Modern Heartbreak - Feministischer lieben - Laura Melina Berling - E-Book

Modern Heartbreak - Feministischer lieben E-Book

Laura Melina Berling

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Beschreibung

»Einmal die feministische Liebe, danke!« Liebe ohne Patriarchat Es beginnt traurig: Laura Melina Berling zeigt uns die Geschichte ihres Heartbreaks. Ausgehend vom eigenen Liebeskummer webt sie eine große Geschichte über die Liebe in modernen Zeiten. Darüber, wie sich patriarchale Muster, Geschlechterstereotype und andere Machtstrukturen immerzu in unser Liebesleben einmischen und darüber entscheiden, wen wir warum begehren. Sie wirft einen Blick auf die Geschichte der Liebe und fragt sich, warum sie uns so viele andere nicht glücklich sind. Warum wir swipen und swipen, aber doch nicht weiterwissen. Was ist Liebe und was nicht? Können wir Liebe intersektionaler, machtkritischer und feministischer gestalten? Wie gehen wir gesellschaftlich mit Verlust und Trennungen um und wie verweben sich unsere privaten Geschichten mit romantischen Klischees?   »Modern Heartbreak« ist persönlich, analytisch, kritisch – und es gibt Hoffnung in Zeiten, in denen die Liebe dringend gebraucht wird.

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Seitenzahl: 271

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Über das Buch

Modern Heartbreak – Feministischer lieben

Liebe ohne Patriarchat

Es beginnt traurig: Laura Melina Berling zeigt uns die Geschichte ihres Heartbreaks. Ausgehend vom eigenen Liebeskummer webt sie eine große Geschichte über die Liebe in modernen Zeiten. Darüber, wie sich patriarchale Muster, Geschlechterstereotype und andere Machtstrukturen immerzu in unser Liebesleben einmischen und darüber entscheiden, wen wir warum begehren. Sie wirft einen Blick auf die Geschichte der Liebe und fragt sich, warum sie und so viele andere nicht glücklich sind. Warum wir swipen und swipen, aber doch nicht weiterwissen. Was ist Liebe und was nicht? Können wir Liebe intersektionaler, machtkritischer und feministischer gestalten? Wie gehen wir gesellschaftlich mit Verlust und Trennungen um und wie verweben sich unsere privaten Geschichten mit romantischen Klischees?

Ein persönliches Buch, das zeigt: Wir müssen die Liebe revolutionieren!

Über die Autorin:

Laura Melina Berling, wird eigentlich Lina genannt und ist im Internet als feministische Bloggerin und auf Instagram als @littlefeministblog unterwegs. Zudem arbeitet sie als Sozialpädagogin in der Mädchen*arbeit und berät zu den Themen Körper und Sexualität, Gender, Familie, Schule und alldem, was im Leben für Trubel sorgt. Privat kuschelt sie gerne mit ihrer Katze Kartoffel und versucht nicht im Chaos zu versinken.

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Laura Melina Berling

MODERN HEARTBREAK

Feministischer lieben

Mit Illustrationen von Irem Kurt

Für alle Heulsusen und die, die es noch werden wollen.

Dieses Buch ist ein sehr persönliches Buch. Es macht mich angreifbar und verletzlich. Doch da es um die romantische Liebe geht, ist Vulnerabilität meiner Meinung alles andere als unangemessen.

Alle Geschichten in diesem Buch sind nicht ganz, aber ungefähr so passiert. Mit allen erwähnten Menschen verbinde ich auch sehr liebe und schöne Erinnerungen, aber eben auch viel Heartbreak und um den geht es hier.

Danke an alle Herzen, die während des Entstehungsprozesses dieses Buches mitgelesen und -gefiebert haben!

Inhalt

1

Denn mein Herz ist frisch gebrochen.

ZUM ANFANG EIN ENDE

ÜBER LIEBE SCHREIBEN

DER BEGINN. WARUM DIE REALITÄT KEIN DISNEYFILM IST.

KINDHEIT, TOD UND TRAUER. WIE SICH DIE IDEE DER LIEBE MIT UNSEREN ERFAHRUNGEN VERWEBT.

LIEBE UND SCHULD. WARUM WIR DENKEN, DIE LIEBE SCHEITERT AN UNS SELBST.

LIEBESKUMMER UND SEINE FOLGEN – EIN UNTERSCHÄTZTES PHÄNOMEN

TRENNUNGEN. WARUM ES FÜR EINEN ABSCHIED EINE MENGE MUT BRAUCHT.

LIEBESKUMMER ÜBERWINDEN – SELBSTFÜRSORGE UND COMMUNITY

2

The Power of Love. Liebe und Macht

MÄNNLICHE DISTANZIERTHEIT UND WEIBLICHE STÄRKE. WARUM WIR UNS MÄNNLICHKEIT NICHT ANEIGNEN, SONDERN BINARITÄTEN AUFBRECHEN SOLLTEN.

MÄNNLICHKEIT, SEX UND LIEBE. WIE MÄNNLICHKEIT GELERNT WIRD.

LIEBE UND DISKRIMINIERUNG. WARUM WIR VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN SOLLTEN.

3

Modern Love. It makes you happy (when it’s not making you sad)

DIE URSPRÜNGE DER LIEBE – DIE ANTIKE (ca. 800 v. Chr. bis 500 n. Chr.)

DIE ENTWICKLUNG DER LIEBE – MITTELALTER (ca. 500–1500) UND ROMANTIK (1795–1848)

DIE LIEBE VON DER MODERNE (ca. 1890–1920) BIS HEUTE

4

A New Kind of Love. Was sieht man eigentlich, wenn man nach vorne schaut?

DATING-APPS UND BEZIEHUNGSMÄRKTE. WORAN ONLINE-DATING SCHEITERT.

DATING UND MENTALE GESUNDHEIT. WARUM WIR AUFENANDER ACHTEN SOLLTEN.

MÄNNLICHKEIT ENTROMANTISIEREN. WARUM ES MEHR ALS DAS MINIMUM BRAUCHT.

FEMINISTISCHER LIEBEN – EIN KLEINES MANIFEST

Anhang

Glossar

Quellenverzeichnis

Quellen Glossar

Literaturempfehlungen

1

Denn mein Herz ist frisch gebrochen.

Once, when I was young and true,

Someone left me sad –

Broke my brittle heart in two

And that is very bad.

~ Dorothy Parker, Enough Rope

ZUM ANFANG EIN ENDE

Es ist Oktober und die Sonne scheint durch die Fensterscheibe eines kleinen Lokals. Es ist ein warmer Tag. Ich schwitze, ziehe meine Jacke aus und setze mich hin. Mein Freund Julian sitzt mir gegenüber. Er bestellt uns eine Pide und Linsensuppe. Ich ziehe mein Make-up nach, denn ich habe heute eine Menge geheult. Die ganzen 36 Minuten im ICE von Frankfurt nach Mannheim sowie 60 Minuten bei meiner Therapeutin. Ein Notfalltermin. Mein Partner, nennen wir ihn hier V., der mir vor vier Tagen noch seine Liebe beteuerte, einen Urlaub sowie einen Umzug mit mir geplant hatte, war von einem auf den anderen Tag verschwunden. Ohne Vorwarnung, ohne Streit, ohne Verhandlung, aber mit vielen wirren, widersprüchlichen Aussagen. Er wolle jetzt poly* sein, sagte er, wobei poly hier wohl hieß, gar keine Beziehung mehr zu führen und zu machen, was er will, ohne meine lästigen Gefühle dabei berücksichtigen zu müssen. Und weg war er dann tatsächlich mit einem heftigen Kontaktabbruch von jetzt auf gleich. Es fühlt sich an, als wäre er plötzlich gestorben. Ich habe so was noch nie erlebt, also dass jemand stirbt leider schon, aber nicht, dass jemand einfach verschwindet, der einem so nah war, mit dem man so viele Pläne und eine eigentlich schöne Beziehung hatte. Der keine ständigen Warnsignale oder Redflags** aussendete, sondern Stabilität und Zärtlichkeit.

Julian teilt mein Schicksal. Auch sein Partner verschwand sehr unerwartet. Warum war uns das passiert? Julian nippt an seinem Ayran und zuckt mit den Schultern. „Wir denken, eine Beziehung sei das Wichtigste, aber sie ist einfach ein Teil des Lebens, neben vielen anderen. Es kommt, es geht. Im Grunde sind wir doch eh nie wirklich zufrieden. Kann mir niemand erzählen.“ Sein Schmerz ist schon etwas verheilt, vielleicht ein wenig Zynismus gewichen, während meiner, noch frisch und wild, unaufhörlich mein Herz auffrisst. Ich nicke, es kommt, es geht, ja. Alles kommt und geht. Auch die Liebe. Aber sind wir wirklich alle immer unzufrieden? Julian war in den letzten Jahren eigentlich immer ein Quell der Zufriedenheit und Stabilität. Im Gegensatz zu mir, der ewigen Dramaqueen. Während ich mich von Date zu Date und von einer unmöglichen Beziehung zum nächsten One-Night-Stand schleppte, wir gemeinsam scherzhaft eine Performance planten, in der ich von meinem Liebeskummer erzählen und dabei eine Badewanne voll Tränen weinen sollte, war er immer recht stabil in dem Ganzen. Jetzt winkt er nur noch müde ab. Wie kommt das? Ich wische mir eine Träne weg, die gut zur Performance passen würde und die schon wieder mein Make-up bedroht. Dabei beiße ich in meine Pide. Ich kann sie kaum schmecken, kaum essen, denn die Tatsache, dass mein Leben sich so plötzlich verändert hat, hat mich in einen dauerhaften Schockzustand katapultiert, den weder mein Gehirn noch mein Körper momentan verarbeiten kann.

„Schau mal, das passiert uns doch allen“, sagt Julian. Er presst ein Stück Zitrone in die Suppe und der Duft kitzelt meine Nase, während ich nervös an meiner Serviette herumzupfe. Tatsächlich häufen sich die Trennungsgeschichten in meinem Umfeld, die Unsicherheit und der Schmerz. Niemand weiß so recht, wohin. Alle sind so Anfang bis Mitte dreißig, aber klassische Lebensmuster und Lebensschritte haben sich irgendwie aufgelöst – oder nach hinten verschoben, wer weiß. Niemand kann sagen, ob Kinder oder nicht, niemand will heiraten, monogame Beziehungen sind doch irgendwie sehr eng, vielleicht lieber offen oder poly sein oder einfach alles von außen beobachten und in Ruhe leben? Wir daten, fangen etwas an, schwören uns Liebe und plötzlich ist es vorbei. Woran liegt das? Was ist da los? Ich knülle meine Serviette zusammen und halte mein Gesicht in die Sonne. Soll die mal die Tränen trocknen. Wir schauen uns resigniert an und essen auf. Julian bringt mich zum Bahnhof und nimmt mich kurz in den Arm. „Halt die Ohren steif“, sagt er und ich habe Angst vor dem Moment, in dem er geht. Ich kann gerade nicht gut allein sein. Kann eigentlich gar nichts. Nicht arbeiten, nicht abschalten, nicht schlafen. Ich winke Julian und steige in den ICE.

Im Zug klappe ich meinen Laptop auf und versuche, mich abzulenken. Ich muss ein Buch fertigstellen. Dieses Buch. Ich schaue auf die leeren Seiten. Was soll ich jetzt sagen? Eigentlich hatte ich geplant, diesen Text aus der Sicherheit einer schönen Beziehung heraus zu schreiben. Aus dem Gefühl heraus, dass jemand da ist, der mich auffängt. Ich wollte darüber sprechen, warum die Liebe so oft nicht funktioniert, aber mit der Gewissheit, dass man sich trotzdem lieben kann. Dass es doch noch schöne Beziehungen gibt, in denen man gemeinsam Dinge aushandelt und sich gleichberechtigt begegnet. Meine Perspektive hat sich aus dem Nichts heraus wieder völlig verschoben. Denkste, hat sich das Leben gedacht und ein wenig höhnisch gekichert. Ich fühle nichts als Zweifel und Schmerz. Fühle mich nicht sicher, nicht aufgefangen, sondern unendlich allein. Modern Heartbreak, so ist jetzt der Titel. Das war nicht mein Plan, aber was soll ich machen, außer eben meinen Heartbreak mitzunehmen und mich ihm zu stellen.

ÜBER LIEBE SCHREIBEN

So ist dieses Buch ein sehr persönliches Buch geworden, das ein wenig von dem zu greifen versucht, das sich uns so oft entzieht: romantische Liebe. Es gibt natürlich unterschiedliche Formen von Liebe, aber ich gehe hier der Frage nach der Romantik nach. Der intimen Beziehung zueinander. Kitschig, wichtig, keine Ahnung. Ich glaube, dass Liebe eine schwierige Sache ist. Ihr dürft mich gern zitieren! Es ist eine komische Mischung aus Idealisierung, Kindheitsgeschichte, Sozialisationen*, Gesellschaft, Kapitalismus, schlimmen Konzepten, neoliberaler Datingmentalität, Heteronormativität**, Sex und Küssen, Kuscheln, schönen Gefühlen, Sehnsucht und Nähe. Alles, was ich über die Liebe weiß, finde ich irgendwie falsch. Dass es die eine perfekt passende Person für einen gibt, dass es nur eine Ersatzreligion ist, die abgeschafft gehört. Dass es Magie ist. Dass es nur Hormone sind, die wollen, dass wir uns fortpflanzen. Dass es Nonsens ist. Dass es das eine Ziel im Leben ist. Das eine ist mir zu viel und das andere zu wenig. Ich habe mich in Sachen Liebe schon immer sehr verloren gefühlt und glaube weder, dass Liebe Magie sein muss, noch dass wir den Wunsch nach verbindlicher Nähe und Intimität auflösen sollten. Zudem wollen Menschen ganz unterschiedlich lieben, haben nicht dieselben Bedürfnisse und Begehren. Oder wollen gar keine Romantik und keinen Sex in ihrem Leben. Das ist alles nicht einfach oder gar unkompliziert. Hinzu kommt, dass viele nicht gern über die Liebe sprechen. Gesellschaftlich wird sie heutzutage oft als Frauenthema behandelt und so in eine emotionale, weiche, etwas abgewertete Ecke geschoben. Auch ich habe Bedenken, darüber zu schreiben. Denn schreibe ich als Frau über die Liebe und bleibe dabei nicht in der distanzierten Theorie oder bin nicht sachlich und tough oder glücklicher Single, laufe ich Gefahr, zu anklagend, zu unsachlich, zu verzweifelt, zu wütend, zu sentimental, zu pathetisch und vor allem zu emotional zu sein. Doch warum eigentlich? Liebe ist seit jeher Bestandteil feministischer Kritik, ebenso wie von Philosophie, Kunst, Literatur, Soziologie und Politik. Und wie die amerikanische Autorin bell hooks (Literaturwissenschaftlerin, Autorin und eine der Vordenkerinnen des Schwarzen Feminismus) schreibt, führe das Interesse an Liebe, Sehnsucht, Trauer oder Lust sowie das Nachdenken über eigene Gefühle nicht zu einem Verlust an Vernunft oder einer sachlichen Perspektive, sondern vielleicht dazu, sogar tiefer in das Thema eintauchen zu können und zu wollen.1 Auch ich möchte meinen Liebeskummer dazu nutzen, tiefer zu gehen. Die Liebe ist ein Thema für uns alle, denn sie wird an uns alle herangetragen, egal ob wir sie uns wünschen oder nicht. Ebenso sind Weichheit und Emotionen keineswegs unwichtig oder in irgendeiner Form weiblich. Wir alle haben es verdient, dass Menschen uns (nicht nur romantisch) lieb haben und dass wir lieben dürfen. Frauen, Männer, inter*, nicht binäre und trans* Personen.*

Ich bin in der Liebe häufig gescheitert und viele andere tun es ebenso. Ehen werden geschieden, Beziehungen lösen sich auf, längst nicht alles ist immer rosarot. Die Romantik, so wie wir sie lernen, ist nicht immer weich und kuschelig. Viele leiden an ihr, denn sie ist manchmal ganz schön hart. Nicht alles entwickelt sich wie eine romantische Komödie und wir fragen uns, warum wir in unseren Beziehungen nicht so glücklich werden wie gedacht oder warum sich Trennungen häufen.

Hier fragt ihr euch eventuell, wer dieses wir ist, von dem ich immer wieder schreibe. Denn eigentlich erzähle ich ja von mir und meinen Erfahrungen. Ein wir ist immer unklar, es enthält die Frage, was ein wir ist, was ein wir braucht und ob es überhaupt ein wir gibt. Gerne könnt ihr euch von dem einen wir distanzieren und dem anderen zustimmen. Für mich enthält diese Form der Ansprache den Wunsch nach Gemeinsamkeit, ist aber nicht festgelegt und meint nicht immer alle, denn wir alle machen unterschiedliche Erfahrungen, aber den Verweis darauf, dass es in unseren Erfahrungen immer ein wir gibt, also andere, die Ähnliches erleben. Es zeigt, dass das Private politisch ist und keine Erfahrung ohne andere und die Gesellschaft zu denken ist. Es gibt unterschiedliche wirs und sehr unterschiedliche Biografien und Erlebnisse. Auch in der Liebe. Doch ich beobachte das, was ich erfahre auch bei vielen anderen, teile ähnliche Situationen mit meinen Freund*innen*. Von einem ich immer mal wieder zu einem wir zu schwenken, ist tröstlich. Denn mein Heartbreak ist nicht isoliert und steht nicht für sich allein.

Warum dieses Buch?

Ich glaube, dass es besser geht, dass wir gut miteinander umgehen können, dass wir einen realistischren Blick auf Romantik und Nähe gewinnen können, wenn wir uns noch tiefer damit beschäftigen. Trotz oder vielleicht gerade wegen meines Kummers möchte ich wissen, woran es hapert und wie es weitergehen kann?! Ich möchte herausfinden, warum ich mir immer wieder selbst die Schuld für meinen Liebeskummer gebe. Warum ich denke, ich sei die Einzige, die scheitert, obwohl so viele andere es ebenso tun. Laut der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz ist diese Schuldzuschreibung in Sachen Heartbreak auch eine Folge der Psychologie des 20. Jahrhunderts. Unter anderem lenkten Analytiker wie Sigmund Freud den Fokus weg von gesellschaftlichen Verhältnissen hin zu dysfunktionalen Kindheiten und mangelnder Selbsterkenntnis.2 Patriarchale Verhältnisse oder überhöhte Vorstellungen der Romantik wurden nicht in den Blick genommen und offene Misogynie zum Beispiel durch Freud höchstpersönlich häufig reproduziert.

Doch auch wenn ich mich in diesem Buch den sozialen Verhältnissen in Sachen Liebe widmen will, bleibe ich Sozialpädagogin, die der Blick auf das Individuum interessiert. Denn natürlich scheitern unsere Beziehungen an problematischen Vorstellungen sowie Verhältnissen, die strukturell gegeben sind, doch frage ich mich oft, wie wir Einzelnen damit umgehen können, und möchte verneinen, dass uns eine gesellschaftliche Kritik gänzlich aus der eigenen Verantwortung nimmt. Wie können wir es also schaffen, uns selbst nicht die Schuld für das Scheitern in Sachen Liebe zu geben und trotzdem zu reflektieren, wie wir miteinander umgehen, wie unsere Biografien und gesellschaftlichen Sozialisationen uns prägen und wie wir unser Verhalten darin aktiv (um-)gestalten können? Lenken wir unseren Blick nur auf die Verhältnisse, haben wir schnell eine Ausrede, unser eigenes Verhalten so zu akzeptieren, wie es eben ist. Ein Ex-Partner sagte mir einmal, er finde es absoluten Unsinn, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen, und dass diese sein Verhalten in Beziehungen nicht beeinflussen würde. Meiner Meinung nach ist das vor allem eins bzw. eins nicht: die Übernahme von Verantwortung. Und diesen Mangel, sich mit dem eigenen Verhalten und dessen (sicher diversen) Ursachen zu beschäftigen, müssen andere ausbaden. In diesem Fall ich als seine Partnerin.

Das möchte ich anders handhaben! Um herauszufinden, wie die Liebe für uns alle schöner werden könnte, widme ich mich in diesem Buch unterschiedlichen Aspekten. Dabei beginne ich etwas ungewöhnlich. Ich definiere die Liebe nicht, sondern schaue mir erst einmal an, wie und warum sie scheitert und schmerzt. Dabei reflektiere ich vor allem meine eigene Geschichte. Ich frage mich, wie mich die Erfahrungen von Scheidung und Tod in Hinblick auf mein Liebesleben geprägt haben und wie sie in ihrer Einsamkeit einen Nährboden für romantische Erzählungen und Sexismus bildeten. Auch soll es um die Verbindung von Trauer und Liebe gehen. Danach berichte ich von meiner letzten Trennung, die sich in eine ganze Reihe schlechter Erfahrungen fügt. Ich betrachte das Phänomen des Liebeskummers und überlege, wie er überwunden werden kann. Nach dem überstandenen Heartbreak soll es um ein größeres Bild gehen. Gesellschaftliche Machtverhältnisse wirken auf unser Liebesleben und verstärken unseren Schmerz. Die Liebe ist voller binärer, starrer Vorstellungen von Männlichkeit, Weiblichkeit und Hierarchien. In ihr finden sich unter anderem Muster von Rassismus, Sexismus, Klassismus, Antisemitismus, Ableismus, Fett- und Transfeindlichkeit. In einer historischen Betrachtung will ich zeigen, wie sich die genannten Hierarchien über Jahrhunderte hinweg geformt und etabliert haben. Abschließend frage ich mich, was daraus gelernt werden kann, wie und ob ich weiter date und wie Online-Dating die Partner*innensuche beeinflusst. Ich möchte aufzeigen, dass es eine radikale intersektionale Veränderung in Sachen Liebe braucht, und herausfinden, wie diese aussehen könnte. Liebe umfasst so viele Aspekte und Geschichten, dass ich hier nur einen winzigen Ausschnitt zeigen kann, in dem gefragt wird, woran wir leiden, warum so viel Frustration herrscht und wie es verdammt nochmal besser funktionieren könnte. Die Liebe ist vielleicht wie ein Mosaik aus Tausenden und Abertausenden Teilen. Dieses Buch ist nur eines davon. Es will zeigen, dass Liebe mehr ist als ein Gefühl, das kommt und geht. Dass Sex, Dates und diverse Beziehungen doch auch so viel Angenehmes innewohnen kann: Kreativität, Zuneigung, Spaß, Zärtlichkeit, Nähe, Entwicklung, Ausprobieren, Unterstützung, Gemeinsamkeit – und vielleicht auch Liebe?! Wie das geht? Schauen wir mal!

Wichtige Anmerkungen

In ihrer westlich geprägten Form und Repräsentation ist die Romantik vor allem heteronormativ, obwohl sie sich natürlich nicht auf heteronormatives Begehren beschränkt. Auch ich schreibe dieses Buch mit einer sehr heteronormativen Vergangenheit, denn auch wenn ich mit unterschiedlichen, auch queeren Liebesmodellen aufgewachsen bin, habe ich bisher immer cis Männer gedatet. Zudem bin ich weiß und eine able bodied cis Frau mit einer gewissen psychischen Belastung, wenn es um das Thema Nähe und Halt geht.

Ich schreibe gewissermaßen durch diese Dinge hindurch und sie prägen meine Haltung sowie Erfahrungen.

Ich konzentriere mich in der historischen Darstellung vor allem auf eine westliche Perspektive. Nicht weil diese in irgendeiner Form auch nur ansatzweise wichtiger oder bedeutsamer wäre, sondern weil sie meine Geschichte und die der westlichen Mainstream-Medien geprägt hat, mit denen viele hier aufgewachsen sind. Auch diese geschichtliche Darstellung umfasst nur Teilaspekte und will überschaubar bleiben. Dabei versuche ich auch immer wieder, die Spuren von LGBTIQA* einfließen zu lassen.

Geschlecht ist in diesem Buch nicht als festgelegte biologische Kategorie zu verstehen. Es geht mir beim Thema Männlichkeit oder Weiblichkeit darum, wie Geschlechterkategorien gesellschaftlich geformt und vor allem binär festgelegt werden. Wie Geschichte, Politik, Kunst, Kultur und Medien uns prägen, Hierarchien bestimmen und etwa bestimmte Verhaltens- oder Kleidungsweisen zementieren, die nach einer zweigeschlechtlichen Ordnung aufgeteilt sind. Die Kritik an Männlichkeit richtet sich an gesellschaftliche Machtverhältnisse und binär codierte Verhaltensweisen, aus denen sich Dynamiken ergeben, die auch in unsere Beziehungen wirken.

An keiner Stelle dieses Buches besteht ein Anspruch auf Vollständigkeit. Meine Beschreibung umfasst nicht ansatzweise alle möglichen Dynamiken von hetero Beziehungen oder gar des gesamten Spektrums der Liebe.

In diesem Buch geht es teilweise um konkrete Personen und deren Verhaltensweisen. Die Personen werden anonymisiert und ihre Geschichten nicht geteilt, um sie bloßzustellen, sondern um Erfahrungen sichtbar zu machen, die durch unsere Sozialisation und unser Bild von Liebe geprägt sind. Die Liebe scheitert auch an den uns zugewiesenen Rollen. Die Darstellungen im Buch sind mit den vorkommenden Personen größtenteils abgesprochen (wenn die Möglichkeit auf Kontakt bestand) und es gab die Option auf Rückmeldung oder Einspruch. Ich schreibe aus meiner Perspektive und vielleicht haben manche Beteiligte eine andere Sichtweise.

Ich gebe darüber hinaus viele Quellen an, auch zum Weiterlesen und Kennenlernen anderer sehr wichtiger Perspektiven. Ihr findet sie als Endnoten im Quellenverzeichnis. Zudem werdet ihr im Text verteilt Zitate finden, die mir von tollen Menschen zugesendet wurden. Ich kann und möchte nicht für andere sprechen, allerdings unterschiedliche Perspektiven aufzeigen und in die Verantwortung gehen. Die Verantwortung dafür, wie auch ich problematische Sichtweisen und Diskriminierung wiederholen kann. Auch in Sachen Liebe. Wir alle tun dies, denn das System, in dem wir leben, bringt es uns bei.

Vielen allerliebsten Dank für die Zitate und eine Einladung an alle Lesenden, sich die Social-Media-Inhalte anzusehen, die Bücher zu lesen usw. von:

Timur, Ninia LaGrande, Bena, Marija Latković,

Jona.than, Emilia Roig, Anna Mendel, Kübra Sekin,

Katrin, Hatice Açikgöz, Cuso Ehrich, Suki,

Souzan AlSabah, Hami Nguyen, Aissa, Luisa L’Audace

DER BEGINN. WARUM DIE REALITÄT KEIN DISNEYFILM IST.

Noch einmal sah sie mit halbgebrochenen Blicken auf den Prinzen, stürzte sich vom Schiffe in das Meer hinab und fühlte, wie ihr Körper sich in Schaum auflöste.

~ Hans Christian Andersen, Die kleine Meerjungfrau

Märchen

Als ich klein war, war ich versessen auf Geschichten. Jeden Abend freute ich mich aufs Einschlafen, denn mein Kassettenrekorder sollte mich in den Schlaf begleiten. Ich hörte die Fünf Freunde, die Drei ???, Bibi & Tina, die Muppets und alles, was mir in die Finger kam. An einem Wochenende fiel mir tatsächlich eine Kassette buchstäblich in die Hände. Ich war mit meinem Papa auf einem Flohmarkt, wühlte in ein paar alten Kisten und fand die Geschichte der Kleinen Meerjungfrau. Hurra, dachte ich, denn ich kannte den Disneyfilm und freute mich, an diesem Abend hoffentlich mit Arielle, Fabio und Prinz Eric einzuschlafen. Mit einer schönen Liebesgeschichte plus Happy End. Ich war nicht unbedingt scharf auf Puppen und Prinzessinnen, aber Disney mochte ich gern. Ich verkleidete mich zu Karneval als Piratin, Paradiesvogel oder Hexe, aber auch als Belle aus Die Schöne und das Biest. Meine Mama nähte mir extra ein goldenes Kleid, auf das ich unheimlich stolz war. Ich wollte wie Belle sein, denn auch ich las gern und fand ihre Geschichte irgendwie schön. Ich träumte schon früh davon, verliebt zu sein, denn es wurde mir überall nahegelegt. Mädchen hatten lange Haare, mochten Jungs (die sie vielleicht ärgerten), kümmerten sich um andere, waren schön, lieb und brav.

Ich passte da nur so halb rein, denn wenn ich nicht das goldene Kleid trug, spielte ich Fußball, trug alte Adidas-Hosen und Käppis, ging samstags manchmal Football schauen, auch wenn ich nichts davon verstand, und mochte lange keine Barbies oder die Farbe Rosa. Allerdings konnte ich auch stundenlang mit meiner besten Freundin Kleider anprobieren und mich heimlich kichernd im Bad schminken. Ich musste mich seitens meiner Eltern nicht auf eine starre Geschlechterrolle festlegen, sondern probierte aus, wozu ich eben Lust hatte. Doch trotzdem verstand ich, dass mir eine Seite näher gelegt wurde, denn ich war ja schließlich ein Mädchen. Und so fühlte ich mich schon in jungen Jahren zu grob, nicht zierlich genug und irgendwie ganz anders als all die Prinzessinnen und liebevoll lächelnden, leichtherzigen Mädchen aus meinen Geschichten, in die sich die Prinzen und Jungs verliebten.

Meine Freundinnen waren diesen Prinzessinnen ähnlicher. Sie waren immer etwas süßer und schlanker als ich. Hatten schon eigene kleine Liebesgeschichten, während ich mich mit den Jungs im Sand prügelte. Aber auch ich merkte, dass es schön und aufregend war, von der Liebe zu träumen. Dass auch ich mir Aufmerksamkeit wünschte und lernte, dass diese irgendwie wichtig zu sein schien. Ich lernte, dass Liebe erfüllend ist und auch ich mich als Erwachsene verlieben, heiraten, Kinder bekommen und glücklich sein würde.

Und so wollte ich die Arielle-Kassette unbedingt haben. Mein Vater kaufte sie mir und ich fieberte dem Abend entgegen. Ich würde mit Arielle durchs Wasser schwimmen und in Prinz Erics Arme sinken. Als mein Papa mich ins Bett brachte, mir einen Kuss auf die Stirn gab, auf Play drückte, das Licht ausmachte und das Zimmer verließ, wusste ich nicht, welcher Schrecken mich erwarten würde. Denn leider war es nicht die Disneyvariante, sondern das Original von Hans Christian Andersen. Fuuuck! Mit aufgerissenen Augen lag ich da und hörte, wie die kleine Meerjungfrau nicht in eine Muschel sang, um ihre Stimme abzugeben, sondern wie ihr einfach die Zunge herausgeschnitten wurde. Wie sie bei jedem Schritt mit ihren neuen Beinen Schmerzen erlitt. Danach verliebte sie sich zwar weiter in den Prinzen, der aber eine andere heiratete, wodurch die Meerjungfrau starb und als Meeresschaum bei der Hochzeit zusehen musste. Als der Rekorder mit einem leisen Klicken das Ende der Kassette ankündigte und die Playtaste auf Stopp sprang, blieb ich unfassbar aufgelöst zurück. Hatte ich etwa gerade die Realität kennengelernt?

Prinzen

Auch wenn Andersen ebenso fiktive Geschichten erzählt und die Realität doch auch schöne Geschichten schreiben kann, fühlt sich die Liebe für mich oft eher wie ein schlimmes Märchen, denn wie ein Disneyfilm an. Auch heute fühle ich mich noch wie ein kleines Mädchen, das ähnlich wie Arielle mit der Realität klarkommen muss, die nicht ihrem früheren Traum entspricht. Mein Leben ist nicht voller romantischer Liebe, meine Prinzen sind nicht reich und liebevoll, sie sind bindungsscheu und anstrengend und ich fühle mich oft so, als müsste ich etwas von mir für sie aufgeben, damit sie bleiben. Sie sind übergriffig und verantwortungslos. Sie wollen meine Gefühle nicht hören und alles ist ihnen zu anstrengend. Jeder Schritt tut weh. Ich habe oft keine Stimme, kann nicht für mich einstehen, bin unglücklich und sterbe andauernd kleine Tode in der Liebe, wenn sie wieder nicht funktioniert. Ich glaube, ich habe immer Liebeskummer. Hier würde mich meine Therapeutin unterbrechen und ich würde, „Jaja, okay, oft“ sagen. Also gut: Ich habe oft, sehr oft Liebeskummer. Ich fühle mich extrem einsam und verlassen. Mein Liebeskummer fing schon früh an und ist eng mit meiner Geschichte verknüpft. Ebenso mit den romantischen Geschichten, die ich schon so früh kennenlernte und die sich nicht erfüllten. Denn leider blieb ich nicht das etwas unsichere, aber auch fröhliche und laute Kind, das an die Liebe glaubte. Die Realität traf mich noch viel härter als die Geschichte der kleinen Meerjungfrau.

KINDHEIT, TOD UND TRAUER. WIE SICH DIE IDEE DER LIEBE MIT UNSEREN ERFAHRUNGEN VERWEBT.

CN*: In diesem Kapitel geht es um Krankheit, Tod, Scheidung, häusliche Gewalt und Suizidgedanken.

When I was a child, it was clear to me that life was not worth living if we didn’t know love. I wish I could testify that I came to awareness because of the love I felt in my life. But it was love’s absence that let me know how much love mattered (…)All the years of my life I thought I was searching for love (…) I was simply trying to recover what had been lost, to return to the first home.*

~ bell hooks, all about love3

Scheidung

Wie bell hooks habe auch ich Jahre, ach was jahrzehntelang nach Liebe, Zärtlichkeit und vor allem Verbundenheit gesucht. Nach einem Gefühl, das die Einsamkeit auslöscht und mir Geborgenheit und Ruhe bietet. Ich suche mein Zuhause, das stimmt schon. Also das Zuhause, das ich als Kind sehr schmerzlich verloren habe. Tatsächlich verlor ich davon gleich mehrere und konnte mich hier in vielen weiteren Worten von hooks wiederfinden.

Die Abwesenheit von Liebe und Geborgenheit hat mir gezeigt, wie wichtig diese für Menschen ist, wie sehr wir sie brauchen und wie sehr ihr Mangel uns beeinflussen kann. Auch wenn ich liebevolle Eltern habe bzw. hatte, bin ich doch in ihrem Chaos unter- und teilweise verloren gegangen. Für meine Gefühle war selten Platz und ich habe sie oft für mich behalten. Begonnen hat das wohl mit ihrer Scheidung, die mich völlig unvorbereitet traf. An einem Nachmittag, ich war sechs Jahre alt, der Sommer hatte meine dunklen Haare mit blonden Strähnen durchzogen, setzte sich mein Vater mit mir ins Wohnzimmer. Wir lebten in einer alten, aber gemütlichen Wohnung, hatten einen großen Garten und Felder vor der Tür. Unser Hund Camus war gerade bei uns eingezogen und auch wenn wir oft finanzielle Probleme hatten, merkte ich davon nicht viel. Ich mochte Nudeln mit Tomatensauce (billig und gut) – und mein Papa machte die beste überhaupt. Neben meinem Football-Hobby und meinen Verkleidungskünsten kochte ich mit ihm Marmelade ein, ansonsten mochte ich keine Süßigkeiten, dafür aber Lego, meinen besten Freund Mo sowie meine Katze Jerry, die manchmal auf meiner Schulter lag, wenn ich feine Dame spielte. An diesem Nachmittag sollte sich allerdings alles ändern. Es war wie mein erster Arielle-Moment ohne Disney und leider nicht nur auf Kassette. Der graue Teppich klebte an meinen Socken, die Sonne schien auf die alten Platten und Bücher im Regal. Das Saxophon meines Vaters schimmerte golden und draußen zwitscherten die Vögel. Mein Papa schaute mich ernst an, seine dunklen, buschigen Augenbrauen waren ausnahmsweise ernst zusammengezogen. „Ich muss dir etwas sagen.“ Er atmete tief aus. Ich weiß nicht mehr, wo meine Mutter zu diesem Zeitpunkt war oder warum sie nicht gemeinsam mit mir sprachen. Ich sah ihn neugierig an und ahnte nichts Böses.

„Wir lassen uns scheiden“, sagte er. „Mama und ich.“ Die Vögel zwitscherten weiter, die Sonne schien nach wie vor durch die Fenster, als wäre nichts passiert. Als wäre nicht gerade meine Welt zusammengebrochen. Ohne Vorwarnung. Ich hatte es nicht kommen sehen. Nichts geahnt. Zumindest erinnere ich mich an nichts. Keine Streitereien, keine Veränderung. Da ich anscheinend schon immer zu Dramatik neigte, ließ ich mich auf den Boden sinken und kündigte an: „Das geht nicht. Ich bringe mich um.“ Ich weiß nicht, woher diese Reaktion kam, woher ich wusste, dass Menschen sich umbringen, aber an diesem Tag hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, lieber sterben zu wollen, als der Realität ins Auge zu blicken und meine Welt untergehen zu sehen. Denn das tat sie Schritt für Schritt. Meine Eltern rasteten förmlich aus. Ein paar Sachen lasse ich hier lieber weg, um alle Beteiligten zu schützen, aber vielleicht so viel: Das Jugendamt kam, denn es kursierten wirklich schlimme Lügen, die ich alle mitbekam und über die ich plötzlich mit mir fremden Pädagog*innen reden musste, es gab Probleme mit Alkohol, meine komplette Herkunft wurde in Frage gestellt und ich wurde in diesem Chaos zerrissen. Ich war allein. Ich lernte den neuen Freund meiner Mutter kennen, der groß und breit war, der mich während einer Autofahrt anschrie, wie ich es wagen könne, bei meinem Vater bleiben zu wollen, während ich auf dem Rücksitz Rotz und Wasser heulte. Wer war dieser fremde Mann, der sich in mein Leben drängte? Ich fühlte mich von meiner Mutter verlassen und entwickelte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, weil ich nicht zu ihr gehen wollte. Ich wollte bei meinem Papa bleiben. Er war jeden Tag da, er nähte Kleider für mich und kochte und bastelte mir jedes Jahr die schönsten Adventskalender und war mir der wichtigste Mensch überhaupt.

Getrennt

Eine Zeit begann, in der ich mich oft getrennt von anderen fühlte. Wenn die Eltern in unterschiedliche Städte und Wohnungen ziehen, beginnt ein Zustand des Getrenntseins. Nie sind alle ganz da. Am Wochenende vermisste ich meinen Vater, denn ich wohnte weiterhin bei ihm, zudem meine Freund*innen und unter der Woche vermisste ich meine Mama, die ich plötzlich nur noch am Wochenende sah. Dabei passierten zwei Dinge auf einmal: Ich verlor den Glauben an die Liebe sowie an Beziehungen und schwor mir, niemals zu heiraten, denn ich wusste nun, wie das endete. Disney war eine Lüge und Hans Christian Andersen hatte recht.

Gleichzeitig entwickelte ich eine extreme Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, denn beides hatte einen enormen Riss erhalten. Für meine Gefühle war kein Platz. Ich lernte, mich zurückzunehmen und die Wogen zu glätten, alles irgendwie erträglich zu machen für die Eltern, die nicht klarkamen.

Patchwork

In den nächsten Jahren pendelte sich alles etwas ein, auch wenn ich weitere Verluste erlitt. Mein Vater hatte eine neue Freundin, sie hatte zwei Söhne. Ich mochte sie alle und es fühlte sich an, als hätte ich wieder eine Familie. Ich lernte Geschwisterstreits auf dem Rücksitz kennen, gemeinsame Streiche und Familienausflüge mit verschmierten Eismündern, Sonne und amüsierten, aber gestressten Patchworkeltern. Meine Wochenenden waren eher trist, auch wenn meine Mama sich Mühe gab, dass wir schöne Dinge unternahmen. Sie verbrachte allerdings viel Zeit mit ihrem neuen Partner und den ebenfalls neuen Pferden, mit denen ich nichts anfangen konnte. Also saß ich im Auto, hörte weiterhin Kassetten, las Das lustige Taschenbuch oder streifte im Wald umher. Ich war manchmal einsam, ich hätte lieber nur ein Zuhause gehabt, aber ich kam klar.

Doch allmählich begannen die Dinge wieder zu bröckeln. Auch diesmal bemerkte ich nichts. Keine Streitereien, keine Unzufriedenheit. Aber plötzlich eskalierte es an den Abenden zwischen meinem Vater und seiner Freundin, bis er sich irgendwann in meinem Zimmer versteckte und sie mit einem Messer vor der Tür stand. Sie hatte ihm bereits öfters die Arme zerkratzt und die häusliche Gewalt war hier ausnahmsweise einmal umgedreht. Am nächsten Morgen zog sie aus und ich blieb verstört zurück. Alles passierte wieder von einem auf den anderen Tag.

Noch eine Familie verloren, einfach so … wie einen Stock oder einen Hut. Nur mit sehr viel mehr Dramatik.

Ich schwor mir noch einmal, nie mit jemandem zusammen sein zu wollen, denn die Liebe war ja wohl einfach nur schlimm. Sie beinhaltete neben Trennung nun auch Gewalt. Doch wieder spürte ich gleichzeitig den Wunsch nach Nähe und Sicherheit – eine Sehnsucht, so groß. Ich hatte unsere improvisierte Familie sehr gern gehabt. Jetzt war sie weg und ich wusste nicht weiter. Fühlte mich allein und überfordert. Mein Papa war noch da. Immerhin. Wir waren wieder ein Team. Wie immer. Und er war wieder sicher und ich auch.

Erste Enttäuschungen