssel vom Haken in der Diele, zog die Haustür hinter sich zu und öffnete per Fernbedienung die Garage. Er steuerte auf den Porsche zu, der war wendiger als die Limousine. Die zeigte außerdem vorne erhebliche Drecksspuren und eine Delle, was er sich im Moment jedoch nicht erklären konnte. Egal, er hatte es jetzt eilig. Das Geschäft ging vor. Er würde sich später darum kümmern.

Obwohl die Zeit drängte, war er bemüht, sich weitgehend an die vorgeschriebene Geschwindigkeit zu halten.

"Nur jetzt kein Risiko eingehen", murmelte er vor sich hin. Von den Verhandlungen hing viel ab für die Zukunft seiner Firma. Laut Navi würde er für die Strecke bis zum Treffpunkt in der nächsten Stadt fünfundzwanzig Minuten brauchen, in fünfunddreißig Minuten war der Termin. Das müsste reichen. Zum Glück hatte er sich im Laufe der Woche, dank der beispielhaften Zuarbeit seiner Sekretärin, schon vorbereiten können. Auf sie war einfach Verlass.

"Vielleicht sollte ich sie mal zum Essen einladen?", überlegte er beiläufig. Dann kehrte sein augenblicklicher Zustand wieder in sein Bewusstsein zurück.

"Wieso kann ich mich an nichts entsinnen? Dieser verdammte Brummschädel!"

Er öffnete die Seitenfenster und ließ sich die frische Luft um die Nase wehen. Erinnerungsfetzen tauchten in ihm auf. Sie hatten gefeiert, er und seine drei Kumpels von früher. Junggesellenabschied. Tina hatte es geschafft, Andi anlässlich ihres vierzigsten Geburtstags rumzukriegen. Nun, vor der bevorstehenden Hochzeit Mitte Juli, hatte Andi darauf bestanden, dass sie noch einmal wie in alten Zeiten die "Sau rauslassen sollten". Der Landgasthof 'Zur wilden Rose', in dem sie sich früher immer getroffen hatten, war der geeignete Ort für dieses Event.

Damals, als er, Andi, Timo und Ralf noch dicke Freunde waren, hatte Tina allen den Kopf verdreht. Aber was Ernstes mit ihr wollte keiner von ihnen. Berufsbedingt hatten sich die Wege getrennt. Andi und Tina verschlug es nach Hessen, Timo und Ralf hatten ihre Chancen in den neuen Bundesländern gesehen und wohnten mit ihren Familien im Osten Deutschlands. Sie waren mit dem Zug angereist, hatten sich bei Torsten getroffen und für die Nacht in der Wilden Rose Zimmer gebucht. Torsten, geschieden und derzeit solo, war als Einziger in der Gegend hängen geblieben.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das waren noch Zeiten damals. Da gab es kaum einen Tag, an dem man ganz nüchtern war. Heute konnte man sich das schon aus beruflichen Gründen nicht mehr leisten. Aber gestern hatten sie wohl noch einmal so richtig zugeschlagen. Sonst hätte er jetzt nicht mit diesen Folgen zu kämpfen.

Vor ihm verlangsamte sich der Verkehr. Bloß das nicht. Das konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Blaulicht blinkte in einiger Entfernung am Ortsausgang. Wahrscheinlich ein Unfall. Konnten die Leute nicht aufpassen beim Fahren? Er schaltete die Freisprechanlage ein, bat seine Sekretärin, die Verhandlungspartner auf eine mögliche Verzögerung vorzubereiten.

"Polizeikontrolle", stellte er beim Näherkommen fest. Die Beamtin winkte ihn zur Seite.

"Kann ich bitte Ihre Papiere sehen?" Sie war hübsch, etwa Anfang dreißig, wie Torstens geschulter Blick feststellte.

"Was ist denn los? Ich muss zu einem dringenden Termin." Sie schnupperte.

"Haben Sie getrunken? Bitte steigen Sie doch mal aus." Sie winkte einem Kollegen.

"Bring mal ein Röhrchen."

"Sie müssen leider zum Bluttest", meinte sie danach zu Torsten gewandt und deutete auf den vor ihnen stehenden Polizeibus.

"Geben Sie dem Kollegen die Autoschlüssel, damit er ihren Wagen parken kann".

"Aber mein Termin!" Torstens Einwand erstarb, als er in ihr Gesicht schaute. Ihr Blick war eisig.

"Mist!", fluchte er mit dumpfer Stimme. Mit fliegenden Fingern tippte er eine Nachricht an seine Sekretärin in sein Smartphone.

Wie viel Restalkohol wohl noch in seinem Blut war? Er konnte sich nicht erinnern, was und welche Mengen er getrunken hatte. Hoffentlich reichte es nicht zum Entzug des Führerscheins. Er war auf das Auto angewiesen. Das geplatzte Geschäft und die zu erwartende Geldbuße waren Strafe genug für die gestrige Eskapade.

"Wo haben Sie denn getrunken?", fragte der Bedienstete im Bus.

"Das war schon gestern Abend. Eine private Feier - Junggesellenabschied", versuchte Torsten mit schiefem Lächeln und einem Verständnis heischenden Blick zu erklären. Der Beamte ließ sich nicht irritieren.

"Und wo genau war diese private Feier?" Torsten holte tief Luft.

"Im Landgasthof 'Zur wilden Rose'."

"Und wer war außer Ihnen noch dabei?" Er schob ihm Block und Stift hin.

"Name, Anschrift, gut leserlich, Zeitraum von wann bis wann Sie dort waren und, falls es Ihnen noch einfällt, was Sie alles getrunken haben. Wir fahren jetzt aufs Revier und klären die Sache mit dem Blutalkohol." Torsten sah ein, dass es keinen Zweck hatte, etwas zu verheimlichen. Also schrieb er alles auf, nur bei den Getränken machte er Fragezeichen. Das wusste er beim besten Willen nicht mehr.

Auf der Wache wurde ihm vom Polizeiarzt Blut abgezapft. Dann musste er draußen auf dem Flur warten. Die Zeit verging, keiner kümmerte sich um ihn. "Mann, das dauert ja ewig", brummte er vor sich hin, als eine junge, blonde Frau in Uniform aus einem der Zimmer zum Kaffeeautomat schräg gegenüber ging. Der übliche Pfiff blieb ihm im Hals stecken, als er in ihr abweisendes Gesicht blickte.

"Diese Ähnlichkeit ...".

In seinem immer noch dumpfen Hirn begann es zu rattern. Wie Blitze erschienen Bilder vor seinem inneren Auge:

Sabrina, die junge Bedienung aus der 'Wilden Rose'

ihr spöttisches Lächeln, als er, schon ziemlich angetrunken, augenzwinkernd gefragt hatte, ob es im Gasthof noch ein freies Zimmer geben würde

das entschiedene "Feierabend", als sie zum Abkassieren kam

ihr erstaunt freudiges Gesicht über das großzügige Trinkgeld, das er ihr zugesteckt hatte ...

Er und seine Kumpels hatten ihre Gläser geleert, waren nach draußen gegangen, um sich voneinander zu verabschieden. Sabrina hatte gelacht, als sie auf ihr Fahrrad stieg und im Wegfahren Andi zurief:

"Vergiss die Ringe nicht!"

"Herr Bader!" Torsten zuckte zusammen, als plötzlich die beiden Beamten vor ihm standen, die ihn mit auf die Wache genommen hatten.

"Wir haben festgestellt, dass auf sie ein zweiter Wagen zugelassen ist. Wo befindet der sich jetzt?"

"In meiner Garage", antwortete Torsten unsicher.

"Warum, was ist damit?"

Die beiden Beamten warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Einer zückte sein Mobiltelefon, drehte Torsten den Rücken zu und gab dem Gesprächspartner ein paar Anweisungen.

"Wir fahren jetzt mit ihnen nach Hause", erklärte sein Kollege. Die Spurensicherung ist schon unterwegs. Sie sind gegen morgen in betrunkenem Zustand mit einer Limousine von der 'Wilden Rose' weggefahren. Auf der Strecke gab es einen Unfall". Torsten schwante nichts Gutes.

Im Polizeiwagen marterte er sein Gehirn, was sich auf dem Heimweg zugetragen haben könnte. Ihm fielen der Dreck und die Delle an der Limousine ein.

Doch so sehr er sich bemühte, sein Gedächtnis blockierte. Die Fahrzeuge vor ihnen verlangsamten ihre Fahrt vor einer roten Ampel. Mit aufheulendem Motor raste ein Motorrad vorbei.

"Wettrennen" schoss es ihm in den Kopf.

Sie hatten sich auf der Strecke ein Wettrennen geliefert, Andi und er ...

Er hatte grinsend zu Andi rüber geschaut, als der ansetzte, um ihn zu überholen. Er hatte das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten, bis der Motor aufheulte ...

Während sein Auto an Andis Gefährt vorbei schoss, registrierte er gerade noch den entsetzten Blick, mit dem ihm der durch die geschlossenen Scheiben etwas zuzurufen schien ...

im gleichen Moment der donnernde Knall ...

Die Erinnerung ließ ihn zusammenzucken. Ihm musste ein Tier ins Auto gelaufen sein ...

Ja. Das war die Erklärung für die Spuren am Wagen und an den Kleidern! Unruhig rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Das gab eine Anzeige wegen Fahrerflucht.

"Verdammt!", dachte er, "ich muss gleich meinen Anwalt anrufen, wenn wir zu Hause sind". Geistesabwesend schaute er aus dem Fenster. Aus dem Lautsprecher vernahm er wie von weit her die Stimme des Polizeifunks:

"Wir haben alle Krankenhäuser der Umgebung durch - negativ".

"Krankenhaus?", überlegte er.

Da war doch diese Frau ...

sie lag auf der Straße ...

ein zerbeultes Rad ...

und Blut, überall Blut...

Er hatte sich, an einen Baum gestützt, übergeben müssen. Andi hatte ihn angeschrien, hatte ihn beschworen, sie liegen zu lassen und abzuhauen ...

Torsten wollte sie ins Krankenhaus bringen ...

Andi war in seinen Wagen gestiegen, hatte wütend die Tür zugeknallt und war davongebraust.

Torsten hatte die Schwerverletzte mit der Wärmefolie auf die Rückbank gepackt ...

sie hatte gestöhnt ...

dann kam nur noch Röcheln ...

Aber was war danach?

Kein Krankenhaus tauchte im Wirrwarr seiner Gedanken auf, nur -

diese unheimliche Stille, als er ins Auto steigen wollte und – ihn schauderte -

die Augen, die ihn leblos anstarrten im fahlen Licht der Morgendämmerung ...

das plötzlich niederschmetternde Erkennen ...

die Frau war ...

Was hatte er mit ihr gemacht?

Wo war sie jetzt?

Ihm war, als würde sich ein Abgrund auftun ...

Vor seinem Haus wartete schon die SpuSi.

"Bitte öffnen sie das Garagentor!" Bei dem Ton lief es Torsten eiskalt den Rücken runter. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er brauchte eine Erklärung für die Spuren an seiner Limousine. "Ich muss einen Wildunfall gehabt haben", versuchte er sich wenig überzeugend zu rechtfertigen, als einer der Leute auf die Delle, die Schrammen und die Drecksspuren am Wagen zeigte, die sich bei näherer Betrachtung als Blutspuren erwiesen.

"Ob das Tierblut ist, wird sich zeigen." Ohne weiter darauf einzugehen, untersuchten zwei von ihnen die Front und den Innenraum, der dritte befahl:

"Kofferraum aufmachen!"

Schlagartig verzog sich der Nebel aus seinem Gehirn. Mit einem Mal war alles klar ...

EIN EINSAMER ROTER SCHUH

Was für ein Tag! Seit heute Morgen sind wir unterwegs, mein Weib und ich. Die Planken rauf und runter, die Breite Straße im Zickzack. Diese Menschenmassen überall. Ein Drängen und Schubsen ist das. Haben die Leute nichts Besseres zu tun am Samstag, als sich in der Stadt die Füße platt zu treten? Gott sei Dank, für heute haben wir es fast geschafft. Nur noch den Ring überqueren, dann über die Brücke und auf der anderen Seite hoch auf die Neckarpromenade. Halb vier zeigt die Uhr drüben an dem alten OEG-Gebäude. Der Tag ist gelaufen. Wie lange stehen wir jetzt schon hier an der Ampel? Die Rotphase dauert ewig. Eine Radtour hätte man machen sollen, bei dem schönen Wetter. Aber Madame hatte andere Pläne.

"Ich brauche dringend ein Paar Schuhe zu meinem neuen Kleid", hat sie gesagt. Rote Schuhe, unbedingt rote Schuhe mussten es sein. Mit hohem Absatz natürlich. Dabei hat sie schon mindestens drei Paar von der Sorte.

"Warum gehst Du nicht alleine zum Schuhe kaufen?", habe ich sie im dritten Laden gefragt.

"Du musst mir beim Aussuchen helfen. Ich kann mich so schwer entscheiden", gab sie zur Antwort. "Was meinst Du, welche von den beiden soll ich nehmen?" Natürlich nimmt sie grundsätzlich die anderen.

Grün. Endlich! Ich starte los.

"Renn doch nicht so", japst sie von hinten. Also wieder langsam machen. Eigentlich laufe ich ganz normal. Wie man halt läuft mit vernünftigen Schuhen. Aber sie, mit diesen Hochhackigen. Warum musste sie die Knochenbrecher auch gleich anbehalten?

"Zum Einlaufen", hat sie der Verkäuferin gesagt. Sicher hat sie schon Blasen.

Gerade geschafft bis zum Mittelstreifen. Jetzt heißt es erneut warten. Natürlich ist hier inzwischen auch wieder rot. Rot wie ihre Schuhe. Und wie die Leine von dem Hund dort drüben. Hilfe! Ich sehe bald nur noch rot. Wenigstens der Hund ist schwarz. Unserer ist braun. Der wird schon unruhig sein daheim. Mit dem muss ich nachher raus, weil sie nicht mehr laufen kann. Kein Wunder bei den Absätzen. Verpasse ich mal wieder die Sportschau. Wo habe ich denn meine Zigaretten? Nicht mal zum Rauchen bin ich gekommen die ganze Zeit. Ein Verkehr ist das. Stoßstange an Stoßstange. Rote Autos eindeutig in der Überzahl. Und all die Abgase, die man hier einatmet. Nur weil Madame mit ihren neuen Schuhen nicht schneller über die Straße kommt.

Das grüne Männchen. Es geht weiter. Jetzt noch über den Neckar und drüben den Fußgängerweg entlang bis zu unsrer Wohnung. Hinten, im letzten Terrassenhaus. Bei ihren Tippelschritten brauchen wir dafür eine halbe Ewigkeit. Wir hätten ja mit der Straßenbahn zurückfahren können, als wir die Schuhe hatten. Aber dann wollte sie unbedingt noch nach einer Handtasche schauen. Einer roten natürlich. Passend zu den Schuhen. Aber egal was man ihr anbot, es gab keine, die ihren Vorstellungen entsprach. Zu groß, zu klein, falscher Rotton… Vor der Brücke habe ich dann gesagt:

"Die eine Station können wir jetzt auch noch laufen". Nächsten Samstag will sie noch mal los. Also die gleiche Tortur wie heute. Ich halte das nicht mehr lange aus!

Wenn ich das nur geahnt hätte, mit ihrem Rotfimmel. Damals beim Tanz in den Mai. Sie war mit ihrer Freundin Inge da. Inge im kleinen Schwarzen. Sie trug Rot. Geranienrot. Links schulterfrei. Inge gefiel mir besser. Mit ihr wollte ich den letzten Tanz machen. Dann spielte die Band zum Abschluss 'LADY IN RED'. Ich blieb wie ferngesteuert vor dem roten Kleid stehen. Mein Kumpel hat sich Inge geschnappt. Ich blieb an Rotraud hängen. Schon der Name hätte mich warnen müssen! Noch im gleichen Sommer die überstürzte Heirat. Wegen der Wohnung am Neckarufer. Vermietung nur an Ehepaare. "So eine Gelegenheit kommt nie wieder", hat sie mich weichgeklopft. Die Hochzeitsnacht ähnelte einem Stierkampf. Sie in roten Dessous. Ich zu viel Alkohol. Beim Stierkampf bleibt fast immer der Stier auf der Strecke.

Die Brücke ist geschafft. Jetzt noch die Promenade. Dann werde ich mir den Hund und das Fahrrad schnappen und mich verziehen, bis es dunkel wird. Sie wird vermutlich mit einem Glas Rotwein auf der Terrasse sitzen und, über den Neckar starrend, auf das Abendrot warten. Meinetwegen.

Was hat sie gerade gesagt? Sie muss noch Blumen gießen bei Inge. Drüben, im ersten Hochhaus, 13. Stock. Auch das noch! Und ich soll mit, weil sie nicht alleine mit dem Aufzug fahren will.

"Und der Hund?", frage ich.

"Wenn Du hilfst, dauert es halb so lange", sagt sie.

"Du gießt drinnen, ich draußen!", bestimmt sie im Fahrstuhl. Warum Inge sich Wohnung und Balkon mit Blumen vollstellt, wenn sie dauernd in Urlaub fährt, muss man nicht verstehen.

Ich bin ruckzuck fertig. Was treibt sie denn noch? Draußen steht sie und zupft an den Geranien. Ein Meer von Geranien. Ein rotes Meer. Sie holt noch mal Wasser aus der Küche.

"Gieß du die Hängeampel!", sagt sie an der Balkontür, drückt mir im Vorbeigehen eine volle Kanne in die Hand. Ich betrachte suchend das üppige Gewächs.

"Wo ist denn da der Topf?", gebe ich zurück.

"Mein Gott!", stöhnt sie, "dann mach wenigstens noch den Kasten dort hinten". Sie stützt sich mit der Hand auf meine Schulter, klettert mit ihren High Heels auf einen Hocker und hantiert mit der Gießkanne. Nicht mal jetzt kann sie sich von den Dingern trennen.