mittendrin - Katharina Schridde - E-Book

mittendrin E-Book

Katharina Schridde

0,0

Beschreibung

Katharina Schridde ist mittendrin im Leben. Die Berliner Seelsorgerin erzählt bewegende Geschichten von Menschen, die von der Gesellschaft im Stich gelassen wurden, ein schlimmes Schicksal erlitten haben oder seelisch verletzt sind. Was suchen diese Menschen? Wie können Christinnen und Christen ihnen ehrlich begegnen und von ihrer Hoffnung zeugen, ohne sich aufzudrängen? Eine Spurensuche nach dem göttlichen Funken in der oft harten Wirklichkeit der Großstadt. "Wir Christinnen und Christen leben hier in Berlin mit unseren Gedanken, Worten und Werken inzwischen auf einer Insel der Seligen. Wer nicht zu uns gehört, versteht uns kaum noch. Und vielleicht geben wir uns manchmal auch zu wenig Mühe, dass wir verstanden werden könnten. Unser Weg aber muss uns in die Orte führen, in denen die Menschen unserer Zeit auch wirklich leben, Menschen, die wie wir das Leben suchen und sich danach sehnen. Es ist doch diese Sehnsucht, die so viele Menschen schreien oder verstummen lässt, wenn sie spüren, dass ihnen Sinn und Liebe entzogen werden. »Nein!« ruft die Sehnsucht. Da muss doch noch mehr sein. Es wird Zeit, den Faden aufzunehmen, seinen Anfang zu suchen und ihn weiterzuspinnen, dass wieder ein Gewebe daraus werde. Ein Teppich am besten, auf den wir uns setzen können und unsere Geschichten erzählen und dann erkennen, dass dieser Teppich, gewoben aus Zeiten und Klängen, unser Leben ist, das uns trägt über die Zeit hinaus in das Heute." (Katharina Schridde)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 232

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Da muss doch noch Leben ins Leben!
Webfehler
II. Hoffnung für Rosana
West-östlicher Divan
III. Liebe wagen
Die Frau an der Kunkel
IV. Maskentanz
Der Ruf des Oropendola
V. Köpenicker Chaussee
VI. Aylan oder: Der Mut zum Schuldigsein
Karfreitagszauber
VII. Besuch einer Königin, präfaktisch
Arvid Jonne oder: Wozu die Zeit erschaffen wurde
VIII. In der Mitte die Liebe
Über die Autorin
Vorwort
»In welcher Zeit befinden wir uns eigentlich?« Die junge Frau schaut mich verwirrt an, blickt abwechselnd auf ihre Zettel, ihren Notizblock, zum Flipchart mit den bunten Bildern und Landkarten. Sie gehört einem Fortbildungskurs an, in dem Erzieherinnen und Erziehern einige Grundlagen des christlichen Glaubens vermittelt werden sollen, die sie für ihre Arbeit brauchen. Wir sind soeben in einem Schnelldurchlauf durch 3000 Jahre Religions- und Kulturgeschichte des Nahen Ostens und Europas gesprungen und wollten nun einzelne biblische Ereignisse genauer betrachten. Ich wollte das. Die, die mir mit immer angestrengteren und etwas mürrischen Gesichtern zuhören, wollten das vielleicht nicht. Ich bin viel zu schnell vorgegangen. Aber für solche Luxus-Fragen wie Glaube und Religion sieht der Lehrplan keine langen Zeiträume vor. Zwei Tage müssen genügen, das sind real etwa 12 Unterrichtsstunden für 5000 Jahre Geschichte und ihre Bedeutung für unser Leben im realexistierenden Berlin des 21. Jahrhunderts.
Ich ahne leise, dass der Kontakt zwischen mir und den sämtlich konfessionslosen Mitgliedern des Kurses bereits jetzt an einem seidenen Faden hängt: zu fremd sind die vermittelten Begriffe und Gedankensysteme, zu kryptisch die Wortwahl und die Bedeutung einzelner Zusammenhänge. Wir, die Christinnen und Christen leben zumindest hier in Berlin und zumal im ehemaligen Ostberlin mit unseren Gedanken, Worten und Werken inzwischen auf einer Insel der Seligen. Wer nicht ohnehin dazugehört, versteht uns kaum noch. Und vielleicht geben wir uns manchmal auch zu wenig Mühe, dass wir verstanden werden könnten.
Möglichweise leben wir inzwischen wirklich in einer anderen Zeit. In einer Welt, die für alle anderen exotisch, vielleicht faszinierend, öfter wohl befremdlich ist, die aber in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit abgleitet. Und wir merken es nicht einmal. Wenn aber doch, dann ist das Bedauern insgesamt leise vernehmbar, aber nicht ernsthaft bedrängend.
Ist das gut so? Nein, ganz gewiss nicht! Denn derjenige, auf den wir Christen und Christinnen hoffen, Jesus von Nazareth, hat uns aufgetragen, hineinzugehen in die Welt seiner Schöpfung mit all ihren Brüchen und Rissen, mit all ihrer Schönheit und Verzückung! Und uns damit auch verletzbar zu machen. Und er hat uns aufgetragen, dies in einer Sprache zu erzählen, die die Menschen dieser Welt verstehen. Unser Weg muss uns in die Orte führen, in denen die Menschen unserer Zeit auch wirklich leben, diese anderen Menschen, die wie wir das Leben suchen und sich danach sehnen. Nach diesem ganzen, vollen, bunten Leben mit allem Schmerz aller Hoffnung und aller Sehnsucht. Es ist doch diese Sehnsucht, die so viele Menschen schreien oder verstummen lässt, wenn sie spüren, dass ihnen Sinn und Liebe entzogen werden und es eigentlich gleichgültig sein könnte, ob es sie gibt oder nicht.
Nein! ruft die Sehnsucht. Da muss doch noch mehr sein. Da muss doch ein Sinn sein. Es muss doch einen Zusammenhang geben und eine Hoffnung, die uns nicht verloren gibt und die uns die Zukunft eröffnet in einem Leben, das den Namen verdient.
I.
……………………
Da muss doch noch Leben ins Leben!
Es wird Zeit, den Faden aufzunehmen, seinen Anfang zu suchen und ihn weiterzuspinnen, dass wieder ein Gewebe daraus werde. Ein Teppich am besten, auf den wir uns setzen können und unsere Geschichten erzählen.
Um Zeit also geht es und um uns in dieser Zeit und um die Frage, ob wir uns noch begegnen in der Zeit. Wir – das sind die Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt noch immer und trotz aller Enttäuschung und Fragwürdigkeit in der Beziehung zu dem lebendigen Gott der Juden und Christen sehen, wie die Bibel von ihm erzählt.
Und wir – das sind die Menschen, die sich vielleicht abgewendet haben von diesem Gott, mit dem sie als Kinder noch gelebt haben oder von dem ihnen die Eltern oder Großeltern erzählt haben. Nun aber erleben sie, dass ihnen dieser Gott und mit ihm die Kirchen, Gemeinden und Gruppen, die sich auf ihn berufen, ihnen nichts mehr zu sagen haben. Dass dieser Gott und seine Fürsprecher und Fürsprecherinnen Antworten schuldig bleiben. Möglicherweise sogar verantwortlich sind für vieles, das es vor Gott gar nicht geben dürfte: Gewalt. Krieg. Angst. Not. Und Tod.
Was soll ich denn mit einem Gott, der mich vor all dem nicht bewahrt oder sogar hineinstürzt ins Elend? So fragen viele und so fragen wir, die Christen und Christinnen auch zuweilen. Ich auch. Immer wieder.
Um uns also geht es und um diesen Gott. Wozu brauchen wir ihn, wenn wir ihn denn brauchen? Und was ist der Preis?
Auf diese Fragen gibt es endlose theologische Abhandlungen. Es gibt Lehrbücher, es gibt Anweisungen zum Glauben. Es gibt Anleitungen zur Gottesbegegnung, die einem Internet-Date ähneln. Und es gibt Geschichten.
Geschichten von Menschen, die diesen Gott suchen und wieder verlieren. Geschichten von Menschen, die nach ihm fragen und von Menschen, die nie von ihm gehört haben. Es gibt Menschen, tatsächlich, die ihn lieben, diesen Gott, und es gibt Menschen, die ihn verfluchen.
Ob Geschichten wahr sind oder nicht, ob sie etwas zeigen von der erlebten Wirklichkeit oder nicht, können nur die beurteilen, die sie erlebt haben. Alle anderen können diese Geschichten glauben oder nicht. Oder sie können sie für möglich halten und dann schauen, ob sie für das eigene Leben irgendeine Bedeutung haben. Ob es denn sein könnte, dass sich das Gewebe der anderen Geschichte mit meinem Lebensgewebe verknüpft und daraus möglicherweise ein neues Muster in meinem Lebensteppich entsteht.
Ich liebe sehr die schön gewebten Teppiche der Völker und die so aufregend gewebten Geschichten der Menschen, die mir begegnen. Manchmal erzähle ich dann auch eigene Geschichten, hineingewoben in die Zeit, die wir ja doch teilen und in der wir gemeinsam leben. Und so beginne ich mit meinen Geschichten und denen, die ich gehört habe und in denen auch ich mitgewebt habe, und sei es nur für einen Augenblick.
Ich beginne mit dem Sonntag, denn nach christlicher Zeitrechnung – und ich leugne nicht, das ist die meine – beginnt die Woche mit dem Sonntag. Nicht mit dem Montag, denn vor der Arbeit des Montags geschieht die Verheißung zum Leben. Vor der Leistung, die gefordert wird, liegt der Zuspruch – der Zuspruch, dass vor aller Arbeit, aller Leistung, allem Zwang, allem Selbstbeweis die Liebe sich offenbart. Die Liebe, die uns in dieses Leben hineingeliebt hat, lang bevor wir auch nur den ersten Atemzug getan haben.
Sonntag also. Sonntagsgeschichten. Welche Sonntagsgeschichten fallen mir ein, wenn ich meine Erinnerungen weit zurückschauen lasse?
Ein weißer Flachbau, rechtwinklig angeordnet um einen Parkplatz: ein Supermarkt, der damals »Meyer« hieß und im Kind, das ich damals war, die Vorstellung erzeugte, dass alle »Meyers« einen Supermarkt besäßen, ja eigentlich selbst ein solcher wären. »Keine Feier ohne Meyer« war ein stehender Begriff bei uns zu Hause. Schon früh, lange vor der Zeit, seit der Lebensmittelgeschäfte auch am Sonntag öffnen können, lebte ich mit der Vorstellung, dass Feier und Einkaufen dicht zusammengehören. Dass sich etwa 40 Jahre später diese Verbindung umgedreht haben würde und das Einkaufen, zumal das sonntägliche, das eigentliche Sonntagsfest geradezu ersetzt oder doch wesentlich ausmacht, konnte ich damals nicht ahnen.
Neben dem SB-Markt Meyer stieg der betörende Duft von »Zuntz« auf, auch ein Name, der sich mir einprägte als ein Synonym für Kaffee und Schokolade. Wir gingen nicht in ein Kaffeegeschäft, sondern zu »Zuntz« und das blieb so, auch als die Geschäfte ihre Namen änderten. Dass »Zuntz« der Name einer überaus klugen und kreativen Jüdin war, begriff ich tatsächlich erst in diesen Tagen. Im rechten Winkel zu Meyer und Zuntz dann eine Reinigung und ein Schuster, ja, ein echter Schuster mit Lederduft und schwarzen Fingern, noch zwei andere Geschäfte, die mir entfallen sind –, vermutlich, weil sie nicht besonders dufteten und dann endlich wird es Sonntag: die Kneipe.
Ob sie so hieß oder anders, weiß ich nicht. Auch sehr viel später erst fiel mir auf, dass zu dem gesamten Ensemble sehr wohl auch eine Kirche gehörte, eigentlich nicht zu übersehen. Aber nicht sie gestaltete die Sonntage meiner frühen Kindheit, sondern eben diese Kneipe. Und der kleine Rasen daneben, der den Übergang zur Straße etwas traulicher erscheinen lassen sollte.
Auf diesem Rasen trafen wir uns fast jeden Sonntag, Nora und ich. Nora war meine beste Freundin. Wir wohnten nebeneinander, lebten miteinander und Nora war die Schwester, die ich mir wünschte. Nora musste an fast jedem Sonntagmittag zu dieser Kneipe im Einkaufszentrum gehen. Und weil sie sich manchmal fürchtete, allein hinzugehen, oder weil sie einfach nicht allein gehen wollte, ging ich mit. Denn ich fand diese Kneipe faszinierend, weil sie so ganz anders war als unser ordentliches, sauberes 70er-Jahre-Kleinfamilienzuhause.
Ich habe die Kneipe als klein und eng in Erinnerung, dunkel. An der Seite ein Spielautomat, für den Noras Opa uns gelegentlich einen Groschen gab. Links vom Eingang erstreckte sich der Tresen, eine metallbeschlagene Oberfläche auf Eichenholzkorpus, dort war der Geruch nach abgestandenem Bier noch unangenehmer als auf der rechten Seite des langgezogenen Raumes, an der die Tische standen. Diese viereckig, mit je einem Stuhl an jeder Seite, aus hellerem Holz, die Lehnen hart, die Sitzflächen noch härter. Und alles zu groß für kleine Kinder. Aber immerhin, die Kneipe schmeckte nach Fassbrause, nach viel Fassbrause, denn die bekamen wir, wenn wir sonntagmittags dorthin gingen.
Was haben Kinder von fünf, sechs, sieben Jahren am Sonntagmittag in einer Kneipe zu suchen? Was suchen Männer und Frauen zwischen 20 und 90 Jahren am Sonntagmittag in einer Kneipe?
Nora suchte ihren Vater. Immerhin glückliche Suche, denn sie wusste, dass er da war. Denn deswegen wurde sie ja geschickt in diesen Bierdunst zu Spielautomat und Fassbrause, weil ihr Vater dort meist die Sonntagvormittage verbrachte, gemeinsam mit seinen Eltern, Noras Großeltern. Frühschoppen sagte man dazu und dieser Frühschoppen war das, was man heute ein unanfechtbares und unwandelbares Ritual nennen würde. Eine familiäre Sonntagspflicht, so verpflichtend, dass Noras Mutter, die zu Hause das Sonntagsessen kochte und sich dabei wegen ihres frühschoppenden Mannes grämte, weil sie kaum Chancen hatte, dieses Ritual auch nur vorübergehend zu verändern. Nora erzählte manchmal leise, dass ihre Mutter am Sonntag oft weinte, wenn sie den Braten zubereitete.
So suchte und fand sie ihren Vater sonntagmorgens in der Kneipe, er suchte und fand seine Eltern und wer weiß, was die Großeltern dort gesucht haben – gefunden haben sie neben dem Bier sich selbst als Eltern und Sohn. Sie haben einander vergewissert, dass sie noch da sind und als Familie füreinander erkennbar sind. Und vielleicht auch einfach ein paar Stunden, in denen sie nicht verantwortlich waren – für das Bier nicht und nicht für das Geschäft, nicht für Frau und Kind, nicht für die Welt oder die nächste Mietabrechnung. Sie durften da sein und nichts weiter.
Für Nora bedeutete dieses Sonntagsritual ihres Vaters allerdings, dass die Freude für den Rest des Tages spürbar gestört war und bis zum Abend auch kaum mehr gerettet werden konnte, denn ihre Mutter und sie waren eben nicht Teil dieses Sonntagsrituals. Ihre Mutter wollte nicht in die Kneipe gehen und ihr Vater nicht ohne seine Eltern sein – und so scheiterte der eigentlich sinnvolle Ansatz, aus dem freien Tag der Woche einen Familientag zu machen.
Manchmal durfte Nora am Nachmittag zu uns kommen und wir beide haben dann gespielt. Vater, Mutter, Kind zum Beispiel und dass alle am Sonntag glücklich miteinander waren. Denn dass die »Sonntagsleere« ein verbreitetes Phänomen in unserer Umgebung war, erlebten wir auch bei anderen Freundinnen. Das Beste, was wir von diesen Sonntagen sagen konnten, war, dass sie langweilig waren. Und dass es bei uns zu Hause abends oft Brote mit Tomaten und Zwiebeln gab, die ich ausgesprochen gern aß. Warum diese Köstlichkeit dem Sonntag vorbehalten blieb, weiß ich nicht, aber ein Sonntagsritual gab es auch bei uns. Und auch die Erleichterung, wenn die Sonntage vorbei waren und ich endlich wieder in die Schule gehen konnte. So waren sie auch für mich durchaus ungeliebte Tage, in denen vor allem ein tiefer Mangel sicht- und fühlbar wurde, bis ich sie durch sonntägliche Schwimmwettkämpfe selbst anders gestaltet habe. Es war der Mangel an gemeinsamer, erfüllender Erfahrung als Familie, die wir doch eigentlich waren. Stattdessen empfindlich gefühlte Abwesenheit jeglicher Gemeinschaft, eine Abwesenheit, die wir als Familie während der Woche anders überstehen konnten, denn da ging jede und jeder die eigenen Wege zwischen Arbeit, Schule, Einkauf. Mit anderen Worten: Ich mochte die Sonntage nicht.
Niemand hat uns gesagt, wozu ein Sonntag noch gut sein könnte außer der reichlich verbreiteten Tatsache, sich innerfamiliär zu streiten oder sich zumindest aus dem Wege zu gehen. Deshalb verstehe ich Menschen, die den Sonntag am liebsten zum Montag machen würden, aus tiefstem Herzen. Im Übrigen stellt sich die Frage heute kaum mehr, denn die Wirtschaft hat längst die Lücke entdeckt, die von den Kirchen und ihren Sonntagsgottesdiensten kaum mehr ausgefüllt wird.
Die großen Konsumkonzerne haben es verstanden, uns echte Alternativen zum sonntäglichen Vakuum zu bieten und es ist sicher kein Zufall, dass die Worte gleich bleiben: Wir werden wieder zum »Schoppen« eingeladen, wenn auch ein »c« verschwunden ist und wir nun zum Shoppen eilen. Dafür gibt es jetzt aber auch so ziemlich alles zum »Früh-Shoppen« ab 10 Uhr, Konsumpaläste und Arkaden öffnen ihre Pforten, die den antiken Tempeln würdig wären, die Einkaufsstraßen gleichen kostbar illuminierten Prozessionswegen, die Zahl und die Gestaltung der mitgeführten Einkaufstüten entsprechen einem priesterlichen Weihegrad im Olymp der Konsumgottheiten.
Nein, das ist jetzt sicher übertrieben.
Und längst habe ich meine radikale Ablehnung des sonntäglichen Shoppingvergnügens gezähmt, und das keineswegs immer aus Notwenigkeit.
Es macht einfach auch Freude, zu kaufen und zu haben und mit anderen das Erworbene zu vergleichen. Und es macht auch mir sehr viel Spaß, durch die festlich erleuchteten Straßen zu ziehen oder an Sommertagen im Straßencafé sitzend den Cappuccino zu genießen. Was ist schlimm daran? Nichts!
Deshalb muss die Frage eher heißen: Könnte es sein, dass da etwas fehlt, etwas, das nicht zu kaufen ist, für keinen und gar keinen materiellen Gegenwert? Ja, was fehlt uns eigentlich, das wir nicht mit Geld kaufen oder vom Arbeitsamt vermittelt bekommen könnten? Umfragen, veranlasst von staatlicher oder kirchlicher Seite, ganz sicher auch durchgeführt von findigen Werbestrategen großer Unternehmen, lauten: Was fehlt der bundesdeutschen »Normalbürgerin«, dem bundesdeutschen »Normalbürger« zum Glücklichsein? Die Antworten fallen erstaunlich ähnlich aus: Es fehlt die Gewissheit, dass sieauch weiterhin in Frieden, in Sicherheit und in halbwegs (oder auch mehr als halbwegs) gesicherten materiellen Verhältnissen leben können und die (eigenen) Kinder und Enkel ebenso.
Und wessen materielle Verhältnisse nicht einmal »halbwegs« sind, wünscht sich, dass sie es werden, und zwar absehbar – und das meint, noch zu Lebzeiten, also sofort.
Zum wahren Glück, das in Galerien und Kaufhöfen zu kaufen ist, fehlt entweder das Geld (das man sich unter Umständen beschaffen kann) oder – und das ist wichtiger: dieKontinuität des Glücks, von der immer häufiger behauptet wird, dass auch sie zu beschaffen sei oder, wenn es gar nicht anders geht, auch schon mal mit klarer Grenzziehung gegen die »Anderen«, die die Kontinuität des eigenen Glücks vermeintlich bedrohen. »Ausländer«, Flüchtlinge zum Beispiel. Sicherheit und Dauer also sind die Kern-Wünsche in unserer immer noch vorhandenen Wohlstandsgesellschaft, die gut ohne Gott auskommt, aber nicht ohne Religion, wie ich glaube, was nicht dasselbe ist. Und da begegne ich wieder der »Kern-Frage« zum »Kern-Wunsch«: Wozu brauche ich dafür einen Gott, wenn ich doch gerade in der eigenen Biografie oder in der Geschichte der Welt oder auch im geteilten Leid der Nachbarin schräg unten im ersten Stock deutlich erkenne, dass gerade dieser von den Christen verkündete Gott nicht Glück und Kontinuität verspricht, sondern eben genau das Gegenteil, nämlich Unglück und Vergänglichkeit? Oder was sonst sollen die Kreuze an Kirchen und Altären, jenes Symbol, das doch von nichts anderem als von Tod und Vergänglichkeit zu sprechen scheint? Warum denn an einem Sonntag, gerade an einem Sonntag, der vielleicht doch noch einen Restposten an Glück verheißt, käuflich zu erwerben im Schaufenster oder im Freizeitpark, ausgerechnet an diesem Tag mit erhoffter größtmöglicher Beglückung in eine Kirche gehen? Um ernste, traurige Gesichter zu sehen, Texte und Lieder zu hören, die niemand mehr versteht? Ja, warum? Oder wozu?
In der Tat: Wäre Gott so, wie hier beschrieben und verhielte sich die Kirche so, wie hier wahrgenommen, dann gäbe es wirklich keinen erkennbaren Grund, sich dem auszusetzen. Zumal an einem Sonntag.
Allerdings ist noch nicht ausgemacht, ob es wirklich alles ist, was von diesem Gott der Juden und der Christen und auch der Muslime, der nach gemeinsamer Überlieferung derselbe ist, zu erwarten ist. Und der Beweis steht noch aus, ob wirklich alle, die sich zu diesem Gott – und in meinem Fall auch noch zu seiner Kirche – zählen, ob sie alle wirklich stecken geblieben sind in morbider Todessehnsucht und melancholischer Tatenlosigkeit. Es wäre nachzulesen, ob in der Bibel, diesem heiligen Buch, wirklich keine anderen Antworten zu finden sind auf die Fragen nach Sicherheit und Glück, vor allem aber, ob es denn keinen anderen Trost gibt für diese Angst vor dem eigenen Leiden und der eigenen Sterblichkeit, die so viele von uns tief verborgen, aber doch wirksam im Herzen tragen. Eine Angst, die unsichtbar bleibt, aber viele Gesichter angespannt und gehetzt aussehen lässt und viele Seelen verhärtet in der irrigen Annahme, dass die eigene Härte den Tod besiegen würde – oder doch wenigstens verdrängen könnte.
Ja, es mag sein, dass in den sonntäglichen Gottesdiensten der Kirche die Antwort auf diese Grundfragen und Grundängste der Menschen ausbleibt. Und ja, auch ich würde mich woanders hinwenden, um diese Antworten zu suchen, um zumindest nicht allein zu bleiben, hätte ich nicht zufällig und gegen alle Erwartung solche Antworten ausgerechnet dort gefunden, wo sie nach meinem Dafürhalten eben nicht zu finden waren, in der Bibel nämlich. Aber das lag nicht an mir und meinem Suchen, sondern daran, dass ich gefunden wurde. Deshalb bin ich überzeugt, dass diese Erfahrungen nicht übertragbar sind und dass sie Menschen nicht verordnet werden können. Sinnvoller scheint mir zu sein, dass wir uns miteinander ganz neu auf die Suche begeben nach den Spuren dieser Antworten in dem Leben, wie es heute ist.
Webfehler
Die tibetischen Teppichweber, so habe ich gehört, weben den Himmel und die Erde in ihre Teppiche. Sie weben Schöpfungen und Welten, sie schaffen Paradiese und Un-Orte, sie weben wirklich – was für ein tiefes Wort! Wirklich: wirksam, Teppichwirken. Erschaffen also. Weben wirklich Wirklichkeiten, begleiten dies mit Gebeten und wissen um ihre schaffende Kraft.
Sie wissen aber auch, dass die Götter allemal mächtiger sind als sie selbst und dass sie ihnen verübeln könnten, wenn sie, die Weltenwirkenden, sich selbst gar als zu wirkmächtig verstehen wollten.
Deshalb weben die tibetischen Teppichweber ganz bewusst kleine Fehler in ihre Teppiche, um den Göttern zu sagen: Schaut, wir wissen sehr wohl um unsere Unvollkommenheit, nicht einen einzigen Teppich können wir ohne Fehl wirken – und ihr, ihr mächtigen Götter, erschafft die Welt ohne Makel. Und die Götter, diese Barmherzigen, nehmen den kleinen Betrug hin und loben die Absicht dahinter.
Das Bild der Welt erschaffenden Weber und Weberinnen ist uralt. Es reicht von den altnordischen Nornen, den griechischen Moiren und den römischen Parzen, die den Lebensfaden jedes und jeder Einzelnen auf ihrer Spindel aufwickeln, jeden Tag mehr, bis sie ihn am Ende abschneiden, bis hin zu den »Webern« Heinrich Heines: Deutschland, wir weben dein Leichentuch, wir weben hinein den dreifachen Fluch. Die verratene Arbeiterklasse als Todesgötter in der Unterwelt der Fabrikhallen.
Ein Buch, ich sagte es schon, kann auch ein Gewebe sein und wenn es wirksam ist, so ist es beabsichtigt. Wirksam aber in welcher Weise? Welches Bild will die Weberin, die Autorin, denn weben?
Ein freundliches Bild sollte es sein, ein einladendes wie ein blühender Garten, ein tröstendes wie ein lindernder Quell, ein ermutigendes wie ein erfrischender Sommerwind.
Und nun: ein Webfehler. Und anders als bei den Tibetern: nicht beabsichtigt. Eher, dass der Fehler hineingewebt wurde von anderen Webern, die anderes wollen als Sommerduft und Frühlingswiese. Weber, die anders singen als die Glocken in der Kirche. Es sind Weber, die singen voller Zorn: Wir weben, wir weben. Wir weben, doch nun kein Seidenkleid, sondern ein Leichentuch, gewebt für alles, was falsch und verlogen, was erniedrigend und entwürdigend ist, ein Tuch, einzudämmen den falschen Klang, der so säuselnd aus den Kehlen derer fließt, die die Welt an den Abgrund treiben.
Wer seid denn ihr, ihr zornigen Weber? Was wollt ihr denn, wenn ihr so empfindlich das zarte Muster stört?
In Heinrich Heines Lied von den Webern waren es eben diese, die schlesischen Weber, die im Jahr 1844 gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. und seine ergebenen Adligen, Fabrikherren und Großgrundbesitzer protestierten. Sie wehrten sich dagegen, dass sie sich an ihren Webstühlen zu Tode schuften sollten, während sich die Reichen und Mächtigen in ihren prunkvollen Palästen mit den von ihnen gewebten Tüchern das Bratenfett aus den Mundwinkeln wischten.
In dem verzweifelt-zornigen Lied fluchen die Weber dreifach gegen Gott, König und Vaterland – und werden am Ende niedergeschlagen von diesem König und seinen Schergen. Der Weberaufstand, wiewohl Jahre früher begonnen, ist zu sehen als ein erstes Aufflammen der Revolution der Arbeiter in Deutschland 1848.
Aber wer singt dieses Lied, diese Verzweiflung, diese Wut denn heute? Wer zersingt damit mein zartes Gewebe?
Es sind Stimmen um mich herum, die schreien und brüllen nach dem starken Mann – in Amerika, in Frankreich, in Ungarn und Österreich, auch in Deutschland. Auch in Deutschland wieder – und so laut!
Und anders als die schlesischen Weber wollen die heute so Zornigen nicht selbst dafür sorgen, dass das Geld verteilt werde, dass Gerechtigkeit herrsche für alle im Land. Sondern sie wollen die Schuld bei denen suchen, die doch genauso arm sind wie sie und ärmer noch – bei denen, die geflohen sind zu uns vor Krieg und Terror. Die heute so Zornigen und Unterdrückten suchen die, die noch schwächer sind als sie, anstatt sich gerade mit ihnen zu verbünden. Es ist ein Zorn, der Brandfackeln wirft in Asylbewerberheime, anstatt flammende Lieder zu singen vor den Parlamenten, in denen der Krieg beschlossen wird gegen alle Armen dieser Welt.
Die heute Unterdrückten wählen, man fasst es nicht, in ihrem berechtigten Zorn gegen den Geldadel ausgerechnet einen Milliardär, von dem doch bekannt ist, dass ihn nichts interessiert hat als die Vermehrung seines eigenen Ruhms und Vermögens. Der aber auch bisher gar nichts getan hat für die Armen an den Webstühlen, in den Arbeitsämtern, in den Hungerländern dieser Welt. Was tut ihr da, ihr Zornigen?
Das frage ich euch am 11. November 2016, drei Tage, nachdem das Großkapital in eurem Namen einen der Ihren als Präsident der Vereinigten Staaten küren dufte. Was tut ihr da?
Und was tun denn wir, die Frommen und Gottgläubigen?
Wo sind wir denn, denen unser Gott doch geboten hat, bei denen zu sein, die ohne Obdach und Kleidung sind? Wir, deren Herr Jesus Christus nicht mal ein eigenes Bett hatte, darauf seinen Kopf zu legen, während wir uns sorgen um den Erhalt unserer großen Bauwerke und um angemessene Gehälter der kirchlich Bediensteten? Wie weit reicht denn unsere Solidarität mit den Armen der Welt und in unserem Land wirklich?
Das frage ich mich und zuallererst eben mich, deren Sorge für die anderen auch immer wieder hinter den eigenen Worten so weit zurückbleibt. Hinter dem Gebot Gottes ohnehin.
Und das ist der Zorn im eigenen Herzen, der mir gerade dieses Kampflied in die schönfrommen Gedanken hineinsingt und einen Fehler in meine artigen Worte wirkt. Und vielleicht muss das so sein.
II.
……………………
Hoffnung für Rosana
Montag, 6 Uhr. Nicht meine Zeit. Aber wessen Zeit ist das schon, wenn er oder sie nicht zu der seltenen Spezies der wirklich frühen Frühaufsteher gehört?
6 Uhr also, mein Handy-Wecker gibt Fiep-Geräusche von sich, die sich seltsam in meinen letzten Traum hineinzwitschern. Im Wachwerden habe ich ihn vergessen, vielleicht ist er auch einfach zerstoben – beleidigt von der Missachtung durch Wecker und schlaftrunkener Morgenroutine. Während ich die erste von mehreren Tassen Kaffee trinke, denke ich darüber nach, wie es wohl den anderen geht, die ich gleich in der S-Bahn treffen werde.