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Europa im Jahr 1941.
In England fragt sich Hermia Mount, Agentin im MI6, woher die hohen Verluste der britischen Fliegerstaffeln kommen.
Im besetzten Dänemark stößt Harald Olufsen, ein 18-jähriger Oberschüler, auf eine geheime Radarstation der Deutschen.
Diese Information könnte dem Krieg eine entscheidende Wende geben.
Doch zwischen den beiden jungen Menschen liegt eine Welt voller Feinde - und die endlose Weite de Meeres ...
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Zeit:6 Std. 28 min
Ken Follett, geboren 1949, war siebenundzwanzig, als er den Thriller Die Nadel schrieb. Seitdem hat er zahlreiche weitere Bestseller geschrieben, darunter die Welterfolge Die Säulen der Erde und Der dritte Zwilling. Ken Follett lebt wahlweise in Chelsea, London, und in Stevenage, Hertfortshire, dem Wahlkreis seiner Frau Barbara, die als Labour-Abgeordnete dem britischen Unterhaus angehört.
Ken Follet
Mitternachtsfalken
Roman
Aus dem Englischen vonTill R. Lohmeyer und Christel Rost
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2002 by Ken Follett
Titel der englischen Originalausgabe: »Hornet Flight«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2003/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München,Johannes Wiebel und Andrea Barth
Umschlagmotiv: Eigenarchiv, Photodisc, Corbis
Illustrationen: Tina Dreher, Alfeld /Leine
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-8387-0344-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Einiges von dem, was folgt,ist tatsächlich geschehen.
Ein Mann mit einem Holzbein ging über den langen Flur eines Krankenhauses.
Er war dreißig Jahre alt, ein untersetzter, kräftiger Typ mit sportlich durchtrainierter Figur, und trug einen einfachen anthrazitfarbenen Anzug zu schwarzen Halbschuhen mit Zehenkappen. Er ging schnell, doch eine leichte Unregelmäßigkeit in seinem Schritt – tap-tapp, tap-tapp – gab seine Behinderung preis. Seine Miene verriet grimmige Entschlossenheit; es sah aus, als unterdrücke er eine tiefe innere Erregung.
Am Ende des Korridors blieb er vor einem Schalter stehen, hinter dem eine Krankenschwester saß. »Flight Lieutenant Hoare?«, fragte er.
Die Krankenschwester, ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen, blickte von einer Liste auf. Als sie sprach, verriet der weiche Akzent ihre Herkunft aus der Umgebung von Cork. »Sie sind ein Verwandter, nehme ich an«, sagte sie mit freundlichem Lächeln.
Ihr Charme verfing nicht. »Der Bruder«, sagte der Besucher. »Welches Bett?«
»Das letzte auf der linken Seite.«
Er kehrte auf dem Absatz um, betrat den großen Krankensaal und steuerte zielbewusst auf die Stelle zu, die ihm genannt worden war. Auf einem Stuhl neben dem Bett, mit dem Rücken zum Gast, saß eine Gestalt in einem braunen Morgenmantel, rauchte und sah aus dem Fenster hinaus.
Der Besucher blieb unschlüssig stehen. »Bart?«
Der Mann erhob sich und drehte sich um. Er trug einen Kopfverband, und sein linker Arm lag in einer Schlinge. Dennoch lachte er. Er sah aus wie eine jüngere, größere Ausgabe des Besuchers. »Hallo, Digby!«
Digby umarmte seinen Bruder und drückte ihn fest an sich. »Ich dachte schon, du wärst tot«, sagte er.
Dann brach er in Tränen aus.
»Ich flog eine Whitley«, sagte Bart. Die Armstrong Whitworth Whitley, das »fliegende Scheunentor«, war ein schwerfälliger, lang gestreckter Bomber, der sich durch eine ungewöhnliche, leicht nach unten geneigte Fluglage auszeichnete. Im Frühjahr 1941 verfügte das Bomber Command der Royal Air Force über siebenhundert Maschinen insgesamt, darunter einhundert dieses Typs. »Eine Messerschmitt hat auf uns gefeuert und mehrere Treffer gelandet«, fuhr Bart fort. »Aber anscheinend reichte ihr der Sprit nicht für die weitere Verfolgung – jedenfalls schwang sie plötzlich ab, ohne uns den Rest zu geben. Muss irgendwie dein Glückstag sein, sagte ich mir, doch da verloren wir schon rapide an Höhe. Die Messerschmitt musste beide Triebwerke erwischt haben. Um das Gewicht zu reduzieren, warfen wir alles raus, was nicht niet- und nagelfest war, aber es half nichts. Uns blieb nur noch die Notwasserung in der Nordsee.«
Digby hatte sich auf die Bettkante gesetzt. Seine Augen waren wieder trocken. Aufmerksam beobachtete er das Gesicht seines Bruders, sah den »Tausendmeterblick«, als Bart seiner Erinnerung freien Lauf ließ.
»Ich wies die Crew an, die hintere Luke abzusprengen und sich, fest an die Außenhaut der Maschine gepresst, auf die Notwasserung vorzubereiten.« Digby entsann sich, dass die Whitley fünf Mann Besatzung hatte. »Als wir fast unten waren, riss ich den Steuerknüppel zurück und stellte die Motoren ab, aber die Maschine ließ sich nicht mehr ganz abfangen. Es hat furchtbar gekracht, als wir auf die Wasseroberfläche aufschlugen. Ich verlor das Bewusstsein.«
Sie waren Stiefbrüder, acht Jahre auseinander. Digbys Mutter war gestorben, als er dreizehn war, worauf sein Vater eine Witwe geheiratet hatte, die einen Jungen mit in die Ehe brachte. Von Anfang an hatte sich Digby um seinen kleinen Bruder gekümmert, hatte ihn vor Rabauken in Schutz genommen und ihm bei den Schularbeiten geholfen. Beide waren sie Flugzeugnarren gewesen und hatten von einer Pilotenkarriere geträumt. Digby verlor sein rechtes Bein bei einem Motorradunfall, studierte Ingenieurwissenschaften und wurde dann Flugzeugkonstrukteur. Bart dagegen erfüllte sich seinen Traum.
»Als ich wieder zu mir kam, roch es nach Rauch. Die Maschine trieb auf dem Wasser, und der rechte Flügel brannte. Die Nacht war schwarz wie ein Grab, erhellt nur durch die Flammen. Ich kroch durch den Rumpf, fand das aufblasbare Schlauchboot, stieß es durch die Luke und sprang hinterher. Mein Gott, war das Wasser kalt!«
Er sprach leise und war sehr ruhig, sog aber zwischendurch immer wieder heftig an seiner Zigarette, inhalierte tief und blies den Rauch dann in einer dünnen Fahne durch die fest zusammengekniffenen Lippen. »Ich trug eine Schwimmweste, deshalb wurde ich wie ein Korken wieder an die Wasseroberfläche gezogen. Die Dünung war ziemlich stark, und ich ging rauf und runter wie ’n Nuttenschlüpfer. Nur mit dem Schlauchboot kam ich nicht zurecht. Es schwamm zwar glücklicherweise direkt vor meiner Nase, ich konnte also die Leine ziehen und es blies sich auch von selbst auf – nur, ich kam nicht rein, hatte einfach nicht die Kraft, mich aus dem Wasser zu hieven. Ich begriff es einfach nicht – weil mir nicht klar war, dass ich mir drei Rippen angeknackst, das linke Handgelenk gebrochen und obendrein auch noch die Schulter ausgekugelt hatte. Also hab ich mich einfach festgehalten und fing langsam an zu erfrieren.«
Es hat mal eine Zeit gegeben, dachte Digby, da hielt ich Bart für den Glücklicheren von uns zweien …
»Nach einer Ewigkeit, wie mir schien, tauchten plötzlich Jones und Croft auf. Sie hatten sich so lange ans Leitwerk der Maschine geklammert, bis es unterging. Schwimmen konnten sie beide nicht, aber ihre Schwimmwesten retteten ihnen das Leben. Es gelang ihnen, ins Boot zu klettern und mich reinzuziehen.« Bart zündete sich eine neue Zigarette an. »Pickering habe ich nirgends gesehen. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, aber ich muss wohl annehmen, dass er irgendwo auf dem Meeresgrund liegt.«
Er schwieg. Über einen hat er noch kein Wort verloren, dachte Digby und fragte nach einer kleinen Pause: »Und der fünfte Mann?«
»John Rowley, der Bombenschütze, hatte den Absturz überlebt. Ich hörte ihn schreien, war aber nicht ganz bei mir. Jones und Croft versuchten, in die Richtung zu rudern, aus der sie ihn hatten rufen hören.« Bart schüttelte den Kopf in einer Geste hilfloser Verzweiflung. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer das war. Die Dünung muss so um einen bis anderthalb Meter hoch gewesen sein, und allmählich erstarben die Flammen, sodass wir immer weniger sehen konnten. Dazu heulte der Wind wie ein Nachtgespenst. Jones brüllte – und er hat eine verdammt laute Stimme. Rowley antwortete, und gleichzeitig jagte das Schlauchboot einen Wellenkamm hoch, auf der anderen Seite wieder runter und drehte sich dabei noch um die eigene Achse. Als Rowley wieder zu hören war, schien es aus einer ganz anderen Richtung zu kommen als beim letzten Mal. Ich weiß nicht, wie lange das so ging – aber mir fiel auf, dass Rowleys Stimme jedes Mal schwächer wurde. Die Kälte.« Barts Miene erstarrte. »Er fing an – na ja, zu jammern, irgendwie. Rief den lieben Gott an und seine Mutter und all so was, weißt du. Und dann war er plötzlich still.«
Digby merkte, dass er unwillkürlich die Luft angehalten hatte, als sähe er schon im leisen Hauch des Atemholens eine aufdringliche Störung jener grauenvollen Erinnerungen.
»Kurz nach Anbruch der Morgendämmerung hat uns ein Zerstörer aufgefischt, der nach U-Booten suchte. Sie ließen ein Beiboot runter und zogen uns rein.« Bart starrte aus dem Fenster, wie blind für die grüne Landschaft von Hertfordshire. Vor seinem inneren Auge spielte sich eine andere, weit entfernte Szene ab. »Ich muss schon sagen, verdammtes Schwein gehabt«, erklärte er.
Eine Zeit lang saßen sie nur da und schwiegen. Dann fragte Bart: »War der Angriff überhaupt erfolgreich? Kein Mensch will mir sagen, wie viele zurückgekommen sind.«
»Eine Katastrophe«, erwiderte Digby.
»Und meine Staffel?«
»Sergeant Jenkins und seine Crew sind heil zurückgekommen.« Digby zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Desgleichen Pilot Officer Arasaratnam – wo kommt denn der her?«
»Aus Ceylon.«
»Sergeant Rileys Maschine wurde getroffen, schaffte es aber zurück.«
»Typisch Ire, die haben immer Glück«, sagte Bart. »Und der Rest?«
Digby schüttelte nur den Kopf.
»Aber bei dem Angriff waren doch sechs Maschinen aus meiner Staffel dabei!«, protestierte Bart.
»Weiß ich. Außer dir wurden noch zwei andere abgeschossen. So, wie es aussieht, gab es keine Überlebenden.«
»Dann ist Creighton-Smith also tot … und Billy Shaw auch. Und … o Gott!« Er wandte sich ab.
»Es tut mir Leid.«
Barts Stimmung schlug um, seine Verzweiflung verwandelte sich in Wut. »Das reicht mir nicht«, sagte er. »Man schickt uns da raus, damit wir verrecken!«
»Ich weiß.«
»Herrgott noch mal, Digby, du gehörst doch selber zu dieser verdammten Regierung!«
»Ich arbeite für den Premierminister, ja.« Mit Vorliebe holte sich Winston Churchill Leute aus der Privatindustrie in Regierung und Verwaltung. Digby Hoare, vor dem Krieg ein erfolgreicher Flugzeugbauer, war einer seiner Krisenmanager.
»Dann bist du genauso schuldig wie die anderen. Was verplemperst du deine Zeit mit Krankenbesuchen? Verschwinde und tu endlich was, damit das nicht so weitergeht!«
»Ich tu ja was«, erwiderte Digby ruhig. »Mein Auftrag ist es, herauszufinden, wie das geschehen konnte. Wir haben bei diesem Angriff die Hälfte unserer Maschinen verloren.«
»Verrat auf höchster Ebene, nehme ich an. Oder irgend so ein blöder Luftmarschall hat in seinem Club das Maul zu weit aufgerissen und über den Angriff am nächsten Tag geschwafelt – und der Barkeeper war ein Nazi und hat hinterm Tresen alles mitgeschrieben …«
»Das ist eine Möglichkeit, ja.«
Bart seufzte. »Tut mir Leid, Diggers«, sagte er. »Diggers« war Digbys Spitzname aus Kindertagen. »Ist nicht deine Schuld – mir ist bloß der Kragen geplatzt.«
»Mal im Ernst – hast du vielleicht eine Ahnung, warum so viele abgeschossen werden? Du hast doch schon über ein Dutzend Einsätze hinter dir. Hast du einen Tipp?«
Bart überlegte. »Das mit den Spionen war nicht bloß so dahergeredet. Wenn wir drüben ankommen, warten die Deutschen schon auf uns. Sie wissen, dass wir kommen.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ihre Maschinen sind schon in der Luft. Sie erwarten uns. Du weißt doch, wie schwer es ist, die Abfangjäger zur rechten Zeit in der Luft zu haben. Der Alarmstart muss genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgen. Die Staffel muss vom Fliegerhorst aus den Luftraum finden, in den wir voraussichtlich einfliegen werden, muss dann höher steigen als wir und uns schließlich auch noch im Mondlicht finden. Das dauert normalerweise so lange, dass wir unsere Bomben abwerfen und wieder abhauen können, bevor sie uns erwischen. Aber so läuft’s leider nicht.«
Digby nickte. Barts Erfahrungen stimmten mit denen der anderen Piloten überein, die er befragt hatte. Er wollte es Bart gerade bestätigen, als dieser plötzlich aufsah und jemanden anlächelte, der hinter Digby stand. Als Digby sich umdrehte, stand ein Schwarzer in der Uniform eines Squadron Leaders hinter ihm. Ebenso wie Bart war er für seinen Rang noch recht jung; Digby vermutete, dass seine Beförderungen die automatische Folge seiner Kampfeinsätze war – Flight Lieutenant nach zwölf, Squadron Leader nach fünfzehn Feindflügen.
»Hallo, Charles«, sagte Bart.
»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Bartlett. Wie geht’s dir?« Der Besucher hatte einen karibischen Akzent, überlagert von einem unüberhörbaren Oxford-Näseln.
»Ich darf weiterleben, sagen die Ärzte.«
Charles berührte mit der Fingerspitze Barts Handrücken, genau an der Stelle, wo die Hand aus der Schlinge ragte. Seltsame Geste der Zuneigung, dachte Digby. »Freut mich riesig«, sagte Charles.
»Darf ich dir meinen Bruder Digby vorstellen, Charles? – Digby, das ist Charles Ford. Wir waren zusammen am Trinity College, bevor wir zur Air Force gingen.«
»Nur so konnten wir uns vor dem Examen drücken«, sagte Charles und schüttelte Digby die Hand.
»Wie wirst du von den Afrikanern behandelt?«, wollte Bart wissen.
Charles lächelte und erklärte Digby, was gemeint war: »Auf unserer Airbase gibt es eine Rhodesierstaffel. Erstklassige Flieger, aber sie tun sich schwer mit einem Offizier meiner Hautfarbe. Wir nennen sie ›Afrikaner‹, was sie immer leicht auf die Palme bringt – ich weiß auch nicht, warum.«
»Sie lassen sich jedenfalls nicht unterkriegen, Charles«, sagte Digby.
»Ich bin fest davon überzeugt, dass es uns mit Geduld und besserer Erziehung und Ausbildung gelingen wird, solche Leute irgendwann zu zivilisieren, auch wenn sie uns gegenwärtig noch recht primitiv erscheinen.« Charles wandte den Blick ab, und Digby nahm hinter der humorigen Bemerkung einen Anflug von Zorn wahr.
»Ich habe Bart gerade gefragt, warum wir so viele Bomber verlieren«, sagte Digby. »Was meinen Sie dazu?«
»Bei dem Angriff, um den es hier geht, war ich nicht dabei«, sagte Charles. »Und nach allem, was ich so gehört habe, war das ein Riesenglück. Aber wir hatten in jüngster Zeit ja schon einige solcher Fehlschläge. Ich hab das Gefühl, dass die Luftwaffe uns durch die Wolken hindurch verfolgen kann. Haben die vielleicht irgendein Gerät an Bord, das uns selbst dann aufspürt, wenn wir gar nicht zu sehen sind?«
Digby schüttelte den Kopf. »Jede abgestürzte Feindmaschine wird peinlich genau untersucht, aber so ein Gerät haben wir bisher nicht gefunden. Wir setzen alles daran, so etwas zu erfinden, und der Feind sicher auch – doch obwohl wir vermutlich einen deutlichen Vorsprung haben, ist ein Durchbruch noch nicht abzusehen. Nein, ich glaube wirklich nicht, dass das der Grund ist.«
»Aber es kommt einem so vor.«
»Ich glaube immer noch, dass Spione dahinter stecken«, warf Bart ein.
»Interessant.« Digby erhob sich. »Ich muss zurück nach Whitehall. Danke für eure Hinweise – die sind ganz hilfreich für meine Gespräche mit den Herrschaften in den entscheidenden Etagen.« Er verabschiedete sich von Charles mit Handschlag und drückte Barts unversehrte Schulter. »Bleib still sitzen und bessere dich!«
»Man hat mir gesagt, dass ich in ein paar Wochen wieder fliegen kann.«
»Das macht mich nicht gerade glücklich.«
Als Digby sich zum Gehen wandte, sagte Charles: »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Aber natürlich.«
»Bei Angriffen wie diesem hier sind unsere Kosten für die verlorenen Maschinen doch viel höher als die für die Bombenschäden, die der Feind reparieren muss – oder?«
»Ja, zweifellos.«
»Und …«, Charles breitete die Arme aus, um zu demonstrieren, dass er nicht mehr weiterwusste, »… warum fliegen wir sie dann? Was ist der Sinn dieser Bombenangriffe?«
»Ja«, pflichtete Bart ihm bei, »das würde mich auch interessieren.«
»Was bleibt uns anderes übrig?«, fragte Digby zurück. »Die Nazis beherrschen Europa: Österreich, die Tschechoslowakei, Holland, Belgien, Frankreich, Dänemark und Norwegen. Italien ist mit den Deutschen verbündet, Spanien ein Sympathisant, Schweden neutral, und mit Russland haben sie einen Nichtangriffspakt. Wir verfügen über keinerlei Truppen auf dem Festland. Wir haben gar keine andere Möglichkeit, uns zu wehren.«
Charles nickte. »Dann sind wir alles, was ihr habt.«
»Genau«, sagte Digby. »Wenn die Bombenangriffe aufhören, ist der Krieg zu Ende – und Hitler hat ihn gewonnen.«
Der Premierminister sah sich gerade Der Malteserfalke an. In der alten Küche des Hauses der Admiralität war jüngst ein kleines Privatkino eingerichtet worden. Es hatte fünfzig oder sechzig Plüschsitze und einen Vorhang aus rotem Samt, doch was hier gezeigt wurde, waren überwiegend Filme über Bombenangriffe und Propagandastreifen, die noch nicht für die Öffentlichkeit freigegeben worden waren.
Spätabends, wenn alle diplomatischen Noten diktiert, alle Telegramme versandt, alle Berichte studiert und mit Anmerkungen versehen und alle Protokolle paraphiert waren, saß Churchill mit einem Glas Brandy in der Hand in einem der großen Logenplätze in der ersten Reihe und verlor sich in den jüngsten Verführungen aus Hollywood.
Als Hoare den Vorführraum betrat, erklärte Humphrey Bogart gerade Mary Astor, von einem Mann, dessen Partner ermordet worden sei, werde erwartet, dass er was dagegen unternimmt. Die Luft war schwer vom Zigarrenrauch. Churchill deutete auf einen Sitz. Hoare folgte der Einladung und sah sich die letzten Minuten des Streifens an. Als vor dem Hintergrund einer schwarzen Falkenstatue der Abspann lief, berichtete Hoare seinem Vorgesetzten, dass die Luftwaffe offenbar im Voraus über die Angriffe des Bomber Command informiert sei.
Als er mit seiner Erklärung zu Ende war, starrte Churchill sekundenlang die Leinwand an, als warte er immer noch auf die Aufklärung, wer denn nun den Bryan gespielt habe. Manchmal war der Premierminister ausgesprochen charmant, lächelte gewinnend und seine blauen Augen funkelten, doch an diesem Abend schien er in Trübsal versunken zu sein. Endlich sagte er: »Was meint die Royal Air Force dazu?«
»Die machen schlechtes Formationsfliegen dafür verantwortlich. Wenn die Bomber im engen Verband aufschließen, müssen ihre Geschütze theoretisch den gesamten Luftraum abdecken und jede feindliche Maschine, die sich in ihre Nähe wagt, sofort abschießen.«
»Und was meinen Sie dazu?«
»Das ist Quatsch. Nur mit Formationsfliegen hat das noch nie geklappt. Da gibt’s doch immer wieder neue Faktoren in der Gleichung.«
»Meine ich auch. Aber woran liegt’s dann?«
»Mein Bruder glaubt, dass Spione dahinter stecken.«
»Alle Spione, die uns ins Netz gegangen sind, waren Amateure – aber darum haben wir sie ja auch erwischt. Kann sein, dass uns die wahren Könner bisher durch die Lappen gegangen sind.«
»Vielleicht ist den Deutschen ein technischer Durchbruch gelungen.«
»Unser Geheimdienst sagt mir, dass der Feind in der Entwicklung der Radartechnologie meilenweit hinter uns herhinkt.«
»Halten Sie diese Einschätzung für glaubwürdig?«
»Nein.« Die Deckenlichter gingen an. Churchill trug einen Abendanzug, hatte allerdings das Jackett abgelegt. Er war immer nach der Mode gekleidet, doch sein Gesicht war von Müdigkeit gezeichnet. Aus seiner Westentasche zog er einen zusammengefalteten Bogen aus dünnem Durchschlagpapier. »Hier«, sagte er und reichte Hoare den Zettel, »das ist ein Hinweis.«
Hoare studierte den Text. Es handelte sich allem Anschein nach um die dekodierte Abschrift eines Funkspruchs der Luftwaffe, auf Deutsch und auf Englisch. Die neue Strategie der Luftwaffe – »Dunkle Nachtjagd« – sei von einem triumphalen Erfolg gekrönt worden, hieß es in der Botschaft, und zwar »dank der hervorragenden Informationen von Freya«. Hoare las die Nachricht noch einmal durch, erst die englische und dann die deutsche Version. »Freya« war ein Wort, das ihm in keiner der beiden Sprachen etwas sagte. »Was soll das heißen?«, fragte er.
»Finden Sie ’s raus. Das ist genau das, was ich von Ihnen will.« Churchill erhob sich und schlüpfte in sein Jackett. »Begleiten Sie mich zurück«, sagte er und rief, als sie den Kinosaal verließen: »Vielen Dank!«
Aus der Kabine des Filmvorführers antwortete eine Stimme: »War mir ein Vergnügen, Sir!«
Auf dem Weg durchs Haus schlossen sich ihnen zwei Männer an und folgten ihnen: Inspektor Thompson von Scotland Yard und Churchills persönlicher Leibwächter. Auf dem Paradeplatz vor dem Haus kamen sie an einer Gruppe von Leuten vorbei, die damit beschäftigt waren, einen Fesselballon startklar zu machen. Durch ein Tor in dem Stacheldrahtverhau, der das Gelände umschloss, erreichten sie die Straße. London war verdunkelt, doch das Licht der aufgehenden Mondsichel war so stark, dass sie sich problemlos orientieren konnten.
Über die Horse Guards Parade gelangten sie zu Nr. 1, Storey’s Gate. Der rückwärtige Teil von Number Ten, Downing Street, dem traditionellen Wohnsitz der englischen Premierminister, war durch einen Bombentreffer beschädigt worden; deshalb lebte Churchill jetzt in einem nahe gelegenen Anbau über dem Lagezentrum des Kabinetts. Den Eingang schützte eine bombensichere Mauer. Durch eine Schießscharte ragte der Lauf eines Maschinengewehrs.
»Gute Nacht, Sir«, sagte Hoare.
»So kann es nicht weitergehen«, sagte Churchill. »Bei diesen Verlustraten ist das Bomber Command bis Weihnachten erledigt. Ich muss wissen, wer oder was Freya ist.«
»Ich werde es herausfinden.«
»Tun Sie das – und zwar so schnell wie möglich.«
»Jawohl, Sir.«
»Gute Nacht«, sagte der Premierminister und betrat das Haus.
Am letzten Tag des Monats Mai im Jahr 1941 war auf den Straßen von Morlunde, einer Stadt an der Westküste Dänemarks, ein seltsames Gefährt zu beobachten.
Es handelte sich um ein dänisches Nimbus-Motorrad mit Beiwagen. Allein dies wäre schon ein ungewöhnlicher Anblick gewesen, gab es doch außer für Ärzte, die Polizei und – natürlich – die deutschen Besatzungstruppen kein Benzin. Hinzu kam jedoch, dass diese Nimbus umgebaut worden war. Der Vierzylinder-Benzinmotor war durch eine Dampfmaschine ersetzt worden, die aus einem abgewrackten Flussboot stammte. Der Beifahrersitz war entfernt worden, um Platz für Dampfkessel, Feuerbüchse und Schornstein zu schaffen. Der Ersatzmotor war nicht sehr leistungsstark, weshalb die Höchstgeschwindigkeit des Gefährts nur bei ungefähr 35 km/h lag. Und anstelle eines motorradtypisch röhrenden Auspuffs war nur das sanft zischende Entweichen von Dampf zu vernehmen. Die unheimlich leisen Fahrtgeräusche und die Langsamkeit verliehen dem Vehikel eine Art gravitätische Würde.
Im Sattel saß Harald Olufsen, ein hoch gewachsener junger Mann von achtzehn Jahren mit makelloser Haut und aus hoher Stirn zurückgekämmten blonden Haaren. Er sah aus wie ein Wikinger in Schuluniform. Ein Jahr lang hatte er für die Nimbus gespart – sie kostete ihn sechshundert Kronen –, doch einen Tag nachdem sie endlich in seinen Besitz übergegangen war, hatten die Deutschen die strengen Benzinrestriktionen eingeführt.
Harald hatte sich darüber maßlos aufgeregt. Woher nahmen die sich das Recht dazu?
Aber er war weniger zum Jammern denn zum Handeln erzogen worden. Der Umbau des Motorrads hatte ihn ein weiteres Jahr gekostet: Alle Schulferien und jede freie Minute, die ihm neben der Vorbereitung auf die Zulassungsprüfungen zur Universität blieben, hatte er darauf verwendet.
Heute, am 31. Mai, kehrte Harald aus dem Internat nach Hause zurück, wo er die Pfingstferien verbringen wollte. Am Vormittag hatte er noch physikalische Gleichungen gepaukt und am Nachmittag dann einen Zahnkranz aus einem verrosteten Rasenmäher ins Hinterrad seiner Nimbus eingebaut. Inzwischen lief die Maschine perfekt. Harald war unterwegs zu einer Bar, wo hoffentlich eine Jazzband spielte und wo man vielleicht sogar ein paar nette Mädchen treffen konnte.
Harald liebte Jazz. Abgesehen von der Physik gab es nichts, was ihn so sehr fesselte. Amerikanische Musiker waren natürlich einsame Spitze, doch es lohnte sich durchaus, auch ihren dänischen Nachahmern zuzuhören. Und das Jazz-Angebot in Morlunde war gar nicht so übel, was vielleicht daran lag, dass die Stadt einen großen Hafen hatte, der von Seeleuten aus aller Welt besucht wurde.
Doch als Harald vor dem Club Hot vorfuhr, war die Tür verschlossen, und vor den Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen.
Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Samstagabends um acht sollte es an einem der beliebtesten Treffpunkte der Stadt eigentlich hoch hergehen.
Er saß noch immer im Sattel und starrte das stille Gebäude an, als plötzlich ein Passant stehen blieb und neugierig Haralds Fahrzeug betrachtete. »Was ist denn das für ’ne Erfindung?«
»Eine Nimbus mit Dampfmaschine. Wissen Sie, was mit dem Club hier los ist?«
»Muss ich wohl, schließlich gehört er mir. Was für ’n Sprit braucht denn dieses Ding?«
»Alles, was brennt. Ich nehme Torf.« Harald deutete auf einen Stapel Torfbriketts hinten im Beiwagen.
»Torf?« Der Mann lachte.
»Warum ist der Club geschlossen?«
»Die Nazis haben mir den Laden dichtgemacht.«
Harald erschrak. »Warum denn das?«
»Weil ich Neger-Musiker beschäftigt habe.«
Harald hatte noch nie einen schwarzen Musiker in Fleisch und Blut gesehen, wusste aber von Schallplatten, dass sie die besten waren. »Diese Nazischweine haben doch keine Ahnung!«, polterte er. Den Abend konnte er abschreiben.
Der Besitzer des Jazz-Clubs sah sich nervös um. Hoffentlich hatte das niemand gehört. Obwohl das Besatzungsregime in Dänemark mit relativ lockerer Hand herrschte, wagten es nur wenige Menschen, offen über die Nazis herzuziehen. Glücklicherweise war weit und breit niemand zu sehen. Der Mann richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Nimbus. »Und das fährt wirklich?«
»Selbstverständlich.«
»Wer hat Ihnen das denn umgebaut?«
»Das hab ich selbst gemacht.«
Die Belustigung des Jazz-Clubbesitzers verwandelte sich in Bewunderung. »Ganz schön clever«, sagte er.
»Danke.« Harald öffnete das Ventil, durch das Dampf in den Motor strömte. »Das mit Ihrem Club tut mir echt Leid.«
»Ich hoffe, sie lassen mich in ein paar Wochen wieder öffnen. Aber ich werde versprechen müssen, dass ich nur noch weiße Musiker engagiere.«
»Jazz ohne Neger?« Harald schüttelte angewidert den Kopf. »Da könnte man genauso gut alle französischen Küchenchefs aus den Restaurants rauswerfen.« Er nahm den Fuß von der Bremse. Langsam setzte sich das Motorrad in Bewegung.
Er überlegte, ob er ins Zentrum fahren und in den Cafés und Bars um den Marktplatz herum nach Freunden und Bekannten Ausschau halten sollte, verwarf den Gedanken jedoch rasch wieder. Seine Enttäuschung wegen des Jazz-Clubs war so groß, dass ihm jeder weitere Aufenthalt in der Stadt nur noch mehr auf die Stimmung geschlagen wäre. Daher machte er sich auf den Weg zum Hafen.
Haralds Vater war Pastor an der Kirche von Sande, einer kleinen, ein paar Kilometer vor der Küste gelegenen Insel. Die Fähre, die zwischen Insel und Festland hin und her pendelte, lag schon am Kai, und Harald fuhr direkt aufs Deck. Das Boot war dicht besetzt mit Fahrgästen, von denen er die meisten persönlich kannte. Eine Gruppe von Fischern kehrte von einem Fußballspiel zurück; die Männer hatten anschließend noch etwas getrunken und waren entsprechend fröhlich. Zwei wohlhabende Damen mit Hut und Handschuhen waren mit einem Ponygespann auf Einkaufstour gewesen. Auch eine fünfköpfige Familie war an Bord; sie hatte Verwandte in der Stadt besucht. Unbekannt war Harald ein gut gekleidetes Paar, von dem er vermutete, dass es in dem erstklassigen Restaurant des Inselhotels essen gehen wollte. Die Nimbus erregte allgemeine Aufmerksamkeit. Einmal mehr musste Harald die Dampfmaschine erklären.
Die Fähre wollte schon ablegen, als in allerletzter Minute ein in Deutschland gebauter Ford über die Rampe fuhr. Harald kannte den Wagen: Er gehörte Axel Flemming, dem Besitzer des Inselhotels. Die Flemmings und Haralds Familie waren einander nicht grün. Axel Flemming hielt sich für den natürlichen geistigen Führer der Inselgemeinde, eine Rolle, die Pastor Olufsen als seine ureigene Domäne betrachtete. Der Konflikt zwischen den rivalisierenden Patriarchen wirkte sich auch auf die Familienmitglieder aus. Harald fragte sich, wie es Flemming gelungen war, an Benzin für sein Auto zu kommen. Reichen Leuten, dachte er, ist eben nichts unmöglich.
Die See war unruhig, und im Westen zogen dunkle Wolken auf. Ein Gewitter kündigte sich an, doch die Fischer meinten, man würde es gerade noch rechtzeitig nach Hause schaffen. Harald nahm sich eine Zeitung vor, die er in der Stadt ergattert hatte. Virkligheden – »Die Wirklichkeit« – war eine kostenlose, illegale Publikation, die sich gegen die Besatzungstruppen richtete. Die dänische Polizei hatte bisher nichts dagegen unternommen, und die Deutschen hielten das Blättchen offenbar nicht einmal ihrer Verachtung wert. In Kopenhagen wurde Virkligheden ganz offen in Zügen und Straßenbahnen gelesen. Hier draußen waren die Menschen diskreter. Harald faltete die Zeitung so, dass ihr Name nicht zu sehen war, und las einen Artikel über die Butterverknappung. Dänemark produzierte tonnenweise Butter jedes Jahr, doch seit neuestem wurde fast die gesamte Menge nach Deutschland verfrachtet, während die Dänen selber Mühe hatten, überhaupt noch Butter zu bekommen. In der zensierten legalen Presse waren solche Artikel nie zu finden.
Die vertrauten flachen Konturen der Insel mit ihren zwei Dörfern an beiden Enden rückten allmählich näher. Sande war knapp zwanzig Kilometer lang und etwas mehr als anderthalb Kilometer breit. Die Fischerhäuschen sowie die Kirche mit dem Pfarrhaus bildeten das alte Dorf im Süden der Insel. Auch eine seit langem geschlossene Seefahrtschule, die von den Deutschen in einen Militärstützpunkt umgewandelt worden war, befand sich dort. Das Hotel und die größeren Häuser und Villen standen dagegen am Nordende. Zwischen den beiden Dörfern erstreckten sich überwiegend Dünen und Buschland mit vereinzelten Bäumen. Höhere Erhebungen fehlten, aber auf der dem offenen Meer zugewandten Westseite lag ein herrlicher, sechzehn Kilometer langer Sandstrand.
Als die Fähre an der Nordspitze andockte, spürte Harald die ersten Regentropfen auf seiner Haut. Die Pferdedroschke des Hotels stand bereit, um das gut gekleidete Paar abzuholen. Die Fischer wurden von einer der Fischersfrauen erwartet, die ebenfalls mit dem Pferdefuhrwerk gekommen war. Harald entschloss sich, die Insel zu durchqueren und über den Strand nach Hause zu fahren. Der Sand dort war ziemlich fest; man hatte darauf sogar schon Autorennen ausgetragen.
Auf halbem Wege vom Anleger zum Hotel ging ihm der Dampf aus.
Er hatte den Benzintank des Motorrads zum Wasserspeicher umfunktioniert und musste nun einsehen, dass er nicht groß genug war. Was er brauchte, war ein Zwanzigliter-Ölfass, das sich im Beiwagen verstauen ließ – nur: Um nach Hause zu kommen, benötigte er Wasser, und zwar sofort.
Ein einziges Haus war in Sicht – und das war unglücklicherweise jenes von Axel Flemming. Obwohl die Olufsens und die Flemmings Konkurrenten waren, sprach man miteinander: Am Sonntag kam die Familie Flemming vollzählig in die Kirche und nahm dort auf den vorderen Sitzen Platz. Axel war sogar als Diakon tätig. Dennoch war Harald die Vorstellung, die Gegenspieler jetzt um Hilfe bitten zu müssen, alles andere als angenehm. Er überlegte, ob er bis zum nächsten Haus gehen sollte, das ungefähr vierhundert Meter weiter lag, hielt das aber angesichts des nahenden Unwetters für töricht. Mit einem Seufzer setzte er sich in Bewegung und trottete die lange Zufahrt zum Anwesen der Flemmings hinauf.
Weil er nicht am Haupteingang klopfen wollte, ging er ums Haus herum zu den Ställen. Dort fand er zu seiner Freude einen Diener, der gerade den Ford in die Garage fuhr. »Hallo, Gunnar«, sagte er zu ihm. »Kann ich bei euch ein bisschen Wasser bekommen?«
»Bedien dich!«, sagte der Mann freundlich. »Im Hof ist ein Wasserhahn.«
Neben dem Wasserhahn stand ein Eimer. Harald füllte ihn, ging zurück zur Straße, wo er sein Motorrad stehen gelassen hatte, und schüttete das Wasser in den Tank. Er hoffte schon, ohne eine Begegnung mit einem Mitglied der Familie davonzukommen, doch als er den Eimer zurückbrachte, stieß er im Hof auf Peter Flemming.
Der dreißigjährige, hoch aufgeschossene und etwas überheblich wirkende Mann im hell beigefarbenen Tweedanzug war Axels Sohn. Bevor sich die Familien entzweit hatten, war er der beste Freund von Haralds Bruder Arne gewesen. Als Teenager hatten sich die beiden einen Ruf als Frauenhelden erworben: Arne verführte die Mädchen mit charmanter Unverfrorenheit, Peter spielte den abgeklärten Intellektuellen. Harald nahm an, dass Peter, der inzwischen in Kopenhagen lebte, nach Hause gekommen war, um die Feiertage auf der Insel zu verbringen.
Peter las gerade Virkligheden und blickte bei Haralds unerwartetem Erscheinen auf. »Was treibst du denn hier?«, wollte er wissen.
»Hallo, Peter. Ich hab mir nur ein bisschen Wasser geholt.«
»Dann stammt dieser Wisch hier offenbar von dir?«
Harald tastete nach seiner Hosentasche und stellte zu seiner Bestürzung fest, dass ihm die Zeitung anscheinend herausgefallen war, als er sich nach dem Eimer gebückt hatte.
Peter entging die Bewegung nicht. »Das sagt alles«, meinte er. »Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, dass du allein schon für den Besitz dieses Schmierblatts hinter Gitter kommen kannst?«
Das war alles andere als eine leere Drohung: Peter Flemming war von Beruf Inspektor bei der Kriminalpolizei. »In der Stadt liest die doch jeder«, erwiderte Harald. Er bemühte sich zwar um einen forschen Ton, hatte aber doch ein wenig Angst. Die Gemeinheit, ihn festzunehmen, war Peter durchaus zuzutrauen.
»Wir sind hier nicht in Kopenhagen«, verkündete Peter feierlich.
Harald wusste, dass Peter jede Chance, einen Olufsen in Misskredit zu bringen, dankbar nutzen würde, und er glaubte auch zu wissen, warum er dennoch zögerte. »Du machst dich bloß lächerlich, wenn du hier auf Sande einen Schüler verhaftest, nur weil er etwas getan hat, was jeder zweite Mensch in diesem Land ganz ungeniert in der Öffentlichkeit tut. Außerdem weiß doch jeder, dass du was gegen meinen Vater hast.«
Peter war sichtlich hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch, Harald zu demütigen, und der Angst davor, ausgelacht zu werden. »Niemand hat das Recht, gegen das Gesetz zu verstoßen«, sagte er.
»Gegen wessen Gesetz? Gegen unseres oder gegen das der Deutschen?«
»Gesetz ist Gesetz.«
Harald fühlte sich schon wieder etwas sicherer. Wenn Peter wirklich vorhatte, ihn festzunehmen, würde er sich nicht auf eine solche Diskussion einlassen. »Das sagst du doch bloß, weil dein Vater alles tut, damit sich die Nazis in seinem Hotel wohlfühlen, und er ein Heidengeld damit verdient.«
Das saß. Das Hotel war sehr beliebt bei den deutschen Offizieren, die mehr Geld in der Tasche hatten als die Dänen. Peter errötete vor Zorn. »Während dein Vater Hetzpredigten hält!«, gab er zurück. Es stimmte: Pastor Olufsen hatte die Nazis in seinen Predigten angegriffen. Sein Thema: Jesus war ein Jude. »Weiß dein Vater eigentlich, was auf ihn zukommt, wenn er die Leute so aufhetzt?«, fuhr Peter fort.
»Aber sicher. Der Gründer der christlichen Religion war ja selber eine Art Rebell.«
»Komm du mir nicht mit der Religion! Ich muss hier auf Erden für Recht und Ordnung sorgen.«
»Du kannst mich mal mit Recht und Ordnung! Wir sind ein besetztes Land!« Haralds Enttäuschung über den verdorbenen Abend brach sich Bahn. »Welches Recht haben diese Nazis eigentlich, uns Vorschriften zu machen? Wir sollten diese ganze verfluchte Bande aus dem Land schmeißen!«
»Du darfst die Deutschen nicht hassen, sie sind unsere Freunde«, erwiderte Peter mit einer frömmelnden Selbstgerechtigkeit, die Harald wahnsinnig machte.
»Ich hasse die Deutschen nicht, du Vollidiot! Ich hab schließlich deutsche Verwandte.« Die Schwester des Pastors war seit den Zwanzigerjahren mit einem erfolgreichen Hamburger Zahnarzt verheiratet. Ihre Tochter Monika war das erste Mädchen, das Harald geküsst hatte. »Sie haben unter den Nazis mehr zu leiden als wir«, fügte er hinzu. Onkel Joachim war getaufter Christ und saß im Kirchengemeinderat, durfte jedoch aufgrund einer Nazi-Vorschrift wegen seiner jüdischen Herkunft nur Juden behandeln. Damit war seine berufliche Existenz ruiniert. Vor einem Jahr hatte man ihn unter dem Verdacht, er horte Gold, verhaftet und in ein so genanntes »Konzentrationslager« in der kleinen bayerischen Stadt Dachau eingewiesen.
»Die Leute sind selber schuld, wenn sie in Schwierigkeiten geraten«, sagte Peter in altklugem Ton. »Euer Vater hätte seiner Schwester niemals erlauben dürfen, einen Juden zu heiraten.« Er warf die Zeitung auf den Boden und entfernte sich.
Harald war wie vor den Kopf geschlagen, sodass ihm im ersten Moment keine Antwort einfiel. Er bückte sich und hob die Zeitung auf. Dann rief er Peter nach: »Du klingst ja schon selbst wie ein Nazi!«
Peter ignorierte ihn. Durch den Kücheneingang verschwand er im Haus und warf die Tür hinter sich zu.
Harald spürte, dass er den Kürzeren gezogen hatte. Das ärgerte ihn maßlos, denn er wusste genau, dass Peters Bemerkungen unerhört waren.
Als er zur Straße zurückging, brach ein Platzregen los. Das Feuer im Heizkessel seines Motorrads war erloschen. Um es wieder anzuzünden, knüllte er Virkligheden zusammen. Eine Schachtel Zündhölzer hatte er dabei, nicht jedoch den Blasebalg, mit dem er das Feuer vor seiner Abfahrt angefacht hatte. Zwanzig Minuten lang bemühte er sich im strömenden Regen vergeblich, sein Fahrzeug in Gang zu setzen, dann gab er auf. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu Fuß nach Hause zu gehen.
Er klappte den Jackenkragen hoch und schob das Motorrad den knappen Kilometer bis zum Hotel, wo er es auf dem kleinen Parkplatz abstellte. Dann ging er zum Strand hinunter. Um diese Jahreszeit, drei Wochen vor Mittsommer, sind die Tage in Skandinavien lang; die Nacht beginnt erst gegen elf Uhr abends. Heute jedoch verdunkelten tief hängende Wolken den Himmel, und der Gewitterregen schränkte die Sicht zusätzlich ein. Harald orientierte sich am Dünenrand, achtete auf die Beschaffenheit des Sandes unter seinen Füßen und das Rauschen der Brandung zu seiner Rechten. Schon nach kurzer Zeit war seine Kleidung so durchweicht, dass er ebenso gut auch nach Hause hätte schwimmen können.
Er war ein kräftiger junger Mann und fit wie ein Windhund. Doch als er nach zwei Stunden den Zaun des neuen deutschen Stützpunkts erreichte, war er müde, schlotterte vor Kälte und fühlte sich elend. Bis zu seinem Elternhaus waren es nur noch ein paar Hundert Meter Luftlinie – doch dazwischen lag das Militärgelände, und das bedeutete einen Umweg von viereinhalb Kilometern.
Bei Ebbe hätte er keine Hemmungen gehabt, weiter draußen am Strand seinen Weg fortzusetzen. Der Abschnitt vor dem Stützpunkt war zwar offiziell militärisches Sperrgebiet, doch hätten die Wachmannschaften bei diesem Wetter niemanden erkennen können. Bei der herrschenden Flut sah es jedoch anders aus: Der Zaun reichte bis ins Wasser. Harald überlegte, ob er das letzte Stück schwimmend hinter sich bringen sollte, verwarf den Gedanken aber ebenso schnell, wie er gekommen war. Wie alle Bewohner dieser Fischergemeinde hatte er einen gesunden Respekt vor der See. Es war einfach zu gefährlich, nachts und bei solchem Wetter im Meer zu schwimmen, zumal er ohnehin schon erschöpft war.
Aber es gab eine andere Möglichkeit: Er konnte über den Zaun klettern.
Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Zwischen dahinfliegenden Wolken zeigte sich ab und zu ein Viertel voller Mond und tauchte die wassergesättigte Landschaft in ein ungewisses Licht. Der knapp zwei Meter hohe Zaun bestand aus einem feinmaschigen Drahtgeflecht, über das zwei Reihen Stacheldraht gespannt waren – ein ernst zu nehmendes, aber für einen entschlossenen jungen Mann in guter körperlicher Verfassung nicht unüberwindliches Hindernis. Fünfzig Meter weiter landeinwärts verschwand der Zaun in einem kleinen Gebüsch – der ideale Ort, ungesehen hinüberzuklettern.
Harald wusste, was ihn hinter dem Zaun erwartete. Er hatte im vergangen Sommer auf der Baustelle gearbeitet. Dass es sich um eine militärische Einrichtung handelte, hatte er damals nicht geahnt. Die Baufirma, ein Unternehmen aus Kopenhagen, hatte überall verbreitet, dass auf dem Gelände ein neuer Posten der Küstenwache errichtet werde. Hätte man die Wahrheit gesagt, wäre es schwierig geworden, genügend Arbeitskräfte zu bekommen, denn viele Kandidaten, darunter auch Harald, hätten niemals auch nur einen Finger für die Nazis gerührt. Als die Gebäude standen und der Zaun errichtet war, hatte man alle Dänen fortgeschickt und die technischen Einrichtungen ausschließlich von Deutschen installieren lassen. Den Grundplan des Geländes hatte Harald allerdings noch im Gedächtnis. Die ehemalige Seefahrtschule war renoviert worden und wurde nun beiderseits von einem Neubau flankiert. Die Gebäude lagen alle ziemlich weit landeinwärts, sodass man nicht daran vorbeikam, wenn man das Gelände in Strandnähe überquerte. Außerdem waren die Dünen zum Meer hin mit niedrigem Buschwerk bedeckt, das eine gute Tarnung bot. Das Einzige, worauf Harald achten musste, waren die Patrouillen der Wachmannschaften.
Er erreichte das kleine Gebüsch, kletterte auf den Zaun, überstieg vorsichtig die beiden Stacheldrahtreihen, sprang auf der anderen Seite hinunter und landete weich im nassen Dünensand. Er sah sich um und spähte in die Düsternis. Nur die schemenhaften Umrisse von Bäumen waren zu erkennen. Die Gebäude waren von dieser Stelle aus nicht zu sehen, doch Harald hörte leise Musik und ab und zu aufbrandendes Gelächter aus ihrer Richtung. Es war Samstagabend: Vermutlich saßen die Soldaten beim Bier, während ihre Offiziere in Axel Flemmings Hotel zu Abend speisten.
Harald machte sich auf den Weg. Im ständig wechselnden Licht des Mondes bewegte er sich so schnell, wie es ihm sein Instinkt erlaubte. Wo immer es möglich war, hielt er sich im Schatten der Sträucher. Die Brandung zu seiner Rechten und die leise Musik zu seiner Linken halfen ihm bei der Orientierung. Plötzlich tauchte neben ihm eine turmartige Konstruktion auf, die er im Halbdunkel als Suchscheinwerferbatterie identifizierte. Sie konnte im Alarmfall das ganze Gelände taghell erleuchten; normalerweise aber galten auch für den Stützpunkt die Verdunkelungsvorschriften.
Unvermittelt kam ein Geräusch von links, und Harald erschrak. Mit pochendem Herzen kauerte er sich nieder und spähte in Richtung der Gebäude. Dort stand eine Tür offen, und Licht flutete über das Vorfeld. Ein Soldat kam heraus und rannte über den Hof. Eine zweite Tür öffnete sich, und der Mann verschwand in einem anderen Gebäude.
Haralds Herzschlag beruhigte sich.
Er durchquerte eine kleine Kieferngruppe, an die sich eine Mulde anschloss. Er rutschte die Böschung hinab und sah, als er unten angekommen war, die Umrisse eines weiteren Bauwerks vor sich aufragen. Genaueres ließ sich im trüben Licht nicht ausmachen; auch konnte Harald sich nicht erinnern, dass während seiner Zeit auf der Baustelle hier unten irgendetwas errichtet worden war. Beim Näherkommen erkannte er eine kreisförmige Betonmauer, die ungefähr so hoch war wie sein Kopf. Über der Mauer bewegte sich etwas, und nun nahm er auch ein Summen wahr, das sich anhörte, als stamme es von einem Elektromotor.
Das müssen die Deutschen nach der Entlassung der dänischen Arbeiter gebaut haben, dachte er und fragte sich, warum ihm diese Konstruktion von außerhalb des Zauns nie aufgefallen war. Die Antwort war nicht schwer: Die Bäume und der tief gelegene Standort in der Mulde schirmten sie vor neugierigen Blicken ab. Möglicherweise war sie nur vom Strand aus zu sehen – und den in Höhe des Stützpunkts zu betreten war ja verboten.
Er blickte auf, um sich die Anlage näher anzusehen. Dabei fiel ihm der Regen direkt ins Gesicht und brannte in den Augen. Aber er war jetzt zu neugierig geworden, um einfach weiterzugehen. Plötzlich leuchtete der Mond hell auf. Harald blinzelte und riskierte einen weiteren Blick. Oberhalb der kreisrunden Mauer war ein Metallgitter oder Drahtgeflecht zu erkennen, das wie eine überdimensionale Matratze mit einer Kantenlänge von etwa vier Metern aussah. Das Gebilde drehte sich wie ein Kinderkarussell und brauchte für eine Umdrehung jeweils ein paar Sekunden.
Der Anblick schlug Harald in seinen Bann. Nie zuvor hatte er ein solches Gerät gesehen. Der Ingenieur in ihm erwachte und stellte Fragen: Wozu dient das? Warum dreht es sich? Das Geräusch sagte ihm wenig – das war lediglich der Motor, der die Drehung bewirkte. Dass es kein Geschütz oder dergleichen war, jedenfalls kein herkömmliches, dessen war er sich ziemlich sicher, denn dazu fehlte das Rohr. Am ehesten hatte die Anlage etwas mit Nachrichtenübermittlung zu tun.
In der Nähe hustete jemand.
Harald reagierte instinktiv. Er sprang, hielt sich am oberen Rand der Betonmauer fest und zog sich hinauf. Sekundenlang lag er auf der schmalen Mauerkrone und kam sich vor wie auf dem Präsentierteller. Dann glitt er auf der anderen Seite hinunter. Im ersten Moment fürchtete er, mit den Füßen in eine Maschine zu geraten, obgleich er eigentlich damit rechnete, dass das Gerät zu Wartungszwecken von allen Seiten zugänglich war. Dann berührten seine Füße Betonboden. Das Summen war lauter geworden, und Harald stieg der Geruch von Maschinenöl in die Nase. Auf seiner Zunge lag der eigenartige Geschmack statischer Elektrizität.
Wer hatte da gehustet? Wahrscheinlich ein patrouillierender Wachsoldat. Wind und Regen, sagte sich Harald, müssen seine Schritte verschluckt haben – genau die gleichen Geräusche also, die es mir vorhin ermöglicht haben, unentdeckt über den Zaun zu klettern. Ob der Soldat mich gesehen hat?
Schwer atmend presste sich Harald an die gekrümmte Innenwand und wartete auf den grellen Strahl einer Taschenlampe, der ihn verraten würde. Was wird mit mir passieren, wenn sie mich erwischen, fragte er sich. Hier draußen auf dem Land waren die Deutschen eigentlich ganz umgänglich. Anstatt wie Eroberer durch die Gegend zu stolzieren, erweckten die meisten von ihnen den Eindruck, als sei ihnen die Rolle der Herrschenden eher peinlich. Sie werden mich vermutlich der dänischen Polizei übergeben, dachte Harald, und was wird die dann tun? Wenn Peter Flemming hier auf der Insel das Sagen hätte, würde er mich in die Mangel nehmen, das steht fest … Aber sein Revier ist glücklicherweise in Kopenhagen.
Was Harald noch mehr fürchtete als eine Bestrafung von Amts wegen, war der Zorn seines Vaters. Er konnte sich schon das sarkastische Verhör vorstellen: »Du bist also über den Zaun geklettert? Einfach so rein ins militärische Sperrgebiet? Und das bei Nacht? Als Abkürzung, soso! Weil es geregnet hat, ach ja?«
Aber der Lichtstrahl blieb aus. Harald wartete und starrte das unförmige Gerät unmittelbar vor sich an. Am unteren Ende des Gitters schienen schwere Kabel angebracht zu sein; sie verschwanden in der Dunkelheit auf der anderen Seite der Mulde. Es muss sich um eine Art Funkstation handeln, dachte er.
Langsam strichen die Minuten vorbei. Als Harald sicher war, dass der Posten sich entfernt hatte, kletterte er wieder auf die Mauer und versuchte, sich im Regen zu orientieren. Auf beiden Seiten der Anlage konnte er schemenhaft zwei dunkle Gebilde erkennen, die sich jedoch nicht bewegten; vermutlich ein Teil der Apparatur. Ein Posten war nirgendwo zu erblicken. Harald ließ sich an der Außenseite der Mauer hinunter und setzte seinen Weg durch die Dünen fort.
Als der Mond hinter einer dicken Wolke verschwand, stieß Harald unvermittelt an eine Holzwand. Im ersten Moment war er so erschrocken, dass er leise fluchte, doch dann ging ihm auf, dass er gegen ein altes Bootshaus aus der Zeit der Seefahrtschule gelaufen war. Es war inzwischen verfallen und von den Deutschen, die offenbar keine Verwendung dafür hatten, nicht repariert worden. Sekundenlang blieb er stehen und lauschte angestrengt, konnte aber nur die Brandung und seinen eigenen Herzschlag hören. Er ging weiter.
Ohne neuerlichen Zwischenfall erreichte er den Zaun auf der anderen Seite des Stützpunktgeländes und kletterte hinüber. Jetzt war es nicht mehr weit bis zu seinem Elternhaus.
Zuerst aber kam er zur Kirche. Licht schimmerte hinter der langen Reihe kleiner, quadratischer Fenster auf der dem Strand zugewandten Seite. Dass sich an einem Samstagabend um diese Stunde noch jemand in der Kirche aufhalten sollte, überraschte ihn. Er warf einen Blick hinein.
Die Kirche war ein lang gestrecktes Gebäude mit einem niedrigen Dach. Zu besonderen Anlässen fand die gesamte Inselbevölkerung, an die vierhundert Menschen, hier Platz, wenn auch nur mit Mühe. Den Sitzreihen gegenüber stand ein hölzernes Chorpult, einen Altar gab es nicht. Die Wände waren, von wenigen gerahmten Texten abgesehen, schmucklos.
In Religionsfragen waren die Dänen keine Dogmatiker und gehörten zum überwiegenden Teil der evangelisch-lutherischen Kirche an. Das Fischervolk von Sande allerdings war vor hundert Jahren zu einem rigoroseren Bekenntnis bekehrt worden. Diesen Glauben hatte Haralds Vater in den vergangenen dreißig Jahren am Leben erhalten, indem er mit dem kompromisslosen Puritanismus seiner eigenen Lebensführung ein Beispiel setzte. Die Entschlossenheit seiner Gemeinde festigte er mit allwöchentlichen Predigten, in denen er Sündern mit Pech und Schwefel drohte, und Abtrünnige konfrontierte er mit der unwiderstehlichen Heiligkeit, die aus dem Blick seiner blauen Augen strahlte. Seine flammende Überzeugungskraft verfehlte indessen ihre Wirkung bei seinem eigenen Sohn: Harald war kein gläubiges Schaf in Vaters Herde. Zwar ging er, wenn er zu Hause war, regelmäßig zum Gottesdienst, weil er den Pastor nicht verletzen wollte, in seinem Herzen jedoch war er ein Dissident. Was er grundsätzlich von der Religion hielt, konnte er noch nicht sagen, doch stand für ihn fest, dass er an einen Gott der engherzigen Vorschriften und rachsüchtigen Strafen nicht glauben konnte.
Als er durch das Fenster spähte, hörte er Musik. Sein Bruder Arne spielte Klavier – eine Jazzmelodie mit einem gefühlvollen Unterton. Harald lächelte erfreut: Arne war über die Feiertage nach Hause gekommen. Er war ein amüsanter, intelligenter Kopf; mit ihm würde sicher Leben in das lange Wochenende im Pfarrhaus kommen.
Harald ging zur Tür und trat ein. Ohne sich umzudrehen, verwandelte Arne sein Spiel übergangslos in einen frommen Choral. Harald grinste. Arne hatte gehört, wie die Tür aufging, und geglaubt, der Vater käme herein. Der Pastor missbilligte Jazz und hätte mit Sicherheit nicht gestattet, dass man diese Musik in seiner Kirche spielte. »Ich bin’s nur«, sagte Harald.
Arne drehte sich um. Er trug seine braune Uniform. Er war zehn Jahre älter als Harald, arbeitete als Fluglehrer bei der Armee und war an der Flugschule in der Nähe von Kopenhagen stationiert. Da die Deutschen sämtliche militärischen Aktivitäten der Dänen unterbunden hatten, standen die Maschinen die meiste Zeit über in den Hangars. Ausgebildet werden durften nur noch Segelflieger.
»Als du reinkamst, hielt ich dich im ersten Moment für unseren alten Herrn.« Arne musterte seinen Bruder wohlgefällig von oben bis unten. »Du wirst ihm immer ähnlicher.«
»Soll das heißen, dass ich bald eine Glatze bekomme?«
»Ja, höchstwahrscheinlich.«
»Und du?«
»Ich? Nein, das glaube ich nicht. Ich komme auf Mutter raus.«
Das stimmte. Arne hatte die dichte, dunkle Mähne und die haselnussbraunen Augen ihrer Mutter, Harald war dagegen blond wie der Vater und hatte auch den durchdringenden, blauäugigen Blick geerbt, mit dem der Pastor seine Schäfchen das Fürchten lehrte. Beide, Harald und der Vater, waren überdies beeindruckend groß, sodass Arne mit seinen immerhin gut eins achtzig neben ihnen fast klein wirkte.
»Ich hab da was, das ich dir vorspielen muss«, sagte Harald. Arne stand auf und machte den Klavierhocker frei. »Einer aus meiner Klasse hat mir die Platte geliehen – da konnte ich es dann nachspielen. Kennst du Mads Kirke?«
»Das ist ein Cousin von meinem Klassenkameraden Poul.«
»Richtig. Er hat da diesen amerikanischen Pianisten namens Clarence Pine Top Smith entdeckt …« Harald zögerte. »Was treibt denn unser alter Herr gerade?«
»Er schreibt seine Predigt für morgen.«
»Gut.« Im ungefähr fünfzig Meter entfernten Pfarrhaus hörte man nicht, wenn in der Kirche Klavier gespielt wurde, und damit, dass der Pastor seine Vorbereitung unterbrach und ohne besonderen Anlass zur Kirche hinüberschlenderte, war nicht zu rechnen, schon gar nicht bei diesem Wetter. Harald setzte sich ans Klavier und begann Pine Top’s Boogie-Woogie zu spielen. Sogleich erfüllten die sinnlichen Harmonien des amerikanischen Südens den Raum. Harald war ein begeisterter Klavierspieler, wenngleich seine Mutter immer wieder sagte, ihm fehle die leichte Hand. Weil er einfach nicht still sitzen konnte, stand er auf, stieß den Hocker mit einem Fußtritt aus dem Weg, beugte sein langes Gestell über die Tastatur und spielte im Stehen. Zwar machte er auf diese Weise mehr Fehler, doch das fiel kaum ins Gewicht, solange er den mitreißenden Rhythmus beibehielt. Dann schlug er dröhnend den Schlussakkord an und sagte auf Englisch: »That’s what I’m talkin’ about!« – genauso wie Pine Top auf der Platte.
Arne lachte. »Nicht schlecht!«
»Du solltest erst mal das Original hören!«
»Komm mal mit raus ins Portal, ich will eine rauchen.«
Harald richtete sich auf. »Das wird dem alten Herrn aber gar nicht gefallen.«
»Ich bin achtundzwanzig«, erwiderte Arne. »In dem Alter brauche ich mir von meinem Vater nichts mehr sagen zu lassen.«
»Einverstanden – aber weiß er das?«
»Hast du etwa Angst vor ihm?«
»Natürlich. Genau wie Mutter und so ungefähr neunundneunzig Prozent aller Menschen auf dieser Insel hier, dich eingeschlossen.«
Arne grinste. »Na schön, ich geb’s ja zu, ein bisschen schon!«
Sie gingen hinaus und blieben, vor dem Regen geschützt, in dem kleinen Portal der Kirche stehen. Auf der anderen Seite des sandigen Vorplatzes hob sich in der Dunkelheit die Silhouette des Pfarrhauses ab. Durch das rautenförmige Fenster in der Küchentür schimmerte Licht. Arne kramte seine Zigaretten hervor.
»Hast du was von Hermia gehört?«, fragte Harald seinen Bruder. Arne war mit einer jungen Engländerin verlobt, die er jedoch seit der Besetzung Dänemarks durch die Deutschen vor über einem Jahr nicht mehr gesehen hatte.
Arne schüttelte den Kopf. »Ich hab versucht, ihr zu schreiben, und zwar über die Adresse des britischen Konsulats in Göteborg.« Briefe ins neutrale Schweden waren den Dänen erlaubt. »Ich habe einfach ihren Namen und die Anschrift auf den Umschlag geschrieben, nicht das Konsulat, und kam mir dabei furchtbar clever vor. Aber so leicht lassen sich die Zensoren nicht hinters Licht führen. Mein Dienstvorsitzender hat mir den Brief zurückgegeben und gesagt, wenn ich so was noch einmal mache, lande ich vorm Kriegsgericht.«
Harald mochte Hermia. Unter den Exfreundinnen seines Bruders waren ein paar – na ja – ziemlich dämliche Blondinen gewesen. Hermia war dagegen blitzgescheit und hatte obendrein auch noch Courage. Bei der ersten Begegnung hatte sie Harald mit ihrer rassigen, dunklen Schönheit und ihrer unverblümten Redeweise regelrecht eingeschüchtert. Doch dann hatte sie ihn rasch für sich gewonnen, indem sie ihn wie einen Mann behandelte und nicht wie einen kleinen Bruder. Ganz abgesehen davon wirkte sie mit ihrer üppigen Figur im Badeanzug unglaublich sexy. »Willst du sie immer noch heiraten?«
»Mein Gott, ja – wenn sie noch lebt! Wer weiß denn, ob sie die Bombenangriffe auf London überstanden hat!«
»Dass man nichts weiß … Das muss schlimm sein, oder?«
Arne nickte. Dann sagte er: »Und wie sieht’s bei dir aus? Irgendwas am Laufen?«
Harald zuckte mit den Schultern. »Die Mädchen in meinem Alter interessieren sich nicht für Schuljungen«, sagte er in leichtem Ton, hinter dem sich jedoch ein gewisser Groll verbarg. Er hatte ein paar schmerzhafte Zurückweisungen ertragen müssen.
»Ich nehme an, sie wollen mit Jungs ausgehen, denen das Geld ’n bisschen lockerer in der Tasche sitzt.«
»Stimmt. Und was die Jüngeren betrifft … Ostern hab ich da ein Mädchen kennen gelernt, Birgit Claussen.«
»Claussen? Etwa aus dieser Schiffbauerfamilie in Morlunde?«
»Ja, genau. Sie sieht gut aus, ist aber erst sechzehn, und es war ziemlich öde, mit ihr zu reden.«
»Die kannst du vergessen. Ihre Familie ist katholisch, unser alter Herr würde da nie zustimmen.«
»Ist mir klar«, sagte Harald und runzelte die Stirn. »Aber irgendwie ist das komisch. Zu Ostern hat er über Toleranz gepredigt.«
»Der ist ungefähr so tolerant wie Dracula.« Arne warf die Kippe seiner Zigarette fort. »Komm, gehen wir rüber und reden mit dem alten Tyrannen.«
»Warte … Bevor wir rübergehen …«
»Was gibt’s noch?«
»Wie sieht es in der Truppe aus?«
»Finster. Wir können unser Land nicht verteidigen, und fliegen darf ich auch kaum noch.«
»Und wie lange wird das noch so weitergehen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht bis in alle Ewigkeit. Die Nazis haben doch überall gesiegt. Sie haben nur noch einen einzigen Gegner, die Engländer, und die pfeifen auch schon auf dem letzten Loch.«
Harald senkte die Stimme, obwohl außer seinem Bruder weit und breit niemand war, der ihn hätte hören können. »Irgendwo in Kopenhagen formiert sich doch bestimmt eine Widerstandsbewegung, oder?«
Arne hob die Schultern. »Wenn du Recht hättest und wenn ich was davon wüsste, dürfte ich ’s dir nicht sagen – oder?«
Ehe Harald antworten konnte, spurtete Arne los und rannte durch den strömenden Regen auf das Licht zu, das durch das Küchenfenster schien.
Hermia Mount betrachtete mit Ekel das Essen, das man ihr vorgesetzt hatte: zwei angebrannte Würstchen, einen schmierigen Klacks Kartoffelbrei und ein Häufchen verkochten Kohls. Sehnsüchtig dachte sie an ein Restaurant am Hafen von Kopenhagen, wo man drei Sorten Hering mit Salat, Mixed Pickles, warmem Brot und Lagerbier bekommen konnte.
Sie war in Dänemark aufgewachsen. Ihr Vater war ein britischer Diplomat gewesen, der den größten Teil seiner Karriere in Skandinavien verbracht hatte. Hermia hatte an der britischen Botschaft in Kopenhagen gearbeitet, erst als Sekretärin, später als Assistentin eines Marine-Attachés, der in Wirklichkeit für den Geheimdienst MI6 arbeitete. Als ihre Mutter nach dem Tod des Vaters nach London zurückkehrte, war Hermia in Dänemark geblieben – zum einen wegen ihres Berufs, vor allem aber, weil sie inzwischen mit Arne Olufsen, einem dänischen Piloten, verlobt war.
Dann, am 9. April 1940, waren Hitlers Truppen in Dänemark einmarschiert. Nach vier Tagen voller Angst und Unsicherheit bestiegen Hermia und eine Gruppe britischer Regierungsangestellter einen für Diplomaten reservierten Sonderzug, der sie via Norddeutschland an die holländische Grenze brachte. Durch die neutralen Niederlande gelangten sie zurück nach London.
Inzwischen war Hermia dreißig Jahre alt und leitete die für Dänemark zuständige Abteilung beim MI6. Zusammen mit den meisten anderen Mitarbeitern des Dienstes war sie vom Londoner Hauptquartier am Broadway 54 unweit des Buckingham-Palastes evakuiert und nach Bletchley Park versetzt worden. Das große Landhaus lag am Rande eines Dorfes, ungefähr achtzig Kilometer nördlich der Hauptstadt.
Eine hastig zusammengebaute Nissenhütte auf dem Gelände diente als Kantine. Hermia war froh, dass ihr die Bombenangriffe auf London erspart blieben, hätte sich aber gewünscht, dass durch irgendeine wundersame Fügung auch eines der hübschen kleinen italienischen oder französischen Restaurants evakuiert worden wäre, damit man wenigstens etwas Anständiges zu essen bekäme. Weil dieser Wunsch aber nicht in Erfüllung gegangen war, schob sie sich eine Gabel voll Kartoffelbrei in den Mund und zwang sich dazu, ihn hinunterzuschlucken.
Um sich von dem schauderhaften Geschmack abzulenken, legte sie den Daily Express neben ihren Teller und begann zu lesen. Die britischen Truppen hatten gerade die griechische Insel Kreta verloren. Der Express versuchte die Niederlage zu beschönigen, indem er darauf hinwies, dass Hitler 18 000 Tote und Verwundete zu beklagen hätte, doch konnte dies nicht über die deprimierende Tatsache hinwegtäuschen, dass sich die lange Reihe erfolgreicher Militäraktionen der Nazis fortgesetzt hatte.
Als Hermia von der Zeitung aufblickte, sah sie einen kleinen Mann, der ungefähr in ihrem eigenen Alter war, auf ihren Tisch zukommen. In der Hand hielt er eine Tasse Tee. Obwohl er unverkennbar hinkte, ging er ziemlich schnell. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte er freundlich und nahm, ohne ihre Antwort abzuwarten, auf dem Stuhl gegenüber Platz. »Ich bin Digby Hoare«, stellte er sich vor. »Und wer Sie sind, ist mir bekannt.«
Hermia zog eine Augenbraue hoch. »Bitte sehr, machen Sie sich ’s bequem«, sagte sie.
»Danke«, erwiderte er. Die leichte Ironie in ihrer Stimme schien ihn nicht zu berühren.
Sie hatte den Mann schon ein- oder zweimal auf dem Gelände gesehen. Trotz seiner Gehbehinderung wirkte er energisch. Mit seinen ungebändigten dunklen Haaren war er alles andere als ein Matinee-Idol, doch hatte er nette blaue Augen, und seine Züge waren angenehm uneben – so ein bisschen wie bei Humphrey Bogart.
»Bei welcher Abteilung sind Sie?«, wollte Hermia wissen.
»Eigentlich arbeite ich in London.«
Das ist keine Antwort auf meine Frage, dachte sie und schob ihren Teller beiseite.
»Das Essen schmeckt Ihnen nicht?«
»Ihnen etwa?«
»Ich sage Ihnen eines: Ich habe Piloten befragt, die über Frankreich abgeschossen wurden und sich bis nach Hause durchgeschlagen haben. Wir bilden uns ein, dass bei uns Notzeiten herrschen, aber in Wirklichkeit haben wir gar keine Ahnung, was das heißt. Die Franzmänner sind am Verhungern. Nach dem, was ich von den Piloten zu hören bekommen habe, schmeckt mir hier alles.«
»Notzeiten sind keine Ausrede für grauenhafte Kochkünste«, gab Hermia schnippisch zurück.
Hoare grinste. »Man hat mir schon gesagt, dass Sie ein bisschen biestig sind.«
»Und was sonst noch?«
»Dass Sie zweisprachig sind, englisch und dänisch – was vermutlich der Grund dafür ist, dass Sie die Dänemark-Abteilung leiten.«
»Nein. Der Grund dafür ist der Krieg. Vor dem Krieg hat es keine Frau beim MI6 weiter als bis zur Aushilfssekretärin gebracht. Wir konnten nicht analytisch denken, wissen Sie. Wir waren eher zur Hausarbeit und zur Kinderaufzucht geeignet. Erst mit dem Kriegsausbruch veränderten sich die Frauenhirne in höchst bemerkenswerter Weise. Inzwischen sind wir sogar in der Lage, Arbeiten auszuführen, die früher nur von maskulinen Geistern erledigt werden konnten.«
Er nahm ihren Sarkasmus mit Humor. »Ja, das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte er. »Es gibt halt immer wieder Wunder.«
»Warum haben Sie Informationen über mich eingezogen?«
»Aus zwei Gründen: Erstens, weil Sie die schönste Frau sind, die ich je gesehen habe.« Diesmal grinste er nicht.
Es war ihm sogar gelungen, sie zu überraschen. Dass Männer Hermia als schön bezeichneten, kam nur selten vor – hie und da als gut aussehend, manchmal als auffallend, oft als imposant. Ihr Gesicht bildete ein schmales, absolut ebenmäßiges Oval, doch dazu kamen die strenge, dunkle Frisur, Augen mit schweren Lidern und eine Nase, die etwas zu groß war, um hübsch genannt zu werden. Hermias Schlagfertigkeit ließ sie im Stich. »Und zweitens?«, fragte sie.
Hoare wich ihrem Blick aus. An ihrem Tisch saßen noch zwei ältere Frauen, die sich zwar angelegentlich unterhielten, wahrscheinlich aber mit halbem Ohr das Gespräch zwischen ihm und Hermia mithörten. »Sofort«, sagte er. »Würden Sie gerne einen draufmachen?«
Die nächste Überraschung. »Wie bitte?«
»Würden Sie mit mir ausgehen?«
»Auf keinen Fall!«
Sekundenlang wirkte Hoare wie betäubt, dann kehrte sein Grinsen zurück, und er sagte: »Versüßen Sie die bittere Pille nicht, sagen Sie es mir klar und deutlich.«
Sie musste unwillkürlich lächeln.
Er gab noch nicht auf. »Wir könnten ins Kino gehen. Oder ins Shoulder-of-Mutton-Pub in Old Bletchley. Oder in beides …«
Hermia schüttelte den Kopf. »Nein, danke«, sagte sie in einem Ton, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ.
»Au weh.« Aller Mut schien ihn verlassen zu haben.
Meint er, ich weise ihn zurück, weil er eine Behinderung hat, dachte Hermia erschrocken und bemühte sich um eine Richtigstellung. »Ich bin verlobt«, sagte sie und zeigte ihm den Ring an ihrer linken Hand.
»Oh, den habe ich übersehen.«
»Ja, wie alle Männer.«
»Wer ist denn der Glückspilz?«
»Ein Pilot in der dänischen Armee.«
»Drüben, oder?«
»Soweit ich weiß, ja. Ich habe seit einem Jahr nichts mehr von ihm gehört.«
Die beiden älteren Frauen erhoben sich und gingen, worauf sich Digby Hoares Verhalten schlagartig änderte. Seine Miene war mit einem Mal ernst, und seine Stimme klang ebenso leise wie eindringlich. »Sehen Sie sich das hier doch bitte mal an«, sagte er, zog ein dünnes Blatt Papier aus der Tasche und reichte es Hermia.
Zettel dieser Art hatte sie in Bletchley Park schon früher gesehen, und ihre Vermutung bestätigte sich: Es handelte sich um einen entschlüsselten Funkspruch.
»Ich denke, dass ich Sie nicht eigens darauf hinweisen muss, wie furchtbar geheim dieser Vorgang ist«, sagte Hoare.
»Nein.«