Tod mit Verspätung - Andreas Schnabel - E-Book

Tod mit Verspätung E-Book

Andreas Schnabel

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Beschreibung

Andreas Schnabel legt mit "Tod mit Verspätung" bereits seinen zehnten Kriminalroman vor. Erst sieben Mallorcakrimis und dann noch zwei, die in Deutschland spielen. Nach den vielen Lokalkrimis wollte Schnabel etwas neues schaffen, nämlich den "Unternehmenskrimi". Dem erfolgreichen Postkrimi folgt also nun ein Bahnkrimi und wieder sind es die kleinen Angestellten, die sich mit Ideenreichtum und sehr viel Engagement für das Wohl ihrer Kunden einsetzen. Richtig spannend wird es bei den Kolleginnen und Kollegen der neuen "Bahnkripo". Für die geht es um Leben und Tod, selbst dann, wenn er Verspätung hat.

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Monogramm Verlagsgesellschaft

Altenhofstraße 18

85049 Ingolstadt

Germany

[email protected]

www.Monogramm-Verlag.de

Titelbildgestaltung:attentus GmbH, Bremen

Lektorat: Monogramm Verlagsgesellschaft

und Martina Gade

Satz: attentus GmbH, Bremen

Druck: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

ISBN 978-3-945458-33-4

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.

© 2017 Monogramm Verlagsgesellschaft, Ingolstadt

Alle Rechte vorbehalten

Andreas Schnabel

Tod mit Verspätung

Für meine leider viel zu früh verstorbene Freundin Kerstin Gähte

1

Heute war sowieso nicht der Tag von Bianca Trapp. Erst hatte sie verschlafen, dann wurde sie auf dem Weg zur Arbeit geblitzt, und jetzt klebte auch noch diese dusselige Mitteilung ihres Chefs am Spind. Darauf stand, sie möge bei ihm noch vor Dienstbeginn zum Rapport erscheinen. Dies war in der für einen Berufspedanten so typischen klitzekleinen und dennoch gestochen scharfen Schrift zu lesen.

„Mist“, murmelte die Vierzigjährige bedient. „Wenn dem Himmel schon übel ist, dann kotzt auch der Teufel. Was habe ich denn nun schon wieder verbrochen?“

Die brünette, leicht untersetzte, ein Meter achtundsechzig große Frau arbeitete nun schon über zwanzig Jahre beim Service-Team des Duisburger Bahnhofs. Ihr Kindheitstraum war eigentlich ein Job bei der Landespolizei, was sich um ein Haar erfüllt hätte. Die Einstellungsprüfung hatte sie mit Bravour geschafft, auch die Mindestgröße war kein Problem, wäre da nicht dieser unsägliche Fitnesstest gewesen. Die Sportlichste war sie noch nie. Naja, und nachdem ihr Vater, so lange sie denken konnte, bei der Deutschen Bahn arbeitete, war sie dann eben auch bei der Bahn gelandet. Vitamin B!

Sie hatte es bis obenhin satt, ihrem Chef, diesem Fatzke, dabei zuzusehen, wie er sich an seiner Macht ergötzte. Nur leider war sie die Leidtragende bei diesem Spiel. Sie wusste nicht, was diesem Herrn Boche so unendlich großen Spaß bereitete, sie zur Schnecke zu machen. Es musste sich dabei wohl um Rache dafür handeln, dass sie sich dagegen gewehrt hatte, eines seiner willenlosen Opfer zu werden. Normalerweise hielt ihr direkter Vorgesetzter, Norbert Himmelreich, seine schützenden Hände über sie. Wenn der jedoch in Urlaub war, konnte sich Boche austoben, und das tat er dann auch mit Hingabe, sowie sich ihm auch nur die kleinste Chance bot. Am meisten ärgerte sie sich darüber, dass sie auf dem Weg zu diesem Idioten auch noch weiche Knie bekam. Durch die Glaswände von Himmelreichs Aquarium, wie das Büro des Dienststellenleiters genannt wurde, konnte sie schon sehen, mit welchem großen Vergnügen Boche auf sie wartete.

Mein Gott, wenn ich doch nur einmal in diese süffisant grinsende Hackfresse reintreten dürfte, dachte sie, als sie das Büro betrat.

„Frau Trapp“, begrüßte er sie überfreundlich. „Schön, dass Sie es einrichten konnten, zu kommen.“

„Ich wurde hierher zitiert, folgte also lediglich Ihrer Anweisung.“

„Das ist auch gut so.“ Er liebte es, diese resolute Frau abkanzeln zu dürfen. „Es ist vor allem schön, dass wir wenigstens dieses Reglement zwischen Modetipps und dem neuesten Make-up in ihrem unterentwickelten Frauenhirn platzieren konnten.“ Er machte eine sehr lange rhetorische Pause und genoss jede Sekunde davon. Dabei lächelte er sie übertrieben freundlich an. „Sie würden mich jetzt gern erschießen, stimmt’s?“

„Nein“, antwortete sie und sah dabei direkt an ihm vorbei. „Das lohnt die teure Munition nicht.“

Boche wurde blass. „Würden Sie mich bitte ansehen, wenn Sie mit mir sprechen?“

Bianca sah weiterhin an ihm vorbei. „Warum sollte ich? Das lohnt sich erst recht nicht.“

„Ihnen ist klar, dass Sie sich hier um Kopf und Kragen quatschen?“

„Ich folge nur Ihrem leuchtenden Beispiel, Herr Boche. Es wird ja wohl noch erlaubt sein, seinem Vorgesetzten nachzueifern.“

Die Tür wurde aufgerissen, und ein sichtlich erboster Betriebsratskollege trat ein. „Moin Bianca, Moin Herr Kollege. Sie sollten inzwischen begriffen haben, dass ein Mitarbeitergespräch nicht ohne den Betriebsrat zu beginnen hat, oder?“

„Lieber Kollege Schramm, die Kollegin Trapp betrat mein Büro, ohne vorher anzuklopfen, und drängte mir ihre Anwesenheit geradezu auf. Ich habe lediglich einen guten Tag gewünscht.“

„Hätte es eine schriftliche Einladung zum Mitarbeitergespräch gegeben, dann hätte die Kollegin mit Sicherheit draußen auf mich gewartet.“

Boche wurde es ungemütlich. „Sie hatte eine schriftliche Einladung.“

Schramm sah Bianca irritiert an. „Es gab eine schriftliche Einladung?“

Sie nickte und zeigt ihm die gelbe Klebenotiz. „Wenn man das so nennen will.“

„Herr Boche“, Schramm kniff die Augen zusammen, „der Betriebsrat hat ein für alle Mal die Schnauze von Ihren Spielchen voll. Zum nächsten von Ihnen anberaumten Mitarbeitergespräch wird grundsätzlich nur noch formell korrekt und nach vorheriger Absprache mit uns eingeladen, und diese Gespräche finden nicht mehr in Ihrem Büro, sondern beim Betriebsrat statt. Weiterhin haben Sie es zu unterlassen, weiblichen Mitarbeitern gegenüber, wie schon bekannt, etwas von fehlender Hirnmasse zu faseln. Haben wir uns verstanden?“

Boche fuhr von seinem Stuhl hoch. „Das ist ja wohl eine ganz üble Unterstellung. Und das vor Zeugen!“ Er sah Bianca an. „Frau Kollegin, haben Sie das eben gehört? Ich werde vom Betriebsrat gemobbt!“

Nun huschte zum ersten Mal an diesem Tage ein Lächeln über ihr Gesicht. „Lieber Herr Boche, es ist so, wie Sie sagen: Mein von Natur aus kleines weibliches Hirn ist so sehr mit den Themen Mode und Make-up zugekleistert, dass ich mir unmöglich merken kann, was ich eben gehört haben soll.“

Boches Stimme überschlug sich fast: „Ich höre wohl nicht richtig. Das ist ein Komplott!“

Jetzt bekam auch ihr Lächeln etwas Süffisantes. „Dann sollten Sie mit Ihren Ohren zum Proktologen gehen.“

„Was soll ich bei dem?“, kreischte der Mann außer sich. „Es sollte selbst Ihnen, mit Ihrem Spatzenhirn, aufgefallen sein, dass ein Proktologe nur in Arschlöcher hineinsieht.“

Schramm schloss sich ihrem Lächeln an. „Eben, Herr Kollege, der wäre für Sie wie geschaffen!“

***

Ulf Schramm rührte nun schon seit einer Minute in seinem zuckerfreien Kaffee herum. „Mensch, Bianca, der Boche wird mit der Zeit nicht seniler. Bei jedem Bock, den der schießt, lernt er dazu, und irgendwann wird er dich nach allen Regeln der Kunst von der Planke stoßen.“

„Na und? Dann gehe ich eben, aber erhobenen Hauptes.“

Er schüttelte den Kopf. „Was hat der nur gegen dich? Ist zwischen euch mal ’was gelaufen?“

Sie lachte auf. „Um Himmels willen! Auf den könntest du mich d’raufschweißen, da würde ich mich losrosten.“ Sie schüttelte angewidert den Kopf. „Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann ja. Irgendwann hätte ich ihm am liebsten irgendwo hin getreten, als er plötzlich mit offener Hose und heraushängendem Schwanz in der Umkleide auftauchte.“

Schramm schaute sie sorgenvoll an. „Und weil du ein kluges Mädchen bist, bist du nicht weiter darauf eingegangen?“

Sie lächelte ihn an. „Natürlich nicht … weil ich ein kluges Mädchen bin. Ich habe ihn gemeinsam mit einer ebenfalls nackten Kollegin zu einem kleinen Doppel in die Dusche gelockt. Ich habe ihn festgehalten und sie hat den Hahn aufgedreht.“

Schramm schüttelte den Kopf. „Jetzt wird mir einiges klar. Und warum hat er damals kein Fass aufgemacht?“

„Weil ich einige Kolleginnen zusammengetrommelt hatte, denen es mit Boche ähnlich ergangen ist. Die hätten für mich ausgesagt.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Und was kreidet er mir dieses Mal an?“

„Du hättest das Bahnhofsgelände wiederholt unbefugt verlassen. Stimmt das?“

Sie lachte auf. „Ich habe eine alte Oma in einem Rollstuhl der Deutschen Bahn AG auf die gegenüberliegende Straßenseite geschoben, weil die Taxen wegen eines Rettungswagens im Einsatz nicht die Bahnhofsvorfahrt nutzen konnten. Ich kann die doch nicht einfach im Regen vor die Tür stellen und ‚Tschüss‘ sagen.“

„Und deswegen macht der ein solches Fass auf?“

„Für den reicht das. Boche nutzt jede Gelegenheit, um mir eins auszuwischen.“

Schramm kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Und er wird erst dann Ruhe geben, wenn er es geschafft hat, dich rauszuekeln. Hast du noch die Namen der Kolleginnen, die Boche damals angemacht hat?“

Sie nickte. „Wozu brauchst du die?“

„Eine kleine Vorsichtsmaßnahme. Ich will nur etwas gegen diesen Mistkerl in der Hand haben, wenn er dir irgendwann einmal richtig übel mitspielt.“

***

Anne Pohl, Biancas Partnerin im Service-Team, wartete geduldig auf ihre Kollegin. Sie wusste ganz genau, dass noch nie jemand fröhlich von einem Termin mit Boche gekommen war. So auch Bianca, der die Anspannung im Gesicht abzulesen war.

„Was hat dieser Penner nun schon wieder zu mosern gehabt?“

Bianca winkte ab. „Nix weiter. Du kennst ihn doch. Wenn Himmelreich nicht da ist, dann lässt der jedem gegenüber die ‚Sau‘ raus.“

„Nein.“ Ihre Kollegin schüttelte energisch den Kopf. „Den Männern gegenüber nicht. Bei denen muss er ja auch aufpassen, dass er nicht irgendwann einmal eins auf die Fresse kriegt, wenn die etwas von seinen Ferkeleien erfahren würden.“

„Was denn für Ferkeleien?“

„Wenn ihm wieder mal einer geblasen werden soll.“

Bianca war fassungslos. „Hat er sich denn dir gegenüber schon einmal so geäußert?“

Anne lachte auf. „Nicht nur mir gegenüber, auch anderen, und das läuft immer gleich ab. ‚Die Bahn, meine liebe Frau Pohl‘, sagt er dann grinsend, ‚kann für Sie Himmel oder Hölle sein und es hängt ganz von Ihnen ab, wo Sie landen. Derjenige, der entscheidet, wohin Sie kommen, das bin ich.‘ Und dann packt er seine Nudel aus.“

„Ist nicht wahr?“

„Und wie das wahr ist. Ich kenne allein in unserem Servicehaufen vier Kolleginnen, denen er dieses Angebot gemacht hat. Eine davon bin ich.“

„Und, hast du es angenommen?“

Anne lachte wieder auf. „Schätzelein, dann wäre ich doch deine Vorgesetzte. Nein, ich habe zum ihm gesagt: ‚Chef, das wäre sicher furchtbar lecker, und ich mag Sie ja auch sehr gern, aber bevor ich es Ihnen besorge, muss ich Sie warnen. Wie Sie wissen, bin ich Single und das liegt daran, dass ich so einen unbezwingbaren Drang verspüre, den Herren, vor denen ich knie, immer gleich ein paar Zentimeter von ihrem besten Stück abzubeißen.‘“

Bianca grinste. „Und wie hat er reagiert?“

„Du glaubst gar nicht, wie schnell sein Reißverschluss wieder oben war. Leider hatte er sich dabei seine zarte Haut eingeklemmt. Seitdem verzieht er immer sein Gesicht, wenn er mich sieht.“ Anne wurde wieder ernst. „War es denn diesmal wieder irgend so ein Fliegenschiss, von dem er sich gestört fühlte, oder hat er was Ernsthaftes gefunden?“

„Es ging um die Oma von gestern, die ich zum Taxi begleitet habe.“

Anne sah sie irritiert an. „Was hatte er denn daran auszusetzen? Als Pfadfinderin wärst du allein dafür in den Himmel gekommen.“

„Aber nicht als Boches Untergebene. Ich habe damit gegen die Dienstvorschrift verstoßen, die es verbietet, als Servicekraft das Bahngelände zu verlassen.“

„Aber die Auffahrt war doch durch Feuerwehrautos versperrt“, protestierte Anne.

„Egal. Ich hätte mir vorher die Genehmigung holen müssen.“

„So ein Blödsinn. Bis du die in der Leitung gehabt hättest, wäre die alte Dame an Altersschwäche gestorben.“

„Vorschrift ist Vorschrift, that’s the fact.“

Anne schüttelte den Kopf. „Unser guter Himmelreich ist ein wirklich toller Vorgesetzter. Er hat nur einen Fehler. Immer, wenn er in Urlaub fährt, lässt er sein Arschloch hier.“ Sie sah auf ihre Uhr. „Liebelein, wir sollten langsam auf Tour gehen, sonst wird die Duisburger Bahnhofsunterwelt gleich wieder übermütig und das kann ich im Augenblick gar nicht gebrauchen.“

Bianca wurde hellhörig. „Hast du auch Stress?“

Sie nickte. „Junior hat wieder mal eine Fünf in Latein geschrieben. Und natürlich waren wieder alle schuld, nur er nicht.“

„Hast du ihn auf den ‚Pott‘ gesetzt?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Da hätte der sich ein Ei d’rauf gepellt. Der baut im Augenblick jeden Tag so einen Klops. Ach, weißt du, es wird Zeit, dass bei mir mal wieder ein Mann ins Haus kommt.“

Bianca schüttelte den Kopf. „Dann hättest du zwei Pflegefälle an der Backe, sonst ändert sich nichts weiter. Versuch den Jungen lieber allein wieder aufs richtige Gleis zu setzen.“

Plötzlich schien es Anne so, als sei ihrer Kollegin gerade etwas Unangenehmes eingefallen. „Hast du etwas vergessen?“

„Ich fürchte, ja. Komm mal mit.“

Bianca machte sich hastig auf den Weg in Richtung Schließfächer.

„Was willst du denn bei den Fächern?“

Ihre Stimme klang gehetzt. „Ich muss etwas geradebiegen, wenn es jetzt nicht schon zu spät ist. Himmelreich ist heute nämlich krank, und mit dem war das abgesprochen.“

„Was denn?“

„Das wirst du gleich sehen.“

Leider lagen auch im Duisburger Hauptbahnhof die Schließfächer nicht zentral, sodass sie ein ganzes Stück Weg bewältigen mussten, bevor sie in die Nische mit den Fächerreihen einbogen. Schon von Weitem hörten sie jemanden lautstark fluchen. „Verdammt nochmal, was für eine Schweinerei. Die ganze Ware ist versaut.“

Der Mann hieß Kare-Heinz Ebert und war Kaufmann, wie er immer wieder betonte, dealte aber mit einer Ware, die den Damen vom Bahnservice schon lange ein Dorn im Auge war. Ebert handelte mit gebrauchter, ungewaschener Unterwäsche möglichst junger Mädchen. Er schaltete Anzeigen in einschlägigen Blättern und im Internet und traf sich dann mit den Mädchen hier im Duisburger Hauptbahnhof, um den Deal abzuschließen. Dabei handelte es sich aber nicht um No-Name-Produkte, sondern um Markenware, welche zwei bis drei Tage von möglichst jungen Frauen getragen worden sein musste. Natürlich versuchten vorwitzige Mädels immer wieder mal, Ebert ein oder zwei Schlüpfer der Mama unterzujubeln, doch damit waren sie bei ihm an der falschen Adresse. Einem tiefen Atemzug durch seine offensichtlich sehr feine Nase entging nichts. Diese war ebenso auf den Geruch jugendlichen Ausflusses geschult wie die seiner Kunden. Spitzenstrings, mit ein paar Tropfen Menstruationsblut von frisch zur Frau erblühten Mädchen, erzielten auf dem japanischen Markt Spitzenpreise von fünf- bis zu sechshundert Euro pro Slip. Dementsprechend entsetzt war er, als er sein gemietetes Schließfach mit zig vollgeschissenen Babywindeln vollgestopft vorfand. Der Gestank, der sich bei geöffneter Tür ausbreitete, war mörderisch. „So ein Mist“, jammerte der immer verschwitzte, kugelrunde Mann. „Meine ganze Ware ist verdorben. Der Verlust geht in die Tausende.“

Anne Pohl versuchte die Begeisterung über den offensichtlich gelungenen Streich zu verbergen. „Wie stellen Sie sich das vor? Sollen wir jetzt eine ‚SOKO Babyschiss‘ gründen, nur weil jemand gebrauchte Windeln in ein Schließfach stopft. Da hätten wir viel zu tun! Und Herr Ebert, ich verstehe Sie nicht. Die Erzeugerinnen der von Ihnen gewünschten Geruchsnote konnten bisher nicht jung genug sein. Schauen Sie selbst, lauter rosa Windeln von offensichtlich sehr jungen Mädchen. In Ihrem Fall somit Handelsklasse A!“

Die Hautfarbe in Eberts Gesicht wechselte in alle Farben.

„Und wenn ich den Inhalt des von Ihnen gemieteten Schließfachs betrachte und vor allem die erhebliche Geruchsbelästigung in meine Recherchen mit einfließen lasse, so komme ich zu dem Ergebnis, dass Sie, Herr Ebert, gegen die Geschäftsbedingungen zur Anmietung eines Schließfachs bei der Deutschen Bahn verstoßen haben. Sie haben verderbliche Ware weit über das Haltbarkeitsdatum in dem von Ihnen angemieteten Schließfach gelagert. Ich erwarte, dass Sie das Fach umgehend räumen und innerhalb einer Stunde geruchsneutral dem nächsten Mieter überlassen. Darüber hinaus erteile ich Ihnen Kraft meines Amtes für diesen Bereich des Duisburger Hauptbahnhofes Hausverbot.“

„Haben Sie nun endlich das erreicht, was Sie schon immer wollten, mir das Hausverbot erteilen?“, bellte Ebert sie an.

„Herr Ebert, das, was Sie Geschäft nennen, ist in meinen Augen und ich denke, in den Augen jeder zivilisierten Frau, einfach nur widerlich. Und nun machen Sie, so schnell es nur geht, einen Abgang!“

***

„Mein Gott“, bewunderte Bianca ihre Kollegin, „so in Fahrt habe ich dich noch nie erlebt. Hut ab.“

Sie standen vor dem Kaffeeautomaten, und zur Feier des Tages wollte Bianca ihrer Kollegin einen Kaffee spendieren. ...

„... und dich habe ich noch nie so still erlebt.“ Anne warf eine Münze in den Automatenschlitz. „Bisher bist du diesem Herrn bei jeder Begegnung quasi ‚mit dem nackten Arsch ins Gesicht gesprungen‘, heute aber nichts als entspanntes Schweigen, und das von dir. Da ist doch etwas faul, meine Liebe. Und vor allem, was wolltest du bei den Schließfächern wieder geradebiegen?“

Bianca zuckte mit den Achseln. „Ich bekenne mich schuldig, Euer Ehren.

Und ich Idiotin habe mich noch über den großen, zigmal verknoteten Plastiksack gewundert, den du gestern Abend aus deinem Auto geschleppt hast“, lachte Anna. Sie trank einen Schluck heißen Cappuccino. „Stell dir mal vor, Boche bekommt von der Sache Wind und schaut sich die Bänder von den Überwachungskameras an. Dass da jemand von uns mit dem Generalschlüssel dran gewesen sein musste, ist bei dem unversehrten Schloss doch wohl klar. Ebert wird das Zeug ja schließlich nicht selbst in sein Fach getan haben.“

„Wenn er aber nichts davon mitbekommt, wäre der Plan doch aufgegangen, oder?“, erwiderte Bianca kleinlaut.

„Wusste noch jemand etwas von dieser Schnapsidee?“

„Himmelreich.“

„Und der sollte heute Morgen wieder aus dem Urlaub kommen, aber du hattest keine Ahnung davon, dass er heute krankgeschrieben ist.“

Bianca schien sich gar nicht mehr für die Worte ihrer Kollegin zu interessieren. Wie gebannt schaute sie, mit ihrem „Coffee to go“ in der Hand, an ihr vorbei.

„Hast du mich gerade von deiner Kommunikationsliste gestrichen?“

„Blödsinn. Guck mal hinter dich, ohne dich dabei umzudrehen.“

Anne schüttelte den Kopf. „Kannst du mir bitte sagen, wie ich das machen soll?“

„Man kann sich ja auch so umdrehen, dass andere das nicht so mitbekommen.“

„Okay, ich versuche es. Worauf soll ich achten?“

Bianca Trapp versuchte so zu wirken, als würde sie mit ihrer Kollegin ein belangloses Gespräch führen. „Achte mal auf die Frau am Geldautomaten. Die kann vor lauter Tränen kaum die Tasten erkennen. Mich irritiert der Mann neben ihr, der das Mädchen am Genick festhält.“

Anne Pohl kramte in ihrer Hosentasche und holte einen kleinen Spiegel hervor. Mit der anderen Hand zückte sie aus ihrer Westentasche einen Lippenstift und beobachtete beim „Nachschminken“ die Situation hinter sich. „Du hast recht. Ein liebevoller Ehemann würde seine weinende Frau in dieser Situation mit Sicherheit trösten und seine Tochter schon gar nicht so brutal am Genick packen. Und wenn doch, würde die Mutter dazwischengehen. Irgendwas stimmt da nicht. Schau mal, jetzt stopft sie das eben gezogene Geld sogar noch in den Rucksack des Mädchens, aber da ist nichts Zärtliches an ihrer Bewegung. Das sieht so aus, als würde sich in ihr alles dagegen sträuben, aber warum macht sie es dann?“

Bianca war sich auch nicht sicher. „Das Mädel ist doch höchstens zwölf und hat allein nichts auf dem Bahnhof zu suchen. Aber dieses Elternpaar passt nicht zu ihr! Vielleicht sind das gar nicht ihre Eltern? Wir sollten vielleicht die Bundespolizei alarmieren.“

Anne Pohl ließ den Spiegel sinken. „Weswegen? Geiselnahme is nich’. Häusliche Gewalt? Dazu wissen wir zu wenig. Nachher machen wir hier ein Riesenfass mit Bundes- und Landespolizei und allem Gedöns auf, nur weil ein Ehepaar Stress miteinander hat. Puh, dann möchte ich nicht in unserer Haut stecken.“

Bianca Trapp stieß ihre Kollegin an. „Die drei ziehen weiter. Die sollten wir trotzdem mal im Auge behalten.“

Um diese eigenartige Familie unauffälliger beobachten zu können, trennten sie sich. Über ihre Sprechfunkgeräte hielten sie Kontakt zueinander. Die Beobachteten gingen geradewegs auf einen weiteren Geldautomaten am anderen Ende des Bahnhofes zu. Dort wieder das gleiche Spiel. Während sie Geld aus dem Automaten zog, hielt er das inzwischen offensichtlich weinende Kind weiterhin in festem Griff.

„Was meinst du“, kam es aus Biancas Funkgerät, „sollten wir vielleicht eine Personenkontrolle durchführen?“

„Nein“, antwortete sie leise. „Dazu haben wir keine Berechtigung. Wir sind keine Exekutiv...“ Sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können. „Hey, siehst du auch, was ich sehe?“

„Meinst du das, was bei dem Mann aus der Manteltasche rausguckt?“

„Ja.“

„Von hier aus sieht es aus wie ...“ Anne zögerte.

„... wie eine Pistole.“ Bianca Trapp war sich vollkommen sicher.

„Rede keinen Blödsinn“, kam es zweifelnd zurück. „Woran willst du das denn auf die Entfernung erkennen?“

„Am Magazinende im Griff. Der Kerl hat eine Pistole in der Manteltasche. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe selbst so ein Ding bei meinem Schützenverein im Spind. Ich gucke mir das mal aus der Nähe an.“

Bianca nahm ihr Handy aus der Tasche, und tat so, als würde sie im Gehen eine SMS absetzen. Dabei lief sie nur zwei Meter an dem Mann vorbei. Ein kurzer Blick im Vorbeigehen gab ihr Sicherheit. „Du bist weiter weg von denen und dich können sie nicht hören. Du alarmierst sofort die ‚Bundespolizei‘. Es ist definitiv ein Pistolengriff.“

„Gleich die Bundespolizei? Sollten wir nicht vorher die Aufsicht anfunken?“

„Und dadurch noch mehr Zeit verlieren? Nein, wir müssen sofort und direkt handeln. Die können zumindest sofort eine Personenkontrolle durchführen und deren Personalien festhalten.“

Die Kollegin nickte und wählte auf ihrem Smartphone eine kurze Nummer.

Bianca gab sich Mühe, den Sichtkontakt zu dem Trio nicht abreißen zu lassen. Ohne sich nur einmal umzusehen, steuerten die drei zielsicher zur Treppe, die zum Gleis 10 führte. Dort war inzwischen der Zug RB 35 Richtung Wesel eingefahren. Bianca schaute auf ihre Armbanduhr. „So ein Mist“, murmelte sie. „Schon 14:40 Uhr. In vier Minuten fährt der ab.“ Sie hob wieder das Funkgerät an ihren Mund. „Hast du etwas von einer Verspätung beim 35er Regio gehört?“

„Nein“, kam es gequetscht zurück. „Warum fragst du?“

„Ich fürchte, die drei steigen gleich ein. Wo bist du?“

„Zwanzig Meter hinter dir.“

„Okay! Dann nimmst du den ersten Waggon bei dir, ich überhole die 3 und nehme den davor.“

„Willst du noch mehr Ärger bekommen? Boche hat dir heute schon eine reingewürgt, nur, weil du auf die andere Straßenseite gegangen bist.“

„Ja, aber da habe ich das Bahngelände verlassen. Die Gleise sind Bahngelände. Außerdem ist Gefahr im Verzug. Hast du schon einen Kollegen von der Bundespolizei gesehen?“

„Nein. Die brauchen sicher noch ein paar Minuten.“

Bianca Trapp schüttelte verärgert den Kopf. „Das sind Minuten, die wir nicht mehr haben.“

Der Mann schob das Mädchen, das immer unwilliger schien, in den Regionalzug, oder zog sie ihn? Bianca war sich wirklich nicht sicher. Aber warum sollte sie ihn ziehen? Warum sollte eine Geisel ihren Geiselnehmer in einen Zug ziehen, mit dem sie nicht fahren will? Die Frau hingegen folgte den beiden widerstandslos. Dieser Umstand ließ Bianca wieder zweifeln. Ich folge doch nicht einem Typen, der mir was antun will. Es sei denn, er hält meiner Tochter quasi eine Knarre an die Schläfe, dann würde ich noch viel mehr machen, um mein Kind zu retten.

Wie angekündigt, wählte sie den Zugeingang einen Waggon weiter in Fahrtrichtung, Anne Pohl, wie verabredet, dahinter. Punkt 14:44 Uhr schlossen sich die Türen, und der Zug setzte sich in Bewegung. Zwei Bundespolizisten hetzten mit hochroten Köpfen auf den Bahnsteig, und mussten zusehen, wie der Zug ohne sie abfuhr. Bianca konnte ihnen die Flüche von den Lippen ablesen.

Angespannt rechnete sie. In 4 Minuten sind wir in Oberhausen. Dort haben wir nur eine Minute Aufenthalt. Um einen Zug aufzuhalten, reicht das nicht, selbst wenn die Kollegen auf Zack sind. Um 15:14 Uhr sind wir in Wesel. Früher wird kaum jemand eingreifen können oder vielleicht ist ein Zugriff schon in Dinslaken möglich.

Bianca sah ihre Kollegin, mit der sie durch die Glasscheiben zwei Waggons weiter Sichtkontakt hatte, auf ihrem Smartphone eine Mitteilung tippen. Einen Moment später vibrierte ihres.

„Ich denke, vor Wesel passiert gar nichts. Was machen wir, wenn die früher aussteigen?“

„Auf jeden Fall dranbleiben“, antwortete sie.

„Und was machen wir, wenn sich das Ganze als blinder Alarm herausstellt?“

Bianca zuckte mit den Achseln, als sie antwortete. „Dann rennen wir die nächsten Wochen mit der Eselsmütze herum.“

Der Zug fuhr in Oberhausen ein und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie bemühte sich, zwanglos in die Gegend zu schauen, ohne den vermeintlichen Täter zu fixieren, aber dennoch keine seiner Bewegungen zu verpassen. Schon bevor der Zug ausrollte, fiel ihr auf, dass für die Mittagszeit nur sehr wenige Fahrgäste auf dem Bahnsteig waren. Sollte die Bundespolizei doch schon tätig geworden sein? Vielleicht war sogar einer der neuen Fahrgäste eine Zivilkraft der Bundespolizei?

Der junge Mann, der sich drei Meter von ihr entfernt an einer Haltestange festhielt, käme von der Statur her infrage. Sie schaute auf seine Jacke. Kann man unter so einem kleinen Teil eine schusssichere Weste und Waffe verbergen?

Die Türen schlossen sich, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Weitere vier Minuten Zeit bis Oberhausen-Sterkrade. Der Mann, der das Mädchen noch immer mit einer Hand im Nacken festhielt, verhielt sich für einen Kidnapper plötzlich seltsam. Er löste den Griff im Genick, öffnete seine Hand und schloss sie ein paar Mal so, als hätte er einen Krampf. Das Mädchen drehte sich sofort zu ihm um und sah ihn an. Daraufhin nahm er sofort wieder die alte Haltung ein. Die beiden schienen nur durch Blicke zu kommunizieren. Bianca war irritiert. Gibt es auch schon bei Kindern ein Stockholm-Syndrom? Sie sah unschlüssig zu ihrer Kollegin, die auf ihr Smartphone tippte und ans Ohr hielt. Ihres vibrierte und sie ging ran. Da ihre Kollegin sehr leise sprach, konnte sie sie kaum verstehen. „Hast du das eben auch gesehen? Die sehen plötzlich gar nicht mehr wie Kidnapper und Geisel aus, sondern wie Vater und Tochter. Er hat aber noch das schwarze Ding in der Tasche, von dem du meinst, dass das eine Pistole sei.“

Bianca nickte. „Ich bin mir inzwischen wirklich nicht mehr sicher, wer hier Täter und wer hier Opfer ist. Sicher ist nur, dass wir das Mädchen irgendwie schützen, wenn es chaotisch werden sollte. Du hast doch gemeldet, dass hier eventuell eine Geiselnahme stattfindet?“

„Ja. Ein Mann würde Mutter und Tochter offensichtlich in seiner Gewalt haben.“

Bianca bekam weiche Knie. „Wenn es hier hoch hergehen sollte, dann knallt das SEK eventuell den Falschen ab, durch unsere Schuld. Das müssen wir irgendwie verhindern.“

Der Zug lief in Oberhausen-Sterkrade ein. Nun war es ganz offensichtlich, dass die Polizei irgendetwas unternommen haben musste, denn der Bahnsteig war wie leergefegt. Als der Zug zum Stehen kam, öffneten sich die Türen, einige Fahrgäste stiegen aus, aber niemand stieg hinzu. Es schien also wieder nichts mit Hilfe zu sein. In Bianca stieg Verzweiflung auf. Am liebsten würde sie ihrer Kollegin ein Zeichen geben und mit ihr zusammen den Zug verlassen, aber sie konnten doch nicht tatenlos ein Kind seinem Schicksal überlassen, egal, zu wem es nun gehörte, Mutter oder Vater. Sie beschloss, sich langsam und möglichst unauffällig zu dieser seltsamen Familie vorzuarbeiten. Sie würde nur aus unmittelbarer Nähe eingreifen können.

Die Türen schlossen sich, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Bianca begann erneut zu rechnen. Um 14:57 Uhr sind wir in Oberhausen-Holten. Dann hätte die Bundespolizei dreizehn Minuten, um in der Pampa etwas aufzubauen. Sie schüttelte den Kopf. Nein, für den Zugriff brauchen sie einige Beamte. In Holten werden sie vielleicht den einen oder anderen getarnten SEK-Mann in unserer Nähe postieren. Zuschlagen werden die bestimmt erst in Dinslaken oder in Voerde. In Voerde hätten sie für so einen Einsatz auch mehr Platz. In ihrem Kopf purzelten die Gedanken nur so durcheinander. Das kannte sie schon von sich, und das behagte ihr nicht. Wenn sie keine Zeit hatte, einen durchdachten Plan zu schmieden, dann handelte sie oft so spontan, dass sie sich damit durchaus auch selbst überraschen konnte. Ihr Papa, ein alter Bergmann aus Gelsenkirchen-Buer, musste dann immer lachen und sagte jedes Mal: Während andere lange denken, packt „dat Bianca dem Bär gleich bei die Eier“. Das tat sie auch bei ihrem Biolehrer Dr. Scherzer am Lyzeum, als der ihr beim Nachsitzen an die Wäsche wollte. Er konnte danach eine Woche lang nur noch sehr unrund laufen, und sie flog von der Penne. Sie trug einen Rock, sie hatte Brüste und den Lehrer damit provoziert. Damals war das halt so. Ein Vierteljahr später fand sie sich auf der Hauptschule wieder, aber nur, weil Papas Steiger der Bruder vom Rektor war. Auf jeden Fall hatte sie dort Ruhe vor dem männlichen Lehrkörper. Vielleicht eilte ihr der Ruf nur voraus und die Herren hatten Angst um ihre Kronjuwelen. Dieses instinktive Zupacken war aber schon immer der Knackpunkt in der Beziehung zu ihren Vorgesetzten und überhaupt zu Männern, auch in ihrem Privatleben.

Sie schrak dadurch hoch, dass der Zug die Geschwindigkeit verringerte, und ärgerte sich über sich selbst. In solch einer Situation an einen derartigen Blödsinn zu denken, war typisch für sie. Das durfte ihr aber nicht passieren, schon gar nicht in so einem Augenblick. Da galt es, hellwach zu bleiben.

Oberhausen-Holten mochte früher einmal ein richtiger Bahnhof gewesen sein, heute hingegen war er nichts weiter als ein asphaltierter Seitenstreifen, an dem die Bahn hielt. Bis auf einen Mann mit einem Treckingrad und einem Pärchen war niemand zu sehen, und diese drei wollten sich nun ausgerechnet mit in den Wagen drängeln, in dem sie und die vermeintliche Familie standen. Zuerst bestieg das Pärchen den Zug, dann folgte der Biker. Aber der wuchtete sein Rad mehr in den Zug, als dass er es schob, und zwar genau zwischen den Mann und das Mädchen. Dann ging alles ganz schnell.

Plötzlich schrie die Mutter des Mädchens: „Achtung, da ist eine Bombe im Rucksack!“

Bianca erkannte die Situation sofort als günstig, zumindest die Bombe aus dem gut gefüllten Zug und damit die Passagiere aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich zu retten. Wie sie den Rucksack vom Rücken des Mädchens entfernen würde, wollte sie später entscheiden. Sie warf sich geistesgegenwärtig gegen sie und schob sie, kurz bevor sich die Türen schlossen, mit aller Gewalt aus dem Zug. Da die Bahnsteigkante nicht auf gleicher Höhe war, wurde das eine ziemlich schmerzhafte Landung auf dem Bahnhofspflaster. Das Mädchen schrie vor Schmerzen auf, aber auch vor Zorn, wie es schien. „Was soll denn das? Lassen Sie mich in Ruhe.“

Beide rappelten sich auf. Neben ihnen setzte sich der Zug in Bewegung, sodass Bianca nicht mehr sehen konnte, was sich darin abspielte.

„Rühre dich nicht von der Stelle“, rief Bianca. „Du sollst eine Bombe im Rucksack haben.“

***

Im Zug versuchte Anne Pohl ebenfalls einzugreifen, da aber sämtliche Beteiligten in Zivil waren, konnte sie kaum Gut von Böse unterscheiden.

Als das Wort „Bombe“ fiel, waren alle Zivilpolizisten in erster Linie darauf bedacht, die Hände der beiden Erwachsenen zu sichern, sodass sie nicht mehr in der Lage waren, irgendetwas zünden zu können. Auf jedem der vier Arme saß also ein Beamter. Ihre Kollegen rissen den Mantel der Frau auf. „Negativ, hier ist nichts.“ Ein weiterer Polizist öffnete die Jacke des Mannes. „Hier auch nicht.“

„Nicht bei uns“, rief die Frau verzweifelt. „Nicht wir sind die Terroristen, sondern das Mädchen.“

„Die hat uns gedroht, dass sie uns alle in die Luft sprengen würde, wenn wir nicht unser gesamtes Geld abheben würden. Die hat uns von Geldautomat zu Geldautomat geschickt, immer eine Hand am Abzug.“

***

Das Erste, was Bianca registrierte, waren zwei tiefschwarze, hasserfüllte Augen, die sie ansahen. Darunter ließ ein zum spöttischen Lächeln verzerrter Mund das Mädchen sehr viel älter erscheinen, als sie es eingeschätzt hatte. Sie stand ihr etwas seitlich zugeneigt, wie ein Footballspieler, der jeden Augenblick zum Tackling ansetzen würde. In der rechten Hand hielt sie einen Griff aus Metall, von dem eine Schnur in den durch den Sturz geöffneten Rucksack führte. Biancas Blick wanderte weiter. Sie erstarrte vor Schreck. Im offenen Rucksack war ein Block grauer Knete zu sehen, der von mehreren Drähten umwickelt war. Daran blinkten mehrere Lämpchen in unregelmäßigen Abständen. „Nur eine Bewegung“, rief das Mädchen, „oder nur ein Ton, und wir beide fliegen in die Luft, du dämliche Kuh. Alles wäre ganz glatt über die Bühne gegangen, wenn du hier nicht die Heldin gespielt hättest.“

Bianca Trapp war gelähmt vor Schreck. Wie vom Donner gerührt stand sie vor der Göre und spürte, wie sich ihr Verstand immer mehr abmeldete. Mit aller Kraft und völlig ansatzlos schlug sie ihr die Faust derartig heftig auf die Kinnspitze, dass sie wie vom Blitz getroffen nach hinten fiel und benommen liegen blieb. Wie aus dem Nichts waren plötzlich mehrere Bundespolizisten zur Stelle, die von ihren Kollegen über die Trägerin der Bombe informiert worden waren. „Alles kein Problem“, kam die Entwarnung. „Das Ding blinkt zwar, ist aber nur eine Attrappe.“

Jemand tippte Bianca, die am ganzen Leibe zitternd vor dem Geschehen stand, auf die Schulter. „Sind Sie die Kollegin von der Bahn, die uns fast den ganzen Einsatz vermasselt hat?“

Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Was sollte ich denn machen? Ich wollte doch nur die Bombe aus dem Zug haben.“

„Das war im Prinzip auch sehr mutig von Ihnen. Machen Sie sich bitte keine Gedanken. Sie werden in meinem Bericht insofern lobend erwähnt werden, als dass Sie, ohne auf Leib und Leben Rücksicht zu nehmen, die Fahrgäste vor einer verheerenden Explosion schützen wollten.“

„Hören Sie nicht zu?“, kam es von Bianca. „Ich habe mich geirrt.“

„Aber in gutem Glauben, junge Frau.“ Er schaute besorgt an ihr herunter. „Soll ich für Sie auch einen Krankenwagen rufen? Für das Mädchen kommt gleich einer.“

„Warum das denn?“

„Weil die noch immer nicht wieder bei sich ist, und wir bei Kindern ganz besonders vorsichtig sein müssen.“

„Das ist kein Kind, das ist eine Verbrecherin. Wie kann sie die Angst der Menschen vor solcherlei Anschlägen nur derartig schamlos ausnutzen? Was wurde denn aus ihren Komplizen im Zug?“

Es dauerte ein wenig, bis ihr der leitende Bundespolizist den ganzen Sachverhalt erklärte. Bianca schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Wie kann ein Kind nur auf solche Ideen kommen? Mein Gott, ist die überhaupt strafmündig?“

„Genau das, befürchte ich, ist sie noch nicht. Aber wir werden sehen, was der Computer über dieses Früchtchen ausspuckt. Ich denke mal, dass sie kein unbeschriebenes Blatt ist.“ Er deutete wieder auf ihre Beine. „Soll ich nun einen Krankenwagen rufen?“

„Wieso das denn?“ Sie schaute an sich herunter und bemerkte erst jetzt das Blut, das stetig aus ihrer zerrissenen Hose sickerte.

In diesem Augenblick kam eine Polizistin mit einer Verbandstasche auf sie zu. „Dann setzen Sie sich mal auf die Bank hier, ich werde mir Ihr Bein einmal ansehen.“

Erst die Anspannung, dann das viele Blut, auch noch ihr eigenes, ließen ihre Knie weich werden. Die Sanitäterin der Polizei kannte das schon und hatte sie im sicheren Griff. Nachdem sie die Wunden inspiziert hatte, konnte sie Entwarnung geben. „Da haben Sie sich beim Sturz aus der Bahn auf beiden Knien Platzwunden zugezogen. Mit ein paar Stichen sind die aber wieder so gut wie neu.“

Bianca Trapp spürte, wie ihre Kraft wiederkehrte. „Und wie geht es diesem kleinen Biest?“

Der Bundespolizist lachte auf. „Die spuckt schon wieder Gift und Galle und ein wenig Blut. Machen Sie sich also keine Sorgen. Die hat sich bei Ihrem Knockout nur auf die Zunge gebissen, ansonsten ist sie wieder okay.“

„Und was sagt sie zu ihrem Verbrechen?“

Der Beamte zuckte mit den Achseln. „Sie behauptet, diese Sprengstoffattrappe gehöre zu einem Kostüm, wie auch die Spielzeugpistole, die ihr der Mann abgenommen habe. Sie wolle damit an Halloween als Taliban gehen.“

***

Bianca hätte nie damit gerechnet, einmal mit aufgeschlagenen Knien im Krankenhaus zu landen, und nun lag sie nach einer kleinen OP sogar im Aufwachraum, um sich von der Beruhigungsspritze zu erholen. Ein Steinchen hatte sich bei ihrem Fall in ihre Kniescheibe gebohrt und musste chirurgisch entfernt werden. Mehr noch aber musste sie sich von der Nachricht erholen, dass die Ärzte sie unbedingt drei Tage lang im Krankenhaus behalten wollten. Vor lauter Frust bemerkte sie ihre Kollegin erst, als diese direkt neben ihrem Bett stand.

„Na, du Heldin?“

Bianca winkte ab. „Heldinnen bekommen einen Orden und schnappen sich den schönsten Kerl am Set. Auf jeden Fall liegen sie nicht mit bandagierten Knien dumm ’rum.“ Sie klopfte neben sich auf die Bettdecke. „Komm, setz dich. Erzähl doch mal, wie es im Zug weiterging.“

Anne Pohl zuckte mit den Achseln. „Was soll da groß passiert sein? Die SEK-Beamten hatten schlagartig alles im Griff und blitzschnell ihren Kollegen über Funk Bescheid gegeben, dass auf ihrem Bahnsteig ein Mädchen mit einem Sprengstoffrucksack gelandet ist.“

„Mit einer Duisburger Servicekraft im Rücken“, lachte Bianca auf.

So richtig konnte sich Anne nicht über den Scherz freuen, und ihre Kollegin spürte, dass ihr etwas auf der Seele lag.

„Schätzelein, wir kennen uns jetzt lang genug. Irgendetwas ist doch?“

Anne nickte „Eigentlich wollte ich dich jetzt nicht damit belasten, aber du erfährst es ja sowieso.“

„Nun mach’s nicht so spannend. Hat sich Boche schon wegen der Windeln gemeldet?“

Sie nickte betreten.

„Und, müssen wir nun nachsitzen?“

Anne schossen Tränen in die Augen. „Wir sind beide vom Dienst suspendiert.“

Bianca glaubte nicht richtig gehört zu haben. „Suspendiert?“

Wieder nickte ihre Kollegin. „Einfach so.“

„Wer hat dir das mitgeteilt?“

„Boche selbst.“ Bianca tätschelte aufmunternd ihren Arm. „Wir würden es morgen schriftlich bekommen.“

„Suspendiert heißt nicht gleich gefeuert.“ Sie richtete sich im Krankenbett auf. „Noch ist nicht aller Tage Abend. Himmelreich und Schramm haben da auch noch ein Wörtchen mitzureden, und wir beide können schließlich kämpfen.“

2

Bianca war nun schon seit zwei Wochen wieder zu Hause. Die Fäden ihrer Wunden waren bereits gezogen worden, und sie brannte förmlich darauf, wieder mit ihrem Dienst beginnen zu dürfen. Vom Arzt hatte sie auf jeden Fall grünes Licht bekommen. Allerdings hatte sich ihr Arbeitgeber noch nicht zu ihrem Wiedereinstieg geäußert, geschweige denn zu dieser ominösen Suspendierung. Sie hatte sich zumindest, wenn auch widerwillig, von der Boulevardpresse mit ihrem örtlichen Sicherheitschef zusammen und einem Blumenstrauß im Arm grinsend ablichten lassen. So viel Entgegenkommen hatte sie schon mal gezeigt. Trotzdem wurde sie zu diesem Sicherheitschef nicht durchgestellt, als sie ihn einige Tage später zu erreichen versuchte. Sie spürte genau, dass sich irgendetwas über ihrem Haupt zusammenbraute, sie bekam aber nicht heraus, was. Vielleicht lag das daran, dass sie von den Eltern dieser Sprengstoffgöre wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung angezeigt worden war und von ebendiesen Eltern wohl auch noch eine Schadensersatzklage gegen die Bahn anhängig sein könnte. Sie würde darüber gern mit ihrer Kollegin Anne Pohl sprechen, aber selbst die war nicht erreichbar. Sie sei auf einem Lehrgang, hieß es lapidar im Büro von Himmelreich. Als sie ihren Dienstplan für die kommende Woche haben wollte, hieß es nur, dass sie ein paar von den vielen angefallenen Überstunden abbauen solle.

Es klingelte an ihrer Haustür. Sie sah auf die Uhr. „Das wird der Anwalt sein“, murmelte sie. Ulf Schramm vom Betriebsrat hatte ihr dazu geraten. Zwar wurde sie durch einen Anwalt der Bahn vertreten, doch die Gewerkschaft stellte ihr zur Sicherheit noch einen persönlichen Anwalt. Nicht aber der erwartete Besuch stand vor der Tür, sondern ihr Vorgesetzter Himmelreich, Ulf Schramm vom Betriebsrat und eine ihr unbekannte Frau.

„Na, das ist ja eine Überraschung.“ Sie machte eine einladende Geste. „Tja, Boss, jetzt weiß ich auch, warum ich Sie nicht erreichen konnte.“

Himmelreich zuckte entschuldigend mit den Achseln. „Tut mir leid, Bianca, aber es durfte niemand wissen, dass wir hier sind. Wir haben übrigens eine Kollegin aus Berlin mitgebracht. Frau Graf möchte dich gern kennenlernen.“

„Das freut mich, Frau Graf“, lächelte sie. „Aber glauben Sie mir bitte, dass ich nicht jede Vorgesetzte beim ersten Date gleich zu mir nach Hause einlade.“

Alle lachten herzlich und setzten sich an den Esstisch im Wohnzimmer. Nachdem Bianca Kaffee gekocht hatte, kamen ihre Gäste endlich zur Sache. „Liebe Frau Trapp“, hob die Berlinerin an, „da haben Sie ja Ihren Chefs ein ganz schönes Ei gelegt.“

Ihr Boss lachte gequält auf. „Eines? Mit den ganzen Eiern könnte man Reihen von Schließfächern füllen.“

„Es bleibt mir leider nichts weiter übrig, als Ihnen für diese Aktion einen strengen mündlichen Verweis zu erteilen.“

Bianca nickte betroffen. „Ich möchte aber gleich anmerken, dass meine Kollegin Anne Pohl absolut nichts damit zu tun hatte. Herr Himmelreich auch nicht.“

Frau Graf lächelte sie an. „Dass Sie jetzt auch noch alles auf Ihre Kappe nehmen, entspricht Ihrem Profil, was wir uns in Berlin von Ihnen zusammengebastelt haben.“

Bianca sah sie skeptisch an. „Ein Profil? Wird das von jedem gemacht, der rausgeschmissen werden soll?“

„Nein. Das machen wir nur von Leuten, von denen wir meinen, dass sie für speziellere Aufgaben geeignet sind, als im Bahnhofsservice zu versauern.“

Bianca zog die Stirn kraus. „Sehe ich vielleicht versauert aus?“

Frau Graf wehrte entschieden ab. „Absolut nicht. Im Gegenteil. Sie machen auf äußerst kreative Art und Weise einen tollen Job.“

Der Betriebsratskollege wurde unruhig. „Ein ‚Sie machen auf sehr kreative Art und Weise Ihren Job‘ ist die kleine Schwester von ‚Sie sind für Ihren Arbeitgeber unberechenbar‘. Wenn dieser Satz im Zeugnis steht, dann kann man sich aufhängen.“

Frau Graf schüttelte energisch den Kopf. „In diesem Falle hätten Sie recht, Herr Schramm, aber ich meine das wirklich positiv, für Ihren Arbeitgeber geradezu wertvoll. Das kommt auch in kein Zeugnis.“

„Okay“, Schramm zuckte mit den Achseln, „wenn dem so ist, wozu bin ich dann hier? Normalerweise werde ich von den Oberen immer nur zu solchen Gesprächen gebeten, die eine Entlassung nach sich ziehen. Das, was Sie sagen, hört sich aber nicht danach an. Kann ich den Anwalt für Frau Trapp also wieder abbestellen?“

„Tun Sie das“, bekräftigte Frau Graf ihr Dementi. „Ich möchte Frau Trapp auch nicht an den Karren fahren, sondern sie um ein Versetzungsgesuch bitten.“

Ulf Schramms Gesicht wurde ernst. „Ich denke, dass es in Herrn Himmelreichs Abteilung genug Mitarbeiter gibt, denen so ein ‚Angebot‘ schon längst von Ihnen hätte unterbreitet werden müssen.“

Frau Graf nickte freundlich. „Wir sind unter uns, also nennen wir das Kind beim Namen. Sie meinen Herrn Boche?“

Schramm nickte grimmig. „Aber hallo.“

Jetzt übernahm Himmelreich. „Kollege Schramm, ich kann Ihre Entrüstung nachvollziehen. Ihre Anregung kommt aber zu spät. Nach einem kurzen, aber konstruktiven Gespräch hat Herr Boche heute als einer der älteren Beamten aus gesundheitlichen Gründen um seine Versetzung in den Ruhestand ersucht. Dem wurde umgehend nachgekommen. Er hat seinen Spind geräumt und bummelt nun bis zur Pensionierung Überstunden ab.“

„Wenigstens eine gute Nachricht“, fuhr Bianca fort. „Und nun soll ich Boches Job übernehmen?“

„Nee, Bianca, das wären Perlen vor die Säue geworfen.“

„Wie kann ich das verstehen? Sucht die Bahn jetzt in meiner Person die jüngste Frührentnerin des Betriebes?“

„Nein, im Gegenteil.“ In einem Krimi hätte sich Frau Graf in diesem Augenblick vorsichtig umgesehen, um sicher zu sein, dass ihr niemand zuhören konnte. „Ihr großer Jugendtraum war es, zur Polizei zu gehen.“

Bianca nickte. „Wenn ich da nicht hätte vorturnen müssen.“

„Jetzt könnte ihr Traum wahr werden. Wir brauchen Sie und Ihre Fähigkeiten in einer Spezialabteilung.“

„Soll ich vielleicht Schwarzfahrer jagen?“

Frau Graf schüttelte energisch den Kopf. „Das kann jeder Depp.“

„Moment mal“, kam der Protest von der Betriebsratsseite. „Gegen diese Äußerung protestiere ich aber aufs Schärfste.“

„Ist akzeptiert“, lächelte Frau Graf ihn an.

„Und was ist das für eine geheimnisvolle Spezialabteilung?“, erkundigte sich Bianca.

„Eine Abteilung, die einen ähnlichen Status wie die alte Bahnpolizei hat, aber mehr die Aufgaben einer betriebseigenen Kripo übernehmen soll.“

Himmelreich wirkte skeptisch. „Sie meinen demnach, Straftäter zu entlarven, die vollgeschissene Windeln in Schließfächern deponieren?“

„Nein. Das wäre im wahrsten Sinne des Wortes Kinderkacke.“

„Was sind das denn dann für Fälle?“

„Es verschwinden zum Beispiel jede Menge Gleise und Kabel, es werden Fahrkartenautomaten gesprengt, und es verschwinden sogar ganze Güterwaggons mit Ladung.“

Himmelreich glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. „Ganze Waggons? Einfach so, nach dem Motto: ‚Ich bin dann mal weg‘?“

„Leider genauso.“

Schramm entfuhr: „Das ist krass.“

Alle schwiegen für einen Moment und versuchten, die Tragweite dieser Tatsache zu erfassen.

„Aber das sind dann keine kleinen Gauner, sondern richtig heftige Kaliber.“ Bianca hatte einen Kripobeamten im Schützenverein und wusste, wovon sie sprach. „Die werden sich totlachen, wenn wir sie zur Personalfeststellung ins Vorsteherhäuschen bitten.“

„Das ist uns klar, Frau Trapp. Sie werden dementsprechend ausgebildet, bewaffnet und teilweise auch ‚undercover‘ unterwegs sein.“

Bianca lachte auf. „Ich und eine Knarre?“

„Warum nicht, Frau Trapp. Sie sind eine ausgezeichnete Schützin und Jägerin, haben alle Waffenscheine und was die Sportpistole betrifft, sind Sie eine Meisterschützin. Mit Ihrer Dienstpistole würde Sie die Bundespolizei vertraut machen. Und nicht nur damit. Die Beamten würden Sie in allem unterweisen, was Sie für Ihren neuen Job benötigen.“

Bianca war unschlüssig. „Und was befähigt mich aus Ihrer Sicht für diesen Job?“

„Sie haben, wie es sich vor allem auch bei dieser letzten Aktion erwiesen hat, einen gewissen Instinkt, Ungereimtheiten zu entdecken. Außerdem haben Sie den Mut, auch unkonventionelle Aktionen durchzuziehen. Vor allem kennen Sie sich durch Ihre vielen Dienstjahre in fast allen Sparten der Bahn aus. Was Sie sonst noch alles für diesen Job brauchen, das müssen Sie sich leider selbst beibringen, denn Sie und Ihre neuen Kolleginnen und Kollegen betreten Neuland.“

Bianca war hin- und hergerissen. Einerseits wäre das endlich mal wieder eine neue Aufgabe, andererseits aber drohten da noch Altlasten. „Ich nehme an, dass man für diesen Job ein makelloses Führungszeugnis braucht?“

Frau Graf zog die Stirn kraus. „Bringen Sie Licht in Ihre dunkle Seite, Frau Trapp. Welcher Oma haben Sie die Handtasche geraubt, und welche Bank haben Sie das letzte Mal überfallen?“

Bianca musste lachen. „So heftig war’s dann doch nicht. Ich habe mir aber vor kurzem einen Punkt wegen einer dusseligen Geschwindigkeitsübertretung eingefangen, und dann droht mir ja jetzt der Prozess wegen dieser unsäglichen Göre.“

Frau Graf öffnete ihre Aktentasche und zog ein Schreiben heraus. „Das müsste spätestens morgen bei Ihnen eintreffen. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen Sie eingestellt, und was die Klage gegen die Bahn betrifft, so werden wir Sie höchstens als Zeugin brauchen, aber Sie, als Bianca Trapp, sind aus der Sache raus.“

Ihr fiel ein Stein vom Herzen. „Okay, wenn ich durch diese Aktion einen ‚hochfalle‘, dann soll das so sein. Aber was wird aus Anne Pohl? Ich habe sie in die ganze Geschichte mit hineingerissen und kann sie jetzt nicht im Stich lassen.“

„Ich habe es Ihnen gesagt“, warf Himmelreich ein. „Die Kollegin lässt niemanden hängen.“

„Eine weitere Eigenschaft, die Sie für Ihren neuen Job qualifiziert. Was Ihre Kollegin betrifft, so ist sie momentan auf einem Lehrgang für Führungskräfte, da sie die Funktionsstelle des Kollegen Boche übernehmen wird.“

Bianca überlegte kurz und sah dann ihren alten Boss an. „Was ist ‚Cheffe‘? Sie kennen mich lange genug. Würden Sie mir dazu raten?“

„Ran an den Feind, Mädchen. Du bist ein kriminalistisches Trüffelschwein, und dieser Job ist genau das Richtige für dich. Sollten wir uns irren, dann kannst du jederzeit zu mir zurück. Versprochen!“

Bianca nickte entschlossen. „Na, dann wollen wir mal. Wo bitte geht’s zur Front?“

***

Gut drei Wochen später schlief sie im Hörsaal IV der Bundespolizeiakademie Lübeck bei Staatskunde fast ein.

In ihrem vierwöchigen Lehrgang waren bis auf einen Haufen junger Leute nur noch drei weitere Bahnmitarbeiter. Ein Lokführer aus Dresden, der auf den wunderbaren Namen Sergey Schüffelchen hörte und nach acht Jahren bei der Bundeswehr zur Bahn kam, ein Fahrdienstleiter aus Garmisch namens Xaver Mayerhuber, ebenfalls beim Bund gewesen, wie Schüffelchen auch bei den Feldjägern, und last but not least Thomas Jessen, ein Elektroingenieur, der nach seiner Bundeswehrzeit über ein duales Studium zur Bahn kam. Alle waren aus dem gleichen Jahrgang wie Bianca. Der Stoff, den sie zu lernen hatten, wäre eigentlich interessant gewesen, wäre er nicht von einem phonetischen Anästhesisten vermittelt worden. Was sie letztendlich wachhielt, war das Versprechen an Thomas, ihn ebenfalls am Einschlafen zu hindern. Thomas Jessen konnte es sich nicht schon wieder leisten, unangenehm aufzufallen, nachdem er beim gestrigen Schießtraining alles in der Halle gefährdete, nur nicht die Scheiben, die es zu treffen galt. Jetzt schlug aber gleich Biancas Stunde der Wahrheit. Sie musste zum Ausdauertest, und davor hatte sie Manschetten.

Eine Viertelstunde später war es dann so weit. Noch fühlte sie sich körperlich gut, aber sie stand ja erst an der Startlinie des Dreitausend-Meterlaufes. Gott sei Dank wusste sie Thomas an ihrer Seite. Eigentlich hätte dieser gertenschlanke Leichtathlet als Träger des goldenen Sportabzeichens gar nicht mitlaufen müssen. Er hatte jedoch mitfühlend ihre ängstlichen Blicke bei der Eröffnung des Sporttests bemerkt, und so beschloss er, für sie das Zugpferd zu sein. Für ihn, als Langstreckenspezialist, war das kein Problem.

„Nun mach dich nicht schon vorher verrückt. Nach fünfhundert Metern hast du dich eingelaufen und dann geht alles wie von selbst. Du musst nur deinen Rhythmus finden. Beim dritten Kilometer beginnt der Kampf gegen den Schweinehund, aber den gewinnst du. Ich bin ja bei dir.“