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Die moderne Welt kennt Fundamentalismus vor allem als eine Verbindung von Weltablehnung und Erlösungshoffnung im Zeichen der Religion. Es gibt aber auch einen Fundamentalismus, der dann entsteht, wenn die Religion nicht mehr vorherrschende Deutungsmacht ist, das Erlösungsbedürfnis aber weiterwirkt. Anstelle der Weltablehnung tritt dann Zeitablehnung, und die Erlösung wird Sache innerweltlicher Mächte: der Kunst, der Moral, der Erotik. Stefan Breuer geht dieser Transformation des religiösen Fundamentalismus in einen ästhetischen, moralischen und erotischen Fundamentalismus an verschiedenen Beispielen nach, beginnend mit Rousseau und dem radikalen Flügel der Französischen Revolution über Schopenhauer, Richard Wagner und den George-Kreis bis hin zu Ludwig Klages, Otto Gross und Herbert Marcuse.
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Seitenzahl: 369
Der Autor
Stefan Breuer, geb. 1948, seit 1984/85 Professor für Politikwissenschaft im Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hamburg, anschließend Professor für Soziologie, zunächst an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP), ab 2005 der Universität Hamburg. Seit 2014 emeritiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Max Weber, die politische Rechte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die (prä)historischen Ursprünge von Herrschaft und Staatlichkeit. Zahlreiche Veröffentlichungen.
Stefan Breuer
© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020
© 2002 Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin /Wien
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagfoto: Alfred Eisenstaedt, A dealer in antiques offers
weather vanes for sale in Vermont, 1940
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
eISBN 978-3-86393-556-6
Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-095-0
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Einleitung: Moderner Fundamentalismus
I.Moralischer Fundamentalismus
1.Rousseau und die Folgen
2.Worstward Ho! Schopenhauer oder die Inversion des moralischen Fundamentalismus
II.Ästhetischer Fundamentalismus
1.Vom ästhetischen Idealismus zum ästhetischen Fundamentalismus
2.Richard Wagners musikalische Soteriologie
3.Träume vom PLASTISCHEN GOTT: Stefan George
Exkurs: George-Kreis und Gnosis
4.Goethe oder Hölderlin? Varianten des ästhetischen Fundamentalismus
III. Erotischer Fundamentalismus
1.Eros als Erlösungsmacht
2.Fremderlösung und Autoerotismus: Ludwig Klages
3.Erotische Selbsterlösung: Otto Gross, Herbert Marcuse
IV. Arnold Böcklin und der moderne Fundamentalismus
V.Nietzsches Transformation des Fundamentalismus
Literaturverzeichnis
Fundamentalismus ist eines jener Worte, die zur rechten Zeit sich einstellen, wo Begriffe fehlen. Schon in den siebziger Jahren diente es nicht nur zur Kennzeichnung radikaler Strömungen im Islam, sondern auch zur Unterscheidung des intransigenten Flügels der Grünen von den Pragmatikern. Inzwischen hat sich sein Bedeutungsgehalt so sehr erweitert, daß er die unterschiedlichsten Positionen abdeckt. Mit ihm belegt man die Gegner der Abtreibung ebenso wie deren feministische Befürworterinnen, die Kritiker der Marktwirtschaft ebenso wie die Wachstumsideologen und Verfechter der Superindustrialisierung, den romantischen und völkischen Antimodernismus ebenso wie den ‚Fundamentalismus der Moderne‘1. Inhalte, so scheint es, sind sekundär; Fundamentalismus ist nur noch ein anderes Wort für Haltungen, die man früher mit Ausdrücken wie radikal, extrem oder absolut bezeichnete. Und dies gilt nicht nur für die Alltagssprache, sondern auch für den elaborierten Code der Wissenschaft. In der Soziologie Talcott Parsons’ beispielsweise steht Fundamentalismus für Wertabsolutismus, eine Art Unfähigkeit, die für den Umgang mit modernen, hochkomplexen und pluralistischen Wertordnungen erforderliche Flexibilität aufzubringen. Fundamentalismus, so Parsons, sei ein „Prototyp deflationären Druckes auf das Commitment-System“, ein Versuch, „das Angebot weiten Freiheitsraumes auf Dinge zu beschränken, die – nach strengest möglicher Anforderung –‚solide‘ sind, wie das Gold in monetären Systemen oder die Sicherheitskraft überlegener Gewalt in politischen Systemen“2.
Gegenüber diesem Sprachgebrauch ist zunächst an die Einsicht eines anderen Soziologen zu erinnern, daß die Tendenz zur Verabsolutierung von Werten zur ‚religiösen Form‘ als solcher gehört. In seinen verschiedenen Beiträgen zur Soziologie der Religion unterscheidet Georg Simmel zwischen der Religion als ausdifferenziertem sozialen Gebilde mit je eigenen Inhalten und Institutionen und der Religiosität als kategorialer Bewußtseinsform, die prinzipiell jeden Inhalt aufzunehmen vermag. Religiosität – „ein an sich gegenstandsloser Zustand oder Rhythmus der Innerlichkeit“ (Simmel, GSG 10, 69) – bestimme sich durch die Tendenz, Gefühle und Impulse, die schon das soziale Leben entwickelt, zur Einheit zusammenzuschließen und ins Absolute zu steigern (ebd., 54); nicht notwendig und ausschließlich ins Transzendente hinein, aber doch so weit, daß eine gewisse Hierarchie der Werte und damit eine Ordnung entsteht. „Wo die Ideale und Forderungen der Religion nicht nur mit Trieben niederer Art, sondern auch mit Normen und Werten geistigen und sittlichen Wesens in Widerspruch geraten, da ist der Ausweg aus solchen Verschiebungen und Verwirrungen oft nur so gefunden worden, daß jene ersteren Ansprüche ihre relative Rolle immer weiter und bis zu einer absoluten steigerten; erst indem die Religion den entscheidenden Grundton für das Leben gab, gewannen dessen einzelne Elemente wieder das rechte Verhältnis zueinander oder zum Ganzen“ (ebd., 41).
Nimmt man Simmels Einsicht ernst, daß es in der Eigenart des religiösen Lebens liegt, „sich in der Form des Absoluten zu objektivieren“ (ebd., 112), dann verbietet es sich, das Wesensmerkmal des Fundamentalismus im Wertabsolutismus zu sehen. Gewiß ist es richtig, daß der Begriff nur dann präzise Konturen behält, wenn man ihn für religiöse oder wenigstens religionsartige Phänomene reserviert, für das Bestreben, das Religiöse in der Gesellschaft zu verteidigen und zu restaurieren (Marty/Scott Appleby 1996, 24). Soll jedoch nicht jede Religion schon als solche fundamentalistisch sein, ist es unumgänglich, eine spezifische Differenz auszumachen, die die fundamentalistische Art der Religiosität von der nichtfundamentalistischen unterscheidet.
Der überzeugendste Vorschlag hierzu kommt von der an Max Weber orientierten Religionssoziologie. Nach Martin Riesebrodt handelt es sich beim Fundamentalismus um ein vor allem in Heilsund Erlösungsreligionen vorkommendes Phänomen, das immer dann entsteht, wenn die überlieferte, religiös verbürgte Ordnung bedroht wird: wobei diese Bedrohung nicht unbedingt in der Form provokativer Abwertungen traditioneller Werte auftreten muß, vielmehr schon dadurch gegeben ist, daß durch die Prozesse der Rationalisierung und funktionalen Differenzierung das religiöse Weltbild in Frage gestellt, die religiös verankerte Moral relativiert und die Religion insgesamt aus der Öffentlichkeit verdrängt und privatisiert wird. In einer solchen Lage ist es wahrscheinlich, daß es zu einer „Reinterpretation der religiösen Tradition“ kommt, die diese einseitig auf eine „weltablehnende Haltung“ festlegt (Riesebrodt 1990, 2, 11, 20 f., 27).
Man mag dieser Sichtweise entgegenhalten, daß Weltablehnung, auch und gerade bei Max Weber, ein typisches Merkmal aller Erlösungsreligionen sei, so daß Fundamentalismus wiederum nur ein anderes Wort für eine religiöse Grundeinstellung wäre. Und bis zu einem gewissen Grad ist dies auch zutreffend: das frühe Christentum und der frühe Buddhismus sind in der Tat Religionen, die sich in ihrer negativen Haltung zur Welt schwerlich überbieten lassen. Dennoch hat es Max Weber aus guten Gründen vermieden, in der Weltablehnung das Wesensmerkmal der Erlösungsreligionen zu sehen. Er hat statt dessen wesentlich vager von ‚Spannung gegen die Welt‘ gesprochen und darauf bestanden, daß diese Spannung ein ganzes Spektrum von möglichen Weltverhältnissen zuläßt, je nachdem, wie groß der Anteil des Ritualismus, der intellektuellen Systematisierung und der gesinnungsethischen Verinnerlichung ist, wie stark die charismatischen Einschläge oder die Ansätze zu einer ‚organischen‘ Ethik sind (Weber 1976, 348 f., 709, 360; ders. 1972, 551). Wenn aber Erlösungsreligionen nicht eindeutig und pauschal als weltablehnend charakterisiert werden können, vielmehr stets durch eine komplexe Gemengelage weltverneinender und weltbejahender Tendenzen gekennzeichnet sind (Kippenberg 1991, 440 ff.), dann ist es durchaus ein Gewinn an definitorischer Präzision, die Verengung auf Weltablehnung mit einem speziellen Terminus zu belegen – eben dem des Fundamentalismus. Womit zugleich angedeutet ist, daß Fundamentalismus nicht bloß ein Phänomen der jüngsten Gegenwart ist, sondern eine religionsgeschichtliche Erscheinung, mit der immer dann zu rechnen ist, wenn die ‚Depotenzierung der Religion‘ (Tyrell 1993) durch kognitive Rationalisierung und strukturelle Pluralisierung eine bestimmte Schwelle überschreitet.
Mit diesem begrifflichen Rüstzeug läßt sich der Fundamentalismus sans phrase erfassen, und damit auch: der Fundamentalismus in der Moderne: jener mobilisierte und radikalisierte Traditionalismus, der die Religion aus dem Zustand der Depotenzierung herauszuführen und ihr den ursprünglichen Rang wiederzugeben bestrebt ist – durch Depotenzierung und virtuell Eliminierung aller nichtreligiösen, ‚profanen‘ Orientierungen und Institutionen. Martin Riesebrodt hat dies in seiner vergleichenden Studie über den fundamentalistischen Protestantismus in den USA und die iranische Schia eindrucksvoll demonstriert. Was aber ist demgegenüber unter modernem Fundamentalismus zu verstehen?
Doch wohl zunächst und vor allem dies: eine Erscheinung, die den Grundtatbeständen der Moderne Rechnung trägt. Die beiden wichtigsten sind, nach dem Befund der modernen Soziologie, die funktionale Differenzierung, in deren Gefolge die Religion aus dem Rang einer führenden Lebensmacht zu einer Lebensordnung neben anderen herabsinkt (der Politik, der Wirtschaft, der Kunst etc.), und die Umstrukturierung der so entstandenen Handlungsfelder nach den Maßgaben formaler Rationalität, die durchweg ohne den Bezug auf religiöse Transzendenz auskommen. Moderner Fundamentalismus im Unterschied zum genuinen, religiösen Fundamentalismus müßte eine Erscheinung sein, die zwar auf Erwartungs- und Handlungsmustern aufruht, wie wir sie aus der religiösen Lebensordnung kennen, gleichwohl an andere Handlungsfelder als das religiöse anknüpft und mit rein innerweltlichen Maßstäben operiert.
Wichtige Hinweise in dieser Richtung lassen sich wiederum der Soziologie Max Webers entnehmen. Ihr zufolge kann sich mit zunehmender Disprivilegierung der Religion das von ihr monopolisierte Erlösungswissen verselbständigen und auf andere Handlungsfelder verlagern, die den Sinnbedarf mit rein innerweltlichen Mitteln befriedigen (vgl. Weber 1976, 299). Von Fundamentalismus allerdings sollte man in diesem Fall erst dann sprechen, wenn auch das zweite Begriffsmerkmal – die Weltablehnung – in wie immer gearteter Form noch gegeben ist. Innerweltliche Erlösungskonzepte, die sich an eine ideologische Verklärung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts heften, fallen nicht in diese Kategorie, weil sie die Welt nicht ablehnen, sondern lediglich verbessern wollen, wie dies etwa (aber keineswegs allein) für die „sozialistische Eschatologie“ mit ihrer „fast superstitiösen Verklärung der ‚Wissenschaft‘ als möglicher Produzentin oder doch als Prophetin der sozialen gewaltsamen oder friedlichen Revolution im Sinn der Erlösung von der Klassenherrschaft“ gilt (ebd., 313).
Eine Kombination von Erlösung und Weltablehnung ist dagegen erkennbar bei jenen „innerweltlichen Mächten des Lebens, deren Wesen von Grund aus arationalen oder antirationalen Charakters ist“, vor allem der Kunst und der Erotik. Von der ausdifferenzierten, d.h. zu einem „Kosmos immer bewußter erfaßter selbständiger Eigenwerte“ gestalteten Kunst meint Weber, sie könne „die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus“ übernehmen und dadurch „in direkte Konkurrenz zur Erlösungsreligion“ treten. In gleicher Weise könne die geschlechtliche Liebe „als eine Pforte zum irrationalsten und dabei realsten Lebenskern gegenüber den Mechanismen der Rationalisierung“ aufgefaßt und hierdurch zum Medium einer „innerweltlichen Erlösung vom Rationalen“ werden (Weber 1972, 554 ff.).
Es hieße diese Überlegungen allzu wörtlich nehmen, wollte man sie zu der Behauptung zuspitzen, Kunst und Erotik seien in der Moderne nur a- oder antirational. In seiner Musiksoziologie etwa oder in der Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie stellt Weber ganz im Gegenteil den hohen Rationalitätsgehalt der harmonischen Musik und anderer Eigentümlichkeiten der okzidentalen Kunst heraus (ebd., 2 f.). Gemeint ist nicht so sehr ein Wesenszug als ein Potential: Kunst und Erotik können zu Gegeninstanzen gegen die rationalen Ordnungen werden, sie können das Erbe der religiösen Erlösungsethik übernehmen und zu Trägern einer „antipolitischen“, „antiökonomischen“ oder auch „antiszientifischen“ Weltablehnung werden. Und nicht nur sie allein: hinzufügen kann man auch jene Ethiken, die sich von der Religion abgekoppelt haben und den Protest gegen die versachlichten Ordnungen von der Position einer rein innerweltlich begründeten Moral aus formulieren.
Von innerweltlicher Weltablehnung zu reden, ist freilich paradox. Da, wer sich auf Kunst, Erotik oder Moral beruft, zumindest diese Sphären bejahen muß, kann von genereller Weltablehnung nicht die Rede sein. Die Negation gilt denn auch zumeist, anders als bei der Erlösungsreligion, weniger der Welt als solcher als einem bestimmten Zustand derselben, der Form, die sie durch funktionale Differenzierung und formale Rationalisierung angenommen hat. Heinrich Heines Wort über Goethe als das „Genie der Zeitablehnung“ gibt hierfür die angemessene Bezeichnung: Weltablehnung ist im modernen Fundamentalismus zur Zeitablehnung geworden. Moderne Fundamentalisten wollen nicht, wie religiöse Fundamentalisten, aus der Welt heraus, in die unvordenkliche Gnade Gottes oder das Nirwana. Sie wollen aber in der Zeit zurück, in jenes Stadium, in dem es noch all das gibt, was sich in der Moderne zusehends verflüchtigt: Einheit, Ganzheit, Sinn, in dem die sozialen Beziehungen noch primär persönliche Beziehungen sind und nicht sachlich-rational3. Sie wollen dies entweder nur für den kleinen Kreis der Auserwählten, der Virtuosen, der perfecti, in welchem Fall man in Analogie zur religiösen Weltflucht von Zeitflucht sprechen kann; oder für die Gesamtgesellschaft, die von den Leiden erzeugenden Strukturen befreit und gleichsam kollektiv auf den Stand der Virtuosen angehoben werden soll. Und sie wollen dies in Anlehnung an jene innerweltlichen Mächte, die dies in großer Intensität versprechen: die Kunst, die Erotik, die Moral, die je auf ihre Weise in Kontrast zu den unpersönlich-sachlichen und zugleich die Einheit des Individuums zerreißenden Lebensordnungen der Moderne stehen. Entsprechend präsentiert sich der moderne Fundamentalismus als ästhetischer, erotischer oder moralischer Fundamentalismus.
Moderne Fundamentalismen lassen sich nach den Mächten differenzieren, von denen sie Erlösung erwarten. Sie können aber auch danach unterschieden werden, wie sie das Verhältnis der jeweils geforderten Handlungen zu diesen Mächten bestimmen. Nach der Religionssoziologie Max Webers ist dies grundsätzlich nur auf zwei Wegen möglich, die sich allerdings noch einmal verästeln. Die Erlösung kann entweder allein durch Eigenaktivität, ohne alle Beihilfe überirdischer Mächte angestrebt werden (Selbsterlösung); oder sie kann den zu Erlösenden von seiten eines begnadeten Heros oder eines inkarnierten Gottes zuteil werden (Fremderlösung). Als mögliche Eigenaktivitäten kommen in Frage: rituelle Handlungen, soziale Leistungen und Heilsvergewisserung qua Selbstvervollkommnung. Der zuletzt genannte Weg, bei dem das Heil zunächst über Ekstase angestrebt wird, wird von Weber am ausführlichsten behandelt. Hat die Ekstase den Charakter einer akuten Entrücktheit, dann manifestiert sie sich in Erscheinungen wie Orgie, Rausch, Euphorie. Hat sie den Charakter eines chronischen Habitus, dann tendiert sie zur Selbstvergottung. Ist der Platz Gottes jedoch bereits durch einen überweltlichen allmächtigen Gott besetzt, so ergeben sich zwei Möglichkeiten als Substitute:
Zum einen ein Selbstverständnis, bei dem sich der Handelnde als ‚Gefäß‘ Gottes auffaßt – der Fall der Kontemplation oder der Mystik. Zum andern ein Selbstverständnis als ‚Werkzeug‘ Gottes – der Fall der Askese. Von dieser heißt es weiter, sie könne in Gestalt eines förmlichen Ausscheidens aus der Welt auftreten und sei dann ‚weltablehnende Askese‘. Sie könne aber auch die Bewährung innerhalb der Welt verlangen und sei dann ‚innerweltliche Askese‘. Dieselbe doppelte Erscheinungsform muß nach Weber der Mystik zugesprochen werden. Schlägt die Gottinnigkeit des Mystikers um in Gottbesessenheit, so kann sich dies als Mystagogentum oder revolutionäre Chiliastik äußern. Auch bei der innerweltlichen Askese ist eine revolutionäre (oder auch nur: reformistische) Wendung möglich, neben der sonst anzutreffenden Bewährung innerhalb der gegebenen Ordnungen der Welt (Weber 1976, 321 ff.).
Der Weg der Fremderlösung kennt drei Möglichkeiten. Die Gnadengüter können, erstens, auf magisch-ritualistischem Wege angeeignet werden, wobei als Träger der charismatischen Gnadenspendung Mystagogen oder Priester fungieren. Sie können, zweitens, über das Medium der Glaubensreligiosität angeeignet werden, die entweder die Form einer Heilsaristokratie der intellektuell Wissenden oder die einer vornehmlich auf Vertrauen gestützten Massenreligiosität annehmen kann. Als dritte Möglichkeit nennt Weber den Prädestinationsglauben, bei dem die Erlösung als grundloses, freies Gnadengeschenk eines nicht zu beeinflussenden Gottes gedacht wird (Weber 1976, 337 ff.).
Nicht alle dieser Erlösungswege kommen für den modernen Fundamentalismus in Betracht. Der Prädestinationsglaube ist an die Bedingung eines transzendenten und personalen Gottes gebunden und dadurch unvereinbar mit einer rein innerweltlich gedachten Erlösung; dasselbe gilt für viele Formen der Glaubensreligiosität, der Mystik und der Askese. Immerhin ist der Begriff der Glaubensreligiosität so weit, daß er auch Erscheinungen einschließt, die nicht auf die Annahme eines überweltlichen Gottes gegründet sind, wie etwa verschiedene metaphysische Systeme rein philosophischer Art (ebd., 340 f.). Und was die Mystik betrifft, so hat Ernst Troeltsch gezeigt, daß sie ebenfalls nicht notwendig theistisch sein muß, vielmehr auch im Rahmen eines kosmozentrisch-immanenzbezogenen, unter Umständen sogar pantheistischen Weltbildes auftreten kann. In diesem Fall erfahren dann freilich auch die Grundhaltungen der Weltflucht oder Weltindifferenz eine Modifikation. Denkbar sind hier ebensowohl fundamentalistische Wendungen, die sich aus der „Verwachsung der vollendeten religiösen Innerlichkeit und Individualität mit der ästhetischen Individualitätsidee“ speisen, als auch das genaue Gegenteil eines weltverklärenden, spiritualisierten Evolutionismus, wie er sich etwa in der panpsychistischen Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts und ihren diversen künstlerischen Ausdrucksformen artikuliert hat. Die „heimliche Religion der Gebildeten“, als die Troeltsch die in romantische Religiosität transformierte Mystik bezeichnet hat, kann also sowohl zeitablehnende als auch zeitbejahende Formen annehmen4.
In dieser abgewandelten Form ist die Webersche Typologie durchaus von Relevanz für die Benennung wichtiger Differenzierungen innerhalb des modernen Fundamentalismus. Der moralische Fundamentalismus setzt eine Herauslösung der Moral aus dem traditionellen Bündnis mit Religion voraus, in deren Gefolge die moralische Kommunikation unabhängig wird von religiös begründeten Normen und Verhaltenserwartungen, damit aber auch von allen Instanzen, die Fremderlösung bewirken könnten. Es geht in der Moral nur noch um Interaktionen, bei denen sich die Individuen „als unterscheidbare Personen behandeln und ihre Reaktionen aufeinander von einem Urteil über die Person statt über die Situation abhängig machen“ (Luhmann 1997, 244). Die Instrumentalisierung solcher moralisch koordinierter Interaktionsformen für soteriologische Zwecke kann in einer mehr offensiven, auf das gesellschaftliche Ganze gerichteten Weise erfolgen, oder in einer mehr defensiven, auf das Individuum und seinen Nahbereich beschränkten Weise. Das erstere ist im Rousseauismus der Fall, der die Folgeprobleme der Modernisierung sowohl mithilfe einer elargierten Mitleids- und Brüderlichkeitsmoral (also auf dem Erlösungsweg der sozialen Leistungen) als auch im Wege der Selbstvervollkommnung zu bewältigen versucht; das letztere bei Schopenhauer, der eine Form der innerweltlichen Mystik bevorzugt. Auch an Ansätzen zur Verbindung dieser beiden entgegengesetzten Einstellungen hat es nicht gefehlt, wie man am Beispiel Tolstois studieren könnte, bei dem die innerweltliche Mystik in eine rousseauistische Attacke gegen Arbeitsteilung, Technik, Wissenschaft, Staat und Wirtschaft umschlägt (Hanke 1993).
Für die Erotik ist nach Weber speziell „auf dem Boden intellektualistischer Kulturen“ ein dem mystischen ‚Haben‘ gleichartiger Erlebnismodus charakteristisch, der sich als Sprengung der Individuation, als volle Einswerdung der Liebenden unter Aufgabe ihrer Differenz artikuliert (Weber 1972, 560). Eine fundamentalistische Wendung in Richtung der revolutionären Chiliastik ist bei Herbert Marcuse zu erkennen; eine andere Variante, die mehr an den Erlösungsweg der Selbstvervollkommnung anknüpft, bei Otto Gross. Die Affinität, in der die Mystik zur Glaubensreligiosität steht, hat aber auch einen Umschlag in die Fremderlösung möglich gemacht, wie er am Beispiel von Ludwig Klages studiert werden kann.
Für die ästhetische Sphäre nimmt Weber ein besonders starkes Spannungsverhältnis zur Mystik an, die in ihrem innersten Wesen formfeindlich sei (Weber 1972, 556). Dieser Befund steht indes nicht nur zu seinen eigenen Aussagen, etwa über Rilke, in Widerspruch, sondern auch zu anderen Untersuchungen, die gerade die Analogie von ästhetischer und mystischer Erfahrung betonen (Margreiter 1997, 30 f.). In der Musik ist das herausragende Beispiel, mit dem wir uns hier begnügen müssen, Richard Wagner, der seinen Kompositionen die Kraft zuschrieb, die Erscheinungen der Zivilisation aufzuheben wie das Tageslicht den Lampenschein. In der Literatur käme tatsächlich vor allem Rilke in Frage, dessen späte Dichtungen Affinitäten zur Mystik aufweisen, sich von der christlichen Gestalt derselben allerdings durch das Eingeschlossensein in einer Immanenz unterscheiden (Kunisch 1979). Eher ungewöhnlich und deshalb in dieser Form wohl auch singulär ist die Akzentuierung der Fremderlösung, wie sie der George-Kreis zelebriert hat, der sich um die vom Gründer entworfene Figur eines ‚plastischen Gottes‘, des früh verstorbenen Knaben Maximin, organisierte und die charismatische Gnadenergießung u.a. im liturgisch-psalmodierenden Lesen von Gedichten erfuhr.
Mit der Aufgabe, Erlösung zu bewirken, wächst der Kunst, der Erotik und der Moral eine wichtige Funktion der Religion zu, aus der diese immer wieder ihren Hegemonialanspruch abgeleitet hat. Keineswegs aber wächst ihnen damit auch schon die gesellschaftliche Ordnungskapazität der Religion zu. Diese liegt in ihrer Fähigkeit begründet, das im Kern außeralltägliche persönliche Glaubenserlebnis in einen Dauerhabitus zu verwandeln, was nur über die Ausschaltung oder Minimierung der ekstatisch-irrationalen, eben: erlebnishaften Momente und die Hinwendung zu symbolischen Ordnungen möglich ist. Zwar sind diese, wie Cassirer, Susanne K. Langer u.a. gezeigt haben, durchaus nicht einseitig auf Diskursivität festgelegt, da es neben dem verbalen auch einen nichtverbalen, ‚präsentativen‘ Symbolismus gibt (Langer 1984, 86 ff.); doch enthält der verbal-diskursive Modus ein Potential für die Intellektualisierung und Ethisierung des Religiösen, das die Herausbildung und Institutionalisierung sinnhafter Ordnungen mächtig gefördert hat. Wie die Religionsgeschichte lehrt, haben dadurch nicht nur einzelne Individuen ihr spezifisches Erlebnis zu stabilisieren vermocht. Vielmehr war es immer auch möglich, daß andere die Symbolisierung dieses Erlebnisses übernahmen und ihre Lebensführung danach ausrichteten. Der Erfolg der Weltreligionen dürfte darin begründet sein, daß sie genau die richtige Mischung von präsentativen, die Gefühls- und Erlebnissphäre ansprechenden Modi und diskursiven Elementen enthielten, die ein bestimmtes Weltbild kontextunabhängig machten und es so befähigten, gewaltige Massen von Gläubigen auf gemeinsame Ziele und entsprechende Formen des Gemeinschaftshandelns zu verpflichten.
Für rein innerweltliche Handlungsfelder wie Moral, Kunst und Erotik gilt das nicht in gleicher Weise. Die nicht mehr religiös abgestützte (also auch nicht mehr begrenzte und homogenisierte) Moral tendiert nicht bloß zu einer Hypertrophie des diskursiven Symbolismus, die das bekannte Problem der Beendigung des Diskurses aufwirft. Sie neigt darüber hinaus dazu, sich in eine unübersehbare Vielzahl konkurrierender moralischer Positionen aufzulösen und den Streit zwischen diesen in gleichem Maße zu verschärfen, in dem sie absolute Geltung für die eine oder andere dieser Positionen beansprucht. Niklas Luhmann hat deshalb mit Recht vom ‚polemogenen‘ Charakter der Moral gesprochen und daraus abgeleitet, daß sie sich nicht als Teilsystem der Gesellschaft ausdifferenzieren läßt. Da sie indes eine spezifische soziale Funktion erfüllt und insofern auch nicht wegzudenken ist, scheint es ihr Schicksal zu sein, als eine Quelle der Irritation und der Störung zu wirken, ohne selbst etwas zur Behebung der von ihr angeprangerten Mängel beitragen zu können.
Während Moral zwar polemogen, aber generalisierbar ist (Luhmann 1978, 90; ders. 1997, 1036 ff.), operiert die Kunst mit Geschmacksurteilen, die zwar kollektivierbar, aber nicht generalisierbar sind. Unter den Bedingungen sozialer Schließung durch religiöse oder politische Mächte ist es wohl möglich, eine bestimmte Geschmacksrichtung zum ‚Stil‘ zu erheben, doch gilt dies eher für Stadien, in denen die Kunst noch nicht ihre Eigengesetzlichkeit entfaltet hat. Sobald dies geschieht, pflegt das Geschmacksurteil rigoros subjektiviert und als inappellabel der Diskussion entzogen zu werden (Weber 1972, 555; Schwinn 1998, 282). Die Schroffheit, mit der die Kunst ihre Autonomie gegenüber religiösen, moralischen oder politischen Zumutungen behauptet, die meist mit den Mitteln des diskursiven Symbolismus vorgetragen werden, führt dabei zu einer so starken Akzentuierung des präsentativen Symbolismus, daß Unverständlichkeit die Folge sein kann. Verbandsbildungen im ästhetischen Feld sind damit nicht ausgeschlossen aus, wie die überreiche Geschichte der Dichterbünde und Malerschulen der Neuzeit lehrt; und es ist auch nicht ausgeschlossen, daß einzelne Künstler ganz bewußt nicht auf Exklusivität, sondern auf Massenwirksamkeit setzen, wie dies etwa für Richard Wagners Kunstwerk der Zukunft oder Hugo Balls Idee der „Gesamtkultur“ gilt. Der Wille zur Inklusion bleibt jedoch in der Regel ein Postulat, das in Widerspruch zu den verwendeten künstlerischen Mitteln und zum gleichzeitig praktizierten Geistesaristokratismus steht; die Verbandsbildung ein bloßer Virtuosenzusammenschluß, der nicht primär wertrational, sondern charismatisch motiviert und daher meist nur von kurzer Dauer ist. Wie auch wäre Dauer in einem Feld erreichbar, dessen Eigenart, wie seit Kierkegaard von allen bedeutenden Ästhetikern betont wird, im Momentanen, Plötzlichen, Vagen und Intensiven besteht (Bohrer 1998, 164, 180, 185)?
Wieder anders stellt es sich bei der Erotik dar, deren sozialer Horizont, sieht man von der Orgie ab, explizit begrenzt ist. „Erotic love“, sagt Roslyn Wallach Bologh, „is exclusive, particularistic, and self-indulgent“ (1987, 243). Eine Aufladung dieser Beziehungsform zum Medium einer innerweltlichen Erlösung mit einer gewissen Breitenwirkung steht vor dem Problem, wie diese Eigenart der erotischen Liebe festgehalten und zugleich generalisiert werden kann – ein Dilemma, dem sich der erotische Fundamentalismus meist durch eine Betonung der Einheitskommunikation zu Lasten der Differenz zu entziehen versucht, was ihn nicht selten dazu führt, den psychogenetisch früheren Stadien einen höheren Stellenwert einzuräumen als den späteren, eng mit der Individuation verbundenen. Marcuse etwa begnügt sich nicht mit der Reaktivierung der prägenitalen Sexualität, die ja immer noch objektlibidinös ist, sondern proklamiert den Primat der ‚genitofugalen Libido‘ und des ‚primären Narzißmus‘, in deren Zeichen eine „Umwandlung der Sexualität in Eros“ erfolgen soll. Klages hat den Eros anstatt als Trieb als eine Art der ‚Bildwerdung‘ verstanden, deren nähere Beschreibung wenig Zweifel daran läßt, daß hier ebenfalls der primäre Narzißmus vorbildlich war. „So wenig gleicht er dem Zustand irgendeiner Bedürftigkeit, daß wir, was Drang in ihm, zu kennzeichnen haben als Drang des Überströmens, der strahlenden Ergießung, des maßlosen Sichverschenkens“ (Klages 1988, 55). Den Nachweis, daß sich daraus stabilisierbare Sozialformen ableiten lassen, ist Klages ebenso schuldig geblieben wie Marcuse.
Diese Überlegungen zeigen: moderner Fundamentalismus auf der Basis von Moral, Kunst oder Erotik ist möglich, aber auch unwahrscheinlich. Die Kunst ist nach der Produzenten- wie nach der Konsumentenseite hochgradig individualisiert und bringt, wenn überhaupt, nur äußerst instabile soziale Verbände hervor. Die Erotik stiftet zwar massenhaft Beziehungen, aber immer nur face-to-face; und selbst diese Beziehungen bleiben, je stärker in ihnen der Akzent auf dem rein Erotischen liegt, labil und problematisch. Die Moral andererseits ist wohl in der Lage, solche Schranken zu überspringen, doch ist sie wegen ihrer starken Bindung an das soziale Konstrukt der Person – und nicht zuletzt auch wegen ihres ‚polemogenen‘ Charakters – gleichfalls nicht institutionalisierbar. Mehr als Bewegungen mit kurzem Verfallsdatum sind deshalb vom modernen Fundamentalismus nicht zu erwarten.
Zur sozialen Verortung des modernen Fundamentalismus scheint der direkteste Weg über den Hinweis Max Webers zu führen, daß ein Zusammenhang zwischen dem Erlösungsbedürfnis und der Position des „Intellektuellen“ besteht. „Stets ist die Erlösung, die der Intellektuelle sucht, eine Erlösung von ‚innerer Not‘ und daher einerseits lebensfremderen, andererseits prinzipielleren und systematischer erfaßten Charakters, als die Erlösung von äußerer Not, welche den nicht privilegierten Schichten eignet. Der Intellektuelle sucht auf Wegen, deren Kasuistik ins Unendliche geht, seiner Lebensführung einen durchgehenden ‚Sinn‘ zu verleihen, also ‚Einheit‘ mit sich selbst, mit den Menschen, mit dem ‚Kosmos‘. Er ist es, der die Konzeption der ‚Welt‘ als eines ‚Sinn‘-Problems vollzieht“ (Weber 1976, 307 f.).
Der Webersche Intellektuellenbegriff, der im übrigen auch die einschlägigen Forschungen Karl Mannheims bestimmt hat, ist indes zu weit, um aussagekräftig zu sein. Er umfaßt nicht nur die Träger des Erlösungswissens, sondern auch die des Bildungs- und, wenigstens teilweise, des Herrschafts- und Leistungswissens; er bezieht sich auf Gruppen, die in ständischer und kastenmäßiger Geschlossenheit leben oder nach außen hin offen sind; und er gilt unterschiedslos für Gruppen, die über das Monopol der Weltauslegung verfügen oder miteinander in Konkurrenz stehen (Sadri 1992). Die einzige Abgrenzung, die er zuläßt, verläuft gegenüber denjenigen, die sich durch keine innere Nötigung gedrängt sehen, „die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können“, was ebensowohl auf das traditionale Alltagshandeln wie auf das rationale Fachmenschentum zutrifft5.
Will man den Begriff der Intellektuellen einengen, so empfiehlt es sich, nicht zu konkret anzusetzen. Es erscheint nicht sehr zweckmäßig, darunter jenen Teil der Intelligenz zu verstehen, der nicht kulturschöpferisch ist (Geiger 1987, 13), ist doch jede Sinnstiftung insofern kreativ, als sie einer nicht per se sinnhaft geordneten Welt etwas hinzufügt. Ebenso unangebracht ist die Einengung über die kritische Distanz gegenüber der Macht und die Anerkennung universalistischer Werte, wie sie etwa für Pierre Bourdieu und Jürgen Habermas typisch ist (Bourdieu 1992, 207; Habermas 1987, 28 f.); ist damit doch nur eine mögliche Position bezeichnet, die Sinnproduzenten gegenüber gesellschaftlichen Institutionen und Ideen einnehmen können. Ein Jean-Paul Sartre, in vielem die Inkarnation des modernen Intellektuellen, steht zwar durchaus in kritischer Distanz gegenüber dem westlichen Kapitalismus und Kolonialismus, läßt diese aber für eine nicht unerhebliche Zeitspanne gegenüber der kommunistischen Macht vermissen. Und wie soll man die zahllosen Rechtsintellektuellen nennen, die ihre Forderungen im Namen dezidiert partikularistischer Ideale gegen den Universalismus der Vernunft formulieren?
Aus der umfassenderen Einheit der Bildungsschichten, der Intelligenz oder wie sonst immer der Oberbegriff lauten mag, läßt sich die Gruppe der Intellektuellen nur dann mit einiger Plausibilität herauslösen, wenn man darunter diejenigen Sinnproduzenten versteht, die die Macht des gesprochenen oder geschriebenen Wortes unter Bedingungen handhaben, die eine gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit eines spezifischen Sinnsystems nicht mehr zulassen. Auf eine derartige Konstellation zielte schon Max Webers Rede vom Polytheismus der Werte in einer Zeit ‚subjektivistischer Kultur‘. Auf sie bezieht sich Arnold Gehlens (in anderer Hinsicht freilich ebenfalls zu weite) Bestimmung des Intellektuellen (Gehlen, GA 7, 246 f.). Und sie ist auch gemeint mit Niklas Luhmanns Feststellung, es fehle der modernen Gesellschaft von ihrer Differenzierungsform her „ein Platz für einen privilegierten Beobachter, der bezeichnen kann, was ist, was gut ist, was wahr ist, was schön ist.“ Beobachtungen und Beschreibungen dieser Art könnten nur in funktionsbezogener Kommunikation formuliert werden, und dies schließe auch „das Beobachten solcher Beobachtungen“ ein (Luhmann 1995b, 30).
Von dieser Grundlage aus kann man die Intellektuellen nicht nur von den Routiniers traditionaler und rationaler Art unterscheiden, sondern auch von den privilegierten Beobachtern vormoderner Sozialordnungen, die in den Rollen von Priestern und Propheten, Philosophen und Mandarinen, orthodoxen und heterodoxen Glaubensstiftern usw. auftraten – Positionen, deren Inhaber allesamt unter den Bedingungen niedriger Kontingenz und Armut an Alternativen operierten und deshalb die Chance hatten, ihre jeweilige Weltauslegung zu totalisieren. Zugleich aber läßt sich in der so gewonnenen Gruppe der Beobachter zweiter Ordnung eine Differenz ausmachen, die für die Verortung des modernen Fundamentalismus wesentlich ist. ‚Intellektuelle‘ sind danach nämlich nicht nur diejenigen, die sich als Beobachter zweiter Ordnung wissen und sich entsprechend den Imperativen funktional differenzierter Systeme verhalten, sondern auch diejenigen, die die gesteigerte Distanzierungsfähigkeit benutzen, um sich auch davon noch zu distanzieren; und die daraus den unzutreffenden Schluß ziehen, es sei möglich, auf diese Weise die Position eines privilegierten Beobachters wiederzugewinnen. Das muß nicht notwendig zur Totalablehnung der Funktionssysteme führen, wie die diversen Ideologien der politischen Linken und Rechten belegen. Aber wenn es dazu führt, haben wir es mit Intellektuellenfundamentalismus zu tun.
Ihrer sozialen Herkunft nach können fundamentalistische Intellektuelle aus verschiedenen Klassen stammen: aus positiv privilegierten Besitzklassen wie dem Adel (Tolstoi) oder dem Besitzbürgertum (Lukács), aus dem Bildungsbürgertum (Georgekreis) oder dem Handwerk (Rousseau). In besonders enger Wahlverwandtschaft aber scheint der moderne Fundamentalismus zu einer sozialen Lage zu stehen, die Weber etwas drastisch und vielleicht auch nicht angemessen als Paria-Intellektualismus bezeichnet. Als dessen besondere Merkmale gelten: die stark ausgeprägte Distanzierungsfähigkeit; und ein nicht minder ausgeprägtes Bedürfnis nach Bindung, nach enracinement, wie der treffende Ausdruck von Maurice Barrès lautet. Die besondere Intensität des Paria-Intellektualismus, schreibt Weber, beruhe darauf, „daß die außerhalb oder am unteren Ende der sozialen Hierarchie stehenden Schichten gewissermaßen auf dem archimedischen Punkt gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen, sowohl was die äußere Ordnung wie was die üblichen Meinungen angeht, stehen. Sie sind daher einer durch jene Konventionen nicht gebundenen originären Stellungnahme zum ‚Sinn‘ des Kosmos und eines starken, durch materielle Rücksicht nicht gehemmten, ethischen und religiösen Pathos fähig“ (Weber 1976, 308). Weber hatte hierbei vor allem das russische Narodničestvo vor Augen, doch kann man den Kreis ohne Mühe weiter ziehen: von der ‚literarischen Politik‘, die Autoren wie Tocqueville und Darnton in der Französischen Revolution ausgemacht haben (Tocqueville 1978, 26 ff., 148; Darnton 1985), über die Romantik mit ihrer Verklammerung von rezessiver und produktiver Ironie – der doppelten Fähigkeit, sich aus allem zurückziehen und sich auf alles entwerfen zu können –, bis hin zu den jüngsten Untersuchungen über den politischen Existenzialismus des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, die diesen als Fortbildung des romantischen Subjektivismus deuten (Großheim 1999). Nicht immer muß es sich dabei um modernen Fundamentalismus handeln. Aber wenn sich der Paria-Intellektualismus mit Zeitablehnung verbindet und soteriologische Ambitionen artikuliert, dann sind alle nötigen Voraussetzungen dafür gegeben.
Das starke Pathos wie auch das intensive Bindungsbedürfnis treffen nun aber, wie gezeigt, weder in der Moral noch in der Kunst, noch in der Erotik auf Instanzen, die geeignet wären, dem Paria-Intellektualismus à la longue das zu geben, was er sucht. Schon Hegel hat darin das Motiv für die notorische Neigung zur Konversion gesehen, die so viele Romantiker in die katholische Kirche getrieben hat. „Verzweiflung am Denken, an Wahrheit, an und für sich seiender Objektivität, und Unfähigkeit, eine Festigkeit, Selbsttätigkeit sich zu geben“, habe die einen dazu gebracht, sich in religiöse Empfindungen zu flüchten, die anderen, sich in positive Religiosität zu werfen, „um etwas Festes zu haben, weil der inneren Subjektivität alles schwankt. Sie will sich mit der ganzen Gewalt des Gemüts an Positives wenden, den Kopf unter das Positive beugen, dem Äußerlichen sich in die Arme werfen, und findet innere Nötigung dazu“ (Hegel, TW 20, 417 f.).
Unter den Bedingungen fortgeschrittener sozialer Disprivilegierung der Religion bieten sich für dieses Bedürfnis nach Wiederverwurzelung nur noch die großen politischen Leitideologien an. So, und wohl nur so, ist es erklärlich, wie aus friedliebenden, die Todesstrafe perhorreszierenden Lesern Rousseaus in kürzester Frist Propagandisten eines revolutionären Terrors und eines Nationalismus werden konnten, wie er in der Welt bis dahin unbekannt war; so, und nur so, ist es begreiflich, wie ein Richard Wagner, dessen politische Ambitionen sich noch im Frühjahr 1848 auf den ‚Entwurf zur Organisation eines deutschen National-Theaters für das Königreich Sachsen‘ beschränkten, ein Jahr später einem bakunistischen Revolutionskonzept das Wort zu reden vermochte; oder wie aus dem Kreis um Stefan George, dessen Politikferne zunächst kaum zu überbieten war, Enthusiasten des Kulturkriegs wie Gundolf und deutschnationale Chauvinisten wie Wolters hervorgehen konnten. Angesichts der Häufigkeit solcher plötzlicher Wendungen und Sprünge, an die sich nicht selten extreme Positionswechsel anschließen, sollte man moralisierende Deutungsraster wie dasjenige vom ‚Verrat der Intellektuellen‘ (Julien Benda) vermeiden und sich statt dessen vor Augen führen, wie sehr dieses Phänomen strukturell bedingt ist. Es ist nicht so sehr der Mangel an Moral als der Mangel der Moral, der die fundamentalistischen Intellektuellen dazu bringt, bei den Großkollektiven Schutz zu suchen.
Bemerkenswert ist, daß es dabei selten bei der bloßen Unterwerfung bleibt. Obwohl die Ideologien dieser Großkollektive – auf der Rechten: der Nationalismus; auf der Linken: der Sozialismus – in ihrer genuinen Gestalt Produkte des modernen Fortschrittsdenkens und deshalb welt- und zeitbejahend sind, kann es, wenn die Umstände dies begünstigen und die Zahl der fundamentalistischen Konvertiten groß genug ist, zu mehr oder minder erfolgreichen Umdeutungen kommen, die das Wesen dieser Richtungen von Grund auf ändern. Im Falle des Nationalismus ist dann ein nationalreligiöser Fundamentalismus zu erwarten, der die Nation bzw. das Volk zu einer Erscheinung des Überzeitlichen im Zeitlichen erhebt und sich zur Aufgabe setzt, diese vorerst nur ‚an sich‘ existierende Größe durch Umkehr und Wiedergeburt zu sich selbst zu bringen und in dieser gereinigten Gestalt gegen die übrigen Nationen zu mobilisieren. Ansätze dazu findet man zeitweise bei Fichte, später bei Wagner, bei Lagarde oder bei Niekisch6. Macht sich der Fundamentalismus im Sozialismus geltend, so ist eine starke Abschwächung der zeitbejahend-progressistischen Grundhaltung und eine Umpolung ins Regressive zu erwarten. Beispiele dafür finden sich im rousseauistischen Kommunismus während der Französischen Revolution, vielleicht auch, was einer eingehenderen Untersuchung bedürfte, im populistischen Agrarsozialismus, dessen führende Vertreter in Rußland die kapitalistische Industrialisierung aufhalten und direkt, gestützt auf die angeblich kommunistische Umteilungsgemeinde, zum Sozialismus übergehen wollten. Moderner Fundamentalismus ist politisch ambivalent. Aber seine Folgen sind immer die gleichen: Regression, Zerstörung, Tod. Daß er dafür Gründe anführen kann, macht seine Lösungen nicht annehmbarer.
Die Texte des vorliegenden Bandes sind als Versuche gedacht, die Tragfähigkeit des hier umrissenen Typus auszuloten. Einige davon wurden zwischen 1997 und 2001 an verschiedenen Orten veröffentlicht: im Berliner Journal für Soziologie (Einleitung), in Sinn und Form (I.1, II.3), der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (II.2), dem von Wolfgang Braungart u.a. herausgegebenen Band Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘ (Exkurs) den Recherches Germaniques (III.2), dem Jahrbuch der Klages-Gesellschaft, Hestia (IV) und der Internationalen Zeitschrift für Philosophie (V). Dennoch handelt es sich nicht um einen Sammelband im üblichen Sinne. Die schon publizierten Texte wurden vielfach erheblich erweitert und umgearbeitet, wie es immer da der Fall zu sein pflegt, wo ein Konzept nicht von Anfang an fest steht, vielmehr erst allmählich in der Auseinandersetzung mit bestimmten Erscheinungen Konturen annimmt. Für wichtige Anstöße hierzu bin ich Botho Strauß und Martin Riesebrodt verpflichtet: dem letzteren für seine klärenden Beiträge zur Religionssoziologie des Fundamentalismus, dem ersteren für die Idee, den Begriff auf außerreligiöse Phänomene anzuwenden. Dem Herausgeber der Kulturwissenschaftlichen Studien, Klaus Lichtblau, habe ich für manchen klärenden Hinweis auf begriffliche und sprachliche Inkonsistenzen zu danken.
1Siehe die Beiträge von Schütze, Reichel, Klinger und Dubiel in: GegenModerne 1992.
2Parsons 1980, 212. Parsons hat denn auch nicht gezögert, den Nationalsozialismus als Fundamentalismus zu deuten: vgl. Parsons 1973, 281.
3Dieser regressive Zug charakterisiert natürlich auch den religiösen Fundamentalismus. Auffällig ist jedoch, daß der letztere, ungeachtet seiner grundsätzlich weltablehnenden Haltung, gegenüber der modernen Wissenschaft und Technik keineswegs die gleiche Reserve zeigt wie der moderne Fundamentalismus. Das gilt für den protestantischen Fundamentalismus in den USA, der sich bekanntlich virtuos der avanciertesten Formen der Massenkommunikation bedient, ebenso, wie für den Islamismus, der Wissenschaft und Technologie für neutral und deshalb islamischen Zwecken durchaus adaptierbar hält (vgl. Tibi 1992, 105 u.ö.). Nach den Prämissen der Religionssoziologie Webers ist dies nicht überraschend. Denn der protestantische wie der islamische Fundamentalismus sind beide auf Weltablehnung basierende Religionen der Weltbeherrschung, die den Erlösungsweg der Askese bevorzugen (Peters 1987). Askese aber ist stets ein aktiv ethisches Handeln „mit dem Bewußtsein, daß Gott dies Handeln lenke: daß man Gottes Werkzeug sei“ (Weber 1976, 328). Von da aus liegt es nahe, auch Wissenschaft und Technik als Werkzeuge anzusehen, mit deren Hilfe das gottgewollte Ziel zu erreichen ist. Anders gesagt: beim religiösen Fundamentalismus impliziert Weltablehnung nicht notwendig Zeitablehnung (jedenfalls nicht im totalen Sinne), wie umgekehrt beim modernen Fundamentalismus Zeitablehnung nicht Weltablehnung impliziert.
4Troeltsch 1919, 931. Zu den unterschiedlichen Akzentsetzungen bei Troeltsch und Weber, auch und gerade in typologischer Hinsicht, vgl. Molendijk 1996, 46, 66, 84. Die zeitbejahenden Formen der Mystik hat Troeltsch nicht zuletzt in der von Eugen Diederichs publizierten ‚Verlagsreligion‘ lokalisiert (vgl. 1919, 934).
5Weber 1976, 304. Womit natürlich nicht gesagt ist, daß nicht auch ‚Fachmenschen‘ sinndeutend tätig sein können. Wer eine höhere Bildung genossen hat, ist ein „potentieller Intellektueller“, sagt Schumpeter mit Recht, jedoch nicht ohne hinzuzufügen, daß etwa Ärzte und Advokaten keine Intellektuellen im eigentlichen Sinne seien (1987, 236). Dies ist gegen die Begriffsausweitung bei Robert Michels, Theodor Geiger und noch Arnold Gehlen festzuhalten.
6Ich bin an anderer Stelle darauf ausführlicher eingegangen: vgl. Breuer 1999, 62 ff., 139 ff.
Nach einer einflußreichen neueren Deutung muß der moderne Fundamentalismus als Ergebnis einer Verschmelzung heterodoxer religiöser Traditionen mit dem Jakobinismus angesehen werden, dessen Kern im „Glauben in den Primat der Politik und die Fähigkeit der Politik, Gesellschaft zu rekonstituieren“, bestehe (Eisenstadt 1998, 67). Das ist eine bestreitbare These. Das Wesensmerkmal des Jakobinismus – der Glaube an die Allmacht der Politik – ist kein Wesensmerkmal des Fundamentalismus, nicht des modernen, der sich an Moral, Kunst oder Erotik orientiert, nicht des religiösen, von dem zu Recht gesagt wird: „Der politische Aktivismus ist oftmals nur ein vorübergehender Zug, den fundamentalistische Bewegungen unter gewissen Zeitumständen annehmen, aber auch wieder ablegen können“ (Riesebrodt 2000, 55). Umgekehrt ist das gemeinsame Merkmal aller Fundamentalismen – die Welt- bzw. Zeitablehnung – kein Wesensmerkmal des Jakobinismus. In dem Katalog der Präferenzen, die man ihm zugeschrieben hat – von der Unteilbarkeit der nationalen Souveränität über die Zentralisierung von Staat und Gesellschaft bis zur Idee der Erneuerung des Menschen durch die republikanische Schule (Furet/Ozouf 1996, 1171) –, sucht man vergeblich danach, und dies nicht von ungefähr. Robespierre, der wie kein anderer den Geist des Jakobinismus repräsentiert, ist tief durchdrungen vom Glauben an den Fortschritt der Menschheit, nicht nur auf physischem, sondern auch auf moralischem Gebiet. Die Jakobiner mögen an die Allmacht der Politik, an das Charisma der Vernunft und an die Verwirklichung der Tugend geglaubt haben; Fundamentalisten waren sie deshalb noch lange nicht.
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß der Fundamentalismus keine Rolle in der Französischen Revolution gespielt hätte. Zeiten beschleunigten sozialen und politischen Wandels pflegen Polarisierungen zu fördern, so daß neben einem Extremismus des Fortschritts stets auch mit dessen Gegenteil zu rechnen ist. Der Name, der sich hierfür sofort aufdrängt, ist Rousseau, dessen Werk zwar auf alle Richtungen der Revolution gewirkt hat (und damit auch auf die Jakobiner), dessen fundamentalistische Grundintention gleichwohl nur von wenigen aufgenommen und bis in die letzten Konsequenzen geführt worden ist. Rousseau war vielleicht nicht, wie Nietzsche gemeint hat, der erste moderne Mensch (KSA 6, 150). Gewiß aber war er der erste Moderne, der die Menschheit anstatt in einem allgemeinen Fortschritt zum Besseren in einer zunehmenden Denaturierung und Dekadenz begriffen sah. Er war der erste Diagnostiker einer genuin modernen Krise, die geradewegs auf die Revolution zusteuerte. Und er war schließlich auch der erste, der das Heil nicht mehr von der Religion, sondern von Moral und Politik erwartete. Gründe genug, um ihm im Pantheon des modernen Fundamentalismus einen zentralen Platz zuzuweisen.
Um die Eigenart von Rousseaus Fundamentalismus zu verstehen, muß man sich zunächst klarmachen, inwiefern es sich nicht um einen religiösen Fundamentalismus handelt. Ein solcher ist nicht von vornherein auszuschließen, hat Rousseau doch den Boden der positiven Religion nie völlig verlassen. Er glaubt an den Schöpfergott der jüdisch-christlichen Tradition, an das Evangelium Christi, an die Pflicht, die Religion des Landes zu bekennen und zu lieben7. Der savoyische Vikar, so skeptisch hinsichtlich der einzelnen Dogmen, weiß doch zumindest um die Ordnungsfunktion der Offenbarungsreligionen und der auf sie gegründeten Kirchen: Jemanden dazu zu überreden, seine Religion zu verlassen, meint er, „heißt, ihn dazu zu überreden, Böses zu tun und folglich selbst Böses zu tun“ (Emile 330/629). Nicht ohne Grund bezeichnet Troeltsch Rousseau als „eine wirklich religiöse Natur“, als „die am meisten religiöse Persönlichkeit“ unter allen Deisten (Troeltsch 1925, 482).
Nichtsdestoweniger sehen wir Rousseau nirgends bei jener Aktivität, die für den religiösen Fundamentalismus essentiell ist: der Reaktivierung und Mobilisierung der religiösen Tradition. Seine ganze Anstrengung richtet sich vielmehr darauf, diese Tradition zu entwerten, sie als religiöse Quelle zu entkräften (Cassirer 1991, 46). Rousseau verwirft die Offenbarungen, weil in ihnen Gottes Wort durch die Stimme des Menschen verfälscht werde. Er bezweifelt die Autorität der Propheten und der Kirchenväter, attackiert das Interpretationsmonopol der Theologen und die Überzeugungskraft der heiligen Texte (DI 389). Dem Literalismus, der überall eine Wurzel des religiösen Fundamentalismus ist, erteilt er eine Absage, wie sie schroffer nicht sein könnte: „Immer Bücher! Welch eine Manie! Weil Europa voll Bücher ist, betrachten die Europäer sie als unentbehrlich, ohne zu bedenken, daß man auf drei Vierteln der Erde niemals ein Buch gesehen hat. Sind nicht alle Bücher von Menschen geschrieben worden? Wozu braucht sie also der Mensch, um seine Pflichten kennenzulernen?“ (Emile 322/620)
Rousseau verwirft indes nicht nur die Tradition, an der eine Revitalisierung der Religion anzusetzen hätte. Er versperrt zugleich den Weg in die Weltablehnung, der zwar nicht die großen Kulturreligionen schlechthin charakterisiert, wohl aber ihre fundamentalistischen Umdeutungen. Rousseau übernimmt weder die gnostische Negativierung des Kosmos noch die patristische Modifikation derselben, nach der die Welt nicht an sich, sondern nur durch den Sündenfall böse sei. Er schließt sich statt dessen der spezifisch neuzeitlichen ontologischen Theodizee an, nach der Gott ebenso wie die von ihm geschaffene Welt gut ist (Kondylis 1979, 120 ff.). Kein böser Demiurg hat die Welt als ein von Grund auf miserables, vernichtungswürdiges Werk geschaffen; keine Erbsünde hat sie bis zum Jüngsten Gericht befleckt. Vielmehr: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen“ (Emile 9/245).
Rousseaus Insistenz auf der ursprünglichen Güte der Natur und des Menschen verbietet es, ihn in eine direkte Kontinuität mit dem religiösen Radikalismus zu stellen, wie dies Eric Voegelins Auffassung vom gnostischen Charakter der Aufklärung entspricht (Voegelin 1959, 10). Für ihn ist die Welt kein gottfernes Zwangssystem, Gefängnis oder Labyrinth, aus dem es zu entfliehen gilt. Sie ist ganz im Gegenteil ein Spiegelbild des Schöpfers, dessen Bonität sowohl für den Anfangszustand verbürgt ist, in dem die Menschen noch den Tieren nahe sind, als auch für einen großen Teil der folgenden Geschichte. Im Streit mit Voltaire über das Erdbeben von Lissabon hat Rousseau sich denn auch folgerichtig auf die Seite von Leibniz und Pope gestellt und Voltaires negative Verbindung von Gott und Natur zurückgewiesen (Brief an Herrn von Voltaire: Rousseau 1978, Bd. I, 315 ff./1059 ff.).
Die fehlende Weltablehnung, an der ein religiöser Fundamentalismus ankristallisieren könnte, wird durch eine um so vehementere Zeitablehnung kompensiert, die sich auf beinahe sämtliche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen erstreckt. Schon der Erste Diskurs greift das Selbstverständnis der Epoche frontal an, indem er bezweifelt, daß der Fortschritt der Wissenschaften die Tugend gefördert habe. Die folgenden Schriften relativieren diesen Vorwurf, erweitern aber die Anklage eher, indem sie nun auch andere Faktoren für die allgemeine Verderbtheit verantwortlich machen: das Privateigentum und die Arbeitsteilung, den Handel und die Entdeckungsfahrten, das Bevölkerungswachstum und die großen Städte; das Bedürfnis, mehr zu haben, als man zum Leben braucht; das Streben nach Ungleichheit, nach Reichtum, nach Macht. Rousseau macht seiner Zeit den Prozeß; und sein Urteil fällt so vernichtend aus, daß er nicht wenigen Zeitgenossen als ein moderner Anachoret erscheint, als ein politischer Sonderling, „der die Sekte des Diogenes nach zwei Jahrtausenden wieder zum Leben erweckt“8.
In seiner Verwerfung der Gegenwart stützt sich Rousseau auf verschiedene Gründe. Im Ersten Diskurs orientiert er sich an der Idee einer wahren, von der vertu durchdrungenen Kultur, in der die Handlungen des Menschen nicht zu eigengesetzlichen Sphären verdichtet, sondern Ausdruck seines Inneren, seines authentischen Selbst sind. Der Kern des ‚Rousseauismus‘ wird genau hier liegen: im Appell an die Ganzheit, im Wunsch, „die Trennungen des Subjekts von den gesellschaftlichen Funktionsdifferenzierungen weitestgehend rückgängig zu machen, dem ‚homme‘ des gesellschaftlichen Zustands seine größtmögliche Authentizität und Unmittelbarkeit wiederherzustellen“ (Link-Heer 1986, 147). Im Zweiten Diskurs fungiert als Maßstab zunächst die Fiktion eines reinen Naturzustands, in dem die Menschen isoliert, ohne Sprache, ohne Familie, ohne Sozialverbände leben und eben deshalb gut sind; später das Konzept eines modifizierten, durch diverse ‚Revolutionen‘ veränderten Naturzustands, der durch eine die natürliche Unabhängigkeit nicht tangierende, ergo: gute