Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein packender Krimi mit spannenden Einblicken in die Welt der Wasserretter. Die Kieler Woche steht bevor, und an der Ostseeküste verschwinden auf unerklärliche Weise Menschen. Als auch ein Mitglied des DLRG-Teams um Gabriela Haberstroh, Oberkommissarin der Wasserschutzpolizei, Opfer eines brutalen Überfalls wird, stellen die ehrenamtlichen Retter Nachforschungen an. Sie ahnen nicht, dass sie damit in die Schusslinie skrupelloser Krimineller geraten – und ins Visier eines schwer bewaffneten Todeskommandos ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 505
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Andreas Schnabel, 1953 in Hamburg geboren, begann seine Fernsehlaufbahn beim SFB und ging dann als Moderator, Redakteur und Produzent für die Sportredaktion zum damals noch jungen Sender RTL. Heute lebt er in Pulheim bei Köln und verfasst Drehbücher, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Lyrik und Kriminalromane.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/mm7, shutterstock.com/elegeyda, shutterstock.com/Honza Krej
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Fotografie: Marcel und Heiko Rataj
Lektorat: Elke Weymann
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-9870-7001-3
Originalausgabe
In Zusammenarbeit mit der DLRG
Unser Newsletter informiert Sie
regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter
www.emons-verlag.de
Dieses Buch ist allen Rettern der DLRG und den Kampfschwimmern der Marine gewidmet.
Die See war ruhig, und ihr erster sogenannter »Urlaubstag« versprach es auch zu werden. Gabriela Haberstroh setzte sich am frühen Morgen in einen der leeren Strandkörbe und stellte ihren Seesack vor sich hin. In achtundvierzig Stunden sollte die Kieler Woche beginnen, und sie saß hier in Laboe einsam am Ufer und wusste nicht, was in den nächsten Tagen auf sie zukommen würde. Das war ein unangenehmes Gefühl, denn vermeidbare Überraschungen hasste sie.
Den Strand kannte sie von ihren Wachdiensten her, wenn die Kollegen der Wasserwacht Personalprobleme hatten. Normalerweise war Laboe deren Revier. Bei einem so herrlichen Wetter war er tagsüber wie alle Strände der Kieler Förde meist total überfüllt. Dann saß sie aber mit dem Fernglas vor den Augen auf ihrem Strandwachturm oder im Wachhäuschen, umringt von tobenden und planschenden Kindern, lärmenden Jugendlichen, gut gelaunten Eltern und über den Lärm meckernden Rentnern. Hinzu kamen Wolken von Sonnenöldüften und Musikfetzen aus allen vier Himmelsrichtungen, denn inzwischen wurde ja schon mit wasserdichten Bluetooth-Lautsprechern gebadet. Heute aber saß sie zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben in einem Strandkorb, und es herrschte Ruhe, vom Kreischen der Möwen einmal abgesehen. Wenn man wie sie an der See aufgewachsen ist, gehörten die Rufe der Seevögel und das Plätschern der kleinen Wellen, die am Strand ausrollten, zur absoluten Ruhe.
Sie blickte sich fragend um. »Schlag acht Uhr«, hatte Thomas Wartke, der Chef der Ortsgruppe Kiel, am Telefon gesagt. Treffpunkt am Strand vor der Konzertmuschel von Laboe, und pünktlich solle sie auf jeden Fall sein.
Für die Polizeioberkommissarin und Schiffsführerin der Wasserschutzpolizei (umgangssprachlich WaSchPo genannt) gehörte es zur Urlaubsplanung, sich um die Kieler Woche herum vierzehn Tage lang freizunehmen, um für die DLRG, ihre Heimat im Ehrenamt, rund um die Uhr Zeit zu haben. Sie war zuerst sauer, dass ihr der genehmigte Urlaub kurzfristig gestrichen wurde. Als sie dann aber erfuhr, dass sie von ihrem Arbeitgeber für ganze vier Wochen höchst offiziell zur DLRG abgeordnet wurde, war ihre Welt wieder in Ordnung. Sie hoffte, dass sich die vielen anderen Kameradinnen und Kameraden der Wasserretter, die aus mehreren befreundeten DLRG-Ortsgruppen anreisten und alle ihre Urlaubstage für diesen anspruchsvollen Dienst opferten, dadurch nicht benachteiligt fühlten. Gabriela selbst kannte es nicht anders. Wie oft wurde sie von Altersgenossen gefragt, warum sie diese Strapazen jedes Jahr aufs Neue auf sich nehme, denn finanziell lohne es sich ja nicht. Normalerweise wird ein Tag Dienst, den man am Strand oder auf einem der Rettungsboote verbringt, gerade einmal mit fünf Euro Aufwandsentschädigung vergütet. Dafür hat man dann aber Wohnen und Verpflegung frei. Der Spaß, den man mit dieser eingeschworenen Truppe hat, der ist hingegen unbezahlbar. An diesem Tag schaute sie aber wenig zufrieden aus ihrer rot-gelben »Dienstwäsche«. Die unsägliche Geheimniskrämerei, die um ihre neue Aufgabe herrschte, empfand sie als unangebracht. Man versprach ihr aber, dass sie diese vier Wochen auf See verbringen werde; das versöhnte sie wieder.
Die Ostsee war ihre große Liebe. Zugegeben, der Berliner Wannsee hatte auch etwas Reizvolles, doch wegen ihres Verflossenen war sie nach ihrer Ausbildung in der Hauptstadt gelandet. Aber gegen die See hatte ihr Ex auf lange Sicht keine Chance gehabt und die Havel schon gar nicht. Die Ostsee war zwar manchmal recht rau, dafür aber immer treu und berechenbar, wenn man gelernt hatte, mit ihren Tücken und mit ihren Gefahren zu leben. Sie als Besitzerin aller nötigen Patente für die Berufsschifffahrt an der Küste kannte sich damit bestens aus.
Gabrielas zweite Liebe war die DLRG. Dort waren schon ihre Eltern ehrenamtlich tätig. Auch sie verbrachte in ihrer Kindheit und Jugend den Großteil ihrer Freizeit bei der DLRG-Jugend, als erwachsene Frau dann auf den Strandwachtürmen im Bereich Kiel oder bei Ausbildungslehrgängen. Und wenn die Saison an den Stränden vorbei war, ging’s in die Hallenbäder, um den Kids das Schwimmen beizubringen. Im vergangenen Jahr hatte sie bei einem DLRG-Kameraden, der in Eckernförde als Ausbilder der Marinetaucher arbeitete, den anspruchsvollen Lehrgang zur Rettungstaucherin absolviert. Das passierte aber auf ihre eigene Initiative hin, denn die Gesellschaft kann sich schon seit Langem keine Rettungstaucher mehr leisten. Das spezielle Equipment für Profitaucher wäre in Anschaffung und Wartung viel zu teuer. Allein die jährlich vorgeschriebene ärztliche Untersuchung für Berufstaucher, und als solche würden sie gelten, würde das Budget für ein Hobby, sei es auch der Allgemeinheit dienlich, sprengen. So freute sie sich, ihre privat erworbenen Fähigkeiten bei der DLRG einbringen zu können.
»Vielleicht braucht mich das Kur- und Bäderamt als Meerjungfrau«, murmelte Gabi vor sich hin. »Okay, Meer könnte klappen, aber für den Rest käme die Anfrage ein wenig spät.«
»Wozu käme was zu spät?«, erschreckte sie die Stimme eines ebenfalls im Outfit der DLRG-Retter gekleideten Mannes. Er hatte auch einen Seesack bei sich. »Es tut mir leid, dass ich Sie aus ihren Tagträumen gerissen habe.«
Sie lächelte. »In der Tat haben Sie das. Ich war mit meinen Gedanken gerade ganz woanders.«
»Wenn ich mich vorstellen darf: Mein Name ist Drs. Patrick Simons, ich bin Neurochirurg und die kommenden zwei Wochen hier bei der Kieler Woche als Notarzt tätig.« Er sah sich um. »Aber ich sehe hier nur Strandkörbe und sonst nichts.«
Sie war erleichtert, mit dem Arzt einen Leidensgenossen gefunden zu haben. »Nehmen Sie Platz, junger Mann. Zu zweit wundert es sich bequemer.« Sie sah ihn an. »Aber warum Drs.? Sie sind doch nur einer.«
Er lächelte. »Drs. ist der niederländische Titel für Doktor.«
»Aha.« Sie zog die Stirn kraus. »Darf ich weiter einfach nur Doktor sagen? Das mit dem ›s‹ hinten dran merke ich mir nie.«
***
Inzwischen warteten sie schon zu dritt, denn die DLRG-Kollegin Sylvie Franke war ebenfalls zu ihnen gestoßen. Normalerweise arbeitete sie in Berlin am Bundeswehrkrankenhaus als Notfallsanitäterin. Sie wurde, wie Gabriela, von ihrem Dienstherrn für einen Monat freigestellt.
»Es ist schön, Sie kennenzulernen«, begrüßte die junge Frau den Arzt und zu Gabi gewandt, »und dich mal wiederzusehen. Nur wäre es noch schöner zu wissen, was uns hier erwartet. Irgendeinen Sinn, dass wir hierher bestellt wurden, wird es doch wohl haben, oder?«
»Da würde ich nicht unbedingt drauf wetten«, ertönte eine vierte Stimme hinter ihnen.
Alles drehte sich zu dem Neuankömmling.
»Fiete Harmsen mein Name. Mich haben sie vom Zoll für einen Monat zu eurem Haufen abkommandiert.«
Jeder stellte sich vor.
»Wisst ihr, welche Aufgabe uns hier erwartet?«
Gabi schüttelte den Kopf. »Noch nicht, aber ich denke mal«, sie zeigte auf die See, »dahinten hält etwas auf uns zu, was uns klüger machen wird, wenn es erst mal hier ist.«
Der Arzt staunte. »Was hat das Ding nur für ein Höllentempo!«
»Für die Größe ist das Boot ganz schön fix unterwegs«, murmelte Fiete anerkennend.
Sylvie kniff die Augen zusammen. »Das sind, soweit ich es erkennen kann, die Farben der DLRG. Ein Rettungsboot ist es nicht, dafür ist es zu groß, aber für einen Seenotkreuzer ist es wiederum zu klein.«
Gabi runzelte die Stirn. »Schiffe in der Größe hat hier eigentlich nur die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Für die Hochseerettung brauchst du etwas mit Tiefgang. Das Ding dort hinten ist flach wie eine Flunder. Das siehst du an der Hecksee.«
»Vielleicht hat sich euer Chef ein Speedboot zugelegt«, lästerte Fiete grinsend.
»Nein«, berichtigte ihn Gabi, »den kenne ich schon lange, für so einen Blödsinn wäre der niemals zu haben.«
Der kleine Flitzer wuchs, je näher er kam, zu einem relativ stattlichen Boot. Knappe zwanzig Meter lang, schätzten sie, mit einem Aufbau vor dem Ruderhaus und mit einem jetangetriebenen Festrumpfschlauchboot auf dem Dach des Heckaufbaus, das mit einem Ausleger zu Wasser gelassen werden kann. »Aber wessen Kiste das auch ist, so ein Gefährt habe ich hier noch nie gesehen.«
Von einer unsichtbaren Kraft aufgehalten, stoppte das Boot aus voller Fahrt, um danach langsam auf das Ufer zuzuhalten.
»›Otto Asmussen‹ heißt der Kahn«, bemerkte der Doktor, »und er ist der Beschriftung nach definitiv von der DLRG.«
Fiete nickte. »Stimmt, am Ruderhaus klebt auch der Rettungsgeier.«
»Was für ’n Ding?«, fragte der Arzt.
»Ich meine den Adler im Wappen der DLRG.«
Sylvie lachte. »Jetzt bin ich aber mal gespannt, ob auch das aus dem Schiff herauskommt, was draufsteht.«
Zur Überraschung aller zog sich das Boot wie von Geisterhand, nachdem der Bug des flachen Rumpfes im seichten Wasser Grundberührung hatte, von selbst circa zwei Meter den Strand hoch. Mit einem leisen Surren klappte der Bug vor, und zwei große Klappen öffneten sich nach links und rechts. Von der Bugklappe aus entfaltete sich ein kleiner Steg, sodass man aufrechten Ganges in das Innere dieses seltsamen Schiffes gelangen konnte und umgekehrt.
Ein Marineoffizier mit viel Gold auf den Schultern trat ihnen auf dem Steg entgegen. »Meine Damen und Herren, mein Name ist Christoph Block, ich bin Chef der Einsatzflottille 1 und somit Marinechef vom westlichen Teil der Ostsee. Ich habe zwar einen Schreibtisch, der sich vor Arbeit nur so biegt, aber ich konnte es mir einfach nicht nehmen lassen, Fachleuten wie Ihnen das Neueste, was die Wasserrettung zu bieten hat, persönlich vorzustellen. Ich bitte Sie herzlich, an Bord zu kommen. Ihre Seesäcke können Sie gern hierlassen, die werden von meinen Leuten gleich in Ihr neues Quartier gebracht.« Er machte eine einladende Geste, und jedem, der an ihm vorbei den Steg entlangschritt, schüttelte er mit einem gewinnenden Lächeln die Hand.
Gabi folgte dem Arzt, und beide betraten staunend das Boot. Am Ende des Steges führte eine schiefe Ebene ins Innere, und sie standen in einem komplett ausgestatteten Schockraum. In der Mitte ein Hightech-Tragetisch mit Niveauregulierung.
Sylvie war beeindruckt. »So ein Ding habe ich ja noch nie gesehen. Kann man damit auch ins All fliegen?«
Der Admiral lachte. »Nein, aber dieser neuartige Mechanismus der Tragearretierung kann die Schiffsbewegungen in jede Richtung bis zu einer Wellenhöhe von achtzig Zentimetern ausgleichen. Wie Sie sehen, haben wir auch von allen Geräten, die für eine Erstversorgung von Schwerstverletzten nötig sind, nur das Neueste und Beste an Bord.«
Drs. Simons trat vor einen Apparat, der an der Wand hing. »Mein Gott«, rief er, »wir können hier sogar Blutgasanalysen machen. Ist jemand an diesem Ding ausgebildet?«
»Ja, ich«, rief Sylvie. »Diese Geräte haben wir seit Neuestem auch auf unseren Intensivtransportwagen in Berlin.« Sie schaute ehrfürchtig an die andere Wand. »Und da ist sogar ein ›Lucas 3‹!«
Fiete teilte diese Begeisterung nicht auf Anhieb. »Und was macht man damit?«
»Das ist ein Gerät, das eigenständig die Herzdruckmassage durchführen kann. Du selbst musst dann nicht mehr pumpen und hast für die anderen Dinge die Hände frei. Damit kannst du einen Patienten während der laufenden Reanimation ins Krankenhaus transportieren.« Sie strich fast liebevoll über eine der geschlossenen Schubläden und sah den Offizier fragend an. »Darf ich hier auch mal reingucken?«
»Tun Sie sich keinen Zwang an, Frau Obermaat. Das ist für die nächsten Wochen Ihr Reich.«
»Und meines«, bemerkte der Doktor, »hoffentlich auch. Herr Block, gestatten Sie mir eine Frage?«
»Immer raus damit.«
»Sie sind noch keinem von uns je begegnet, dennoch scheinen Sie alles über uns zu wissen, zum Beispiel den Dienstrang der jungen Kollegin. An der DLRG-Kleidung hat sie keine Rangabzeichen.«
»Ich weiß auch, dass Sie Drs. Patrick Simons, sechzig Jahre alt und Niederländer sind. Sie sind ein anerkannter hochspezialisierter Notfallmediziner. Sie finden aber dennoch Zeit, einen Teil Ihrer knappen Freizeit der DLRG zu widmen. Meine Anerkennung, Herr Doktor.«
Der Arzt war konsterniert. »Wir sollten mal ein Bier miteinander trinken, vielleicht erfahre ich dann auch noch ein paar Neuigkeiten über mich.«
Der Offizier lachte. »Auf jeden Fall sollten Sie sich heute noch Zeit für ein Telefonat nehmen, denn Sie haben Hochzeitstag.«
Drs. Simons lief rot an. »Danke«, stammelte er. »Den hätte ich glatt vergessen.« Er sah sich um. »Ihr kommt doch von hier. Gibt’s hier irgendeinen Blumenladen mit Fleurop?«
»Machen Sie sich bitte keine Umstände«, konterte der Admiral. »Die Marine hat sich erlaubt, Ihrer Gattin bereits Blumen zu schicken. Als einen kleinen Dank dafür, dass sie uns ihren Mann an so einem Ehrentag ausgeliehen hat.« Er sah Gabi an. »Und Sie, Frau Oberkommissarin Haberstroh, haben auch noch Fragen?«
Sie winkte ab. »Nein danke. Was Sie alles über mich in Erfahrung gebracht haben, möchte ich gar nicht wissen.«
Alle lachten herzlich.
»Ich merke schon, wir haben hier eine humorvolle Truppe. Aber darf ich Sie ins Ruderhaus bitten, damit wir mit unserer Führung weiterkommen?«
Gabi tuschelte zu Fiete: »Der Block ist etwas Höheres. Wie hoch genau? Ich bin mit den Rangabzeichen nicht sattelfest.«
»Der ist Flottillenadmiral«, flüsterte er zurück.
»Also ziemlich weit oben, oder?«
Der Mann nickte. »Jau, einen höher als Neptun selbst.«
***
Nachdem sie nacheinander die fünf Stufen des Niedergangs erklommen hatten, standen sie in einem relativ großen Ruderhaus und sahen sich drei weiteren freundlich dreinschauenden Männern gegenüber.
»Für alle, die ihn noch nicht kennen«, übernahm der Admiral die Konversation und zeigte auf den linken der Männer, »hier ist Thomas Wartke, der Chef der Kieler DLRG-Gruppe, daneben Julius Lender, ein Urgestein der Marine, inzwischen Erster Polizeihauptkommissar und Schiffsführer bei der Küstenwache, und last but not least sein Bruder Polizeihauptmeister Hinnerk Lender, einer der besten Maschinisten, der je auf den sieben Weltmeeren herumgeschippert ist.« Er legte eine rhetorische Pause ein. »Und nun komme ich zu den Feinheiten Ihres Arbeitsplatzes. Das ist ein sogenanntes ›NES‹, der Prototyp eines Notarzteinsatzschiffes, das, wenn es sich in der Testphase bewährt, von ›German Naval Yards Kiel‹ gebaut, international in Serie gehen soll. Ausgerüstet ist dieses technische Wunderwerk mit zwei je neunhundert PS starken E-betriebenen Wasserstrahlturbinen, die das Boot bei glatter See auf gut fünfzig Knoten, also circa dreiundneunzig Stundenkilometer beschleunigen können. Bei Welle natürlich dementsprechend weniger. Es hat eine Reichweite von rund zweihundertfünfzig Seemeilen. Sollte mal keine Steckdose in Reichweite sein, kann ein leistungsstarkes Notstromaggregat das Boot noch immer auf knappe fünfzehn Knoten beschleunigen und den Sanitätsbereich und die Brücke zuverlässig mit Strom versorgen. Dieses Boot hat einen fünf Meter hohen Teleskop-Lichtmast und eine annähernd Dreihundertsechzig-Grad-Nahfeldausleuchtung, es verfügt über ein Wenderohr, um mit zweitausend Liter Meerwasser pro Minute kleinere Brände löschen zu können, und es kann sich, wie Sie es bereits bei unserer Ankunft am Strand sehen konnten, mit Hilfe von Raupenketten aus Vollgummi, die sich links und rechts neben dem flachen Kiel befinden, selbst ein paar Meter den Strand hochziehen und sich natürlich wieder ins Wasser zurückschieben. Die Damen und Herren Sanitäter sollen bei Einsätzen am Strand schließlich keine nassen Füße bekommen. Zur Bergung von Schiffbrüchigen haben wir sowohl Steuer- als auch Backbord eine Bergeklappe und auch Netze in der Reling, um geschwächte Personen an Bord heben zu können. Damit wir sie bei Dunkelheit oder im Nebel überhaupt finden können, verfügt das Boot über eine leistungsstarke Wärmebildkamera, die ebenfalls an der Spitze des Lichtmastes angebracht ist; von einem Operator im Steuerhaus bedient, hat sie einen Wendekreis von dreihundertsechzig Grad. Mit anderen Worten, was die nahe Küsten- und Strandrettung betrifft, verfügen Sie im kommenden Monat über eine sogenannte ›eierlegende Wollmilchsau‹.«
Gabi war beeindruckt, hatte aber noch Fragen: »Und was passiert nach dem Testmonat mit diesem Schiff? Bleibt es bei der DLRG? Die Farben hat es ja schon, und der Namensgeber war, glaube ich, auch mal einer von uns.«
Admiral Block zuckte mit den Achseln. »Das kann ich Ihnen leider nicht zuverlässig beantworten. Nach der Testphase wird die ›Otto Asmussen‹, vor allem der neuartige Antrieb, soweit ich weiß komplett zerlegt und jedes kleinste Teil auf Herz und Nieren geprüft. Was danach von diesem Notarzteinsatzschiff ›NES‹ noch übrig ist, und ob sich der erneute Zusammenbau dann lohnen wird, kann ich nicht beurteilen. Begrüßen würde ich es auf jeden Fall, wenn dieses Schiff dann fest unter der Flagge der DLRG in Dienst ginge.«
»Sollte das überhaupt möglich sein. Erst muss geklärt werden, ob dafür ein normaler Bootsführerschein ausreicht. Ich bin in Kiel von unseren Leuten die Einzige, die ein Küstenpatent hat.«
Der Admiral schien das Problem zu kennen. »Wenn es so weit ist, werde ich mich persönlich beim zuständigen Bundesamt für eine Sondergenehmigung einsetzen.«
Drs. Simons schaute nachdenklich drein. »Dann sind wir also nichts weiter als Hamster, die ihre Testrunden in einem neu erfundenen Rad drehen.«
»Warum so negativ?«, erwiderte Thomas Wartke. »Ihr seid Pioniere in Sachen Wasserrettung und werdet in diesen Testwochen mit Sicherheit einige Leben retten, und dafür lohnt sich der Aufwand. Leben retten, mit was für einem Gerät auch immer, ist unser Job, und ich verspreche hiermit, dass es euch mit diesem Dampfer richtig Spaß machen wird.«
»Das ist ja alles sehr reizvoll«, bemerkte Fiete, »aber fischen wir mit diesem Schiff nicht in den Gewässern der Seenotkreuzer?«
»Nein, absolut nicht. Mit einem Tiefgang von nur fünfzig Zentimetern ist unser operatives Revier die nahe Küste und der Strand. Sollten wir angefordert werden, dann werden wir die Kollegen von der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger natürlich mit all unseren technischen Möglichkeiten und unserer Manpower unterstützen. Für den Einsatz auf hoher See ist unser Schiff hingegen nicht konzipiert. Wir wären gar nicht in der Lage, einen Fischkutter oder eine große Yacht zu bergen. Wir können in diesem Fall nur mit ärztlicher Hilfe unterstützend hinzufahren.«
»Bevor noch weitere Fragen auftauchen«, übernahm der Admiral wieder die Führung, »würde ich Ihnen gern den hinteren Teil des Bootes zeigen.«
Sie folgten ihm den kleinen Niedergang hinunter in eine für so ein Schiff relativ große Messe. Auf der Backbordseite sahen sie einen Tisch, dessen Längsseite an der Bordwand angebracht war. Acht Mann fanden an der Back Platz. Dahinter war, ebenfalls auf der Backbordseite, eine kleine Bordküche installiert, die aus einem Airbus stammen könnte.
»Hier haben Sie alles«, bemerkte er nicht ohne Stolz, »was sie benötigen, um mal einen Kaffee oder Tee zu kochen. Der Ofen ist für die Zubereitung von Fertiggerichten geeignet. Der hintere Teil der Messe«, er ging ein paar Schritte in Richtung Heck, »ist das Reich der Taucher. Hier finden Sie alles schnell erreichbar, was Sie für einen Rettungseinsatz unter Wasser benötigen.«
Der Maschinist zeigte auf eine kleine Tür an der Heckseite. »Und das dahinten ist meine Welt! Wenn wir uns nachher genauer mit diesem Dampfer vertraut machen, stehe ich für eine kleine Führung zur Verfügung.«
»So meine Damen und Herrn«, beendete der Admiral die Einführung, »alle weiteren Fragen können wir auf See beantworten. Ich muss in einer Stunde in Eckernförde sein.«
Gabi stutzte. »Ist das nicht ein bisschen sportlich?«
Der Offizier grinste sie an. »Sie werden sehen. Die See ist heute spiegelglatt. Wenn wir da sind, habe ich sogar noch Zeit für einen Pott Tee in unserer Kantine.«
Sie schafften die Strecke in einer knappen halben Stunde.
***
In der Kantine des Marinestützpunktes gab es nicht nur den versprochenen Tee, sondern es war auch ein kleines Büfett zu ihrer Begrüßung vorbereitet worden.
»Meine Damen und Herren«, lud sie der Admiral zu dieser Aufmerksamkeit ein, »ohne Mampf kein Kampf, und mit vollem Bauch lässt es sich auch viel leichter kennenlernen. Greifen Sie bitte zu.«
Da sein Termin keine Ausrede war, verabschiedete er sich kurz darauf.
»Dann«, ergriff der leitende Hauptkommissar Julius Lender das Wort, »möchte ich als Vormann dieses Rettungsexperimentes noch ein paar Sätze sagen: Bevor ihr euch einen abbrecht, in unserer Crew duzen sich alle. Ihr seid auch nicht zufällig hier, sondern es wurde sorgfältig gesiebt, bis wir diese Crew zusammenhatten. Ich wurde als Leiter dieses Unternehmens ausgewählt, weil ich beim Bund Erfahrungen mit so gut wie allen militärischen Landungsbooten sammeln konnte. Mein Bruder Hinnerk liebt alles, was aus Metall ist und brummt, und es gibt keine Maschine auf diesem Planeten, die er nicht wieder in Gang bekäme, wenn sie denn mal nicht so richtig will. Das gilt auch für E-Motoren. Gabi ist nicht nur Einsatztaucherin, sondern hauptberuflich auch Schiffsführerin bei der WaSchPo. Du wirst meine Stellvertreterin sein, und wir werden unseren Pott immer schön abwechselnd führen, wenn du nicht gerade abtauchst, denn du bist mit Fiete Harmsen zusammen auch das Tauchteam an Bord. Er ist einer der erfahrensten Berufstaucher beim Zoll. Wer in der dicksten Suppe unter den Schiffen Drogenpakete aufspüren kann, der wird im klaren Wasser auch Menschen finden, die gegen das Ertrinken ankämpfen. Mit Sylvia Franke haben wir nicht nur eine examinierte Kinderkrankenschwester im Team, sondern auch eine frisch ausgebildete Notfallsanitäterin. Da wir es erfahrungsgemäß auch mit erkrankten oder verunfallten Kindern zu tun haben werden, wird sie uns sicher sehr helfen können. Dann kommen wir noch zu unserem Doc. Er ist nicht nur ein erfahrener Notarzt, sondern auch Neurochirurg. Falls einer von euch einen krummen Rücken hat, wird der ihn schon wieder gerade biegen.« Er sah sich in der Runde um. »Gibt’s Fragen?«
»Wie kommt ihr auf die Bezeichnung Vormann? Die ist doch eigentlich den Stützpunktleitern der Seenotretter vorbehalten, oder?«
»Dieser Begriff ist nicht geschützt, umschreibt aber mit einem Wort, wie umfänglich diese Aufgabe ist. Ich nehme nicht an, dass die Damen und Herren der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger etwas dagegen haben, wenn wir diese Dienstbezeichnung ebenfalls benutzen.«
Gabi meldete sich. »Ab wann sind wir in Dienst, und wo befindet sich unsere Leitstelle?«
»Wir haben zwei. Unsere Einsätze in Ufernähe und am Strand werden von der Kreisleitstelle Mitte geführt. Die Einsätze auf hoher See koordiniert Bremen Rescue, die Zentrale der Gesellschaft zu Rettung Schiffbrüchiger. Unser Rufname über Funk ist ›NES Otto Asmussen‹. ›NES‹ für Notarzteinsatzschiff. Und wenn wir unseren Job gut machen, gibt’s in der Zukunft vielleicht auch mal mehr von uns.« Er klatschte aufmunternd in die Hände. »So, Leute, macht eure Teller leer, sonst gibt’s Regen. Am Nachmittag haben wir noch jede Menge Zeit, um uns mit dem Boot anzufreunden. Heute Nacht laufen wir dann schon mit aus, wenn sich ein für uns interessanter Notfall ereignet oder wir auch nur helfen können. Morgen werden wir in Kiel-Wik von der Presse und von der Politik erwartet. Erst nach dieser ›Pressevorstellung‹ sind wir offiziell in Dienst.«
***
Nachdem sie sich den ganzen Nachmittag mit dem Umgang des Schiffes vertraut gemacht hatten, legten sie zum ersten Mal an ihrem festen Liegeplatz neben dem Fähranleger im Hafen von Laboe an. Direkt an der Kaimauer war eine leistungsstarke Ladestation für die »Otto Asmussen« installiert worden. Keine fünfzig Meter davon entfernt hatte die Marine drei Container für die Testphase des Rettungsschiffes auf einer Wiese hinter dem Kiosk für Fischbrötchen aufstellen lassen. Darin richtete sich die Crew des neuen Rettungsbootes häuslich ein. Jeder hatte seinen eigenen kleinen Raum, in dem das persönliche Gepäck eines jeden schon wartete, und es war sogar an einen recht großzügigen Gemeinschaftsbereich mit Koch-, Sitz- und Fernsehecke gedacht worden. Um zu duschen, mussten sie zum Hafenmeister der Marina laufen. Frische Brötchen gab’s am Kiosk nebenan, und ab elf Uhr fanden sie für zwölf Stunden einen gedeckten Tisch in der nahegelegenen Fischküche Laboe.
Zuerst hatte Gabi ein wenig Bedenken, dass es bei diesem bunt zusammengewürfelten Haufen auf so engem Raum zwischenmenschliche Probleme geben könnte. Jetzt, da sie ihre Kameradin und Kameraden zum ersten Mal zusammen sah, war sie zuversichtlich, dass das ein schöner Monat werden würde.
Da war zum einen der Doktor, der angesichts seiner fachlichen Reputation sicher einen Anspruch auf eine Führungsposition haben würde. Er hatte aber keine Probleme damit, sich in die Gruppe einzugliedern und sich den Anweisungen des Vormannes unterzuordnen. Er war allen Crewmitgliedern immer freundlich zugewandt, dennoch sympathisch zurückhaltend, und er hatte Humor. So wie er seinen Arbeitsplatz zusammen mit seiner Assistentin einrichtete, schien er seine Aufgabe an Bord gewissenhaft anzugehen.
Die Notfallsanitäterin Sylvie Franke passte optimal zu ihm. Vom Wesen her war sie das Gegenteil des Doktors. Während er eher schwieg, sprach sie, und wenn sie niemanden zum Reden hatte, auch mal mit sich selbst. Es war aber nie einfältig, was sie sagte. Mit einem Meter sechzig Größe war sie die Kleinste in der Crew und mit ihren sechsundzwanzig Jahren das Küken. Wenn der Doc und sie nebeneinanderstanden, er über einen Meter neunzig groß und hager, sie kurz, nicht pummelig, sondern drahtig muskulös, hatten die beiden etwas von Pat & Patachon des Sanitätskorps.
Fiete Harmsen hingegen war das, was man sich unter einem Seebären vorstellte. Der knapp Fünfzigjährige war mit seiner Größe, der Breite seines Brustkorbes und den Rasierklingen, die er unter den Achseln zu tragen schien, der Rambo der Truppe. Vom Wesen her verkörperte er das, was man mit einem Norddeutschen schlechthin verband. Er war kurz angebunden, dennoch herzlich. Wenn er etwas sagte, war er schlagfertig, manchmal schnodderig, und was seine Arbeit betraf, war er pedantisch. »Ich möchte ja irgendwann auch meine Rente erleben«, sagte er immer, wenn er die Taucherausrüstungen zum dritten Mal überprüfte. Warf man einen Blick in seinen privaten Raum im Container, so fielen einem sofort die Bilder von seiner Frau und den beiden Kindern auf, die er mit Leukosilk über seinem Bett befestigt hatte.
Zuletzt komplettierten die Gebrüder Lender die Crew. Zwei Seeleute mit Leib und Seele, die ihr ganzes Leben lang auf denselben Schiffen gedient hatten. Zum einen der magere Hinnerk Lender, Vollblutmaschinist und Single aus Leidenschaft, denn Frauen haben nun mal keine Kurbelwelle und sind somit ein Buch mit sieben Siegeln für ihn. Er war heterosexuell, aber das Unbehagen dem anderen Geschlecht gegenüber nahm er zum Anlass, gleich nach der Volksschule als Matrose bei der Handelsmarine anzuheuern. Damals gab es da noch keine Frauen, und er hatte seine Ruhe. »Wenn der Liebe Gott Seefrauen gemacht haben wollte«, meinte er damals allen Ernstes, »hätte er das Meer rosa gefärbt.« Mit der Seefahrt tat er es nur fünf Jahre später seinem Bruder gleich. Nach der Ausbildung klopfte die Bundeswehr an. Er verpflichtete sich, wie Julius ihm riet, ebenfalls zu fünfzehn Dienstjahren bei der Marine. Nach seiner ehrenvollen Entlassung konnte er bei der Küstenwache anheuern. Dort gab es zwar wieder Frauen, aber er hatte sein »Liebesleben« in für ihn geordneten Bahnen.
Der andere Lender war der um fünf Jahre ältere und mit der Zeit ziemlich rund gewordene Bruder Julius, dessen Markenzeichen ein schlohweißer, aber immer korrekt gestutzter Vollbart war. Der Mann strahlte selbst in stressigen Zeiten eine derartige Ruhe aus, dass ihn nicht einmal ein Weltuntergang aus der Fassung bringen würde. Er war nicht nur der ältere Bruder, sondern auch immer Hinnerks Vorgesetzter, was dem manchmal schwierigen Lender junior in seiner Laufbahn mit Sicherheit sehr viel Ärger ersparte. Julius war seit über dreißig Jahren mit seiner Marianne verheiratet und Vater zweier Söhne. Sven, der ältere von beiden, war Unfallchirurg im Berliner Bundeswehrkrankenhaus, der andere Kapitänleutnant auf der Fregatte »Hessen«.
Julius riss sie aus ihren Tagträumen. »So, mien Deern, komm in die Strümpfe, wir müssen zum Treffen.«
***
Am Freitag vor Beginn der Kieler Woche findet traditionell das letzte Briefing aller Rettungskräfte statt. Und genauso regelmäßig kämpfen die daran beteiligten »Seeleute« immer dann mit der Müdigkeit, wenn Belange an Land thematisiert werden und umgekehrt. Da in Kiel selbst alle größeren Hallen und Räume für die Festevents vorbereitet wurden, stellte in diesem Jahr das Olympiazentrum in Schilksee die Räumlichkeiten für das Briefing der Retter zur Verfügung.
Da die Vorbereitung dieser Festwoche mittlerweile in professionellen Händen lag, war der Unterschied zwischen den geplanten zu den stattfindenden Events nicht mehr so groß, sodass es für die Beteiligten nur wenige Überraschungen gab. Für die Retter zur See waren die Regatten die Hauptveranstaltungen und die Windjammerparade war nur der optische Höhepunkt.
Dann berichtete Gabi über die geplante Testphase der »Otto Asmussen«. Als sie aufzählte, was dieses Schiff alles kann, herrschte atemlose Stille im Raum. Nachdem sie mit ihrem Bericht fertig war, klatschten sogar einige Teilnehmer Beifall.
Die Schatzmeisterin der DLRG Kiel meldete sich. »Welche Führerscheine braucht man für so einen Pott? Der normale Sportbootführerschein-Küste reicht da doch wohl nicht mehr, oder? Wer soll die Ausbildung bezahlen?«
Diese Frage wusste Julius besser zu beantworten. »Wir hoffen, dass wir irgendwann einmal mit den Behörden so weit sind, dass wir für so ein Schiff im ehrenamtlichen Bereich mit einem normalen Bootsführerschein plus einer Nachschulung hinkommen werden. Dafür will sich Admiral Block einsetzen. Sollten wir das nicht schaffen, dann wird das Boot leider patentpflichtig, also das Patent NK500 für ›Schiffer auf Küstenfahrt‹.«
»Das ist ein halbes Jahr Vollzeitstudium, und das kostet richtig Asche. Das kann sich doch kein Schwein leisten!«, rief ein anderer dazwischen.
Julius nickte. »Lasst uns erst mal testen, ob sich unser ›Dampfer‹ überhaupt bewährt. Wenn ja, dann wird es sicher Wege geben, um das Schiff für die Rettungsorganisationen überhaupt einsetzbar zu machen.«
Gabi ließ ihre Blicke in der Runde schweifen. »Gibt’s noch Fragen?«
»Ja, ich hätte eine!«, meldete sich ein älterer Kollege. »Seit wann gibt es Frauen auf großen Rettungsbooten und dann auch noch in leitender Position? Gab es für diesen Job keine geeigneten Männer?«
Bevor Gabi etwas erwiderte, hatte sich Julius erhoben und unterband das erboste Murmeln unter den weiblichen Mitgliedern der Gruppe mit einer beschwichtigenden Geste. »Kamerad, wir haben gründlich nach Personen mit den nötigen Patenten Ausschau gehalten. Zusätzlich mussten diese Leute auch noch das nötige Fachwissen im Seerettungsdienst und die notwendige Zuverlässigkeit haben und obendrein über ein hohes Maß an Empathie verfügen. Dabei hat es niemanden interessiert, ob das nun eine Frau oder ein Mann ist. Wie ist dein Name?«
»Schubert, Uwe Schubert«, stammelte der Mann, der nicht damit gerechnet hatte, nach seiner provokanten Frage direkt angesprochen zu werden.
Julius gab vor, in den Papieren, die er auf seinem Tisch ausgebreitet hatte, nach etwas zu suchen. »Lieber Kamerad Schubert, ich habe hier vier Listen vor mir, auf denen alle Kameradinnen und Kameraden stehen, die über die eben aufgezählten Eigenschaften verfügen. Dein Name steht leider auf keiner davon.«
Erst lachte alles, dann folgte Beifall, vornehmlich von den weiblichen Teilnehmern der Runde.
Julius war aber nicht fertig. »Und eines kann ich dir sagen, mein Lieber. In meiner langen Zeit auf See sind mir schon einige Schiffbrüchige begegnet. Keiner von denen wäre wieder reingesprungen, nur weil ihn eine Frau aus dem Wasser gezogen hat.«
Gabi übernahm erneut die Moderation. »Ich danke Julius für seine Worte. Nicht, dass ich nicht auch alleine etwas zu diesem Thema zu sagen gehabt hätte, aber ich denke, dass er unsere männlichen Teilnehmer vor meinen Ausführungen schützen wollte. Jetzt, so kurz vor der Kieler Woche, können wir uns keine Ausfälle mehr leisten, schon gar keine von Männern mit postemanzipatorischen Belastungsstörungen.«
Wieder Gelächter.
»Apropos Gegenwind. Wir haben es bereits heute schon und auch in den nächsten Tagen mit viel Sonne zu tun, aber der Wind bläst mit bis zu sechs Stärken aus Nord-Ost bis Ost in vereinzelten Böen bis Stärke neun. Das dürfte uns auf den Regattastrecken mit Sicherheit viel Arbeit bescheren.«
***
An ihrem ersten gemeinsamen Abend saßen sie bei bestem Wetter vor ihren Containern, und jeder erzählte bei alkoholfreiem Bier von sich und seinen Plänen.
»Okay, Sylvie«, wunderte sich Fiete, »unsere Buden sind ja ganz schön, aber wenn ich hier in Laboe ein Haus hätte, dann würde ich doch da wohnen, nicht hier.«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber dann wäre ich doch kein richtiges Mitglied von unserer Besatzung, und ihr müsstet immer auf mich warten, wenn ihr ausrückt. Außerdem habe ich das Haus vermietet und für mich nur ein kleines Appartement gelassen, wenn ich mal Urlaub habe und die Seele baumeln lassen will. Und jetzt will ich sie gar nicht baumeln lassen.«
Julius schaute auf die Uhr. »Ist alles klar auf der ›Andrea Doria‹? Was sagt die Tauchabteilung?«
Fiete nickte. »Alles klar, Vormann!«
»Und beim Doc, sind alle Pillen poliert und die Spritzen im Halfter?«
»Alles an seinem Platz und bestens in Schuss, Vormann«, bestätigte Drs. Simons.
»Und zufrieden mit dem neuen Zappelmaxen? Das soll ja ein wahres Wunderding unter den Defibrilatoren sein.«
»Auf jeden Fall. Die X-Serie ist die beste Überwachungseinheit mit Defi, die auf dem Markt ist. Sylvie und ich sind bereits darauf eingefuchst.«
»Und wenn der Saft bei dem kleinen Ding mal nicht ausreicht«, bemerkte Fiete großzügig, »dann dürft ihr euren Patienten an meine Batterien anschließen. Dann hopst der nicht nur beim Stromstoß, dann fängt der auch noch an zu leuchten!«
Alle lachten.
»Dann ist dein Elektroladen also auch klar?«, fragte er weiter.
»Alles in Butter, auch das Notstromaggregat.«
Julius war zufrieden. »So, Kinnings, die offizielle Indienststellung ist zwar erst morgen, aber ab sofort laufen wir aus, wenn wir angefordert werden. Ich habe uns eben bei der Leitstelle Mitte und bei Bremen Rescue angemeldet.« Er hob seine Bierflasche. Alle anderen prosteten ihm zu. »Das NES ›Otto Asmussen‹ an die gesamte Förde: Wir sind einsatzbereit! Prost!«
Kurz nach Mitternacht wurden sie vom elektronischen Meldeempfänger geweckt. »Warum eigentlich immer nachts?«, murmelte Gabi verschlafen und sprang in ihre Einsatzkleidung, die griffbereit neben ihrem Bett lag.
Da sie nur die Straße zum Anlieger zu überqueren hatten, war die Besatzung nach der Alarmierung schnell einsatzbereit.
»Was liegt denn an?«, fragte Gabi, als sie sich die Rettungsweste überzog.
»Da sind wohl zwei Leute von Bord ihrer Yacht gegangen«, antwortete Fiete.
»Das soll öfter vorkommen, denke ich.«
»Jau, aber nicht nachts und dann auch nicht mitten auf See.«
Julius guckte aus dem Ruderhaus. »Die ›Berlin‹ der Seenotretter ist auch alarmiert worden. Lasst dem Kreuzer den Vortritt. Wenn die an uns vorbei sind, legen wir ab!«
Fiete und Hinnerk lösten schon mal den elektrischen Landanschluss. Der Vorteil an dem neuen Schiff war, dass die Elektromotoren nicht ständig geheizt werden mussten, wie die Maschinen der Seenotkreuzer. Nachdem die »Berlin« an ihnen vorbeigefahren war, legte sie zu ihrem ersten Einsatz ab.
Gabi stand am Ruder. »So mien Deern, nun mach mal schön die blauen Lampen an und sieh zu, dass wir immer hübsch hinter den Kollegen von der Seenotrettung bleiben, sonst werden die eifersüchtig.«
»Die DLRG hat auf See aber keine Sonderrechte.«
»Erstens ist das ein Schiff der Marine, zweitens fahren wir im Auftrag der Feuerwehr-Leitstelle, und drittens sind wir beide bei der Polizei. Obendrein sind wir ein Notarztwagen mit Flossen und dürfen das.«
Fiete Harmsen hatte die ganze Zeit den Funk mitgehört und war über die Einsatzlage informiert. »Eine halbe Meile nördlich vor Leuchtturm Bülk hat die Küstenwache ein Geisterschiff aufgebracht.«
»Unter Segeln?«, erkundigte sich der Arzt.
»Keine Ahnung. Bis auf einen kleinen Hund war wohl niemand mehr an Bord. Wir sollen die Umgebung des Schiffes nach der Besatzung absuchen.«
»Weiß jemand, wie viele Personen vermisst werden?«
»Laut Logbuch nur zwei. Der Skipper und seine Frau. Und darin war verzeichnet, dass sie eigentlich direkt vor der Steilküste geankert hatten, was ja an dieser Stelle nicht verboten ist.«
Nachdem sie die angegebenen Koordinaten erreicht hatten, suchten sie die küstennahe Wasseroberfläche nach Hinweisen auf Schiffbrüchige oder schwimmende Gegenstände ab. Die »Berlin« konzentrierte sich auf die tiefere See. Gabi folgte mit dem Fernglas dem gleißenden Strahl des Suchscheinwerfers auf der Backbordseite. Fiete suchte auf der Steuerbordseite mit der Wärmebildkamera. Mit diesem Gerät ortet man zuverlässig alle Gegenstände oder Lebewesen, die in einer Tiefe von bis zu vier Metern wärmer als Wasser sind. Mit jeder Stunde, die sie ergebnislos Ausschau hielten, sank die Chance, die Vermissten lebend aus der See bergen zu können. Das Wasser war mit knapp fünfzehn Grad recht frisch. Bei solchen Temperaturen kühlt man ohne Schutzanzug relativ schnell aus. Ältere Menschen, Schwache und Kinder früher.
Alle wechselten sich am Scheinwerfer und an der Wärmebildkamera in rascher Folge ab, denn eine konzentrierte Suche lässt die Augen nach kurzer Zeit ermüden. Drei Stunden später begann sich der Nachthimmel am Horizont schon wieder rot zu färben, und die Aktion wurde eingestellt. Die »Otto Asmussen« ging längsseits zum ebenfalls an der Suche beteiligten Polizeiboot.
Gabis Polizeikollege, Matze Schröder, erkannte sie sofort. »Ich denke, du hast Urlaub? Dann würde ich mir doch nicht freiwillig die Nächte um die Ohren schlagen.«
Sie lachte. »Glaub mir, Ferien bei der DLRG sind allemal spannender, als am Ballermann irgendwelche Putzeimer leer zu saufen.« Ein kurzes Nicken von Julius reichte, um sie die Verhandlung mit der Wasserschutzpolizei weiterführen zu lassen. »Von unserer Seite aus war’s das leider. Wir haben niemanden an der Steilküste finden können. Wisst ihr, wann die Besatzung zuletzt an Bord gewesen ist?«
»Dem Logbuch nach um zweiundzwanzig Uhr dreißig.«
»Wenn die Yacht unter Segeln abgetrieben wurde, können auch ihre Schiffbrüchigen recht weit von hier abgetrieben worden sein.«
Der Kollege kratzte sich am Kopf. »Tja, da kann man nur grob schätzen, wie weit.«
Gabi fand das alles seltsam. »Irgendetwas stinkt da ganz gewaltig. Ankern und Segel setzen, wer macht denn so was? Egal, für uns gibt es nichts mehr zu tun, oder können wir euch noch helfen?«
Schröder lehnte ab. »Nee, vielen Dank. Wir haben die Yacht wegen der ungewöhnlichen Umstände sicherheitshalber zum Tatort erklärt, den Hund geborgen und danach die Kajüte versiegelt. Jetzt schleppen wir das Boot nach Kiel zum Stützpunkt. Dort kommt der Hund ins Tierheim, und die KTU wird sich um alles Weitere mit dem Boot kümmern.«
Sie winkte ihm zum Abschied zu. »Halt mich bitte auf dem Laufenden, meine Handynummer hast du ja.«
Der Rest der Nacht blieb ereignislos.
***
Zur freudigen Überraschung der DLRG-Kameraden hatten die Retter von der Rot-Kreuz-Wasserwacht vor den Containern ein opulentes Willkommensfrühstück mit allem Zipp und Zapp aufgefahren. Es standen sogar kleine Vasen mit frischen Blumen auf dem langen Tisch. Hinnerk war darüber gar nicht begeistert. »Als ich mit der Seefahrerei angefangen habe, da durften Frauensleute noch nicht mal zu Besuch an Bord kommen«, schimpfte er, »und heutzutage stehen die am Ruder und bestimmen sogar, wo es langgeht. Aber damit nicht genug, jetzt haben wir sogar noch Riechbesen auf dem Tisch.«
»Mensch, Hinnerk«, versuchte Gabi ihn zu besänftigen, »ich verspreche dir hoch und heilig, zu deinen beiden Elektro-Ladys im Maschinenraum auch ganz lieb zu sein.«
Der blieb skeptisch. »Das musst du auch, sonst gibt’s nämlich eine Meuterei. Aber eines sage ich dir: Wenn wir beim Arbeitsdienst auch noch Gardinen für die Fenster in der Messe häkeln sollen, dann streike ich!«
»Ich werde es beherzigen. Und nun halt bitte die Klappe und genieß das Frühstück. Die Wasserwächter von ›Kreuzens‹ haben sich so viel Mühe gegeben.«
***
Der Pressetermin verlief nicht so, wie geplant, denn die »Otto Asmussen« war für die hohe Tirpitzmole ein wenig flach geraten. Über die Kante des Anlegers, der noch zu Kaisers Zeiten für große Kriegsschiffe gebaut worden war, guckte nur die Antenne ihres Rettungsschiffes. So mussten sie erst wieder ablegen und bis auf den Steuermann mit Mann und Maus an Deck antreten und mehrfach an den Fotografen vorbeifahren, bis endlich alles im Kasten war. Nach dem Fotoshooting gab es ein paar warme Worte des Landesvaters, des Admirals und eines Offiziellen der DLRG aus der Bundeszentrale, und dann wurden Sekt und Häppchen gereicht. »Wir hätten das nicht gebraucht«, murmelte Julius, »aber ohne was zu futtern, wäre die Presse nicht so zahlreich gekommen.«
***
Da an der Steuerung der »Otto Asmussen« noch eine Feineinstellung vorgenommen werden musste, legten sie nach der Feier kurz bei der Werft an.
Solange ihr Boot deshalb nicht einsatzbereit war, nutzte Gabi die Zeit, sich auf ihrer Dienststelle der WaSchPo über die seltsamen Vorkommnisse der Nacht zu informieren.
Ihr Schichtführer, Benno Fürst, war erstaunt, sie in seinem Büro anzutreffen und vor allem darüber, dass sie die Tür unaufgefordert hinter sich verschloss.
»Lass mich dreimal raten!«, grinste sie ihr Chef breit an und legte seine Stirn in Falten. »Du hältst es ohne mich nicht aus und bittest mich um unbezahlte Doppelschichten?«
»Fast!«, antwortete Gabi lächelnd.
Er gab vor, zu überlegen. »Du willst ein Kind von mir?«
»Du kommst immer näher dran.«
Seine Stirn glättet sich wieder. »Ich habe gesehen, wie du mit deinem Freizeitkutter gegenüber bei der Werft angelegt hast. Du warst heute Nacht sicher auch an der Suche nach den beiden Seglern beteiligt und willst nun wissen, welche Infos ich darüber habe?«
Sie lächelte ihn an. »Ja.«
»Nada, nickes, niente. Ich weiß auch nicht mehr als du.« »Benno, ich liebe kluge Männer, aber um ein Kind zu wollen, ausgerechnet von dir, war das ein bisschen dürftig.«
»Mehr Infos habe ich wirklich nicht zu bieten.«
Sie zog ein beleidigtes Gesicht. »Bennolein, du willst die Nacht mit mir verbringen und mich vorher schnöde belügen?«
»Du weißt, dass ich ins Fegefeuer komme, wenn ich dir Näheres erzähle?«
»Ich denke mal, dass du da sowieso schon lange reingehörst. Also raus mit der Sprache.«
»Das ist aber topsecret.«
Sie nickte. »Und das sicher nicht ohne Grund.«
»Stimmt.« Bevor er zur Sache kam, versicherte er sich, dass sie durch die Glaswände nicht beobachtet wurden. »An unserer schönen Ostseeküste verschwinden seit rund einem Jahr Menschen.«
»Einfach so?«
»Ja, einfach so.«
»Und die tauchen nie wieder auf?«
»Never!«
»Was für Menschen verschwinden denn?«
»Quer durch den Garten. Wenn du mich fragst, will sich da jemand ein Mehrgenerationenhaus multikulti zwangsbestücken.«
Gabi verzog das Gesicht. »Ein bisschen genauer hast du es nicht?«
Benno zuckte mit den Achseln. »Leider nicht.«
»Und wer ist auf die Schnapsidee gekommen, das Ganze als Verschlusssache zu behandeln?«
»Die beiden Landesregierungen der deutschen Ostseeküste. Die haben Angst, dass, wenn das bekannt werden sollte, die Touristen nach Corona erneut wegbleiben.«
»Feriengäste bleiben vor allem dann weg, wenn sie entführt wurden.«
Benno zuckte mit den Achseln. »Aber die haben dann wenigstens schon ihr Geld hier gelassen.«
Gabi war fassungslos. »Seit wann weiß man, dass Leute verschwinden?«
»Das fing schon in der vorigen Saison an. Immer da, wo was los war, fehlten plötzlich Touristen. Nicht nur bei Riesenveranstaltungen wie Hanse Sail oder der Kieler Woche, auch bei kleineren Events wie Bäderkirmes, Hafengeburtstagen und sonstigen Festivitäten. Auf der Insel Poel gab es letztens den Entführungsversuch einer jungen Frau. Sie sollte in einen Lieferwagen hineingezogen werden. Die Familie reagierte geistesgegenwärtig und konnte das gerade noch verhindern. Doch drei Tage später verschwand sie spurlos aus ihrem Hotelzimmer.«
Gabi war baff. »Willst du damit sagen, dass diese Entführungen nicht nur zufällig, sondern ganz gezielt erfolgen?«
»Das könnte man daraus schließen.«
»Weiß man, nach welchen Kriterien die Menschen ausgewählt werden?«
»Nein, eben nicht.«
»Und es waren bisher immer nur Touristen, keine Einheimischen oder Saisonarbeitskräfte?«
»Bis zum Frühjahr war es so, aber seit Neuestem verschwinden auch die.«
Sie erhob sich von ihrem Stuhl. »Dann danke ich dir für dein Vertrauen. Du kannst sicher sein, dass ich alles, was du mir erzählt hast, in meinem Herzen bewegen werde.« Sie warf ihm eine Kusshand zu. »Ich gehe jetzt wieder auf meinen Freizeitdampfer.«
»Moment mal«, Benno erhob sich gespielt entrüstet aus seinem Schreibtischstuhl. »Und was wird nun aus unserer gemeinsamen Nacht?«
Sie lächelte ihn zuckersüß an. »In einem Monat haben wir wieder zusammen Dienst. Und bis dahin lässt du schön die Hände über der Bettdecke!«
***
Mit ihrer frisch justierten Steuerung begaben sie sich wieder auf den Weg von Kiel nach Laboe. Julius hatte Gabi stets im Blick und ihm blieb nicht verborgen, dass es in ihr arbeitete.
»Was ist los, mien Deern, hast du bei deinen Leuten etwas in Erfahrung bringen können?«
Sie nickte und erzählte ihm das, was ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit berichtet wurde.
»Das ischa man ein Ding«, murmelte Julius und strich sich nachdenklich über den Bart. »Und was verärgert dich daran so?«
»Dass man genug weiß, um die ganze Sache an die große Glocke hängen zu können, und dennoch nichts unternimmt.«
Die Notrufzentrale der Gesellschaft meldete sich. »Das NES ›Otto Asmussen‹ für die Leitstelle Mitte kommen.«
»Die ›Otto Asmussen‹ hört«, antwortete Julius über Funk.
»Die ›Berlin‹ der Seenotretter bittet um Unterstützung zur Personensuche in der Fahrrinne vor Laboe in Höhe Marinedenkmal. Dort werden zwei Jugendliche vermisst, die mit ihrem Schlauchboot vom Strand abgetrieben wurden.«
»Die ›Otto Asmussen‹ zur Unterstützung der ›Berlin‹ vor das Marinedenkmal zur Personensuche«, bestätigte Julius die Alarmmeldung, nachdem er auf dem Radarbildschirm den Verkehr auf der Förde gecheckt hatte. »Eintreffen in circa elf Minuten!«
Er nickte Gabi zu. »Na denn, mien Deern, dann mach ich mal die Lampen an und lege die Hebel auf den Tisch. Sag Fiete Bescheid, dass ihr euch klarmachen sollt. Da könnte es etwas für euch zu tauchen geben.«
Da Fiete ebenfalls mitgehört hatte, war er schon vor ihr in der Messe hinter dem Steuerhaus. Blitzschnell schlüpften sie in ihre Anzüge. Ihr Tauchequipment war dort an einer Wand so aufgehängt, dass sie es ohne Hilfe selbst anlegen konnten. Vor ihrem Eintreffen am Einsatzort standen sie voll ausgerüstet an Deck.
Julius meldete der Leitstelle ihre Ankunft und schaltete auf Funkkanal 10 um, auf dem sich alle an der Rettungsaktion beteiligten Schiffe untereinander verständigten.
Der Kreuzer der Seenotretter war zuerst am Ort des Geschehens eingetroffen, und deren Vormann übernahm die Koordination des Einsatzes. Anhand einer Rettungsboje berechneten die Retter die Drift und wiesen der »Otto Asmussen« einen Suchquadranten zu. Kurz darauf meldeten sich zwei Barkassen der Marine ebenfalls zur Mithilfe auf dem Funkkanal an. Eigentlich sollten sie Rekruten in Laboe an Land setzen, aber die Rettung von Menschen hatte Vorrang. Die beiden Rettungsboote der DLRG, »Habicht«, ein Kunststoffboot, und die »Nivea 13«, ein Festrumpfschlauchboot, stießen ebenfalls zur Suchflotte hinzu.
Alle Schiffe durchfuhren im breiten Fächer das in Frage kommende Seegebiet, aber von den beiden Jugendlichen gab es nach wie vor keine Spur. Nur das von einer größeren Schiffsschraube völlig zerfetzte Schlauchboot von ihnen wurde gesichtet und zur Beweissicherung aus dem Wasser gefischt. Daraufhin wurde die Suche eingestellt.
»Die hat’s aber böse erwischt«, brummte Fiete, der die Bergung der Reste durch sein Fernglas beobachtete. »Wenn die Jungs keine guten Schwimmer waren, sind die jetzt Fischfutter.«
Sylvie sah ihn mit großen Augen an. »Meinst du wirklich?«
»Ja, was denkst du denn?« Ihm bereitete es Vergnügen, mit dem Neuling in Sachen Seenotrettung ein Opfer für seine derben Späße gefunden zu haben. »Wenn die Jungs von einer Fähre überfahren wurden, dann ist das wie ein riesiger Mixer. Vorne kommt ein Mensch rein, und hinten kommen nur noch ein paar Kilo Gehacktes raus.«
Sylvie blickte ungläubig. »Gehacktes?«
»Jau, halb und halb. Waren ja zwei.«
»Und so etwas fressen dann Fische?«
Er grinste sie breit an. »Aber natürlich, mien Deern. Wenn du auch mal über Bord gehen und überfahren werden solltest, dann fängt man an der Stelle nur noch Dorsche mit umgebundenen Servietten, und die Aale sind dann besonders fett.«
Julius hatte Mühe, ernst zu bleiben. »Fiete, wat vertellst du wieder für ’n Schiet?«
»Wieso dat denn?«, protestierte der Taucher. »Hast du doch selbst gesehen.«
»Aber das waren keine Servietten, sondern Lätzchen!«
Sylvie dämmerte nun, dass sie kräftig hochgenommen wurde. Gabi fühlte mit ihr. »Da musst du als Frischling auf See durch. Als ich neu an Bord unseres Polizeikreuzers war, musste eine Frau, die schwer unter Asthma litt, Sauerstoff bekommen. Da hat mich unser Rettungsassistent nach dem Popelsensor geschickt, damit die Frau wieder Luft durch die Nase bekäme. Alle wussten angeblich genau, wo sie ihn zuletzt gesehen hatten, und ich bin wie klein Doofi durchs Schiff getigert und habe in jeder Ecke danach gesucht. Sogar in der ölverschmierten Bilge wollte ihn unser Kapitän gesehen haben.«
Alles prustete los.
»Was ist die Bilge?«, fragte Sylvie.
»Der unterste Hohlraum im Schiff, direkt über dem Kiel. Da kann man meist nur durchkriechen, und es gibt auf allen Ozeanen dieser Welt keine Bilge, die nicht mit Öl versifft ist.«
Sylvie sah sie entgeistert an. »Dann musst du dich ja völlig eingesaut haben.«
»Das ist gar kein Ausdruck!«, prustete Hinnerk. »Wer einmal durch die Bilge ist, der sieht wie ein ›Altöl-Hulk‹ aus.«
Inzwischen lachte Gabi selbst über diese Geschichte. »Aber ich schwöre dir, ich war ganze drei Tage stinksauer. Da kam ich als ausgebildete Schiffsführerin der Wasserschutzpolizei zu diesem unmöglichen Haufen und wurde behandelt, als hätte ich gar keine Ahnung.«
»Aber du hattest Ahnung.«
»Kein Stück. Der Alltag der WaSchPo ist eine ganz andere Welt als die der Ausbilder.«
»Aber du wusstest wenigstens, wo die Bilge ist«, kicherte Hinnerk. »Das wissen die Landratten schon mal gar nicht.« Sylvie sah das alles nicht so entspannt. »Ihr macht hier Blödsinn, und in unmittelbarer Nähe ringen vielleicht zwei Jugendliche mit dem Tode.«
»Nee, mien Deern, die ringen inzwischen mit ihren Eltern«, wusste Julius zu berichten, »und ich weiß nicht, ob der Tod augenblicklich für die Jungens nicht der angenehmere Gegner wäre. Es kam eben von Bremen Rescue auf dem anderen Kanal, dass die beiden von einer Segeljolle gerettet und nach Laboe in die Marina gebracht wurden. Dort hat man sie ihren Eltern übergeben, und die werden denen jetzt ganz schön was geigen.«
***
Nur wenig später machte ein Teil der Sucharmada in Laboe fest. Die Marinebarkassen setzten ihre Passagiere endlich an Land, und die Kollegen der WaSchPo befragten die beiden Jugendlichen, um ihren Bericht anzufertigen. An ihrer Anlegestelle wartete ein Soldat neben dem Kiosk auf sie. Gabi hatte ihn schon bei dem Einsatz an Bord einer der Barkassen gesehen.
Julius kümmerte sich um das digitale Logbuch, und Hinnerk sorgte für frischen Strom. So hatte sie Zeit, auf den großen, recht schlanken aber dennoch durchtrainierten Mann zuzugehen.
»Hallo, Haberstroh mein Name. Es sieht ganz so aus, als hätten Sie auf uns gewartet.«
Ein freundliches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ist das so offensichtlich?«
»Ja, einen Fischbrötchenverkäufer in Uniform hatten die hier noch nie, und hungrig sehen Sie auch nicht aus. Also, was liegt an?«
»Wenn ich ehrlich bin, sind Sie es, die ich suche.«
Sie sah ihn erstaunt an. »Na, aber hoppla«, sie bemerkte sein Kampfschwimmerabzeichen, »Sie scheinen ja von der Sturmtruppe zu sein.«
»Das könnte man so sagen. Ich habe Sie schon vorhin auf ihrem funkelnagelneuen Rettungsboot gesehen und wusste sofort, die isses.«
»Das ist ein Rettungsschiff«, konterte sie, »Und jetzt haben wir ein kleines Problem. Ich habe Sie nämlich auch auf der Barkasse gesehen und wusste sofort, der ist es nicht.«
Der Mann lief rot an. »Die Nummer habe ich wohl an die Wand gefahren, oder?«
»Aber mit hundertachtzig Sachen.«
»Habe ich einen zweiten Versuch?«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Okay, aber jetzt sollte es wirklich etwas Originelles sein. Ich warne Sie. ›Kleine, kannst du mir helfen, ich muss morgen zur Beichte und brauche noch eine Sünde‹ kenne ich schon.«
Der Mann nickte entschlossen. »Gut, versuchen wir es so: Mein Name ist Udo Schüle, und mein Bruder bittet Sie, keine Sünden zu begehen.«
»Was soll ich nicht begehen?«
»Keine Sünden.«
»Ist Ihr Bruder Priester?«
»Nein, Ihr Vorgesetzter, Benno Fürst. Sie waren vorhin bei ihm, und als er von dem Einsatz gehört hatte und sich erkundigte, ob ich auf einer der unterstützenden Barkassen gewesen sei, bat er mich, Ihnen auszurichten, dass Sie keinen Quatsch machen sollen.«
Sie sah ihn ungläubig an. »Wie kommt der darauf, dass ich – was auch immer für welchen – Quatsch machen sollte?«
»Weil er Sie kenne, hat er gesagt, und Sie das, worüber Sie vorhin mit ihm gesprochen haben, bestimmt nicht für sich behalten würden.«
Sie zuckte verlegen mit den Achseln. »Okay, dann sind seine Sorgen durchaus berechtigt. Ich habe es aber nur unserem Vormann erzählt.« Sie überlegte. »Richten Sie Benno aber bitte aus, dass ich seinen Rat beherzigen werde, jedoch für nichts garantieren kann.«
»Irgendwie«, entgegnete der Soldat, »ist das ein blödes Gefühl, mit Ihnen über etwas zu reden, wovon ich absolut keine Ahnung habe.«
Das verstand sie. »Da haben Sie recht. Wollen wir zusammen einen Pott Tee trinken?«
Er grinste sie an. »Sehr originell ist ihre Anmache aber auch nicht.«
Beide lachten.
»Touché.«
***
Durch ihren Meldeempfänger war Gabi jederzeit einsatzbereit. Die Fischküche Laboe war nur fünfzig Meter vom Liegeplatz entfernt, sodass sie im Alarmfall schnell wieder an Bord wäre.
Vor dem Restaurant wartete der Soldat auf sie. Sie ergatterten einen freien Tisch auf der Terrasse, und aus dem verabredeten kurzen Pott Tee wurden einige gemütliche Tassen Kaffee.
»Nun habe ich also den Kampfschwimmer Udo Schüle kennengelernt, der auch noch der Bruder meines Kollegen ist.«
»Halbbruder«, ergänzte er. »Wir haben dieselbe Mutter.«
»Sie sind aber zusammen aufgewachsen?«
Er nickte.
»Und was macht man so als Kampfschwimmer?«
Er lächelte vielsagend. »Man kämpft beim Schwimmen.«
»Das machen die meisten auch beim Seepferdchen. Geht’s ein bisschen genauer?«
»Die Kampfschwimmer sind die maritime Komponente der Spezialkräfte des Heeres. Wenn ich Ihnen mehr darüber erzählen würde, müsste ich Sie anschließend töten.«
Sie sah ihn ungerührt an. »Das macht hier im Lokal zu viel Dreck.« Sie packte den dritten Keks zum Kaffee aus. »Dann werden Sie für mich eben der große Unbekannte bleiben, schade.«
»Sorry, aber das unterliegt wirklich der Geheimhaltung.« Er schob seine Kekse zu ihr hinüber.
»Und was macht man so bei der DLRG? Helden suchen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bei uns suchen wir keine Helden, wir machen höchstens welche! Jemanden, der schon als Held bei uns anfangen will, den können wir nicht gebrauchen. Der gefährdet in Gefahrensituationen nur seine Kameraden. Wenn Sie irgendwann mal einer von uns werden wollen, können Sie, wie jeder andere auch, gern bei uns anfangen. Und wenn Sie dann die Ausbildung zum Rettungsschwimmer absolviert und emphatisches Verhalten erlernt haben, dabei sollte auch eine große Portion soziale Kompetenz nicht fehlen, dann könnte es was werden mit dem Heldentum.«
Udo nickte anerkennend. »Und welche Dienstbezeichnung hätte ich dann, wenn ich ausgelernt habe?«
»Wenn wir Glück haben, sind Sie dann ein feiner Kerl.«
Er drehte nachdenklich seine Tasse im Kreis. »Jetzt, da wir uns ein wenig näher kennen, wäre es doch kein Problem mehr für Sie, mich in den Kreis der Geheimnisträger aufzunehmen, oder?«
Sie lächelte bittersüß. »Wenn ich Ihnen erzählen würde, weswegen ich nicht sündigen darf, läge hier anschließend Ihre Leiche.«
***
Westlich von Falster machte die »MS Sandur« langsame Fahrt. Nachdem der Seefunker Jákup Joensen eine E-Mail mit einer neuen Anweisung in seiner Funkbude ausgedruckt hatte, brachte er sie auf die Brücke des fünfundvierzig Meter langen ehemaligen Nachschubversorgers und reichte sie Kapitän Friedjofsson. Vor zwei Jahren war der dreißig Knoten schnelle Katamaran noch als Expressboot zwischen den norwegischen Offshore-Bohrinseln und dem Festland hin- und hergefahren. Im vorigen Jahr war das Schiff mitsamt der Besatzung verkauft worden. Seitdem flatterte am Heck wieder die Fahne der Färöer-Inseln, aber über die Mission dieses Schiffes war nichts bekannt. Die Färinger waren gemeinhin ein schweigsames Volk und fühlten sich selbst in der heutigen Zeit nur dem Gott Thor gegenüber verpflichtet. Der Kapitän las die Meldung, sah auf seine Armbanduhr und rechnete. Von ihrer Position aus brauchten sie rund drei Stunden, um in der Kieler Förde zu sein. Da sie erst in der kommenden Nacht tätig sein würden, hatten sie genug Zeit.
»Melde zurück, dass wir pünktlich da sein werden. Bis dahin ist auch unter Deck alles klar.«
Der Kapitän drehte sich wieder zum Radarbildschirm, aber der junge Mann hatte ein weiteres Anliegen. »Ich sollte dich daran erinnern, dass wir morgen ein extrem seltenes Exemplar spezifizieren müssen.«
Der Käpt’n war für den Tipp dankbar. »Stimmt, das hätte ich jetzt glatt vergessen. Richte Holgersson bitte von mir aus, dass er alles dafür vorbereiten soll, und sag dem Doktor, dass er bis dahin wieder nüchtern zu sein hat.«
***
Inzwischen war Samstag, der erste offizielle Tag der Kieler Woche, der »KieWo«, angebrochen. Die »Otto Asmussen« sollte am Mittag am Infostand der DLRG, der direkt am Germaniahafen lag, der breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden. Dazu musste natürlich alles an Bord blitzen und blinken.
Hinnerk schimpfte wieder einmal vor sich hin. »Kaum haben die Weiber an Bord etwas zu sagen, müssen wir Kerle putzen.«
»So ein Blödsinn, wir müssen immer putzen«, erwiderte Fiete. »Du meckerst ja nur, weil dir das heute Morgen eine Frau gesagt hat. Außerdem putzten hier alle mit, genau wie der Doc und selbst Julius.«
»Na und? Das kann ich trotzdem nicht ab, wenn Frauensleute etwas zu sagen haben.« Mit finsterem Gesicht rubbelte er die Edelstahlfläche hinter dem Kaffeeautomaten sauber. »Rate mal, warum ich nicht geheiratet habe. Außerdem heißt es immer noch: Frau an Bord, Glück ist fort!«
»Blödsinn! Hör doch mit deinen uralten Sprüchen auf!« Fiete war genervt.
Hinnerks Gesicht verfinsterte sich. »Das ist kein Blödsinn, sondern Tradition. Das heißt ja auch Seemann. Von einer Seefrau habe ich noch nie etwas gehört.«
»Über Weiber meckern, aber von Seejungfrauen träumen.«
»Na und? Die schicken einen ja auch nicht zum Putzen.«
»Mensch, Hinnerk, wenn du Frauen so wenig magst, was ist dann mit deinen Bedürfnissen, oder bist du schwul?«
»Wenn ich zweimal im Monat in den Puff gehe, dann ist das ausreichend und erheblich billiger als eine Ehefrau. Außerdem bin ich dort noch König, und im Puff ist es auch öfter als im Ehebett.«
»Und was sagt Julius dazu? Der ist schließlich dein großer Bruder.«
Hinnerk grinste zufrieden. »Wenn seine Marianne dabei ist, dann schimpft er natürlich über mich.«
»Und wenn nicht?«
»Dann fragt er mich, wie’s war. Die ist aber immer dabei, wenn er frei hat. Vielleicht ist er deswegen so gern auf See.«
Fiete schüttelte lachend den Kopf. »Hinnerk, du bist ein hoffnungsloser Fall.«
»Wieso das denn? Frauen gehören nun mal nicht an Bord. Das war schon immer so und soll auch so bleiben. Wenn Frauensleute an Bord sind, dann zerkratzen die mit ihren Pumps das ganze Deck und stiften nur Unfrieden. So eine würde ich auch nie in meinen Maschinenraum lassen.«
»Hinnerk, bist du fertig mit der Kaffeeecke?«
Beide fuhren herum. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass Gabi hinter ihnen stand.
»Jau.«
»Dann putzt du jetzt sicher in deinem Maschinenraum weiter?«
»Jau.«
»Was hältst du davon, wenn du mir deine beiden Lieblinge mal etwas genauer vorstellst? Ich habe die ja nun auch am Zügel.«
Hinnerk sah Gabi skeptisch an. »Und dann?«
»Dann sagst du mir, wo es da hinten in deinem Reich mit dem Putzen langgeht, und dann helfe ich dir dabei.«
»Nur heute oder öfter?«
»Wenn ich an Bord bin, dann sicher sehr viel öfter, als du monatlich in den Puff gehst.«
***
Sie hatten Mühe, sich durch das Gewusel der Sport- und Traditionsschiffe auf der Förde bis zum Germaniahafen durchzuschlängeln. Allein das Festmachen war ein Problem, denn um sie herum herrschte auf dem Rummelplatz der KieWo mit Fahrgeschäften, Geisterbahnen und Fressbuden ein derartiges Getöse, dass Julius’ Rufe in dem infernalischen Krach glatt untergingen. Nachdem ihr Schiff endlich so lag, dass es jederzeit wieder zu einem Einsatz in See stechen konnte, war es die Hauptattraktion dieses Hafenbeckens. Nach Minuten war die Warteschlange derer, die gern eine Führung über die »Otto Asmussen« erleben wollten, an die fünfzig Meter lang.
Während Gabi, Fiete und Hinnerk den Gruppen, nie mehr als maximal sechs Leute, immer nacheinander das Schiff zeigten, hatten Drs. Simons und Sylvie den Sanitätsdienst am Infostand der DLRG übernommen. In dieser Zeit konnten dann andere Medical Teams der Sanitäter über den Festplatz streifen. Den Rummelplatz jenseits des Traditionshafens teilten sich die anderen Hilfsorganisationen untereinander auf.
Inzwischen war es kurz nach siebzehn Uhr, und die heitere Stimmung kippte etwas. Denn je mehr Betrunkene am Hafenbecken standen, um sich zu erleichtern, desto aggressiver lallten sie sich gegenseitig an. Zum einen war da der Frust, dass man ihnen den Ausschank weiterer alkoholischen Getränke verweigerte, zum anderen drohte eine unehrenhafte Kapitulation: Da ihnen der Weg zu den vielen öffentlichen Toiletten in ihrem Zustand als unzumutbar erschien, fühlten sie sich mit Recht damit motorisch überfordert, dicht an der Beckenkante zum einen ihr Gleichgewicht zu halten und sich zum anderen gleichzeitig zu übergeben, zu pinkeln, zu rauchen und zu kontrollieren, ob »der« des Nebenmannes nicht eventuell doch ein wenig länger sei als der eigene. Der Ausgang dieser Aktion war abzusehen. Die Rettungsboote der DLRG hatten leider oft damit zu tun, die Schnapsleichen aus dem Wasser zu ziehen.
Nicht immer war es dabei nur mit nasser Kleidung abgetan.
Auf der »Otto Asmussen« wurde die letzte Gruppe dieses Abends durch das Schiff geführt, da erreichte sie ein Notruf. Das Tauchteam wurde dringend benötig. Ein völlig betrunkener Ehemann wollte seiner noch viel betrunkeneren Ehefrau das unendlich befreiende Vergnügen gönnen, sich ebenfalls ins Hafenbecken erleichtern zu können. Dabei hielt er sie an den Händen. Ihre Finger waren von den Frittenbergen, die sie vor Minuten noch vertilgt hatte, fettig und ein sicherer Halt daher nicht gegeben. Seine bessere Hälfte plumpste laut kreischend in die Hafenbrühe. Da der Gatte durchaus berechtigt Angst davor hatte, dass jemand während der zeitraubenden Rettung der Gemahlin sein Bier austrinken könnte, entschied er sich für die Sicherung seines Getränks. »Meine Alte kann das ab, die hat Seepferdchen«, soll er gerufen haben, bevor er mit seinen grölenden Kumpels erneut angestoßen hatte.