Moon Lake - Eine verlorene Stadt - Joe R. Lansdale - E-Book

Moon Lake - Eine verlorene Stadt E-Book

Joe R. Lansdale

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Beschreibung

Daniel Russell war erst 13 Jahre alt, als sein Vater versuchte, sich selbst und seinen Sohn zu töten. Er fuhr von einer Brücke direkt in die Fluten des Moon Lake in Ost-Texas. Doch wie durch ein Wunder überlebte der Junge. Jahre später, nachdem er neue Informationen über sein Kindheitstrauma erhalten hat, kehrt Daniel zurück an den Moon Lake. Er hofft, das Auto und die Knochen seines Vaters bergen zu können. Aber tief verborgen unter dem glitzernden Wasser des Sees entdeckt er etwas Schockierendes, das mit einer Reihe ungewöhnlicher Morde in Verbindung steht … Moon Lake entführt seine Leser in ein glühendes, verlockendes Mysterium, gespickt mit Humor und Herz. Daniels Kampf wird unser Kampf. Locus Magazin: »Ein meisterhafter Geschichtenerzähler.« Robert Schekulin (Krimibuchhandlung Hammett, Berlin): »Lansdale steht ebenbürtig in der Tradition großer Südstaatenerzähler wie Faulkner und Twain.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Moon Lake

erschien 2021 im Verlag Mulholland Books.

Copyright © dieser Ausgabe 2022

by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Published in agreement with the author,

c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.

Lektorat: Joern Rauser

Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-031-1

www.Festa-Verlag.de

Für Pamela Lansdale Dunklin

und Scott Dunklin

Der Mond ist aufgegangen. Das Wasser ist gestiegen. Dunkle Seelen ziehen über die Erde und weinen.

Jerzy Fitzgerald

ERSTER TEIL

Die Nacht, die Brücke, das bleiche Mondlicht

1968

1

Mein Name ist Daniel Russell. Ich träume von dunklen Wassern.

Meine erste Erinnerung an den Moon Lake stammt aus meiner Jugend. Es war eine dunkle Nacht im Oktober 1968. Der fast volle Mond schien auf dem Wasser zu treiben. Ich erinnere mich an seinen Glanz und die Art, wie sich die Schatten der Bäume am Seeufer zu ihm hinstreckten wie Finger aus Schokolade, die nach einem Silberteller greifen.

Ich und mein Dad hatten auf einer langen, schmalen Brücke über dem See geparkt. Sie bestand aus rostigem Metall, Kabeln und verrottendem Holz, ganz zu schweigen von ein paar verflossenen Träumen, denn die Stadt unter dem Wasser war überschwemmt worden und der große See sollte zum Hoffnungsträger der neuen Stadt werden. Man erwartete, dass Leute von überall aus der Umgebung kamen und ihn aufsuchten, um an seinen Ufern zu picknicken und in seinen Tiefen zu fischen.

Aber das taten sie nicht. Jedenfalls kamen nicht genug.

Ich war 14 Jahre alt, als ich das erfuhr, oder zumindest einen Teil davon. Wenn man den Mond über dem Wasser sah, wurde einem klar, woher der See seinen Namen hatte.

Wir waren in unserem klapprigen Buick unterwegs, der noch aus einer Zeit stammte, in der die Autos groß gewesen waren und der amerikanische Traum für jeden erreichbar schien, der weiß, männlich, heterosexuell und gewillt war, ihn zu träumen. Alle anderen mussten eine Nummer ziehen und warten.

Zwei Tage nachdem man uns wegen einer verspätet bezahlten Stromrechnung das Licht ausgeknipst hatte, wie mein Vater das nannte, machten wir uns vor dem Gerichtsvollzieher aus dem Staub. Nachdem wir zwei Tage ohne Heizung im Dunkeln verbracht hatten, in dem Wissen, dass man uns bald das Haus wegnehmen würde, und da sich in dem jetzt nutzlosen Kühlschrank nur noch ein schwärzlicher Kohlkopf und eine Viertelflasche verdorbener Milch befanden, packte Dad die Reiselust und wir fuhren mit quietschenden Reifen davon.

Als wir dort auf der Brücke parkten, erklärte er mir, weshalb meine Mutter uns vor ein paar Monaten verlassen hatte. Sie können mir glauben, dass ich mir diese Frage durchaus auch schon gestellt hatte. Dad sagte, sie sei der Ansicht gewesen, dass ich, er und die ganze Welt ihr nur zur Last fielen. Ich nehme an, ohne uns hatte sie an ihrem Dasein weniger schwer zu tragen. Wenn man einmal beschlossen hat, Ballast abzuwerfen, zählt wahrscheinlich jedes Gramm.

Nach ihrem Weggang hatte ich meine Mutter kaum je erwähnt. Ich hätte mich gern daran erinnert, dass sie mich einmal gehalten, sanft mit mir gesprochen oder mich geliebt hatte, aber falls sich eine solche Erinnerung irgendwo in meinem Hirn befand, konnte ich sie jedenfalls nicht finden. Sie hatte zu längeren depressiven Verstimmungen und spätabendlichen Besäufnissen geneigt und war dabei von einer irgendwie unheimlichen Schönheit gewesen. Dunkle Haare und Augen, samtweiche Haut, nervöse Bewegungen wie ein Eichhörnchen auf Amphetaminen. Ein silberner Stern saß in einem ihrer Vorderzähne. Das war ein kosmetischer Eingriff gewesen, um den sie den Zahnarzt gebeten hatte. Äußerlich war sie ein Hippiemädchen, innerlich eine Wall-Street-Bankerin.

Nicht lange nach der Abreise meiner Mom nahm Dad ihre übrig gebliebene Kleidung und ihren restlichen Kleinkram und brachte alles zur Müllhalde. Allerdings behielt er eins ihrer schwarzen Höschen, und das war mir etwas unangenehm. Er bewahrte den Slip in einer Schublade in der Nähe seines Bettes auf. Einmal sagte er zu mir: »Der riecht genau wie sie.«

Manche Dinge braucht ein Kind einfach nicht zu erfahren.

An dem Tag, an dem wir unsere Sachen packten und gingen, nahmen wir auch diesen Slip mit. Ich habe gesehen, wie Dad ihn in seinen Koffer legte. Den Großteil unserer Sachen ließen wir zurück und reisten mit leichtem Gepäck, jeder hatte nur einen Koffer – die hatten wir hinter unserem Weihnachtsschmuck hervorgeholt. Wir luden das Gepäck in den Kofferraum und auf den Rücksitz, zusammen mit etwas Fluchtkleidung. Hauptsächlich Hemden.

Dann verbrachten wir ein paar Nächte in Motels, die so billig waren, dass wir in einem davon hören konnten, wie Kakerlaken knisternd unter der Tapete umherhuschten. In einem anderen wurden wir Zeugen, wie der Nachbar hustete, duschte und sich beim Scheißen abquälte.

An diesem kühlen Abend im Jahr 1968 parkten wir auf der Brücke, weil wir kein Zuhause und kein Geld mehr für ein Motelzimmer hatten. Dad sagte, er habe in irgendeiner Zeitung etwas über einen Job gelesen. Aber er drückte sich vage aus. Ursprünglich war er Bibliothekar gewesen, hatte diesen Beruf jedoch aufgegeben, um mehr Geld verdienen zu können, weil meine Mutter sich einen höheren Lebensstandard gewünscht hatte. Sie hatte sich nicht für einen Mann begeistern können, der aus ihrer Sicht einen Frauenberuf hatte, weil er Bücher durch die Gegend schleppte, verstaubte Karteikarten ausfüllte und sich die Dewey-Dezimalklassifikation einprägte. Sie feierte gern. Dad hingegen beklagte sich lieber.

Dad war nicht schlecht in Mathe und in mancherlei Hinsicht ein kluger Mann; er hatte auch die entsprechenden Zeugnisse, die das bewiesen. Er wurde Buchhalter, und ich glaube, dass er und meine Mutter danach für einige Jahre besser miteinander ausgekommen waren, obwohl er diese Arbeit gehasst hatte. Er vermisste den Geruch alter Bücher und die Jagd auf Kunden, die die Leihfristen nicht einhielten.

An einiges davon erinnere ich mich, anderes hat mir mein Dad erzählt und manches habe ich mir vielleicht auch nur ausgedacht.

Als wir dort auf der Brücke saßen und der Wind um das Auto pfiff, trommelte mein Vater mit den Fingern auf das Lenkrad. Der große Silberring, den er an der linken Hand trug, erzeugte dabei ein Klicken und das Mondlicht brachte ihn zum Funkeln.

Dad sagte: »Unter diesem Moon Lake liegt eine Stadt namens Long Lincoln. Die ist nach einem langen Elend namens Lincoln benannt worden. Was sagt man dazu?«

Ich sagte gar nichts, schon weil ich nicht sicher war, ob diese Frage mir gegolten hatte. Das Mondlicht, das durch die Windschutzscheibe fiel, ließ Dad aussehen, als wäre er in schimmerndes Gold gehüllt. Die Knochen seines Gesichts schienen sich schärfer als sonst abzuzeichnen, scharf genug, um damit einen Brief zu öffnen. Sein Mund zitterte. Ihm standen Schweißperlen auf der Stirn, und ich weiß noch, dass ich mich fragte: Warum schwitzt er? Es ist doch eine kühle Nacht.

Der starke Herbstwind riss das Laub von den Bäumen und ließ es durch die Luft flattern. Die Blätter erstrahlten im hellen Mondlicht rot, gelb, orange und braun. Viele blieben auf unserer Windschutzscheibe und der Brücke liegen wie Vögel, die sich niederließen. Wo sie über die Scheibe glitten, zeichnete das Mondlicht ein Tarnmuster auf Dads Gesicht.

»In Long Lincoln bin ich geboren. Dort bin ich auch deiner Mutter begegnet. Damals gingen wir auf die High School. Wir hatten geglaubt, wir würden nicht mehr brauchen als Liebe. Wir haben eine Menge alberner Sachen geglaubt. Ein paarmal bin ich noch hergekommen, nachdem ein See draus geworden war. Ich habe hier geparkt, habe nach unten geschaut, und an Tagen, an denen die Sonne schien, konnte ich Gebäude erkennen, ich konnte sogar das Wort ›Postamt‹ lesen an dem Haus, in dem ich Briefe an den Weihnachtsmann eingeworfen, mich fürs College beworben und meinen Großeltern nette Postkarten geschrieben habe. Als sie starben, gab es nur noch mich, dich und deine Mutter. Drei gegen das Nichts. Jetzt sind wir nur noch zu zweit. Du und ich. Gott, ist das eine traurige, alte Welt.«

Ich wollte ihn fragen, warum wir auf dieser Brücke hielten und warum er mir all diese Dinge sagte, von denen er mir größtenteils auch schon früher erzählt hatte, und zwar oft. Aber da war etwas an der Art, wie er sprach, etwas, das mich dazu brachte, länger den Mund zu halten als sonst. Dass wir nun tatsächlich auf dieser Brücke waren, die er mir beschrieben hatte, als wir noch in unserem Haus gewohnt hatten, ließ sie mir noch seltsamer und noch unwirklicher erscheinen.

»Ich habe deine Mutter geliebt«, fuhr er fort. »Ich möchte, dass du das weißt. Ohne sie sind wir aufgeschmissen. Meine Hände sind feucht vom Blut zerstörter Hoffnungen.«

Manchmal redete er so. Meine Mutter hatte immer gesagt, dass er eine Menge Bücher las. Durch seine Arbeit in der Bibliothek hatte er schließlich freien Zugang zu ihnen gehabt.

Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. »Daddy, du machst mir Angst.«

Er wandte sich von mir ab und blickte nach vorn, was mich dazu brachte, dasselbe zu tun. Ich sah das Licht unserer Scheinwerfer auf der Brücke, ich sah, wie weit es reichte, ich sah das Laub, das immer noch in den Lichtstrahlen herumwirbelte und auf der maroden Brücke landete.

Sie war schmal und lang, ihr Seitengeländer bestand aus dünnen, rostigen Metallstreifen, und beim Hinauffahren hatte sie gezittert und gestöhnt wie eine traurige alte Frau, die dem Tod nahe war.

»Manchmal muss man das tun, was für alle das Beste ist«, sagte Dad. »Niemand sollte Hunger und Sorgen ertragen müssen, ohne zu Hause Liebe und Unterstützung zu bekommen. Natürlich sollte man überhaupt erst einmal ein Zuhause haben.«

Als er das gesagt hatte, lachte er ein wenig. Es klang wie knirschendes Eis. Er verhielt sich so merkwürdig, dass sich das Innere des Autos kälter anfühlte, als es bei diesem Wetter sein musste.

»Vor langer Zeit ist diese Stadt da unten einmal bewohnt gewesen. Die Leute dort hatten Arbeitsplätze und Häuser, und dann hat irgendjemand entschieden, dass die Stadt an einen anderen Ort verlegt und umbenannt werden und dass die alte Stadt unter einem See liegen soll. Damals gab es einen großen Damm, der so breit war, dass man drüberlaufen konnte. Der hatte einen Notüberlauf, und da oben war es schön. Wasser kam aus dem Überlauf und floss als Bach mitten durch die Stadt, vorbei an einem Postamt, an Tankstellen, einer Schule, einem Gemischtwarenladen und noch so vielem mehr. Auf beiden Seiten des Bachs standen Bäume, die dem Großteil der Stadt Schatten spendeten, und es gab Häuser an beiden Stadträndern. In einem davon habe ich gewohnt. Da bin ich aufgewachsen. Hab ich das schon mal erzählt?«

»Ja, Sir.«

Ich war nicht sicher, ob er meine Antwort gehört hatte.

»Geld hat den Besitzer gewechselt, und der Ort wurde evakuiert. Man hat an einer anderen Stelle eine neue Stadt gebaut. Aber es gab da unten einige, die nicht gehen wollten. Kannst du dir das vorstellen? Die haben dort gewartet und geglaubt, dass man das Wasser nicht reinlassen würde, wenn sie blieben. Aber genau das hat man getan. Alles verschwand blitzschnell, und die Überreste liegen jetzt da unten auf dem Grund, zusammen mit den Knochen von denen, die nicht gegangen sind. Ich bin dort auf die Welt gekommen. Ich bin dort aufgewachsen. Ich habe dort deine Mutter getroffen.«

Ein Muster begann sich abzuzeichnen.

»Danny, ich habe das Gefühl, dass es kein echtes Licht und keine echte Wärme mehr im Universum gibt. Du sollst dich nie so fühlen müssen. Verstehst du das?«

Nein, das verstand ich nicht.

»›Der Mond ist aufgegangen. Das Wasser ist gestiegen. Dunkle Seelen ziehen über die Erde und weinen.‹ Das ist ein altes Gedicht. Ich weiß jetzt, was es bedeutet.«

Dad legte den Gang ein und ließ uns mit einem sanften Druck auf das Pedal langsam vorwärtsrollen. Ich war froh, dass es endlich weiterging.

»Ich möchte, dass du weißt, wie lieb ich dich habe«, sagte er.

Bevor ich erwidern konnte Ich hab dich auch lieb, trat er mit voller Wucht auf das Gaspedal. Der Wagen machte einen Satz nach vorn, die Brücke schwankte. Er riss das Lenkrad nach rechts, und der große Buick, für den noch fünf Raten abbezahlt werden mussten, krachte durch das verrottende Geländer und segelte wie eine Rakete ins Leere.

Nasses Laub umwirbelte uns. Dann kippte der Wagen nach vorn, und da war der Schatten des Buick, mitten im funkelnden Spiegelbild des Mondes. Wir schienen in Zeitlupe zu fallen, die Scheinwerfer leuchteten in den See und der gespiegelte Mond glich einer goldenen Zielscheibe.

Als das Auto ins Wasser schlug, holte ich tief Luft. Beim Aufprall entstand ein klatschendes Geräusch. Die Scheinwerfer leuchteten sogar unter Wasser weiter, doch nur einen Moment lang, dann gingen sie aus. Die Windschutzscheibe gab nach, faltete sich wie eine Decke zusammen und stieß gegen mich. Das kalte Wasser und der Zusammenprall mit der Scheibe rissen mich aus dem Sitz.

2

Wäre das heute passiert, hätte ich den Sicherheitsgurt angelegt, aber damals taten wir das nicht, selbst dann nicht, wenn es in unserem Auto einen gab. Denke ich heute zurück, frage ich mich, ob mir ein Gurt in diesem Fall sogar zum Verhängnis geworden wäre, ob ich mich mit dem Gurtschloss abgemüht und dabei Wasser geschluckt hätte, bis wir auf dem schlammigen Grund gelandet wären.

Aber in diesem riesigen Buick hat es gar keine Anschnallgurte gegeben, und der Aufprall, die aus dem Rahmen gerissene Scheibe und das Wasser spülten mich über den Rücksitz. Die Kleidung, die wir dorthin geworfen hatten, wirbelte um mich herum. Irgendetwas blieb an meinem Kopf hängen, dann fühlte ich einen Schmerz am Rückgrat.

Mir wurde klar, dass ich durch die Heckscheibe gedrückt worden war.

Das Sicherheitsglas legte sich um mich und gab dann nach. Ich riss mir den Stoff vom Gesicht und sah nach unten. Es war dunkel, aber hell genug, dass ich noch für einen Augenblick die Rückseite des Autos und die verblassenden Rücklichter erkennen konnte – und dann nicht mehr. Die Dunkelheit verschluckte den Buick und meinen Dad.

Über mir sah ich das Mondlicht durchs Wasser scheinen. Es wies mir den Weg, wie bei den Sterbenden, die behaupteten, sie hätten ein warmes, helles Licht gesehen, das sie zu sich rief.

Ich hatte zwar den ganzen Sommer mit Schwimmen verbracht, war aber noch nie dafür gelobt worden, wie ich mich im Wasser bewegte. Ich kämpfte mich ab wie ein sterbender Frosch und war schnell am Ersticken.

Dann sah ich eine Meerjungfrau. Sie schwamm von oben zu mir herab, eine dunkle Gestalt mit flinken Bewegungen.

Ich fühlte mich schwach. Ich spürte, wie ich mich mit irgendetwas füllte und tiefer sank. Dann packte mich die Meerjungfrau, und es ging nach oben. Sie zog mich an der Jacke mit. Die hatte mich bei meinen kümmerlichen Schwimmversuchen behindert und sich wie ein erstickender Kokon um mich gelegt.

Das Licht wurde heller, und schließlich stieß die Meerjungfrau durch die Wasseroberfläche, wobei sie mich immer noch an der Jacke mitriss. Sie war schwarz. Das fiel mir auf. Ich hustete und spuckte, wurde das Wasser jedoch nicht los. Ich hatte das Gefühl, vom Mondlicht absorbiert zu werden. Dann war es verschwunden, das Universum wurde trüb und finster, und es gab nur noch das Schlagen der Arme und Beine der schwimmenden Meerjungfrau im Wasser. Das dachte ich jedenfalls, bevor mir bewusst wurde, dass es sich um mein hämmerndes Herz handelte.

3

Als ich aufwachte, schwebte ein schwarzes Gesicht über mir, als wäre es die dunkle Seite des Mondes. Der dunkle Mond war das Gesicht eines Mädchens, etwa in meinem Alter.

Sie war die Meerjungfrau, deren Umrisse sich in den Lichtstrahlen abzeichneten. Ihr Körperbau war geschmeidig. Ihre dunkle Haut schimmerte feucht. Mondglitzernde Tropfen fielen ihr von Nase, Wangen, Lippen und Kinn sowie aus dem erschlafften Afro. Sie sah mich an, als hätte sie eine bisher unbekannte Fischart vor sich. Zuerst war sie mir nackt erschienen, aber jetzt stellte ich fest, dass sie ein dunkles Hemd und dunkle Shorts trug. Und keinen Fischschwanz hatte.

Ich drehte den Kopf zur Seite, um etwas Wasser aus mir hinausfließen zu lassen, und als ich das tat, sah ich über den See hinweg, wie sich dort ein kleines Licht durch die Bäume bewegte, als wäre es ein großes Glühwürmchen.

Dann war es verschwunden.

Ein anderes schwarzes Gesicht erschien über mir, das größer, runder, älter und nicht ganz so schön war. Der Mann, dem dieses Gesicht gehörte, war vollständig bekleidet und trug einen Fedora.

Der ältere, trockene Mann hob meinen Kopf an und sagte: »Atme ganz ruhig. Du bist auf dem Grund des Sees gewesen.«

Das stimmte zwar nicht ganz, aber ich war ihm sicherlich nahe gekommen.

Da mir übel wurde, drehte ich den Kopf und würgte so viel schmutziges Wasser hervor, dass es für eine ganze Fischzuchtanlage gereicht hätte.

»Ist schon gut«, sagte der Mann. »Das wird wieder.«

Das Mädchen starrte mich immer noch an. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund geöffnet und ihre Brust hob und senkte sich leicht. Ihr Anblick vertrieb zwar nicht den Schmerz, den ich in dieser Nacht empfand, aber er war wie Balsam für die Wunde in meiner Seele. Ich fühlte eine schwärmerische Verliebtheit in mir aufsteigen.

»Du hast mich gerettet«, stellte ich fest.

»Japp.« Sie lächelte. Lieber Gott, was für ein Lächeln.

»Mein Daddy?«, fragte ich. »Im Auto.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Junge. Du bist der Einzige, der rausgekommen ist. Er ist mit dem Auto untergegangen und nicht wieder aufgetaucht. Das Wasser ist ganz schön tief da draußen.«

»Ihr müsst ihn holen«, sagte ich.

»Tut mir leid. Jetzt hat ihn der See.«

Ich begann zu weinen und weiß nicht mehr, wann ich damit aufhörte. Ebenso wenig erinnere ich mich daran, wie sie mir aufhalfen, mich von meiner nassen Jacke befreiten und mich in ihren Pick-up luden, oder wie sie ihr Angelzeug einpackten, denn sie hatten nachts am Ufer geangelt, zwischen den Bäumen und den dunklen Schatten – zu meinem Glück. Dafür erinnere ich mich noch an die Fahrt in die Stadt.

Sie war lang und einsam gewesen. Schubweise und ruckartig kam die Welt zu mir zurück. Kalte, nasse Erinnerungen, hier ein Fetzen, da ein Fetzen, das Auto im Wasser, wie es sank, tiefer und tiefer.

Ich saß in der Pfütze, die sich um mich gebildet hatte, und zitterte. Auch um das Mädchen neben mir entstand eine Wasserlache. Sie trug jetzt eine Jacke über ihrer nassen Kleidung. Wir schlotterten gemeinsam. Aber in dem Wagen war es warm, die Heizung war aufgedreht. Nach und nach hörte ich auf zu frieren.

Die Stadt war nicht besonders groß, es gab dort helle Straßenlaternen und die Hauptstraße verlief direkt durch die Stadtmitte. Auf beiden Seiten standen Geschäftsgebäude, alte Häuser und große Bäume, deren Äste über den Straßenrand ragten. Viele der Häuser waren zweistöckig, einige wenige hatten drei Stockwerke.

Ich sah ein hell erleuchtetes Dairy-Queen-Restaurant, bekam plötzlich Hunger und schämte mich für dieses Gefühl. Ich war am Leben und sehnte mich nach einem Hamburger, während mein Vater auf dem Grund des Sees war, wo er vielleicht immer noch am Steuer unseres Wagens saß. In meinen fröhlicheren Vorstellungen fuhr er über den Grund und musste nichts weiter tun als eine Stelle zu finden, an der er aus der Tiefe die Böschung hinauf und in die Stadt zurückfahren konnte, um mich zu finden. Der Gedanke erschien mir ganz vernünftig.

Das Polizeirevier nahm ich nur verschwommen wahr.

Da war ein großer weißer Mann mit einem dicken, runden Bauch, der eine dunkelblaue Polizeiuniform mit einer Dienstmarke trug. Außerdem hatte er einen weißen Cowboyhut auf, mit einer Krempe, die so breit war wie das Vordach einer Veranda. Als er sich auf seinem Stuhl umdrehte, sah ich, dass er einen bunten Aufnäher auf dem Ärmel hatte, der sämtliche Flaggen zeigte, die je in Texas geweht hatten – einschließlich der Konföderiertenflagge.

An der Wand hingen viele Fotos, die ihn zusammen mit anderen uniformierten Polizeibeamten zeigten. Auf einem war er mit drei älter wirkenden Personen zu erkennen, einer Frau und zwei Männern. So ernst und bleich, wie sie dort neben ihm standen, wirkten sie wie Wachsfiguren von Scharfrichtern.

Noch ein anderer Mann befand sich in dem Zimmer. Er war ebenfalls groß, aber besser proportioniert. Der Mann trug eine lange Hose, ein blitzsauberes weißes Hemd und er hatte dichtes rotes Haar. Er stellte ein mit einem Tuch abgedecktes Tablett auf den Schreibtisch des Sheriffs.

Auf diesem Tisch stand ein Schild mit der Aufschrift ›Sheriff James Dudley‹.

Wie ein Zauberkünstler zog der Rothaarige das Tuch vom Tablett, und es kam ein Teller mit Brathähnchen, Kartoffelpüree und weißer Soße zum Vorschein.

»Danke, Duncan«, sagte der Sheriff und lächelte ihn an. Der Rotschopf nickte, erwiderte das Lächeln und ging aus dem Zimmer, wobei er eine Old-Spice-Duftwolke hinter sich herzog.

Der Sheriff musterte mich. Ich war immer noch feucht und tropfte. Mir wurden Fragen gestellt, über mich und diejenigen, die mich gerettet hatten. Der Sheriff machte sich mit Block und Bleistift Notizen.

Ich tat mein Bestes und sagte ihm alles, was ich wusste, aber meine Gedanken schweiften ab. Neben dem Büro sah ich eine Tür, über der die Worte ›Wartezimmer für Farbige‹ standen. Der Schriftzug war weiß übermalt worden, unter der dünnen Farbschicht jedoch immer noch erkennbar. Noch vor ein paar Jahren hätten meine Retter durch die Hintertür hereinkommen und sich in dieses Wartezimmer setzen müssen, wo man sich ihrer dann angenommen hätte. Irgendwann.

»Was zum Teufel soll ich so spät am Abend mit ihm anfangen, Jeb?«, fragte der Sheriff. »Such ihm Pflegeeltern oder so was. Morgen früh kann ich einen Abschleppwagen zum See schicken und ein paar Jungs, die gut schwimmen können. Die sehen dann, ob sie das Auto finden.«

»Sie werden Schwimmer brauchen, die mit Taucherausrüstung umgehen können. Das Wasser ist tief dort«, erwiderte der schwarze Mann. Später erfuhr ich, dass sein voller Name Jeb Candles lautete, und seine Tochter Veronica wurde auch Ronnie genannt.

»Das würde das County einiges kosten«, wandte Sheriff Dudley ein. »Und was noch wichtiger ist, dieser Junge hier braucht eine Unterkunft, was zu essen und trockene Sachen. Ich bin nicht ganz sicher, was ich da machen kann.«

Im Jahr 1968 hatte man noch eine etwas andere Auffassung, was den Schutz von Kindern anging. Man verschwendete nicht allzu viele Gedanken daran, wie schwer es Waisenkinder hatten. Jedenfalls nicht in dieser Kleinstadt in Osttexas.

»Er kann erst mal bei uns bleiben, Sheriff. Darf ich telefonieren?«

Er durfte, und kurz darauf wurden mir von irgendwoher trockene Kleidung und ein großes Badehandtuch gebracht. Diese Spenden stammten von schwarzen Bekannten von Mr. Candles.

Sie kamen rasch und leise herein und gingen auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren, wieder weg.

Wie Badetuch-Ninjas.

Ich verschwand im Badezimmer, zog mich um und sah im Spiegel jemanden, den ich nicht kannte: kreidebleich, das dunkle, noch trocknende Haar war ein klebriges Wirrwarr, dazu Augen, denen jede Farbe zu fehlen schien, sowie eine Gänsehaut.

Ich hörte den Sheriff im anderen Zimmer sprechen. Er sagte: »Wenn ihr lange aufbleibt, komme ich später noch vorbei, dann können wir das eine oder andere besprechen. Aber zuerst muss ich drüber nachdenken.«

»Wir werden warten«, erwiderte Mr. Candles.

Als ich herauskam, wickelte mich Mr. Candles in das Badetuch ein und verfrachtete mich wieder in den Pick-up. Wir fuhren davon und ließen den Sheriff mit seinem Notizblock und seinem Brathähnchen allein. Ich hatte mich gerade noch davon abhalten können, mir einen der Hähnchenschenkel zu schnappen und ihn mir in den Mund zu stopfen. Ich war am Verhungern.

4

Später wurden mir noch wesentlich mehr Fragen gestellt, und ich konnte nur wenige davon beantworten. Damals fiel es mir schwer genug, mich an meinen Namen oder meinen früheren Wohnort zu erinnern.

Dennoch erzählte ich dem Sheriff schließlich, dass meine Mutter uns verlassen hatte und ich keine Ahnung hatte, wo sie steckte. Irgendwo in Europa hatte ich noch eine Tante mütterlicherseits, aber ich wusste nicht, wo, und ich kannte sie auch nicht besonders gut. Ihr Mann, mein Onkel, ein reicher Ölindustrieller, dem ich nie begegnet war, war gestorben und hatte ihr genug vererbt. Meine Tante und ich waren uns zwar schon begegnet, aber viel mehr konnte ich dazu nicht sagen.

Das Haus der Candles war nicht allzu weit vom See entfernt und befand sich in einem Teil der Stadt, in dem es keine Straßenlaternen gab und die Häuser von Verandalampen erhellt wurden, um die sich Insektenschwärme bildeten.

In ihrem Haus standen Regale voller Bücher, Reader’s Digest und noch mehr; auf einem Holzständer lag eine aufgeklappte große, dicke, schwarze Bibel. Auf den Regalbrettern vor den Büchern befanden sich die verschiedensten Dekogegenstände, hauptsächlich Keramikelefanten. Es roch leicht und angenehm nach frisch gebackenem Brot. Eine grazile schwarze Frau war da. Sie hatte ein freundliches Gesicht. Sie sagte, sie heiße Millie, und so solle ich sie auch nennen. Ihre Bewegungen waren so flink wie die eines Vogels, obwohl sie am Boden blieb.

Das Haus war hell erleuchtet und wurde von einem Feuer in einem Ofen erwärmt, der aus einem schwarzen Fass und einem langen, breiten Rohr bestand, das zur Decke führte. Eine Öffnung war hineingeschnitten worden, und man hatte Scharniere hergestellt und an das Fass geschweißt. Die kleine Tür stand offen und ich konnte hineinsehen. Ein helles Feuer verschlang gespaltenes Holz.

Wenn ich etwas berührte, schien es keine Substanz zu haben. Wenn ich sprach, schienen es nicht meine Worte zu sein, also zog ich es vor, nicht zu sprechen. Ich fühlte mich wie ein Phantom, das sich in der Wärme des Hauses auflöste.

»Komm, Kind«, sagte die Frau. »Komm näher ans Feuer. Wärm dich auf.«

Ich ging zu einem Sessel, der am Ofen stand. Das Badetuch wurde mir abgenommen und eine Decke über meine Schultern gelegt. Man brachte mir eine Tasse heißen Kakao, in dem Marshmallows schmolzen. Der Kakao dampfte unter meinem Kinn und erwärmte mir das Gesicht. Als ich daran nippte, füllte er mein Inneres so, wie das Feuer den Ofen erfüllte, nur ohne das Brennen.

Es war schon spät, als der Sheriff kam. Er schien jetzt kleiner zu sein, aber vielleicht lag das auch nur daran, dass er so fehl am Platz wirkte, als er mit seinem Hut in der Hand in dem orangefarbenen Licht des Flurs stand.

Mr. und Mrs. Candles waren bei ihm. Sie sprachen mit gesenkten Stimmen. Hier und dort konnte ich ein Wort aufschnappen, aber größtenteils hörte ich nur Gemurmel. Ich wusste, dass sie über mich und meine Situation redeten, mehr nicht.

Ronnie war bei mir im Wohnzimmer. Sie fragte: »Hast du Angst gehabt da im See?«

»Was denkst du denn?«

»Dumme Frage.«

»Die Sache ist die, ich hatte Angst, bis ich gesehen habe, wie du zu mir runtergekommen bist. Ich hab dich für eine Meerjungfrau oder so was gehalten.«

»Ich kann verdammt gut schwimmen. Du bist nicht so gut. Du zappelst viel rum.«

»Das macht man eben so, wenn man am Ertrinken ist.«

»Ja, vielleicht.«

»Ich bin froh, dass du da warst.«

»Ich auch.«

Ich bemerkte, dass es noch andere Fragen gab, die sie mir stellen wollte. Sie war bestimmt neugierig, wollte erfahren, was meinen Vater dazu gebracht hatte, unseren Wagen von der Brücke in den Moon Lake zu steuern. Aber sie fragte nicht.

Hätte sie es getan, hätte ich ihr auch keine Antwort geben können. Es gab Augenblicke, in denen es mir so vorkam, als hätte mein Vater geglaubt, er könnte einfach von dieser Brücke zurück in die Vergangenheit fahren und sein Leben dort weiterleben. Dieser Gedanke passte gut zu der Vorstellung, die ich gehabt hatte, er würde auf dem Grund des Sees weiterfahren. Keiner meiner Gedanken und keines meiner Gefühle in dieser Nacht waren besonders einleuchtend.

Später lag ich im Dunkeln unter warmen Decken allein auf der Couch. Von Zeit zu Zeit wachte ich wimmernd auf, und jedes Mal war Millie da. Sie streichelte mir über den Kopf und sagte: »Ganz ruhig, Kleiner. Ganz ruhig. Du bist hier sicher. Der Sheriff sagt, dass du für eine Weile hier bei uns bleiben kannst.«

»Mein Daddy hat versucht, mich zu ertränken«, gab ich zurück.

»Ach nein, Kleiner. Das war nur ein Unfall. Er hat die Kontrolle verloren.«

Ich nickte zwar, wusste es aber besser.

Millie streichelte mir den Kopf, bis ich einschlief. Ich merkte nicht, dass sie ging. Das Tageslicht kam. Ich wachte spät auf, war erschöpft von dem erlittenen Trauma, knabberte an ein paar Crackern herum und aß etwas Tomatensuppe. Sowohl Ronnie als auch Mr. Candles waren gegangen, sie zur Schule, er zur Arbeit. Millie setzte mich nicht unter Druck. Ich aß, legte mich wieder auf die Couch und schlief weiter.

Als ich irgendwann aufwachte, war es stockdunkel. Es gab nur noch den Schein der Verandalampe, der durch einen Spalt zwischen den Vorhängen am Fenster neben der Couch drang. Als hätte sie gespürt, dass ich wieder erwachen würde, war Millie bei mir. Sie strich mir noch einmal mit den Fingern durchs Haar. Meine Mutter hatte das nie getan, jedenfalls konnte ich mich nicht entsinnen. Aber ich weiß noch, dass sie mich manchmal vom anderen Ende des Zimmers aus angestarrt hatte, als wäre sie überrascht, dass sie ein Kind hatte.

»Hör zu«, sagte Millie. »Ich weiß, dass du das nicht gern hören wirst, mein Kleiner, aber es muss gesagt werden. Dudley kam noch mal vorbei, während du geschlafen hast. Er sagt, sie hätten den See nach dem Auto deines Vaters abgesucht und nichts gefunden. An manchen Stellen haben sie freie Sicht bis zum Grund, aber näher am Rand ist es durch den Schlamm etwas trüb. Dort könnte das Auto hingerutscht sein.«

Sie tätschelte meinen Arm.

»Hat dein Vater … dir wehgetan?«

»Er hat versucht, mich zu ertränken. Zählt das?«

Für einen Moment glaubte ich, sie würde lachen, aber sie beherrschte sich. Ich nehme an, sie überlegte, ob ein Lachen angemessen war oder nicht. Dann begnügte sie sich mit einem Räuspern.

»Er war nicht mehr richtig bei sich, Kleiner.«

»Ich hatte ihn lieb«, entgegnete ich.

»Natürlich hattest du das. Die Sache ist die, Danny, du bist hier und in Sicherheit, und ob sie das Auto nun finden oder nicht, die Welt dreht sich auf jeden Fall weiter. Du wirst dich irgendwann mitdrehen müssen.«

»Ja, Ma’am.«

»Hast du Hunger?«

»Nein, Ma’am. Ich bin bloß sehr müde.«

»Das macht nichts, Schätzchen. Geh ruhig wieder schlafen, und falls du vor uns aufwachst, in der Küche gibt es Brot, Fleisch und Käse. Du kannst dir ein Sandwich machen.«

»Danke.«

»Und wenn du nachts noch irgendwas brauchst, scheu dich nicht, zu rufen oder an unsere Schlafzimmertür zu klopfen. Ich kann hier bei dir sitzen, bis du eingeschlafen bist, wenn du magst. Möchtest du das?«

»Ja, Ma’am.«

»Deine Eltern haben dir auf jeden Fall Manieren beigebracht, Kleiner. Schlaf jetzt, Schatz. Schlaf einfach.«

Sie saß bei mir und legte ihre Hand auf meinen Arm, und nach einer Weile begann sie leise zu summen, sang hin und wieder im Flüsterton ein altes Lied, wobei sich nur hier und da ein Wort in das Summen mischte. Die Worte hatten etwas mit Jesus und einem alten, rauen Kreuz zu tun.

Die Angst, die Erschöpfung, die Wärme im Zimmer, die sanfte Berührung der Hand dieser liebenswerten Dame, das alles half mir, in einen tiefen Schlaf zu fallen. Ich träumte von Daddy, der den riesigen Buick über den Grund des Sees steuerte und nach einem Weg suchte, nach einem Weg hinauf und hinaus in die trockenere Welt.

5

Letztlich blieb ich länger bei den Candles als nur einen oder zwei Tage; es war beinahe so, als hätte Dudley mich vergessen. Ein Monat ging ohne besondere Vorkommnisse in den nächsten über. Der Winter kam, nass, kalt und eisig, und manchmal lag am frühen Morgen etwas von dem in Osttexas so seltenen Schnee. Aber im Haus der Candles war es warm und behaglich. Ich fühlte mich dort sicher, sogar ein wenig glücklich.

Ich spürte, dass sie meinen Vater niemals finden würden. Sie hatten Haken an Kabeln durch den See gezogen, nichts gefunden und es dabei bewenden lassen. New Long Lincoln, die Stadt, die die alte ersetzt hatte, kam mir nicht wie eine Gemeinde vor, in der man sich zu viele Gedanken über einen mörderischen Vater machen wollte, der beinahe seinen Sohn ertränkt hatte. Und ich begann nach und nach ebenso zu empfinden. Schlafende Dämonen sollte man nicht wecken.

Wenn ich spätnachts den kalten Wind hörte, der die Fensterscheiben im ganzen Haus zum Klirren brachte, nahm ich manchmal meinen Vater wahr, der am Fußende meines Bettes stand – man hatte mir ein kleines in einem Abstellraum für Lebensmittel gegeben.

Auf beiden Seiten des Bettes und hinter mir standen Regale. Sie waren mit Gläsern bestückt, in die man Gurken, Rote Bete und in Essig schwimmende Jalapeños gefüllt hatte. Über dem Regal an der Rückwand befand sich ein hohes Fenster, das manchmal leicht von dem sich im Wind wiegenden Ast eines Paternosterbaums berührt wurde. Im Sonnenlicht warf der Ast kleine Schatten, und wenn der Mond hell schien, tröpfelten Mondschatten herein.

In manchen Nächten saß Dad da unten am Fußende meines kleinen Bettes. Ich steckte den Kopf unter die Decke, aber ich konnte spüren, dass er dort war. Ich fühlte seine Berührung an meinem Knöchel, meinem Fuß oder Bein. Es schien nach Wasser, Fischen und Moder zu riechen. Unter dem Kopfkissen hielt ich die Augen fest geschlossen. Dann ließ seine Berührung schließlich nach, das Bett bewegte sich leicht, als er aufstand, und ich nahm ihn nicht mehr wahr.

Der Gestank wich dem schwachen Duft des Zedernholzes, aus dem die Regale bestanden. Dann war da nur noch die natürliche Kälte des Winters, denn das Feuer im Fassofen war gelöscht, die tragbaren elektrischen Heizkörper waren ausgeschaltet, und es gab keine Klimaanlage.

Mit der Zeit lernte ich, besser mit den Besuchen meines Vaters umzugehen. Ich konnte nicht feststellen, ob diese Visiten echt oder bloß eingebildet waren, ob der feuchte Geist meines Vaters mich wirklich in meinem kleinen, warmen Bett heimsuchte. Ich kam nicht dahinter, ob er wollte, dass ich dort unten bei ihm im See war, oder ob er kam, um mir zu zeigen, dass es ihm gut ging.

Die Zeit verflog. Während der Woche ging Ronnie natürlich zur Schule. An den Wochenenden fuhren sie und ich mit ihrem Dad zum Angeln, weit entfernt von der Brücke über den Moon Lake. Ich bat sie nicht darum, nicht dorthin zu gehen; sie taten es einfach nicht. Wir fischten vom Ufer aus, manchmal auch von einem kleinen Boot aus Aluminium.

Ronnie boxte gern. Sie sah es sich im Fernsehen an. Und dann zog sie auch selbst die Handschuhe an. Ihrer Mutter gefiel das nicht besonders; sie hielt es für nicht sehr damenhaft und befürchtete, dass Ronnie sich die Nase brechen oder einen Zahn verlieren würde. Aber ich bemerkte, dass sich ihr Vater, der selbst geboxt hatte, sehr darüber freute. Mir gefiel das auch.

Wir übten gemeinsam. Wir lernten verschiedene Schläge und prügelten auf den schweren Sandsack ein, den Mr. Candles in einem eigenen Bereich seiner Garage aufbewahrte. Dort gab es auch eine Boxbirne, die wir benutzten.

Von Zeit zu Zeit, wenn wir leichte Handschuhe und Mundstücke trugen, die Mr. Candles in einem Eimer Wasser mit einem Schuss Alkohol abgekocht hatte, bekamen wir die Erlaubnis, innerhalb eines Kreises zu boxen, den er mit weißer Kreide auf den Boden der Garage zeichnete. Der Kreis war etwa halb so groß wie ein echter Boxring. Wir legten es nicht auf einen K. o. an. Bei unseren kleinen Kämpfen trugen wir nur blutige Nasen, hin und wieder eine aufgeplatzte Lippe, ein blaues Auge oder ein paar blaue Flecken davon.

Das Ganze führte dazu, dass ich mich stärker fühlte und mehr Selbstvertrauen bekam. Es fühlte sich gut an, sich bei körperlicher Aktivität zu verausgaben. In diesen Nächten schlief ich tief, und dann blieb der Geist meines Vaters in seiner neuen Heimat auf dem Grund des Moon Lake.

Die Candles kauften mir einige Kleidungsstücke, dieses und jenes. Laut Gesetz hätte ich zur Schule gehen müssen, aber stattdessen überließ das County es Millie, die vor der Integration Lehrerin an der Schule für Schwarze gewesen war, mir Unterricht zu erteilen. Mit dem Ende der Schwarzenschule war auch ihr Job zu Ende gegangen. Sie erzählte mir, dass sie eine Zeit lang in der neuen Schule an der Essensausgabe gearbeitet hatte.

»Das hat meinen Stolz verletzt, nachdem ich Lehrerin gewesen war. Es war eine ehrliche Arbeit, und ich war froh, sie zu haben, aber es war so, als würde man mich degradieren, mich dafür bestrafen, dass ich mir Bildung angeeignet und Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht hatte. Plötzlich servierte ich Thunfischüberraschung, Corned Beef, Wonder Bread und Erdbeer-Wackelpudding. Ich hatte keine Freude daran. Und was noch schlimmer war, das Essen war so mies, dass der Koch, den sie eingestellt haben, genauso gut Zement hätte anrühren können.«

Sie hatte nicht lange an der Essensausgabe gearbeitet. Schließlich hatte sie gekündigt, zu Hause verschiedenes Gebäck zubereitet und diese Ware sowohl an schwarze als auch an weiße Kunden verkauft. Ihre Brote waren braun wie der Herbst, so knusprig und doch so weich wie die eine wahre Liebe, und wie ein brandneuer Schwamm nahmen sie die Butter auf. Ihre Plätzchen waren süß, aber nicht zu süß, und ihre Kuchen und Torten waren Geschenke des Himmels. Der Geruch, den sie beim Backen verströmten, brachte mich förmlich zum Schweben.

Falls es einen Himmel gab, was ich ernstlich bezweifelte, hätte Millie dort die Bäckerei betrieben. Sie hätte ihr Gebäck persönlich an Gott, Jesus und den Heiligen Geist geliefert und den Engeln sonntags Plätzchen gebracht. Vielleicht hätte sie eines gutmütigen Tages sogar dem Satan einen Teufelskuchen hinuntergeworfen. Lange Rede, kurzer Sinn, man ließ sie dafür sorgen, dass meine Bildungslücken nicht zu groß wurden, und dadurch hatte ich den zusätzlichen Vorteil, ihre Backwaren kosten zu dürfen.

Millie war herzlich, aber unter dieser Herzlichkeit lag eine Zähigkeit. Sie unterrichtete mich – Lesen, Schreiben, Geschichte, Geografie und die Grundlagen der Algebra, die ich nie ganz begriff. Millie benotete meine Aufgaben und schickte sie dann zur Schule, wo sie von weißen Lehrern überprüft wurden, die man in den Südstaaten der Jim-Crow-Gesetze für fähiger hielt. Nur selten änderten sie eine Note oder eine Bemerkung, aber es gab ihnen ein gutes Gefühl, die von Millie zuvor benoteten Arbeiten zu prüfen und ihnen ihren weißen Segen zu geben.

Im Fach Geschichte kam es zu einigen Markierungen, wo ich über den Sezessionskrieg in einem weniger verständnisvollen Tonfall geschrieben hatte, als die meisten Südstaatler es taten. Außerdem hatte ich Meinungen vertreten, die nicht der Linie der Töchter und Söhne der Konföderation entsprachen. Zweifellos waren diese Auffassungen unter Millies Einfluss entstanden, die mich mit zahlreichen Büchern über den Krieg versorgte, nicht nur denjenigen, die im texanischen Geschichtsunterricht verwendet wurden.

An den Schulmorgen, wenn es kalt war und der Nebel vom nassen Gras aufstieg, sah ich zu, wie Ronnie aufbrach, um den Bus zu nehmen.

Normalerweise beobachtete ich sie vom Fenster aus und wischte mit dem Ärmel die Feuchtigkeit von der Scheibe, um sie sehen zu können. Aber eines Morgens standen wir auf der Veranda, warteten auf den Bus und atmeten weiße Gischt aus, und plötzlich beugte sie sich herüber und küsste mich auf die Wange … mit Lippen, die weich wie Baumwolle und warm wie eine Wolldecke waren. Ich war so überrascht, als hätte ich festgestellt, dass ich bunte Eier legen und Limonade pinkeln konnte.

»Ich mag dich, Danny Russell«, sagte sie.

Wenige Augenblicke später traf der Bus ein. Mit einem Zischen öffnete sich die Tür. Ein schwarzes Mädchen in einem weißen Kleid mit einer weißen Schleife im hochgesteckten Haar sprang von einem der vorderen Sitze auf die Einstiegsstufen und rief hinaus: »Was machst du da mit dem weißen Jungen?«

»Er ist ein Gast«, erwiderte Ronnie und stieg von der Veranda.

»Komm wieder rein«, forderte der Busfahrer das Mädchen in Weiß auf. Der Fahrer, der einen ähnlichen Beruf hatte wie Mr. Candles, war ein schwergewichtiger schwarzer Mann, der einen Fedora, eine Kakihose und Arbeitsstiefel trug.

»Wohnt der weiße Junge bei euch?«, erkundigte sich das Mädchen und ignorierte die Aufforderung.

»Geh zurück in den Bus, Earleen, sonst kriegst du eins auf die Nase«, drohte Ronnie.

Earleen nahm diese Drohung ernst und zog sich zurück. Ronnie stieg die Stufen hinauf, drehte sich ein wenig um, sah mich an und lächelte. Es war, als hätte ich einen spitzen, aber süßen Pfeil ins Herz bekommen.

Die Tür schloss sich. Durch die beschlagenen Scheiben sah ich, dass sie sich wie ein Schatten durch den Mittelgang bewegte. Dann saß sie, und ich konnte ihren sitzenden Umriss durch das Glas erkennen, während sich der Bus dampfend entfernte und der Auspuff so laut knallte, dass ich zusammenzuckte.

6

Mitten im Dezember erfuhr ich, dass die Polizei meine Tante ausfindig gemacht hatte. Ich weiß nicht, wie sie das geschafft hatten, aber sie hatten es. Meine Tante war immer noch im Ausland und verprasste auf stilvolle Weise das Geld meines toten Onkels. Sie war auf dem Weg nach Frankreich und hatte Pläne, von denen sie sich auch durch einen verwaisten Neffen nicht abbringen lassen wollte. Es würde noch drei Monate dauern, bis sie wieder zu Hause war.

In dieser Hinsicht erinnerte sie mich an meine Mutter. Ihre eigenen Interessen überwogen die aller anderen, und zwar unter allen Umständen. Es war, als würde sie sagen: »Ach, Dannys Vater ist ertrunken und Danny hat mit knapper Not überlebt, und seine Mutter, meine Schwester, ist davongerannt wie ein verschrecktes Reh? Das ist ja wirklich ein hartes Los, aber ich habe vor, mir den Eiffelturm anzusehen und dann die Croissants in Südfrankreich zu probieren. Ich hab gehört, die sollen einfach köstlich sein. Und vielleicht taucht seine Mutter ja wieder auf, bevor ich nach Hause komme. Könnte ja sein.«

Aber das machte mir nichts aus. Ich freute mich darüber, länger bei den Candles bleiben zu dürfen. Ich kannte sie besser als meine Tante, denn ich konnte mich kaum noch an unsere einzige Begegnung erinnern.

Zu Weihnachten schenkten mir die Candles eine Jacke, die sie als Jägermantel bezeichneten, dazu die ersten drei John Carter vom Mars-Bücher, ein Paar Socken, Unterwäsche und ein Taschenmesser mit allen möglichen Werkzeugen daran. Es war so etwas wie ein Schweizer Taschenmesser, allerdings nicht ganz so teuer. Ich nahm an, dass sie es vielleicht gebraucht in einem Pfandhaus gekauft hatten, aber ich freute mich trotzdem darüber. Und durch die drei Bücher waren die nächsten Tage mehr als gerettet.

In den Weihnachtsferien blieb die Schule geschlossen, das Wetter war katastrophal. Wir blieben alle zu Hause, und Millie las uns abends Gedichte vor. Sie hatte eine Vorliebe für Robert Frost, trug aber auch Robert Service vor, den ›Barden des Yukon‹, einen Dichter, den Mr. Candles mochte. Ich mochte ihn auch. Unser gemeinsames Lieblingsgedicht war Das Ende des Dan McGrew. Ronnie gefiel die Lyrik von Langston Hughes.

Nachdem wir ein paar Tage lang in der Garage geboxt, abends Gedichte gelesen und auch ein wenig ferngesehen hatten, sah Mr. Candles eines späten Nachmittags aus dem Fenster und sagte: »Das Wetter ist besser geworden. Lasst uns angeln gehen.«

Ich und Ronnie hatten ohnehin genug davon, im Haus herumzusitzen, daher sprangen wir sofort auf, zogen unsere Angelsachen an und holten unsere Ausrüstung aus der Garage. Ich trug meinen neuen Mantel, weil er das Wärmste war, das ich hatte.

Mr. Candles hatte ein Aluminiumboot, das auf einem Anhänger in der Garage stand. Wir befestigten diesen an der Anhängerkupplung seines Pick-ups und fuhren los. Nur noch kurz hielten wir an einem Ködergeschäft, um ein paar Würmer zu besorgen.

Als wir den See erreichten, war ich froh, den Mantel zu haben, den sie mir geschenkt hatten, zusammen mit Handschuhen und einer Wollmütze mit Ohrenschützern, die Mr. Candles mir geliehen hatte. Ronnie war auch dick eingepackt; sie trug einen Wollpullover, den sie nur mit Mühe über ihre Haare ziehen konnte.

Es war verdammt eisig, obwohl die Sonne schien und kein Wind wehte. Der Himmel war klar. Die Bäume um den See schimmerten von den Eiszapfen, die wie Glasschmuck an extravaganten Kronleuchtern an ihnen hingen.

Wir schoben das Boot von dem Gestell in den See. Im Sonnenlicht strahlte das Wasser so silberhell, dass es einen blendete. Durch die Sonne konnte man es für warm halten, aber als ich beim Sprung ins Boot ein paar Spritzer abbekam, war es eiskalt.

Das Fischerboot war mit einem kleinen Motor ausgestattet, am Boden lagen Paddel. Mr. Candles ließ sie dort liegen und fuhr uns mithilfe des Motors auf den See hinaus. Wir waren ein ganzes Stück von der Brücke entfernt, aber ich konnte sie noch gut sehen. Von dort, wo wir waren, sah sie wie ein verworrener Faden aus.

Ich zeigte auf die Brücke und fragte: »Wäre es in Ordnung, wenn wir dorthin fahren?«

Ronnie und Mr. Candles sahen mich an, als hätte ich gerade gefragt, ob wir die Würmer essen könnten, die wir als Köder mitgebracht hatten.

»Ich weiß nicht, Junge. Ich hatte gedacht, wir wären noch weiter davon weg. Das war jedenfalls meine Absicht.«

»Ich fühle mich weder besser noch schlechter, wenn wir dort nicht hinfahren. Können wir?«

»Ich glaube, schon«, erwiderte Mr. Candles.

»Bist du sicher?«, fragte Ronnie.

»Ich bin sicher.«

Mr. Candles verzog das Gesicht, wendete das Boot, schaltete in einen höheren Gang und steuerte auf die Brücke zu. Ich sah sie vor uns größer werden. Bald sah sie weniger wie ein langes, verworrenes Stück Faden aus und mehr wie das, was sie wirklich war: eine Brücke aus Kabeln, morschen Brettern, rostigen Geländern und Nieten. Wo unser Buick erst vor ein paar Monaten durchgebrochen war, war noch immer eine breite Lücke zu erkennen.

Als wir unter der Brücke hindurchfuhren, sahen wir die Schatten der Kabel, Latten und Geländer auf dem Wasser. Die Oberfläche war ruhig, bis auf die Bewegung, die das Boot verursachte, und auch diese erstarb bald, als Mr. Candles den Motor ausschaltete. Ich versuchte, durch das Wasser zu sehen und die unter uns liegende Stadt zu erkennen, aber das Sonnenlicht erzeugte immer noch diesen Silberglanz, von dem mir die Augen wehtaten.

Mr. Candles, der begriff, was ich vorhatte, sagte: »Man kann nicht immer sehen, was da unten ist. Der Legende nach allerdings schon. Und manchmal geht’s auch. Zumindest zum Teil. Die höheren Dächer. Aber normalerweise nicht. Meist sieht man bloß Schatten. Wenn der Wasserstand ein bisschen niedriger ist, gibt’s da drüben eine Stelle« – er zeigte darauf – »dort, wo mal die alte High School war. Wenn es niedrig genug ist, kann man da aus dem Boot steigen und so tun, als ginge man übers Wasser, aber es ist das Dach der High School. Ich hab das ein Mal gemacht.«

»Hab ich auch schon«, warf Ronnie ein.

»Ist es jetzt niedrig genug?«

»Nein«, antwortete Mr. Candles. »Das geht nur in einer trockenen Jahreszeit. Normalerweise sinkt der Wasserstand mitten im Sommer ein bisschen, und dann kann man’s machen. Wenn er sehr niedrig ist, was hin und wieder vorkommt, ragen die Dächer von der High School und anderen Gebäuden aus dem Wasser.

Unter der Brücke hier war die Main Street. Auf der Main Street kann man meistens gut fischen. Ronnie hat da mal einen 38 Kilo schweren Katzenwels gefangen. Der hätte fast den verdammten Haken gerade gebogen. Eigentlich sagt man, dass die nicht so groß werden. Die größten, die ich bis dahin gesehen hatte, waren 15 Kilo schwer, aber ich habe auch schon von über 20 Kilo schweren gehört. Dieser jedenfalls war schon uralt und größer als alles, wovon ich je gehört hatte. Ich hätte es nicht geglaubt, aber so viel hat er gewogen, als sie ihn im Tierfuttergeschäft auf die Waage legten. Zu Hause haben wir ihn noch zweimal auf der Garagenwaage gewogen und haben Freunde eingeladen, damit sie Fotos machen konnten. Trotzdem haben uns manche immer noch nicht geglaubt. Das war ein richtiger alter Herr aus dem See. Schwer zu sagen, wie lange er schon gelebt hatte, bevor er in den See kam und ihn zu seinem Zuhause gemacht hat. Wir haben ihn abgespült und ihn für eine Weile in einer Wanne schwimmen lassen. Wenn er mit der Schwanzflosse gewackelt hat, ragte sie oben über den Rand. Dann haben wir ihn wieder zum See zurückgebracht und freigelassen.«

»Ich fand es schön zu sehen, wie er wegschwimmt«, meldete sich Ronnie zu Wort. »Für einen Moment konnte man ihn noch an der Oberfläche sehen und erkennen, wie lang er war. Dann tauchte er unter und war weg. Wie durch Zauberei. Er kam zu uns nach Hause, wurde gewogen und wieder ins Wasser zurückgebracht. Das war wie ein Arztbesuch ohne Termin für ihn.«

Ein Schatten bewegte sich über die Wasseroberfläche. Für einen Augenblick glaubte ich, ein großer Vogel sei vor der Sonne entlanggeflogen, aber als ich nach oben schaute, sah ich einen ungewöhnlich großen Mann, jung, weiß und mit verwahrlostem Äußeren. Von dort, wo wir saßen, schien es, als trüge er die Sonne auf den Schultern.

Er blickte lange auf uns herab, als würde er darüber nachdenken, einen Klumpen Rotz hochzuziehen und ihn auf uns zu spucken, aber er tat nichts, außer uns anzusehen. Er hielt eine Taschenlampe in der Hand, obwohl die Nacht noch Stunden entfernt war.

Ich winkte. Mit einer langen Verzögerung winkte er zurück. Dann ging er weiter.

»Winston Remark«, sagte Mr. Candles, als der Mann verschwunden war. Wir hörten die Brücke quietschen, sahen sie schwanken, und ich konnte durch die Lücken zwischen den Brettern Winstons Füße sehen, die von einem Brett zum anderen stiegen. Sein Schatten bewegte sich auf dem Wasser, zusammen mit dem der Brücke.

»Der arme junge Mann«, fuhr Mr. Candles fort. »Er kommt immer hierher, irrt herum und schaut auf das Wasser. Sogar nachts läuft er hier mit der Taschenlampe umher. Keiner weiß, wonach er eigentlich sucht, aber ich habe da eine Vermutung. Seine Vergangenheit. Er ist wohl nicht ganz richtig im Kopf. Ich hab ihn schon oft gesehen. Seine Zunge und sein Verstand sind nicht ganz beieinander. Vielleicht ist er stumm. Er gibt bloß Geräusche von sich.«

»Wo wohnt er?«, fragte ich.

»Gute Frage, aber ich kann sie nicht beantworten. Wir haben was gemeinsam, Danny, ich, er und sogar du.«

Ronnie unterbrach ihn: »Oh, ich hab einen.« Sie zog einen Sonnenbarsch ins Boot und nahm ihn vom Haken. Mr. Candles tauchte einen mitgebrachten Eimer in das kalte Wasser, und sie legte den Fisch hinein.

Danach fing ich einen, dann wieder Ronnie, dann Mr. Candles, dann wieder ich. Sie kamen nun so schnell, wie wir Würmer auf unsere Haken hängen, sie fangen und in den Wassereimer werfen konnten. Bald herrschte ein großes Gezappel im Eimer.

Im Laufe des Tages bissen noch sehr viele Fische an, bis dann irgendwann überhaupt keiner mehr kam. Zu diesem Zeitpunkt war der Eimer aber beinahe voll, und Mr. Candles nahm die kleineren Fische heraus und ließ sie über den Bootsrand hinausgleiten.

»So viele können wir sowieso nicht essen, und für mich ist drei Tage Fisch nacheinander schon ein Tag zu viel. Aber wir können ein paar für eine Weile auf Eis legen.«

»Ich könnte die jeden Tag essen«, wandte Ronnie ein.

»Darauf wette ich«, gab Mr. Candles zurück. »Ronnie mochte schon immer Fische, Wasser und Schwimmen. Sie ist wie eine Robbe.«

»Es war mein Glück, dass sie so gut schwimmen kann«, gab ich zu bedenken.

»Das stimmt«, räumte er ein.

Wir hätten aufbrechen können, als die Sonne unterging und es ziemlich kalt wurde, aber das taten wir nicht. Bei Nacht angelten wir weiter, obwohl wir jetzt nichts mehr fingen. Ein Sichelmond stand am Himmel. Er war schmal, aber hell, und man konnte seinen Umriss auf dem Wasser sehen. Der See lag so ruhig da, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte aus dem Boot steigen und auf ihm gehen.

»Sie wollten vorhin was über Winston sagen. Dass wir etwas gemeinsam hätten.«

Es war einige Zeit vergangen, seit Mr. Candles davon gesprochen hatte und von unserem Angelglück unterbrochen worden war, aber ich war neugierig, worum es ging.

»Oh, das hatte ich ganz vergessen. Ich sagte, dass ich und Winston was gemeinsam haben, und auf eine etwas andere Weise auch du, Danny.

Weiter unten, wo der See schmaler wird und der Überlauf Wasser aus dem Fluss durch den neuen Damm leitet, war das Farbigenviertel der Stadt. Während der Zeit der Rassentrennung wohnten wir im Schatten des alten Damms. Die Weißen lebten auf der anderen Seite dieser Brücke. In der Mitte lag die Stadt, und auf beiden Seiten gab es Häuser, den Abschnitt für die Farbigen und den für die Weißen. Die, die an der Grenze zwischen den Weißen und den Farbigen wohnten, könnte man vielleicht die gehobenen Farbigen nennen. Dazu gehörte auch die Familie deiner Mutter, Ronnie. Deine Mutter war diejenige, die mich gerettet hat, durch die ich das bisschen echte Bildung bekommen habe, die ich jetzt habe. Den Rest habe ich von Shakespeare und aus der Bibel.«

»Man sagt dazu jetzt schwarz oder afroamerikanisch.«

»Oh. Na ja, das ändert sich ständig, wie sie uns bezeichnen. Solange es eine gute Bezeichnung ist und nicht böse gemeint, hab ich nichts dagegen. Schwarze also. Afroamerikanisch hört sich an, als stammten wir aus irgendeiner Wüste.«

Mr. Candles hielt inne, als würde er das Mondlicht auf dem Wasser betrachten, dann die dunkle Linie des Waldrands an beiden Uferseiten, dann die weiße Barriere, die der sogenannte neue Damm bildete, weit entfernt am anderen Ende des Sees.

»Der alte Damm war gebaut worden, um den Großteil des Wassers abzuhalten. Der neue ist so entworfen, dass er verhindert, dass der See breiter wird. Damit er sich nicht zu sehr ausbreitet und alles überflutet. Der Überlauf lässt aber mehr rein als der alte, weil es keine Stadt mehr gibt, die vor dem Nebenarm des Angelina River zu schützen wäre. Damals gab es gerade genug Wasser, um einen hübschen kleinen Bach zu füllen, der genau durch die Stadtmitte floss.«

Ich erinnerte mich, dass Dad davon gesprochen hatte, von diesem Bach.

»Im Sommer gab es in unserem Teil der Stadt, so nah beim Wasser, Moskitos und Kriebelmücken bis zum Abwinken. Es gab auf beiden Seiten des Bachs Geschäfte von Farbigen, wenn auch nicht so viele. Wir hatten ein Kino, ein paar kleine Läden, einen Autohändler und so weiter.

Die Stadt ist während der Prohibition gebaut worden, und sowohl in unserem Stadtteil als auch auf der weißen Seite hat es geheime Orte gegeben, wo man trinken konnte. Ich kannte schwarze Männer, die Schnaps in die weißen und die schwarzen Gebiete schmuggelten und sich damit etwas dazuverdienten. Sie lieferten ihn auch aus der Stadt an Kunden überall in Osttexas und wahrscheinlich auch noch anderswohin. Immer wenn eine trockene Gemeinde nass werden wollte, wurde das Nass geliefert. Es gab lange Tunnel unter der Stadt – ich nehme an, die gibt’s immer noch. Die sind von reichen Männern gebaut und zum Transport von Schnaps benutzt worden, was sie noch reicher machte. Das waren die Vorfahren der Leute, die jetzt in der Stadtverwaltung sitzen und hier alles bestimmen. Die haben sich das ganze Geld unter den Nagel gerissen.

Die meisten anderen haben im Sägewerk gearbeitet, das da auf dem Hügel hinter den Bäumen lag, in der Nähe der Bahnschienen, neben dem Schrottplatz. Nicht weit von dort gab es einen Friedhof für Farbige – Schwarze.

Da hatte man also die Orte, wo man arbeiten, sein Auto verschrotten und sich später begraben lassen konnte, alle nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Später, als die Prohibition aufgehoben wurde, bekam das Sägewerk immer mehr Mitarbeiter, und ich glaube, die alten Tunnel wurden vergessen und liefen vielleicht mit Wasser voll.

Dort, wo wir wohnten, gab es eine Art Senke, wie eine Schüssel, der Boden war tiefer als im Rest der Stadt, und der Lärm von den Zügen kam durch die Lücken im Wald und brachte unser Haus zum Dröhnen. Wir konnten auch die große Säge hören, die die Bäume verschlang und sie als Bauholz wieder ausspuckte, als Eisenbahnschwellen und so weiter. Die Luft roch nach Terpentin.

Der Schrottplatz befand sich nicht ganz so weit oben auf der Anhöhe wie das Sägewerk. Er war voller alter Autos. Von dem Weißen, dem der Platz gehörte, sagte man, dass er der gemeinste Kerl war, der je das Laufen gelernt hatte. Man erzählte sich, er behandele seinen Sohn schlecht und lasse zu, dass andere den Jungen noch schlechter behandelten. Der Junge trieb sich die meiste Zeit mit einer Taschenlampe im Wald herum.«

»Winston«, sagte ich.