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Tanja bekommt am selben Tag zwei schlechte Nachrichten. Die erste: Sie ist schwanger. Die zweite: Ihr Freund Arne, der als Tierarzt arbeitet, nimmt einen Forschungsauftrag im bolivianischen Urwald an. Sechs Monate lang wird er Fledermäuse beobachten. Doch ihre Mitbewohner sind für sie da - als Freunde und als potenzielle Ersatzväter. Die beiden überbieten sich bald in Fürsorge um die schwangere Tanja. Auch Mops Earl und sein Sohn Mudel mischen kräftig mit.
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Seitenzahl: 316
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Silke Porath
Mops und Mama
Roman
Ausgewählt von
Claudia Senghaas
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © chriskuddl/zweisam – Fotolia.com und © Africa Studio – Fotolia.com und © NinaMalyna – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4272-8
»Du hast Hundgeruch!« Ich drücke den Mops fester an mich. Earl legt seinen Kopf an meinen Hals, pustet mir seinen nach getrocknetem Pansen riechenden Atem in die Nase und leckt mir die Tränen von der Wange. Leider auch das Rouge und einen Großteil des Puders. In der Scheibe sehe ich die roten Flecken auf meiner Wange. Sie leuchten wie Diskolichter. Dabei ist mir überhaupt nicht nach Tanzen zumute.
»So, fertig.« Arne legt den Arm um mich und den Mops. Mudel, diese verrückte Mischung aus Mops und Pudel, springt an seinem Bein hoch und kläfft. Der weiß ja auch nicht, dass er Arne sechs Monate lang nicht sehen wird. Ich schniefe in Earls Fell, dann setze ich den Mops zu seinem Sohn auf den Boden.
»Kommt mal mit, da gibt’s Currywurst!« Chris, mein Mitbewohner, schnappt sich die beiden Leinen und zieht die Hunde mit sich. »Rolf wartet schon«, lockt er die Vierbeiner. »Mit Pommes!«
»Das werde ich vermissen.« Arne sieht dem Trio nach, wie sie sich an einem dicken Mann mit dickem Gepäck auf dem Kofferwagen vorbeischlängeln. Dann steckt er das Flugticket in seine Jackentasche.
»Nur das wirst du vermissen?«, frage ich und bemühe mich, dass es fröhlich klingt. Tut es aber nicht. Ich könnte auf der Stelle losheulen.
»Ein bisschen was anderes auch.« Arne legt mir den Arm um die Schulter. Am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen und mich wie eine Klette an ihn hängen. Er haucht mir einen Kuss auf die Haare, dann gehen wir an den Lufthansa-Check-In-Schaltern vorbei Richtung Rolltreppe. Chris und Rolf haben sich bestimmt schon beim Burgerbräter einen Fensterplatz mit Blick auf das Rollfeld organisiert.
»Entschuldige mich einen Moment«, sagt Arne und verschwindet links zu den Toiletten. Ich lehne mich gegen einen leeren Schalter. Hinter mir stehen die Urlauber und Geschäftsreisenden an, geben ihr Gepäck beim fast schon zu gut gelaunten Bodenpersonal ab. Vor mir wird die Schlange an der Sicherheitskontrolle immer länger. Eine Familie kämpft mit dem Kinderwagen, der sich nicht zusammenklappen lassen will. Ein Mann im Anzug diskutiert mit dem Polizisten, ob die Röntgenstrahlung seinem iPad wirklich nicht schadet. Mir wird ganz flau, wenn ich daran denke, dass Arne in nicht einmal einer Stunde genau durch diese Schleuse geht. Sein Flug nach London ist bereits auf der Anzeigetafel zu sehen und rückt immer weiter nach oben. London – New York – Arsch der Welt. Sechs Monate irgendwo in Bolivien, zwei Tagesreisen von La Paz entfernt. Viele Berge, viel gar nichts, ein paar Wälder und Bulldogg-Fledermäuse. Tausende davon. Aber kein Handyempfang.
Bis vor zwei Wochen wusste ich nicht mal, dass es Fledermäuse gibt, die wie ein Mops mit Flügeln aussehen. Denn vor zwei Wochen war Tanjas Welt noch in bester Ordnung. Hätte man mich nach meinem Lebenslauf gefragt, hätte ich folgendes geschrieben:
Tanja Böhm, Anfang 30, ehemalige Arzthelferin, die nach einem Ausflug in den Tabakladen als Fahrerin bei der Stuttgarter Tierrettung unterwegs war. Familienstand: glücklich liiert mit Arne Fuchs, Tierarzt, und sehr glücklich mitbewohnend mit Chris Berger und Rolf Schröder, den Vätern von Mops Earl of Cockwood und dessen unehelichem Sohn Mudel.
Und genau als diese Tanja betrat ich vor 14 Tagen die Praxis meines Gynäkologen. Ich mag den Mann nicht. Da kann er gar nichts dafür, er macht ja nur seinen Job. Aber ich mag es nicht, wenn fremde Menschen mir mit komischen Geräten in den Eingeweiden rumstochern. Theodor Roller soll einer der besten seines Fachs sein, wenn man den Ärztebewertungen im Internet glaubt. Ich habe keinen Vergleich, außer mit einer ältlichen Dame, bei der ich vor gefühlten 200 Jahren mal war und die statt Instrumenten einzig auf die Kraft ihrer Finger setzte. Es ist kein schönes Gefühl, wenn man meint, die Gebärmutter werde mit den Eierstöcken verknotet.
Den Termin bei Theo – den ich übrigens im Stillen ›Deo Roller‹ nenne, weil er mit seiner Glatze und dem konischen Kopf eher aussieht wie ein Kosmetikartikel als ein Arzt – hatte ich kurzfristig bekommen. Was an sich schon ein Wunder war, denn seine beiden Vorzimmerdrachen hüten die freien Termine wie Dinosauriermütter das Nest. Die eine sieht übrigens einem T-Rex gar nicht unähnlich. Ich würde sie gerne mal zu einem guten Kieferorthopäden schicken, traue mich aber nicht, das zu sagen. Sonst müsste ich womöglich einen anderen Frauenarzt suchen. Vielleicht lag die schnelle Terminvergabe aber auch daran, dass ich beim letzten Besuch im Patientenfragebogen unter Beruf das Kreuzchen bei ›Medizin‹ gemacht habe. Schließlich kümmere ich mich ja um krankes Viechzeugs. ›Gastronomie‹ oder ›Büro‹ hätten zwar auch gepasst, da ich für meine Jungs koche und Arne bei den Abrechnungen helfe. Außerdem verdiene ich mein Geld als Kellnerin im ›Fröhlichen Laubenpieper‹. Aber das richtige Kreuzchen an der richtigen Stelle scheint mich quasi in den Stand einer Privatpatientin befördert zu haben. Keine ewigen Wartezeiten. Weder auf den Termin, noch im Wartezimmer. Und: Ich werde nicht vom T-Rex zu den Voruntersuchungen begleitet!
»Guten Morgen, Frau Böhm!«, flötete die rot getönte Barbara mir entgegen, nachdem sie zunächst stumm und ohne wirklich aufzublicken meine Krankenkassenkarte durch das Lesegerät gezogen hatte. Ein leises Pling des Computers meldete ihr, dass meine Daten korrekt waren. Sie starrte auf den Bildschirm, dann flutete ein breites Lächeln aus ihrem ein wenig zu orange geschminkten Mund. Unter Kolleginnen ist frau eben freundlich. Könnte ja sein, dass ich Zahnarzthelferin bin und ihr beim nächsten Besuch den Absauger so tief in den Rachen ramme, dass ich ihr Frühstück mit absauge.
»Guten Morgen«, flötete ich zurück. Obwohl mir nicht nach Flöten war. Eher nach Bett und Wärmflasche. Oder besser noch Bett und Earl. Der Mops war seit zwei Wochen so anhänglich, dass ich kaum aufs Klo gehen konnte, ohne ihn am Bein zu haben. Das allein ließ mich ja das Schlimmste befürchten. Dazu noch die Kopfschmerzen, der Schwindel und ja, Übelkeit nach dem Aufstehen und das Ausbleiben der Periode. Plus eben der Hunde (Mudel war nicht ganz so schlimm wie sein Vater). Ich weiß, dass Tiere wissen, wann ein anderes Tier Junge erwartet. Dann wird bei denen der Beschützerinstinkt wach. Earl mit seiner zwar platten, aber sehr scharfen Mopsnase konnte ganz bestimmt riechen, dass Tanjas Hormonspiegel auf Brutmaschine eingestellt war.
Aber ehe ich mir nicht ganz sicher war, hatte ich niemandem was gesagt. Nicht meinen Jungs. Und Arne schon gar nicht. Da fehlte sowieso noch ein Stück in der üblichen Choreografie: das ›Schatz, willst du mit mir mal Kinder haben und wenn ja, wann?‹-Gespräch.
Barbara erhob sich. »Sie können gleich mitkommen.« Ich klappte den Mund auf und sie die Tür zum Wartezimmer zu. Zum vollen Wartezimmer! Normalerweise wäre ich erst nach der dicklichen Oma, der Prallschwangeren und der Mutter mit den Zwillingen auf dem Schoß dran gewesen. Und noch ein paar Damen, die allerdings von der Tür aus nur als Schemen durch das Milchglas zu erkennen waren. Ein kleines Teufelchen kratzte an meinem schlechten Gewissen – aber es war sehr, sehr klein. Und außerdem musste ich sehr, sehr dringend aufs Klo. Da kam es mir gerade recht, dass Barbara mir einen weißen Plastikbecher in die Hand drückte und auf die Tür mit der Aufschrift ›WC‹ zeigte.
»Das können Sie in die kleine Klappe stellen, kommen Sie dann einfach ins Labor, ich bereite schon mal alles vor«, säuselte sie. Ich nickte gehorsam und tat, wie mir geheißen. Dann geschah ein mittelgroßes Wunder: Zum ersten Mal seit Beginn meiner Karriere als Patientin eines Gynäkologen konnte ich den angeforderten Urin ohne Pressen von mir geben! Was sonst nur magere fünf Tröpfchen waren, sollte nun doch zu einer ganzen Reihenuntersuchung taugen. Ich wertete das als gutes Zeichen.
Barbara wartete im Labor auf mich. Sie wies mich an, mich auf den mit schwarzem Kunstleder bezogenen Stuhl am Fenster zu setzen und den rechten Ärmel hochzukrempeln. Während ich meine Hände gewaschen hatte, war sie offensichtlich schon fleißig: In drei verschiedenen durchsichtigen Plastikbechern steckten je ein Teststreifen. Barbara bemerkte meinen Blick:
»Das ist für den ph-Wert, der in der Mitte für etwaige Entzündungen und der rechte ist ein Schwangerschaftstest. Machen wir routinemäßig.« Sie zwinkerte mir zu. Ich kniff die Augen zusammen. Die Becher standen zwar so weit entfernt, dass ich ein Fernglas gebraucht hätte, um irgendetwas auf den weißen Teststreifen zu erkennen. Aber ich wolle nichts wissen. Noch nicht. Noch war ich Tanja. Tanja und nur Tanja.
Barbara legte den schwarzen Gurt um meinen Oberarm und pumpte die Manschette auf. Ich schloss die Augen. Und riss sie gleich wieder auf, als vor meinem inneren Auge mein eigenes Bild auftauchte. Ich. Mit dickem Bauch. Das zumindest hatte der Test versprochen, den ich vor vier Tagen im Drogeriemarkt geholt hatte. Aber die Dinger sind ja nicht immer sehr zuverlässig und der blaue Streifen im Kontrollfenster konnte laut Packungsbeilage auch ganz einfach eine Hormonschwankung sein. Immerhin waren die letzten Wochen ganz schön stressig. Neben meiner Arbeit bei der Tierrettung jobbte ich in jeder freien Minute bei Chris und Rolf im Café der Schrebergartenkolonie. Seit die beiden das Lokal übernommen hatten, erinnerte nicht mehr viel an ein Vereinsheim. Zwar waren die meisten Gäste weiterhin Gärtner aus der Kolonie ›Zur Wonne‹, aber es zog doch immer mehr Ausflügler zu uns. Und die wollten bedient werden.
Barbara ließ die Luft ab. »Wunderbar, alles Bombe«, verkündete sie.
»Bombe«, murmelte ich und ahnte, dass vielleicht in ein paar Minuten eine hochgehen würde. Barbara bat mich zum Messen und Wiegen (1,65m und 56,8 Kilo Kampfgewicht, das ich auf meine doch ziemlich dicke Jeans schob). Dann gab es noch einen kleinen Pieks in die Armbeuge, fünf Milliliter von Tanjas Blut flossen in ein Röhrchen und der erste Teil der Untersuchung war geschafft. Obwohl Barbara keine wirklich begnadete Nadelsetzerin war, schwante mir, dass dieses der angenehmere Teil des Programms war. Aber ich ließ mir nichts anmerken, schließlich war ich ja in Barbaras Augen so etwas wie eine Kollegin. Und ich wollte um keinen Preis im Wartezimmer parken, irgendwelche Babybilder an der Pinnwand anstarren und in labbrigen Zeitschriften blättern. Lieber gleich zu Theo!
Als könne sie Gedanken lesen, bat Barbara mich in Zimmer Zwei. Aus der Eins hörte ich Dr. Rollers Stimme, dann die einer Frau. Ich setzte mich auf einen der beiden Stühle, die vor dem massiven Kiefernholzschreibtisch standen, und starrte vor mir hin. Auf dem Schreibtisch lagen allerlei Broschüren über Scheidenpilz, eine neue Art Diaphragma, Menstruationskalender zum Mitnehmen und ein Hochglanzprospekt einer privaten Entbindungsklinik am Killesberg. Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf meine Hände. Seit ich bei meinen Jungs im Service arbeitete, trug ich die Fingernägel raspelkurz. »Hygiene, Schätzchen, es tut mir so leid«, hatte Chris gemeint, als ich am Vorabend meines ersten Arbeitstages meine sorgsam gezüchteten Krallen stutzte. Zum Trost schenkte er mir eine schweineteure Handcreme aus Granatapfelextrakt. Vielleicht hätte ich doch einen meiner Jungs mitnehmen sollen? Immerhin waren sie meine besten Freundinnen, irgendwie. Andererseits … ich wusste im Moment selbst nicht, wer ich war und was ich wollte. Und dann wäre das hier eigentlich Arnes Part gewesen. Doch für solche Gedanken war es zu spät: Theo Roller platzte ins Zimmer. Sein weißer Kittel stand offen und flatterte hinter ihm her. An seiner Stelle – mit diesem Schmerbauch und dem mehr als eng sitzenden blauen Poloshirt, an dessen Bund der haarige Bauchansatz über die Jeans waberte – hätte ich ja den Kittel zugeknöpft.
»Tag«, sagte der Arzt, ließ sich in den schwarzledernen Chefsessel plumpsen und überflog meine Patientendaten auf dem Bildschirm. »Frau Böhm?«
»Ja. Guten Tag.« Herrje, Tanja, deine Stimme klang auch schon lauter! Ich räusperte mich.
Dr. Roller faltete die Hände, legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor. »Was kann ich für Sie tun?«
›Ein Toupet tragen!‹, wollte ich sagen. Auf seiner Glatze glänzte es wie in einem Schmalztopf. Mir wurde ein bisschen übel. Ich holte tief Luft.
»Naja, eigentlich … also … ich glaube … meine letzte Periode ist schon ein bisschen her.« Ich hasse es, über mein Innenleben mit Fremden zu sprechen, und es ist mir egal, ob das ein Arzt ist oder nicht.
»Hm, wie lange denn?« Theo lächelte.
»Das weiß ich nicht so genau«, gab ich zu. »Ich hab die … also … sowieso nicht so regelmäßig.«
Dr. Roller wandte sich dem Bildschirm zu und klickte mit der Maus. »Die Pille nehmen Sie nicht?«
»Nein.« Wenn er mich jetzt gefragt hätte, womit ich denn dann verhüten würde, wäre ich schreiend davongelaufen. Es geht doch keinen was an, dass Arne und ich manchmal rechnen und manchmal Kondome benutzen!
»Wie fühlen Sie sich sonst so?« Dr. Roller starrte mich mit einem aufgesetzten Lächeln an. Vielleicht war es auch nett, aber ich fand die ganze Situation nicht nett.
»Ach ja, bisschen müde. Manchmal. Also irgendwie immer. Und dann … also … mein Busen spannt so komisch.« Dr. Roller nickte.
»Dann wollen wir mal«, sagte er eine Spur zu fröhlich und stand auf. Ich folgte ihm durch eine schmale Tür in den Untersuchungsraum, in dessen Mitte der Alptraumstuhl aller Frauen, die nicht auf perverse Spielchen stehen, stand. Dr. Roller schickte mich hinter den Vorhang.
»Machen Sie sich bitte untenrum frei«, sagte er. Ich zog das schwere Teil mit Blümchenmuster zu und hörte, wie Barbara ins Zimmer kam.
»Die Ergebnisse von Frau Böhm, Herr Doktor«, sagte sie.
»Hm. Danke. Ich brauche nachher noch die Abrechnungen zur Durchsicht«, knarzte Theo, während ich aus meinen Schuhen und der Jeans schlüpfte. Hatte ich in Barbaras Stimme ein Lächeln gehört? Ein diebisches Grinsen? Am liebsten hätte ich mich sofort wieder angezogen. Es kostete mich alle Mühe, mich auch noch meiner Unterhose zu entledigen. Dann zog ich mein Shirt so weit nach unten, wie es eben ging, schlich auf Socken zum Monsterstuhl und kletterte hinauf.
»Noch ein bisschen mit dem Po nach vorne«, befahl Theo und sank auf seinen Hocker. Jetzt konnte ich nur noch seine glänzende Glatze sehen, die auf und ab hüpfte. Er tastete erst auf, dann in mir. Dann schnappte er sich den Schallkopf, der aussah wie ein hochtechnischer Vibrator, ließ mit einem leisen Schmatzen ein Kondom darüber gleiten und machte »hm« und »aha«, während er auf den Bildschirm des Ultraschallgeräts starrte. Ich schloss die Augen.
»Wollen Sie mal sehen?« Theos Kopf nickte heftig, als ich das rechte Auge einen kleinen Spalt weit öffnete. Er hatte den Bildschirm zu mir gedreht. Ich sah … nichts.
»Ich sehe da nichts«, gab ich zu und öffnete auch das linke Auge.
»Schauen Sie hier.« Theo deutete mit dem Zeigefinger der linken Hand auf einen winzigen weißen Punkt.
»Da pulsiert was?«, riet ich.
»Genau. Das kleine Herzchen. Schlägt sehr regelmäßig.«
–
»Frau Böhm? Ist Ihnen nicht gut?«
–
»Etwa elfte Woche, würde ich sagen.«
»Ist das … ein Baby?« Ich starrte auf den Bildschirm.
»Ja, nur eines, keine Zwillinge.« Theo zog den Schallkopf aus mir heraus. Mir war, als hätte jemand den Stecker gezogen.
»Sie können sich wieder anziehen, Frau Böhm.« Ich ließ mich vom Stuhl gleiten und ging wie in Trance in die Umkleide. Dass ich vergaß, den Vorhang zuzuziehen, fiel mir erst auf, als ich mit zitternden Händen die Schnürsenkel an meinen Sneakers zubinden wollte. Und dass die Schleifen mir nicht gelungen waren, merkte ich erst, als ich im Fahrstuhl nach unten fuhr – mit einem ganzen Packen Babybroschüren, einem hellblauen Mutterpass und jeder Menge Verhaltensregeln für die Schwangerschaft ausgestattet. Ich stopfte alles in meine Handtasche, trat auf die Straße und lehnte mich an die Hauswand. Das wäre der perfekte Moment für eine Zigarette, dachte ich. Aber erstens hatte ich keine dabei und zweitens durfte ich das jetzt sowieso nicht mehr.
»Eigentlich darf ich gar nichts«, sagte ich zu mir selbst. »Kein Rohmilchkäse, kein Alkohol, nichts, was Spaß macht.«
»Sie sind ja leichenblass! Haben Sie Probleme?« Ein älterer Herr mit Aktentasche und korrekt gebundener Krawatte blieb vor mir stehen.
»Wie man’s nimmt«, antwortete ich. »Das weiß ich selbst noch nicht.« Warum redete ich mit dem? Ich kannte den Mann doch gar nicht! Ob es an seiner randlosen Brille lag, die seine Augen so groß erscheinen ließ? Oder an meinen Mutterhormonen? Wie ein willenloses Schaf ließ ich mich von ihm am Arm nehmen und zu einer Bank unter einem Baum führen. Dem Geruch nach war das der Stammbaum sämtlicher Hunde aus der Gegend. Ich nahm mir vor, gelegentlich mit Mops und Mudel hier vorbeizukommen, die beiden hätten sicher Spaß.
»Mein Name ist Hans«, sagte Hans.
»Tanja.« Wir reichten uns die Hände. Seine war angenehm kühl.
»Es gibt immer einen Weg.« Hans lächelte mich aufmunternd an, und dann sprudelte es nur so aus mir heraus. Dass ich eine glückliche Beziehung mit Arne hatte. Dass der aber weiterhin in seiner eigenen Wohnung lebte und ich in meiner WG mit Chris und Rolf. Und den beiden Hunden, natürlich. Dass Arnes Wohnung zwar genau gegenüber meiner lag, dass wir uns aber trotzdem nicht jeden Abend sahen, weil er weiterhin bei der Tierrettung arbeitete. Wo ich nur noch auf 400-Euro-Basis beschäftigt war, weil das Geld aus den Spenden einfach nicht für eine weitere Vollzeitkraft reichte. Dass ich neuerdings als Chefkellnerin (weil nämlich einzige) in Chris’ und Rolfs Gaststätte ›Zum fröhlichen Laubenpieper‹ in der Schrebergartenkolonie angestellt war. Und dass ich sehr ungeplant und sehr überraschend sehr schwanger war.
Hans nickte an den richtigen Stellen. Schüttelte an anderen den Kopf. Legte mir die Hand auf die Schulter und reichte mir ein nagelneues Tempotuch, als nur noch Rotz und Wasser kamen. Durch den Tränenschleier sah ich einen ziemlich angeschickerten Kerl, der den ganzen Gehweg brauchte und laut singend seines Weges wankte.
»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, lächelte Hans.
»Na, der wird schon noch wissen, wo er hin muss«, entgegnete ich.
»Der Herr weiß immer, wo der richtige Weg ist.«
»Kennen Sie den?« Ich machte eine Kopfbewegung in Richtung des Betrunkenen, der sich mittlerweile an einem Baum festhielt.
»Der Herr ist in uns allen.«
»Bitte?«
»Aber natürlich. Auch in Ihnen!«
»Ich will aber nicht, dass der Kerl in mir…. Moment mal!« Mir dämmerte was.
»Das müssen Sie nicht wollen, Tanja, der Herr ist immer mit Ihnen.«
»Äh … also, da haben Sie wohl etwas falsch …«
Hans schien mir nicht zuzuhören. Er kramte in seiner Tasche, welcher der Geruch nach Mottenkugeln, altem Salamibrot und etwas Muffigem entströmte, von dem ich gar nicht wissen wollte, was es war. Dann hielt er mir strahlend eine verblichene Zeitschrift unter die Nase.
»Der Leuchtturm«, entzifferte ich.
»Sie sind jederzeit in unserer Gemeinde willkommen, wir treffen uns jeden Tag ab 16 Uhr.«
»Äh.« Ich nahm die Zeitung mit spitzen Fingern an mich. Hans nickte mir zu, erhob sich und zog seiner Wege. Der Betrunkene steuerte meine Bank an.
»Hassuma Feuer hassuma?«
»Äh … ich darf nicht rauchen.«
»Iss doof das iss das.« Er ließ sich neben mich plumpsen und hüllte mich in einen Bierfahnennebel ein.
»Schenk ich Ihnen!«, rief ich, drückte ihm den ›Leuchtturm‹ in die Hand und machte, dass ich nach Hause kam.
Ich hatte kaum den Schlüssel ins Schloss gesteckt, da erklang hinter der Wohnungstür lautes Winseln, das sich zu einer wahren Heulsymphonie steigerte, als ich eintrat: Earl und Mudel sprangen mir jaulend und fiepend entgegen. Während Mudel sich immerhin ein klitzekleines Begrüßungsbellen abringen konnte, sah der Mops mich sehr, sehr vorwurfsvoll an.
»Ist ja schon gut, lasst mich doch erst mal reinkommen«, versuchte ich mich gegen die Hunde zu wehren. Vergeblich: Wenn Earl will, dann hat er Bärenkräfte. Und die nutzte er jetzt, indem er seine ganzen 18 Pfund gegen meine Beine warf. Dazu machte er diesen sabbernden Blick, der eindeutig hieß: »Ich hab Hunger!« Sein Sohn Mudel, unehelich in einem akrobatischen Akt mit einer Königspudeldame gezeugt, ging da etwas subtiler vor. Er schmiss sich vor mir auf den Rücken. Ich ging in die Knie, kraulte gleichzeitig Mudels Bauch und Earl hinter den Mopsohren. Dann stürmten wir zu dritt die Küche. Tatsächlich, die Näpfe waren leer. Dem Geruch nach hatte Mopsvater Rolf heute Morgen mal wieder frischen Pansen gekocht. Der ehemalige Mageninhalt einer Kuh brachte mich zum Würgen. Aber ich blieb tapfer und behielt meinen Mageninhalt bei mir. Ich war ja schließlich nicht die englische Käte, die ihre Schwangerschaft mit einer Speiorgie begann!
Der gekochte Pansen stand in einer Plastikschale im Kühlschrank. Ich verteilte das labbrige Zeugs auf zwei Näpfe, während Mops und Mudel laut kläffend an meinen Beinen hochsprangen. Die beiden taten, als stünden sie kurz vor dem Hungertod. Was ich ihnen fast abnahm, denn es dauerte keine 40 Sekunden, bis die beiden Näpfe leer waren. Mudel schleckte seinen aus, Earl war sich dafür mal wieder zu fein. Er rülpste und machte es sich auf dem weichen Kissen unter dem Tisch bequem. Sekunden später schnarchte er.
»So gut möchte ich es auch mal haben!«
»Arne!«
»Die Tür stand offen.« Mein Tierarzt, noch in der orangefarbenen Uniform der Tierrettung, schlang seine Arme um mich. »Wieso bist du schon …«, wollte ich sagen, aber meine Frage ging in einem langen, langen Kuss unter. Den ich leider nicht wie sonst genießen konnte: In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sollte ich ihm den Mutterpass unter die Nase halten? Oder ein Ratespiel machen? Sollte ich ihn aus der Wohnung und in eine Babyboutique locken? Oder seine Hand auf meinen Bauch legen, ganz ernst schauen und dann die Bombe platzen lassen?
Als Arne sich schließlich von mir löste, war ich kein bisschen schlauer. Dafür hatte ich weiche Knie und ein Kribbeln im Bauch, das definitiv nichts mit meinem noch sehr unförmigen Mitbewohner zu tun hatte.
»Ich habe großartige Neuigkeiten!« Arne strahlte.
»Ich auch.«
»Wie wär’s mit einem Kaffee? Und dann erzähle ich dir alles«, schlug Arne vor. »Ich geh mich mal eben umziehen. Kommst du rüber?«
Ich nickte stumm. Noch ein kleines Küsschen auf die Wange, dann verschwand mein Schatz in seiner Wohnung.
»Okay Jungs, drückt mir die Pfoten«, sagte ich zu den Hunden, die mittlerweile beide unter dem Tisch lagen. Mudel befand sich offenbar im Verdauungskoma, denn er zuckte nicht mal mit den schwarzgelockten Ohren. Earl gab ein Geräusch von sich, das wie ein »Wmmmfff« klang. Mit zitternden Händen brachte ich meine Frisur einigermaßen in Ordnung, legte rosa Gloss auf und tupfte mir etwas von meinem Parfüm für ganz besondere Tage hinter die Ohren. Ein Geschenk von Chris, der es eigentlich für sich gekauft hatte, dann aber doch zu süß fand. Für einen Herrenduft roch das Teil im sündhaft teuren Flakon wirklich schwul.
Als ich bei Arne gegen die nur angelehnte Wohnungstür klopfte, die Handtasche mit dem Mutterpass fest unter den Arm geklemmt, wummerte mein Herz so stark wie ein Presslufthammer am Hauptbahnhof. Nur dass bei Tanja keine Züge im Anflug waren, sondern ein kleiner Mensch. Dessen großer Vater gerade mit zwei Bechern Latte macchiato aus der Küche kam.
»Holst du noch die Kekse?«, bat er mich.
»Gerne!« Das verschaffte mir noch ein paar Sekunden Aufschub. Arne hatte die Schokocookies (die ganz teuren aus dem Feinkostladen) auf einen Teller gekippt. Seine Rettungsuniform lag über dem Stuhl. In der Spüle stapelten sich Teller und Töpfe. Dabei hatte er doch eine Spülmaschine! Ich atmete tief durch. Mein Blick fiel auf den übergroßen silbernen Kühlschrank. Mit einem Magnet hatte Arne ein Foto von uns an die Tür geheftet: er und ich in der Hollywoodschaukel im Schrebergarten. Er hatte seinen Arm um mich gelegt, ich grinste selig in die Kamera, während mein Schatz diesen besitzergreifenden Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Ich liebte dieses Foto. Chris hatte es vor etwa drei Monaten gemacht. Ob ich da schon befruchtet war?
Als ich ins Wohnzimmer kam, flackte Arne auf dem Sofa. Er breitete die Arme aus. »Komm zu mir, schöne Frau!« Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen. Ich ließ die Handtasche von meiner Schulter gleiten, schnappte mir einen Cookie, der wie immer auf der Zunge verging und so schokoladig schmeckte, dass es eigentlich verboten gehörte. Dann kuschelte ich mich an Arne. Wäre ich eine Katze, hätte ich geschnurrt, als er mir mit den Fingern ins Haar fuhr und den Kopf kraulte.
»So, du hast also große Neuigkeiten?«, unterbrach ich schließlich die Stille.
»Du doch auch, oder?« Arne kraulte ein bisschen fester.
»Ja schon.«
»Dann schieß mal los«, forderte er mich auf.
Hätte ich ja gerne. Aber … ich wusste noch immer nicht, wie.
»Du zuerst!«, rief ich deswegen. Arne stellte das Kopfkraulen ein.
»Du kennst doch Carola?«, fragte er.
»Ja, die ist doch in der Wilhelma?« Arne nickte. Jeder in der Stadt, der irgendetwas mit Federtieren zu tun hatte, kannte Carola. Sie war im Stuttgarter Zoo Abteilungsleiterin der Ornithologie. Eine ganz liebe, mit rabenschwarzem Haar und einer vom Schnupfen ständig roten Nase, die irgendwie an einen Vogelschnabel erinnerte. Ich hatte ein paar Mal mit ihr zu tun, wenn wir von der Tierrettung einen altersschwachen Schwan aus dem Stadtgarten oder eine verirrte Ente vom Feuersee in ihre Obhut gebracht hatten.
»Was ist mit der?«
»Sie ist schwanger.« Oh. Wäre das ein gutes Stichwort? Ich hätte in dem Moment sagen können: ›Ach, die auch?‹ und dabei kryptisch lächeln. Stattdessen sagte ich – nichts.
»Und das ist mein Glück, sozusagen.« Arne strahlte.
»Weil du nicht der Vater bist?«, scherzte ich. Und hätte sagen können: ›Nicht von diesem Baby. Von meinem schon.‹ Aber ich sagte – nichts.
Arne lachte. »Ja, auch, Quatsch, nein, sie hat ein Forschungsprojekt. Und da kann sie mit dickem Bauch natürlich nicht hin.«
»Wie hin? Wo … was?« Mir wurde ein bisschen flau, als Arne diesen verzückt-entrückten Blick bekam. Ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass jetzt etwas sehr, sehr Wichtiges kam. Für ihn Wichtiges. Und das kam auch: neben Tieren mit Federn waren Fledermäuse aller Arten Carolas Spezialgebiet. Und auch mein Liebster war von diesen Viechern angetan. Ein internationales Projekt, finanziert mit Geldern aus EU-Töpfen, wollte nun der Frage nachgehen, wie sich Bulldoggfledermäuse so verhalten. Paarung, Nahrung – eben alles, was diese mopsartigen Flugtiere mit der zerdatschten Schnauze so machen. In ihrer natürlichen Umgebung. In Bolivien. Im hintersten Bergland.
»Sie hat mich vorgeschlagen, um ihren Platz anzutreten.« Arne strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
»Ah«, machte ich.
»Sechs Monate! Stell dir vor, endlich mal wieder Forschung betreiben! Und ich könnte die Ergebnisse verwerten, um meinen Doktor zu machen. Habe schon mit Professor Kinkelin in Hamburg telefoniert, er wäre gern mein Doktorvater.« Arne überschlug sich beinahe. Ich hätte sagen können: ›Du wirst auch Vater, Herr Doktor.‹ Aber ich sagte – nichts.
»Das … äh … klingt toll.« Okay, das war lahm, und wahrscheinlich wenig überzeugend. Aber mein Schatz war dermaßen in Fahrt, dass ihm das gar nicht aufzufallen schien. Im Schnelldurchgang reiste er mit mir an den hinterletzten Zipfel der Welt und galoppierte durch den Urwald, in ein Camp aus Zelten, in dem tagsüber geschlafen wird, um nachts mit Infrarotkameras den Fledermäusen aufzulauern.
»Toll«, sagte ich und überlegte fieberhaft, wie in dieses Szenario mein himmelblauer Mutterpass passen könnte. Gar nicht, musste ich mir eingestehen.
»Und wann soll das losgehen?«, fragte ich schließlich, als Arne Luft holte.
»In zwei Wochen schon. Ist das nicht fantastisch?« Er sah mich so flehend und begeistert an, dass ich gar nicht anders konnte, als zu nicken. Obwohl mir danach war, ihm an den Kragen zu gehen und zu schreien. Schließlich sollte er keine schwangeren Fledermäuse begutachten, sondern bei mir und seinem ungeborenen Kind sein!
»Schau doch nicht so traurig!« Arne nahm mich in den Arm und es kostete mich sehr, sehr viel Mühe, nicht loszuheulen. »Das ist nur ein mickriges halbes Jahr. Und ich kann dir ja Mails schreiben. Manchmal. Also … naja, der Empfang ist da … also … eher schlecht.«
Jetzt heulte ich doch.
»Weinst du?« Arnes Atem brannte heiß auf meiner Wange.
»Nein«, schniefte ich, riss mich los und sprang auf. Ich wollte nur noch weg hier, flitzte um den Tisch, sah schon die rettende Tür. Mein Fuß verhedderte sich in etwas, ich stolperte, knallte mit den Knien auf den Boden und riss meine Handtasche um. Der Reißverschluss war nicht zu und mein Geldbeutel, das Lipgloss, der Hausschlüssel und der Mutterpass kullerten auf den Boden. Vor Schreck vergaß ich, dass meine Knie schmerzen mussten. Hektisch begann ich, die Sachen einzusammeln. Nicht auszudenken, wenn der werdende Vater auf diese Art von seinem Glück erführe! Oder war es gar kein Glück für ihn? Wäre eine schwangere Freundin, wäre ein ungeplantes Kind die Bremse, die ihn daran hinderten, seinen Traum zu leben? In Sekundenbruchteilen spielte sich eine mögliche Version meines zukünftigen Lebens vor meinem inneren Auge ab. Arne, der jeden Abend um kurz nach fünf nach Hause kommt. Der lustlos mit seinem Kind Monopoly spielt. Dem ich nichts erzählen kann, weil ich als Hausfrau nichts erlebt habe. Der nicht mehr mit mir schläft, weil ich langweilig bin und weil er jeden Abend von Bolivien träumt, das er nie gesehen hat.
»Nein!«, schrie ich und raffte alles zusammen. Es war mir egal, dass das hellblaue Heftchen einen Knick bekam, als ich es in die Tasche stopfte.
»Tanja, ist alles in Ordnung?« Arne kam zu mir. Ich machte die Tasche zu und schob sie unter den Couchtisch. Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und sah mir lange in die Augen. ›Bitte sag nicht Nein, lass mich gehen‹, meinte ich dort zu lesen.
»Alles okay«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Es ist nur … du fehlst mir jetzt schon.« Und das war nicht gelogen. Der Gedanke, sechs lange Monate von Arne getrennt zu sein, fühlte sich an wie ein Stacheldraht um meine Brust.
»Du mir auch, Tanja.« Arne wischte mit dem Daumen die Tränen von meiner Wange. Und dann küsste er mich. So lange und so zärtlich, wie schon lange nicht mehr.
»Sind wirklich schon zwei Wochen rum?«, frage ich mich, während ich den Reisenden dabei zusehe, wie sie Koffer und Taschen zum Check-In schleppen. Mir kommt es vor, als hätte Arne mir erst gestern gesagt, dass er an den Popo der Welt reist. Naja, erst mal geht es nur bis Frankfurt, dort wird er den Rest der Crew treffen. Zwei Doktoranden aus Hamburg und eine Ornithologin aus Zürich.
»Die ist gut zu Vögeln«, hatte Chris geschäkert, als ich meinen Mitbewohnern neulich ein Update in Sachen Reisevorbereitungen gab. Ich fand das überhaupt nicht witzig. Meine Humorgrenze ist zurzeit sowieso sehr, sehr niedrig. Ich bin eh schon nah am Wasser gebaut, aber seit ich weiß, dass Arne weg ist und ich in spätestens sechs Monaten Mutter bin, könnte ich die ganze Zeit heulen. Ich habe keine Ahnung, ob es vom Liebeskummer kommt oder von den Hormonen. Earl jedenfalls schläft seit jenem Tag vor zwei Wochen immer in meinem Bett, obwohl ich nie darin liege. Keine zehn Pferde würden mich von Arne wegbringen, ich will jede Minute mit meinem Schatz auskosten! Und meine Jungs schieben meine Laune auf den Abschiedsschmerz. Was ich sehr gut finde, so muss ich ihnen nicht beichten, dass wir bald noch einen Mitbewohner bekommen werden. Ich habe nämlich schlicht keine Ahnung, wie Rolf und Chris zu Babys stehen. Sie sind zwar verheiratet, aber anders als so manches schwule Pärchen aus ihrem Freundeskreis haben sie noch nie über eine Adoption à la Elton John gesprochen. Wozu auch, sie haben Mops und Mudel. Die Hunde sind quirliger als ein kompletter Kindergarten.
»So, da bin ich wieder.« Arne legt mir den Arm um die Schulter und ich wünschte, ich könnte die Zeit vordrehen: Dann wird er wieder sagen: »So, da bin ich wieder!« Aber dann bleibt er. Kann ich aber nicht. Ich schlucke gegen den Kloß in meinem Hals an und versuche ein Lächeln. Ich will, dass er mich als starke Frau in Erinnerung hat, die ihm seinen Erfolg und sein Abenteuer gönnt, wenn er durch den Dschungel robbt. Und ich will, dass diese Paola aus Zürich 120 Kilo wiegt, Zahnlücken hat und Mundgeruch. Damit mein Atem frisch ist, zerbeiße ich schnell das Minzbonbon und hake mich bei Arne unter. Es kostet mich mehr Kraft, als eine Waschmaschine in unsere Wohnung im dritten Stock hochzuschleppen, dennoch gelingt mir ein Lächeln.
»Die Jungs sind oben«, teile ich Arne mit und nicke mit dem Kopf in Richtung Rolltreppe. »Magst du noch mal was Ordentliches essen, bevor du nur noch gebratenes Meerschweinchen kriegst?«
»Ein Hamsterburger wäre jetzt genau das richtige«, lacht Arne und zieht mich mit sich. Ausnahmsweise ist vor der Theke im McDonald’s keine Schlange. Und ausnahmsweise haben Rolf und Chris einen der Tische am Fenster erwischt, von denen aus man einen Blick über die Start- und Landebahn hat. Würde Arne nicht gleich aus meinem Leben verschwinden, könnte ich das glatt als meinen Glückstag bezeichnen. Ich liebe es, den Flugzeugen beim Starten zuzuschauen, wie sie langsam und behäbig abheben, aus dem Blickfeld verschwinden. Aber ich hasse es, wenn jemand, den ich liebe, in einem dieser Flieger sitzt.
Arne ordert einen Big Mac mit großer Cola und Pommes. Ich kann mich nicht zwischen Fisch und Huhn entscheiden und bestelle einfach beides. Plus Zwiebelringe. Plus Nuggets. Plus einem kleinen Salat (ein paar Vitamine sollte ich in meinem Zustand schon essen, auch wenn ich keinen Appetit drauf habe). Plus einen Donut mit Schokoladenüberzug.
»Hast du einen Bandwurm?«, scherzt Arne, als ich mein übervolles Tablett durch das Restaurant balanciere.
»Frustessen«, knurre ich. Arne seufzt und ich beiße mir auf die Zunge. Am liebsten würde ich mich an sein Hosenbein hängen und ihn nicht fortlassen, aber ich reiße mich zusammen. Nach harten zwei Wochen will ich nicht auf den letzten Metern hysterisch werden.
Earl sitzt auf Rolfs Schoß und kläfft begeistert, als er uns sieht. Der Mops liebt Pommes, mit Ketchup, klar. Wenn wir die aus dem Kiosk bei uns zu Hause um die Ecke holen, kann es vorkommen, dass er sogar die Pappschale mitfrisst. Ich habe dann ein schlechtes Gewissen, aber Arne, der es als Tierarzt ja wissen muss, sieht das nicht so eng: »So lange ihr das Salz abmacht und er das nur alle Jubeljahre mal bekommt – das sind doch alles hochwertige Lebensmittel!« Mudel ist in der Beziehung mehr Hund als sein Vater. Ihm kann man nur mit knackiger Wurst oder eben der Bulette aus dem Hamburger kommen. Chris setzt Mudel von seinem Schoß auf den Boden und tröstet ihn mit einem Happen Hackfleisch.
»Jetzt geht’s also los«, sinniert Rolf und beißt in das bisschen Chickenburger, was er noch übrig hat. Der Mops schmatzt und reckt den Hals. »Reicht jetzt, Dicker.« Rolf setzt den sichtlich enttäuschten Earl zu Mudel unter den Tisch. Der Mops fiept und schnaubt, wobei er mich mit der Schnauze gegen das Schienbein stupst. Ich fummele ein bisschen Hühnchen aus einem Nugget und lasse es unter den Tisch fallen, als Rolf einem Bus nachsieht, der draußen über den Asphalt brettert.
»Das hab ich gesehen!« Chris wedelt mit dem Zeigefinger.
»Petze«, scherze ich zurück und beiße in meinen Fischburger. Die Mayo trieft an den Seiten heraus und hinterlässt einen tröstenden Geschmack im Mund. Eine Weile essen wir stumm, wobei meine Jungs angestrengt auf die Landebahn starren. Das ist wohl ihre Art, uns ein letztes bisschen Zweisamkeit zu schenken. Arne fixiert mich während des ganzen Essens, was es nicht gerade leichter macht, die Pommes anständig zu essen. Von den Burgern ganz zu schweigen, wie immer trieft das Ketchup an meinem Kinn herunter. Arne lächelt und wischt es mir mit dem Finger ab, den er sich dann in den Mund steckt. Mir wird sehr, sehr heiß.
Schließlich knüllt unser Weltreisender seine Serviette zusammen und lehnt sich zurück. »Pappsatt«, gibt er bekannt.
»Genieß es, solche kulinarischen Köstlichkeiten wirst du lange nicht bekommen«, empfiehlt Rolf. Seit er und Chris den ›Fröhlichen Laubenpieper‹ gepachtet haben, hat er geschätzte 250 Kochbücher gelesen. Und nachgekocht. Allerdings schaffen es die wenigsten Gerichte, die er in unserer WG-Küche brutzelt, auf die Karte im Lokal: Was Chris nicht schmeckt, wird niemandem sonst serviert. »Und der Mann hat Geschmack«, wie Rolf mehrfach betont hat, »schließlich hat er ja mich geheiratet!«
»Ich ahne, dass ich in die kulinarische Diaspora fliege«, brummt Arne.
»Keine Brezeln, keine Maultaschen, keine Linsen«, zählt Chris auf. »Außerdem kein Stuttgarter Hofbräu, kein Trollinger, keine Spätzle …«
»Hör auf!« Arne boxt Chris gegen den Arm. »Sonst überleg ich mir das noch und bleibe da!«
»Nicht auszudenken, wo wir uns so darauf gefreut haben, Tanja für uns zu haben.« Rolf zieht eine Schnute und grinst dann. Tanja würde am liebsten sagen ›Ja, bleib bei mir!‹ Aber sie tut es nicht. Ich habe mir fest vorgenommen, sehr, sehr erwachsen zu sein. Schließlich geht es hier nur um sechs Monate, was ist das schon im Vergleich zum Rest meines Lebens, den ich mit meinem Lieblingstierarzt verbringen will? Okay, ich bin ein bisschen schwanger, aber den Gedanken an das Baby habe ich die vergangenen 14 Tage erfolgreich verdrängt, da werde ich nicht ausgerechnet jetzt mit der Nachricht rausplatzen.
»Genau, wir passen auf Tanja auf«, stimmt Chris seinem Mann zu. Earl bellt leise unter dem Tisch, als wolle auch er zustimmen. Nur von Mudel ist nichts zu hören, wahrscheinlich macht er ein Verdauungsschläfchen.
»Siehst du, ich habe zwei Männer, die sich um mich kümmern«, versuche ich zu scherzen. Der Mops bellt lauter. »Sorry, vier sogar!«
Arne lacht. »Dann kann ja nichts schiefgehen.«
»Eben«, sagen meine Jungs unisono und nicken so heftig, dass sich eine von Chris’ Locken, um die ich ihn aufrichtig beneide, löst und ihm in die Stirn fällt. Arne schielt auf seine Uhr.
»Also, so langsam …«
»Hast du das Visum?« Rolf ist wie immer derjenige, der an das Praktische denkt. »Deinen Pass? Das Ticket?«
»Was mache ich nur ohne dich!« Arne versucht ein Lächeln, aber es misslingt ihm. Hektisch kramt er in seiner Jackentasche. »Pass, Visum. Und Ticket. Alles da.«
»Ja dann …«, sagt Chris gedehnt und wischt sich über die Augen.
»Wehe du heulst«, fährt Rolf ihn an.
»Wieso?« Chris schnieft eingeschnappt.
»Weil ich dann auch anfange und ich will nicht heulen«, murrt Rolf. Dann springt er auf, nickt Chris zu und zerrt an Earls Leine. Der Mops grunzt unwillig, als Rolf ihn unter dem Tisch vorzieht. Mudel springt begeistert um die Stühle.