8,99 €
Die Patentochter des amerikanischen Präsidenten – ermordet auf der Leuchtturminsel Auf Smögen hat der Herbst Einzug gehalten. Karl Ström, der als Fallanalytiker bei der Kriminalpolizei arbeitet, entdeckt eine weibliche Leiche auf der kleinen Insel Hållö. Die Identität der Toten ist besonders brisant – es handelt sich um Tricia Andersen, die Tochter des amerikanischen Botschafters und Patentochter des amerikanischen Präsidenten, die an einem Kunstkurs hätte teilnehmen sollen. Dennis Wilhelmson und Sandra Haraldsson von der Polizei Kungshamn beginnen zu ermitteln und stehen unter Druck, da sich der Präsident selbst einschaltet. Ins Fadenkreuz der Ermittlungen gerät ausgerechnet Karl Ström. Was hat er zu verbergen, und warum hat gerade er die Polizei zu der Leiche geführt?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 361
Zum Buch
Um ungestört an einem neuen Fall zu arbeiten, zieht sich Karl Ström auf die Felseninsel Hållö zurück. Doch als er spätabends einen Spaziergang macht und die Leiche einer jungen Frau entdeckt, ist es schlagartig vorbei mit der Ruhe. Die Identität der Toten sorgt für immensen Presserummel und macht den Fall zur absoluten Priorität – nicht zuletzt, weil sich das Weiße Haus einschaltet. Dennis Wilhelmson und Sandra Haraldsson werden an den Tatort gerufen, um die Ermittlungen voranzutreiben, und schon bald wird Karl Ström durch eine Reihe von Indizien zum Hauptverdächtigen. Welche Verbindung hatte er zu der jungen Frau? Während er verzweifelt versucht, seine Unschuld zu beweisen, stößt das Polizeiduo am alten Leuchtturm auf weitere Hinweise …
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem TitelFyrmästaren bei MiMa, Stockholm.
© by Anna Ihrén © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Umschlaggestaltung von zero-media.net, München Umschlagabbildung von Jeppe Gustafsson / Alamy E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749904136
www.harpercollins.de
Danke!
Mama
&
allen Frauen auf den schwedischen Leuchttürmen
Wellen spülten über die Reling, Gischt sprühte ihr ins Gesicht. Sie kam aus einer Welt, in der Liebe keine Rolle spielte. Eine Liebesheirat war undenkbar. Ihren Auserwählten hatten andere für sie ausgesucht – unter finanziellen und gesellschaftlichen Erwägungen. Und was das anging, war er ein Volltreffer. Ihre Eltern besaßen Ämter. Seine Geld. A perfect match! Alle waren zufrieden – nur sie nicht.
Ihr Herz würde nie vollständig heilen können, aber es würde verhärten, bis der Schmerz als Narbe in ihrem Inneren zurückbliebe. Vielleicht hätte sie leben können, ohne das Einzige, was sie sich vom Leben wünschte. Doch dann hatte sich eine Möglichkeit aufgetan. Eine Möglichkeit, die sie nicht ungenutzt hatte lassen können, die ein Teil von ihr geworden war. Ein Glücksrausch durchströmte sie. Diesen Schritt würde sie niemals bereuen, und sie würde den stillen Triumph genießen, dass niemand die wahren Zusammenhänge je erfahren würde. Nicht einmal das Kind, das in ihr heranwuchs und das sie schon jetzt mehr liebte als sich selbst. Eigentlich hatte sie alles, was sie sich erträumt hatte. Bis auf eine einzige Ausnahme. Aber wenn sie dazu gezwungen war, würde sie lernen, ohne die Erfüllung dieses Traums zu leben.
Sie hielt ihr Gesicht in den auffrischenden Wind. Doch irgendetwas stimmte nicht. Jemand drängte sie gegen die Reling, packte ihre silberne Halskette und schnürte ihr die Luft ab. Sie wehrte sich nach Kräften, sie kämpfte nicht nur um ihr eigenes Leben. Aber die Kette zog sich immer enger um ihre Kehle. Sie sackte aufs Deck.
Die Hållöfähre glitt am Smögen-Kai entlang aus dem Hafenbecken. Die Hand am Navigationspanel, musterte Kapitän Bertil die drei Frauen, die vorne im Bug saßen und sich gegenseitig mit ihren Handys fotografierten.
»Ich bin so froh, dass es geklappt hat«, hörte er Katrin jubeln. Bertil wusste, wer sie war. Ihr Vater saß im Vorstand des Hållöer Leuchtturmvereins. »Ich dachte schon, wir finden nie ein gemeinsames freies Wochenende.«
»Jetzt hat es ja geklappt.« Pia zupfte ihre Frisur zurecht, die der Seewind jedoch augenblicklich wieder zerzauste.
»Machst du ein Foto von mir?« Annelie drückte Pia ihr Handy in die Hand.
»Guck doch nicht wie sieben Tage Regenwetter!«, forderte Pia sie auf. »Leg den Kopf zur Seite und lächele mal. Ja, genau so. Wir wollen doch zu keiner Beerdigung.«
Annelie gab sich alle Mühe zu lachen, aber man sah ihr an, dass ihr die Scheidung zu schaffen machte. Ihr Mann Anders und sie lebten seit einem Jahr getrennt.
Routiniert navigierte Bertil zwischen Untiefen und Sandbänken hindurch. Wenn der Sund glatt wie ein Spiegel dalag, waren die Gefahren, die vor Smögen unter der Wasseroberfläche lauerten, leicht auszumachen, doch bei starkem Seegang waren sie – zumindest für ein ungeübtes Auge – schwer zu entdecken. Bertil liebte es, Smögen und kurz darauf Kungshamn vom Wasser aus zu betrachten. An diesem Anblick würde er sich niemals sattsehen. Schon als kleiner Dreikäsehoch war er in den Sommermonaten von morgens bis abends auf der Fähre zwischen Hållö und Smögen hin- und hergefahren. Zuerst an der Seite seines Vaters, dann hatte er selbst das Steuer übernommen. Den Rest des Jahres beförderte er gebuchte Reisegruppen wie dieses Trio. Auch Ende Oktober kamen noch Touristen nach Hållö und quartierten sich ein, zwei Nächte in der Jugendherberge »Utpost« ein. Dies war seine vorletzte Tour für heute. Dann wartete seine Frau zu Hause mit dem Essen auf ihn. Freitags kaufte sie immer Köstlichkeiten aus Göstas Fischtheke, allein beim Gedanken daran stieg Bertil der aromatische Duft von frischen Hummerschwänzen in die Nase. Dieses Freundinnengespann würde er in zwei Tagen wieder abholen. Insgeheim fragte er sich, ob sie sich wohl so lange vertragen würden. Gestern hatte er ein Künstlerehepaar nach Hållö gebracht, das dort einen Wochenendmalkurs ausrichtete. Doch in Anbetracht des Alkoholvorrats, den er in dem Gepäck der drei vermutete, konnte daraus durchaus ein feuchtfröhliches Gelage werden. Er hatte ihre modischen Reisetaschen der Reihe nach an Bord gehievt, und wenn das Klirren nicht von Saftflaschen gekommen war, musste man nicht bis zwei zählen, um auszurechnen, dass das beträchtliche Gewicht von Spirituosen herrührte.
»Wann kommt Trish?«, fragte Annelie in diesem Moment.
»Sie ist bestimmt schon da. Die Luxusjacht von ihrem Daddy ist schließlich kein tuckernder Schärendampfer«, antwortete Katrin.
»Kann sie eigentlich nie wie wir Normalsterbliche reisen?«, fragte Pia.
»Du meinst, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln?«, erwiderte Katrin. Die drei prusteten im Chor los, und mit einem Mal schien das Eis zwischen ihnen gebrochen zu sein. Zwei Tage lang würden sie ihre Alltagssorgen vergessen, Beruf und Verpflichtungen hinter sich lassen, ausschlafen, gemeinsam lachen und bei einem Glas Wein die Seele baumeln lassen, davon war Bertil überzeugt. Sobald diese Trish zu ihnen stieße, wäre ihr Quartett komplett.
Wenn sich die herbstliche Dunkelheit auf Sotenäs herabsenkte, kam es Dennis manchmal so vor, als wäre das Tageslicht nur eine flüchtige Flause des Sommers gewesen. Im künstlichen Leuchtstoffröhrenlicht des Kungshamner Polizeireviers machte er sich selten Gedanken darüber, aber Dunkelheit und Helligkeit waren entscheidende Stimmungsfaktoren. Der Tageslichtmangel schlug ihnen allen aufs Gemüt. Er hoffte, dass das gemeinsame Afterwork heute Abend Sandras Laune wieder ein wenig hob.
»Was für ein beschissener Sturm da draußen«, murrte die wie aufs Stichwort und zog ihre Strickjacke enger um sich.
»Du fluchst wie ein Kesselflicker«, sagte Dennis.
»Woher stammt diese Redensart eigentlich?«
Dennis antwortete nicht.
Sie saßen in Göstas Fischbistro an einem Fenstertisch. Es regnete, und der Wind peitschte heftige Böen gegen die Scheiben.
»Bald ist schon November«, seufzte er.
»Für dich wohl eher Movember«, erwiderte Sandra. »Lässt du dir dieses Jahr wieder einen Oberlippenbart stehen? Mit Schnauzer siehst du aus wie eine Schießbudenfigur.«
»Es gibt Frauen, die das mögen«, verteidigte sich Dennis. »Nimmst du Fish und Chips?«
»Ja, wie immer.«
»Wein oder Bier?«
»Ein Glas Weißwein.«
»Bist du sauer?«
»Nein.«
»Warum bist du dann so kratzbürstig?«
»Ich bin nicht kratzbürstig, sondern einfach nur müde.« Sandra gähnte gekünstelt.
»Müde?«
»Mmh.«
Dennis gab ihre Bestellung bei einem Kellner auf. »Ist was nicht in Ordnung?«, fragte er dann.
»Nein, aber im Augenblick liegt in Kungshamn mal wieder der Hund begraben. Ich hatte so auf diese Stelle in Göteborg gehofft.«
»Du kriegst eine neue Chance, ganz bestimmt. Camilla Stålberg liebt dich, das ist glasklar. Vielleicht weil du so zuckersüß und zum Anknabbern bist.«
»Hör auf.«
»Hör du auf, dich wie eine Kratzbürste zu benehmen!«
»Ich frage mich nur, wie ich es bis Weihnachten mit dir und Stig im Revier aushalten soll.«
»Jetzt werd nicht auch noch boshaft.«
»Zum Glück habe ich ja noch Helene«, sagte Sandra.
Bevor Dennis etwas erwidern konnte, brachte der Kellner ihre Bestellung. Nach ein paar Bissen vom knusprig ummantelten Backfisch mit hausgemachter Mayonnaise und einigen Schlucken Weißwein hellte sich Sandras Miene auf.
»Tut mir leid. Wenn mein Blutzucker …«
»Jaja, davon kann ich ein Lied singen. Schön, dass er sich wieder eingependelt hat. Gutes Essen bewirkt wahre Wunder. Eigentlich ist es ziemlich einfach, dich glücklich zu machen.«
»Sei dir da nicht so sicher.«
»Bei dir bin ich mir nie sicher.« Dennis’ Handy summte. Eine SMS von seiner Schwester, die ihn daran erinnerte, dass er versprochen hatte, die Kinder zu hüten, während sie zu ihrem Yoga-Kurs ging. Dennis hielt die Luft an. Das hatte er total verschwitzt, und offen gestanden hatte er ein bisschen Bammel davor, allein auf Theo und Anna aufzupassen. Er würde Sandra bitten, ihm ein bisschen unter die Arme zu greifen. Wenn sie mitkäme, könnten sie anschließend weiter zum Erzählabend auf Hampholmen, zu dem er sie eingeladen hatte.
»Ist es okay, wenn wir vor dem Erzählabend noch bei meinem Schwesterherz vorbeischauen und ein Stündchen auf Theo und Anna aufpassen?«, fragte er.
»Nichts lieber als das«, erwiderte Sandra, schickte ihrem sarkastischen Tonfall aber rasch ein Augenzwinkern hinterher.
Dennis seufzte innerlich. Manchmal raubte Sandra ihm den letzten Nerv. Aber trotz allem machte mit ihr zusammen die Arbeit mehr Spaß. Das bildete er sich jedenfalls ein.
Auf Hållö war der Wind deutlich stärker. Erleichtert registrierte Katrin die mollige Wärme, die ihr entgegenschlug, als sie die Eingangstür der Jugendherberge aufzog. Als Küstenkind war sie an raue Seestürme gewöhnt. Auch Kälte machte ihr nichts aus. Für sie gab es kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung. Sie packte sich dick ein und genoss die plötzlichen Wetterumschwünge, die Leute, die nicht von der Küste stammten, buchstäblich aus heiterem Himmel überraschten. Ihre Freundinnen waren nicht so abgehärtet wie sie. Annelie hatte schon auf der Fähre wie Espenlaub gezittert.
»Ich kriege das Zimmer neben der Küche«, verkündete Pia. Als passionierte Köchin ließ sie es sich auch diesmal nicht nehmen, für ihr leibliches Wohl zu sorgen. Doch sobald das Essen fertig war, würde sie brüllen wie eine zornige Bärin, wenn sie nicht augenblicklich anträten, um den Tisch zu decken und sich um selbigen zu versammeln.
»Wann wollen wir essen?«, fragte Katrin. »Können wir vorher noch einen Spaziergang machen?«
»Geht ruhig«, sagte Pia. »Ich bereite alles vor. Sollen wir sechs Uhr sagen? Bis dahin beehrt uns Trish vielleicht auch mit ihrer Anwesenheit.«
Katrin und Annelie brachten ihre Taschen auf ihre Zimmer, rüsteten sich mit Mützen und Schals aus, dann gingen sie in die raue und erfrischend salzige Seeluft hinaus. Draußen begann es zu dämmern, und Hållös Wahrzeichen und ganzer Stolz – der rot-weiße Leuchtturm, dessen Signalfeuer Schiffe seit 1842 sicher durch das trügerische Fahrwasser der Göteborger Schären lotste – war lediglich als Silhouette zu erkennen.
Unter der Wolkenbank, die wie eine schwere Decke über ihnen hing, glühte ein roter Feuerball. Wie aus dem Nichts war die untergehende Sonne am Horizont aufgetaucht.
»Wunderschön.« Annelie blieb verzückt stehen.
»Möchtest du das Marmorbecken sehen? Diese wunderschöne Badebucht?« Katrin kannte jeden Stein auf der Insel. Ihr Vater saß im Vorstand des Hållöer Leuchtturmvereins, von ihm hatte sie auch den Tipp mit dem Malkurs bekommen. Die Merlins, das Künstlerehepaar, das den Kurs ausrichtete, war ihnen allen auf Anhieb sympathisch gewesen. Keiner von ihnen hegte Ambitionen, der nächste weibliche Picasso zu werden, aber der Gedanke, etwas Neues auszuprobieren und den Tag anschließend gemeinsam bei gutem Essen und einem Glas Wein ausklingen zu lassen, war ihnen unwiderstehlich erschienen. Und jetzt hatte es endlich geklappt. Nach einem gemütlichen ersten Abend würden sie morgen Vormittag nach dem Frühstück ihre Talente an der Staffelei erproben.
Victorias und Björns Wohnzimmerfußboden verschwand unter einem Tohuwabohu von Spielsachen. Jeder Quadratzentimeter war mit Legosteinen, Hawaiiblumengirlanden, Matchboxautos und Monsterreifen-Trucks in allen nur denkbaren Größen übersät. Theo und Anna saßen in der Küche am Tisch und ließen sich Spaghetti mit Hackfleischsoße schmecken – mit dem ganzen Gesicht. Die weiße Wachstuchtischdecke war rund um ihre Teller genauso orange wie ihre Münder und Wangen.
»Ah, da seid ihr ja!«, rief Victoria, als Dennis und Sandra hereinkamen. »Mein Yoga-Kurs fängt in einer halben Stunde an, ich muss los.« Ohne ein weiteres Wort drückte sie Sandra Annas Löffel in die Hand.
»Ich glaube, ich hätte besser einen Ganzkörperoverall anziehen sollen«, seufzte die und blickte an ihrem Mantel hinab.
»Übung macht den Meister«, bemerkte Dennis oberschlau und setzte sich neben Theo, der allein aß, was jedoch nicht hieß, dass seine Spaghetti immer da ankamen, wo sie sollten. »Wenn du Anna fütterst und den Tisch abwischst, mache ich im Wohnzimmer klar Schiff.«
»Einverstanden«, stimmte Sandra zu. »Allerdings mit umgekehrter Aufgabenverteilung.« Sie gab Dennis Annas Löffel und ging erst einmal in den Flur, um ihren Mantel aufzuhängen. Kurze Zeit später war der Wohnzimmerfußboden wieder zu sehen, und Annas und Theos Gesichter waren von Hackfleischsoße befreit. Auch die Wachstuchtischdecke hatte ihr ursprüngliches Weiß zurück – dank einer ganzen Packung Feuchttücher.
Theo und Anna stürmten zu ihrer Legokiste. Sobald alle Steine ordentlich an einem Platz lagen, stand sie wieder hoch im Kurs. Aber am meisten Spaß machte es, die Kiste mit ohrenbetäubendem Getöse auszukippen. Und fünf Minuten später war von Sandras Aufräumaktion nichts mehr zu sehen.
»Kinder können ganz schön anstrengend sein«, stöhnte sie.
»Eine Stunde werden wir schon überstehen«, sagte Dennis.
»Dein Wort in Gottes Ohr.« Sandra ließ sich aufs Sofa fallen. Das Essen bei Gösta und der Wein hatten sie müde gemacht. Theo und Anna krabbelten zu ihr auf die Couch, krochen unter ihre Arme und schmiegten ihre Köpfe auf ihren Bauch. Kurz darauf waren alle drei eingeschlafen.
Dennis angelte sein Handy aus der Hosentasche und checkte seine Dienstmails. Weder Helene noch Stig hatten irgendwelche besonderen Vorkommnisse gemeldet. Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und betrachtete die drei schlafenden Gestalten. So ein Familienleben würde ihm gefallen. Wie er allerdings die richtige Partnerin für das Projekt Familiengründung finden sollte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Bisher waren seine Bemühungen auf diesem Gebiet recht kläglich verlaufen, und manchmal fragte er sich, was mit ihm nicht stimmte.
Sein Diensttelefon klingelte und riss ihn aus seinen Grübeleien. Eine unbekannte Nummer.
»Dennis Wilhelmson, Polizei Kungshamn«, meldete er sich.
»Johanna Dahlström. Es tut mir leid, wenn ich störe, aber ich möchte einen Einbruch in meinen Laden melden. Mir gehört das Süßwarengeschäft auf Smögen.«
»Das Süßwarengeschäft in der Sillgatan?«
»Ja, genau.«
Der Süßwarenladen neben dem Surfer’s Inn war bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebt. Wider besseres Wissen nahmen die Beine nach einem Spaziergang über den Smögen-Kai ganz von selbst Kurs auf den verführerischen Naschtempel.
»Ich komme.« Dennis legte auf und eilte zur Tür.
»Passt du kurz allein auf die Kinder auf, Sandra?«, rief er über die Schulter. »Ich bin gleich wieder da.« Auf der Veranda stieß er auf Victoria, die ihn verblüfft ansah.
»Ein Einbruch«, erklärte er. »Es dauert nicht lange, und Sandra kommt gut ohne mich klar.«
Auf Victorias Stirn bildete sich eine skeptische Falte, aber sie ließ ihren Bruder vorbei.
Wahrscheinlich wirkte das glasklare Wasser des Marmorbeckens um diese Jahreszeit weniger einladend als im Sommer, dachte Annelie. Aber von der ungewöhnlich klaren Sicht auf den hellen Sandboden ging ein eigentümlicher Reiz aus. Sie konnte die magnetische Anziehungskraft verstehen, von der die Sommertouristen schwärmten. Katrin hatte oft von wolkenlosen und windstillen Tagen erzählt, an denen diese kleine Felseninsel von Naturliebhabern aus aller Welt bevölkert war. An einem Besuch des Leuchtturms und des Marmorbeckens kam niemand vorbei, aber auf Hållö gab es auch Gletschertöpfe und Orte, die während des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle gespielt hatten. Annelie hatte keine Ahnung, ob die Zeit für all diese Ausflugsziele reichen würde. Aber die historischen Schauplätze lockten sie jedenfalls mehr als ein Bad in der herbstlichen Ostsee. Zähneklappernd sah sie dabei zu, wie Katrin sich aus ihren Kleidungsschichten schälte.
»Nimmst du meine Sachen mit?«, lachte die, als sie Annelies entsetztes Gesicht sah. »Wir treffen uns unten am Strand.« Die Badestege waren schon abgebaut, aber Katrin tauchte unbekümmert mit einem vollendeten Kopfsprung von einem Felsvorsprung ins eiskalte Nass. So schnell sie konnte, kletterte Annelie über die Klippen zu dem schmalen Kieselstrand unten in der Bucht. Während Katrin ans Ufer kraulte, pellte sie sich aus der obersten Schicht ihres Zwiebellooks.
»Hier. Trockne dich mit meinem Pulli ab«, sagte sie, als ihre Freundin aus dem Wasser stieg. »Du bist verrückt«, fuhr sie fort. »Ich frage mich, wann dich endlich jemand zur Vernunft bringt. Wir gehen stramm auf die vierzig zu.« Katrin schnitt eine Grimasse und schüttelte sich das Wasser aus ihren langen dunklen Haaren. Für sie war Alter nur eine Zahl, die nicht einmal bei der Wahl ihrer Partner eine Rolle spielte. Ob die Männer jünger oder älter waren als sie, kümmerte sie herzlich wenig.
»Es war herrlich«, jubelte sie. »Aber jetzt kann ich einen Whisky vertragen, und Pia wartet bestimmt schon mit dem Essen auf uns.«
Als Katrin sich angezogen hatte, liefen sie zur Jugendherberge zurück. Das war mal wieder eine von Katrins typischen Selbstinszenierungen, dachte Annelie. Sie fand immer einen Weg, sich in den Vordergrund zu spielen. Wahrscheinlich würde sie nie erwachsen werden. In diesem Moment vibrierte ihr Handy in der Hosentasche. Bestimmt Anders, der wissen wollte, wo die Winterpullis der Kinder lagen. Obwohl sie inzwischen getrennt lebten, fragte er sie bei jeder Kleinigkeit um Rat, wenn die Kinder bei ihm waren. In den letzten Tagen war es deutlich kälter geworden. Schon bald würde klirrender Nachtfrost die Pflanzen erfrieren lassen, die während des ungewöhnlich warmen Herbstes noch einmal aufgeblüht waren, als stünde der Frühling und nicht der Winter vor der Tür. Sie warf einen Blick auf das Display. Aber die Nachricht kam nicht von Anders, sondern von Pia, die in Großbuchstaben textete, dass das Essen so gut wie fertig sei, und fragte, wann die Grazien zu erscheinen gedächten. Schnell schrieb Annelie zurück, dass sie in zwei Minuten da seien. Hoffentlich hatte Pia ordentlich aufgetischt. Der Tag im Büro war stressig gewesen, und nach der Arbeit hatte sie sich abgehetzt, um die Fähre zu erreichen. Sie hatte seit dem Mittagessen nichts mehr in den Magen bekommen und war dementsprechend ausgehungert.
Ihre blonden Locken wehten im Wind und kitzelten ihre Wangen. Lachend kontrollierte Hedvig den Sitz ihrer Haarschleife. Dann nahm sie ihren jüngeren Bruder bei der Hand und ging mit ihm über den Steg die Klippen hinauf. Ihre Mutter, die mit der kleinen Ingeborg auf dem Arm vorausging, drehte sich um und schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Ihr kleiner Bruder kannte die Gefahren noch nicht, die vom Meer und den steilen Felsen ausgingen.
»Ist die Insel jetzt unser neues Zuhause?«, fragte Hedvig, als sie Mutter einholte, die oben am Klippenkamm wartete.
Ihre Mutter nickte lächelnd. »Vater ist jetzt der Leuchtturmmeister von Hållö«, sagte sie stolz und ging mit schwingenden Rocksäumen weiter, die bei jedem Schritt über die rosafarbenen Granitfelsen strichen.
»Wohnen wir im Leuchtturm?«, rief ihr älterer Bruder, während er im Galopp an ihnen vorbeisauste.
»Nein, dort drüben!« Mutter deutete auf das größte der roten Häuschen, die sich im Schutz einer Mauer um einen Innenhof gruppierten. Kinderlachen war zu hören. Das mussten die Kinder der Leuchtturmwärterfamilie sein, dachte Hedvig.
»Wo ist Vater?«, fragte sie.
»Er arbeitet schon im Leuchtturm«, antwortete Mutter. »Aber er kommt später zum Abendessen.«
Hedvig ließ ihren Blick über die weich geschwungenen Klippen und den rot-weißen Leuchtturm wandern. Ein schöneres Bauwerk hatte sie noch nie gesehen. Vater sagte, dass an der Spitze des Leuchtturms jede Nacht ein schutzverheißendes Licht brannte, das die Seeleute vor Gefahren bewahrte. Vater hatte auf Klövskär als Leuchtturmgehilfe und auf Väderöbod als Leuchtturmwärter gearbeitet, aber jetzt hatte er endlich eine Anstellung als Leuchtturmmeister bekommen! Als Vater und Mutter ihnen davon erzählt hatten, hatten Vaters Augen gestrahlt, und Mutter hatte wie ein junges Mädchen gekichert. Ab heute war sie die Frau des Leuchtturmmeisters von Hållö. Und Hedvig musste ihr beim Umzug helfen. Du bist jetzt ein großes Mädchen, hatte Mutter gesagt. Im Frühling wurde Hedvig sieben, dann würde sie auf Hållö in die Inselschule gehen. Das Klassenzimmer lag im Wohnhaus des Leuchtturmmeisters, hatte aber einen eigenen Eingang. In dem Klassenzimmer standen zwölf Schulbänke. Dort würden sie und ihr älterer Bruder unterrichtet werden.
In diesem Moment blieb Mutter vor dem Durchgang zum Innenhof des Leuchtturmdorfs stehen. Sie ging vor Hedvig in die Hocke und fasste sie sanft bei den Schultern.
»Von heute an heißt es du und ich, Hedvig«, sagte sie und sah Hedvig liebevoll an.
Hedvig nickte. Sie war nicht sicher, ob sie verstand, was Mutter meinte. Aber sie hatte gesehen, wie Mutter hochschwanger den Leuchtturm von Väderöbod betreut hatte, während Vater auf dem Festland Besorgungen erledigte. Also verstand sie vielleicht doch. Schon auf Klövskär hatte sie auf ihre jüngeren Geschwister aufgepasst und Mutter im Haushalt geholfen. Während die Kleinen schliefen, hatte sie die Böden gefegt, die Holzdielen geschrubbt und Makrelen ausgenommen. Ihr großer Bruder hielt sich von allen häuslichen Pflichten fern. Entweder spielte er draußen in den Buchten, half Vater beim Be- und Entladen des Bootes oder sammelte Heidekraut. Vielleicht wollte Mutter damit sagen, dass Hedvig die Einzige war, die sie bei ihren zahlreichen Pflichten ein wenig entlasten konnte, abgesehen von der Betreuung des Leuchtturms. Das konnten nur Vater oder Mutter erledigen. Hedvig straffte die Schultern und machte sich groß. »Mutter und ich«, sagte sie und lächelte stolz.
Mutter umarmte sie, dann ging sie mit zielstrebigen Schritten auf das Wohnhaus des Leuchtturmmeisters zu.
Love Hedberg schlüpfte in seine Jacke. Eigentlich verließ er die Wetterstation nur ungern, aber als die Frau, die sich als Pia vorgestellt hatte, überraschend angeklopft und ihn heute Abend in der Jugendherberge zum Essen eingeladen hatte, hatte er nicht ablehnen können. Der Inhalt seiner Freitagabend-Lunchbox versprach einen kulinarischen Genuss von in Sojasauce gewokter Pappe. Er liebte seinen Beruf, das Gefühl, allein – oder so gut wie allein – auf abgelegenen Außenposten zu sein, aber die Verpflegung ließ einiges zu wünschen übrig. Gerade war Schichtübergabe, und seine Kollegin Sofie löste ihn ab. Sie hatte ihn quasi davongejagt. »Geh und amüsier dich«, hatte sie gesagt, und er hatte widerstrebend eingewilligt, allerdings vor allem, weil er nicht wollte, dass sie ihn für einen eigenbrötlerischen Stubenhocker hielt.
Sofie Tidén war die Frau seiner Träume. Sie war Meteorologin, und die Liebe zum Beruf verband sie, aber im Gegensatz zu ihm trug sie ihr Herz auf der Zunge und sagte frei heraus, was sie dachte. Frauen wie Sofie sprach er normalerweise gar nicht an, außerhalb der Meteorologenwelt tat er sowieso kaum den Mund auf. Niemand verstand, worüber er redete, und außerdem setzte er kaum einen Fuß aus den Wetterstationen, auf denen er Dienst tat. Er wohnte, aß und arbeitete dort. Nach Hause zu seinen Eltern fuhr er nur zu Weihnachten, Ostern und Mittsommer, weil seine Mutter es wollte – damit sie ihren Freundinnen erzählen konnte, dass sie einen ganz normalen Sohn hatte, der gern nach Hause kam und Zeit im Kreis der Familie verbrachte. Er selbst wäre auch bei diesen Anlässen lieber auf der Wetterstation geblieben, aber an den Feiertagen tat er seiner Mutter den Gefallen. Jetzt kletterte er in der Dunkelheit routiniert über die vertrauten Klippen. Die Jugendherberge lag nur einen Steinwurf von der Wetterstation entfernt.
Als er die Eingangstür öffnete, schlug ihm eine anheimelnde Wärme entgegen wie von einem richtigen Zuhause. Es roch nach Rosmarin, gegrilltem Fleisch und Knoblauch. Auf einmal merkte er, wie hungrig er war.
»Willkommen, Love!«, schallte jetzt die Stimme seiner Gastgeberin aus dem Speisesaal, wo sich eine große Gesellschaft eingefunden hatte. Außer Pia kannte er niemanden, schüchtern gab er allen der Reihe nach die Hand.
»Wunderbar, jetzt sind wir vollzählig«, ergriff eine Frau, die sich als Katrin vorgestellt hatte, das Wort und erhob sich. »Ja, bis auf Trish. Aber wie heißt es so schön? Feine Leute kommen spät. Wie immer haben wir alte und neue Freunde um uns versammelt, und wie immer hat Pia für eine ganze Kompanie gekocht. Es ist genug für alle da. Esst, trinkt und lasst es euch schmecken! Wir sind hier auf Hållö, der Insel meiner Kindertage, zusammengekommen, um uns in den schönen Künsten unterweisen zu lassen.« Katrin drehte sich zu dem Künstlerehepaar, das sie an diesem Wochenende unter ihre Fittiche nehmen würde, und hob ihr Glas.
»Greift zu, guten Appetit!«, sagte Pia rasch. Offenbar befürchtete sie, dass Katrin mit ihrer Rede noch lange nicht am Ende war. Alle sahen hungrig aus, und Pia wollte anscheinend um jeden Preis vermeiden, dass das Essen kalt wurde. Love ließ sich nicht lange bitten. Er brach ein Stück frisches Baguette ab und tunkte es in Tsatsiki und köstlich duftende Tomatensauce mit Kalbfleischhackbällchen. Offensichtlich stand das Menü unter griechischen Vorzeichen. Wein benetzte die Kehlen, und es dauerte nicht lange, bis Love in dem anschwellenden Stimmengewirr kein Wort mehr verstand. Aber das Essen schmeckte ihm, und er griff mit Appetit zu. Entgegen seiner Gewohnheit trank er Wein, und auch zum griechischen Bier sagte er nicht Nein. An den morgigen Tag wollte er nicht denken. Aber Sofie, seine ungebändigte Wettergöttin, hatte versprochen, für ihn einzuspringen. Wie er es schon so oft für sie getan hatte. Vielleicht würde es ihm heute Abend gelingen, ein wenig mehr aus sich herauszugehen.
Das Süßwarengeschäft in der Sillgatan war das Traumziel aller Kinder. Ein Spaziergang über den Smögen-Kai, um sich die im Hafen liegenden Boote anzusehen, und dann Süßigkeiten. Zögernd trat Dennis hinter Sandra über die Schwelle. Die Inhaberin hatte Sandra und ihn ein ums andere Mal dabei beobachtet, wie sie Papiertüten mit Naschwerk füllten. In dem Moment, in dem Victoria von ihrem Yoga-Kurs zurückgekommen war, war Sandra vom Sofa aufgesprungen und ihm nachgeeilt. Er konnte sie verstehen, aber insgeheim hatte er gehofft, dass Sandra seine Schwester ein wenig bei der Kinderbetreuung unterstützen würde. Die beiden waren inzwischen richtig gute Freundinnen geworden.
»Danke, dass Sie so spät noch kommen«, sagte Johanna Dahlström, die beim Läuten der Türglocke aus einem Hinterzimmer kam.
»Was ist passiert?«, fragte Sandra. Ihre Stimme klang noch leicht verschlafen.
»Ich habe den Laden nur ganz kurz unbeaufsichtigt gelassen, um rasch etwas zu erledigen. Als ich nach höchstens zehn Minuten wiederkam, war die Kassenschublade weg.« Johanna Dahlström deutete auf eine altertümliche Registrierkasse, in der der Einsatz fehlte.
»Hatten Sie den Laden abgeschlossen?«
Johanna Dahlström senkte den Blick und schüttelte den Kopf.
»Ich habe die Tür offen gelassen. Im Herbst ist kaum etwas los. Bisher war das nie ein Problem.«
»Sind Sie auf dem Rückweg jemandem begegnet?«, fragte Dennis.
»Nein, ich habe jedenfalls niemanden gesehen. Ich war nur kurz bei Göstas Kiosk, um ein paar Zeitschriften zu kaufen.«
»Und einen kleinen Schwatz zu halten?«, hakte Sandra nach.
»Einen klitzekleinen«, gab Johanna Dahlström verlegen zu.
»Wenn Sie über unsere Webseite offiziell Anzeige erstatten, werden wir sehen, was wir tun können.«
»Das mache ich.«
»Möchten Sie noch etwas ergänzen?«, fragte Sandra.
»Nein – oder vielleicht doch. Außer mir waren noch drei andere Kunden bei Gösta. Zwei davon kenne ich. Sie heißen Olle und Casper. Aber den dritten Mann habe ich noch nie gesehen.«
»Wie sah der Mann aus?«
»Groß. Dichte dunkle Locken. Brille. Ein bisschen wie Professor Bienlein.«
»Der Professor aus Tim und Struppi?« Dennis bemühte sich, ein Grinsen zu unterdrücken.
»Ja.«
»Wir halten die Augen offen. Melden Sie sich bitte, falls Ihnen noch etwas einfällt oder Sie etwas Ungewöhnliches beobachten.«
»Das nächste Mal sollten Sie den Laden besser abschließen«, sagte Sandra beim Hinausgehen.
Johanna Dahlström nickte mit verkniffenen Lippen.
»Wir sollten uns auf den Weg nach Hampholmen machen«, sagte Dennis, als sie draußen auf der Straße standen.
»Ach ja, genau«, seufzte Sandra müde.
»Es gibt Wein und Meeresfrüchte-Häppchen. Das ist immer sehr nett.«
»Aber nur, wenn wir ein Taxi nehmen.«
»Wie du willst.« Dennis hielt auf den Taxistand vor Smögens Lebensmittelladen zu. Er hatte nicht vorgehabt, Sandra über die Smögenbrücke zu tragen.
Karl Ström saß im Bug der Hållöfähre und blickte aufs Meer hinaus. Der Kapitän stand schweigend auf der Kommandobrücke. Seine zusammengepressten Lippen signalisierten, dass er kein Interesse an einer Unterhaltung hatte. Dabei hatte Karl für diese Extrafahrt ein ordentliches Trinkgeld springen lassen.
Der Wind zerrte an seinen Locken. Gut möglich, dass er äußerlich nicht dem gängigen Klischee eines Fallanalytikers oder Wissenschaftlers entsprach, aber das waren die beiden Titel, mit denen er sich schmücken durfte. Gedankenverloren strich er über seinen Verlobungsring. Lisa hatte endlich Ja gesagt, und die Weißgoldringe waren perfekt gewesen. Sie hatten zwei tolle Jungs, Sam und Leo. Zwei wunderbare kleine Rabauken, die ihre ganze Energie forderten. Im Gegenzug für seine Auszeit von der Familie auf Hållö würde Lisa im Advent eine kleine Reise machen.
Karl verstand die Leute, die das Fernweh packte, aber er beschäftigte sich nach dem Familienleben am liebsten mit seinen Zahlen. Messen und analysieren und die Ergebnisse anschließend in Raster und Tabellen übertragen. Da war er in seinem Element. Und dass die Polizei und andere Auftraggeber von seinem – wie Lisa es nannte – »nerdigen« Workaholismus profitierten, war in seinen Augen purer Zufall. Lisa hatte ihn erst darauf gebracht, Wissenschaftler zu werden. Und der Professor für Kriminologie an der Universität Göteborg hatte ihn vom Fleck weg engagiert. Karls Sachverstand hatte an der Fakultät noch gefehlt, und Camilla Stålberg war einverstanden gewesen, dass er seine Vollzeitstelle bei der neu gebildeten Einheit für Computerforensik um fünfzig Prozent reduzierte, um sich in der übrigen Zeit universitären Forschungsaufträgen zu widmen. Die Aufträge generierten einen erklecklichen Nebenverdienst, und zusammen mit seinem Beamtengehalt konnten sie gut davon leben. Karl atmete tief ein und füllte seine Lungen mit frischer Meeresluft.
»Da braut sich ein ordentliches Unwetter zusammen«, sagte der Fährkapitän unvermittelt.
»Ach ja?«, erwiderte Karl und versuchte, einen Einstieg in das Gespräch zu finden.
»Sie sind meine letzte Tour. Dann stelle ich den Fährbetrieb bis Sonntag ein. Das heißt, wenn der Sturm bis dahin vorbei ist.«
»Es soll einen Sturm geben?«
»Den schlimmsten seit Urzeiten. Haben Sie das nicht mitbekommen?«
»Nein, das wusste ich nicht. Aber der Aufenthalt auf den Inseln ist doch nicht gefährlich?«
»Für die Seeleute auf dem Wasser ist es gefährlicher.«
»Ich kann ja im Haus bleiben.« Karl lächelte.
»Ja, bleiben Sie in der Radiostation«, sagte der Fährkapitän mit unbeweglicher Miene.
Im Zweiten Weltkrieg waren von der 1922 auf Hållö errichteten Radiostation geheime Funksprüche gesendet worden. Heute befand sich in dem historischen Gebäude die Inseljugendherberge. Karl hatte eines der größeren Mehrbettzimmer gebucht, und dort hatte er vor, rund um die Uhr zu arbeiten, bis die nächste Fähre ihn abholte. Lisa hatte ihm das Wochenende zugestanden. Sollte er seinen Aufenthalt ausdehnen müssen, würde er es als Arbeitszeit deklarieren. Der Gedanke, sich ungestört zurückzuziehen, gefiel ihm. Er benötigte nur noch ein paar Stunden, um das Puzzle zu vollenden, an dem er schon so lange tüftelte. Aber dafür brauchte er Ruhe und Frieden. Schon jetzt arbeiteten IT-Entwickler auf Grundlage seiner bisherigen Ergebnisse an einer Applikation zur Erkennung von Tatzusammenhängen, die DUO-ZWEI, das Datenbanksystem der schwedischen Polizei, effizienter machen würde als alle Programme zur Täteridentifizierung zusammen. Jeder kriminalistische Einzelfall, der dort eingespeist würde, ließe sich dann auf eine bislang nie dagewesene Weise mit den vorhandenen Daten abgleichen. Anhand von vier Parametern wie geografischer Tatort, Uhrzeit, Vorgehensweise, mutmaßliches Motiv oder anderen relevanten Faktoren würde das Programm den infrage kommenden Täterkreis im Bruchteil einer Sekunde filtern und auf weniger als vier Personen eingrenzen. Weltweit eingesetzt, würde Wiederholungstätern bald kein Schlupfloch mehr bleiben. Karl sehnte den Tag herbei, an dem er seine Entwicklung endgültig präsentieren konnte.
Auf Hållö angekommen, reichte ihm der Kapitän seine Tasche auf den Steg. Kalte Windböen fuhren ihm in die Glieder, und seine dicke Winterjacke kam ihm dünn wie Seidenpapier vor. Aber er würde ohnehin überwiegend im Haus sein. Der Kapitän deutete auf die hell erleuchteten Fenster der Jugendherberge.
»Die anderen sind schon da«, sagte er.
»Welche anderen?«, fragte Karl.
»Die Weiberwirtschaft!«, rief der Kapitän.
»Wie bitte?«
»Ein paar verrückte Frauenzimmer haben sich übers Wochenende in der Jugendherberge einquartiert. Ich soll sie Sonntag wieder abholen. Aber Sie können ihnen ausrichten, dass ich erst komme, wenn der Sturm vorbei ist.«
Lachend schulterte Karl seine Tasche und schritt auf die Jugendherberge zu. Er betrachtete die rosa Granitfelsen, die sich in der einsetzenden Dämmerung gräulich verfärbten. Auch jetzt waren sie schön, aber im Vergleich zum Sommer, wenn sie im Sonnenlicht blau und rosa leuchteten, wirkten sie ein wenig trist. Wenn der Sturm nicht allzu heftig über die Insel fegte, würde er später noch einen Spaziergang unternehmen. Er hatte eine neue Taschenlampe dabei, die er gerne testen wollte. Und das machte er am besten bei Dunkelheit. Außerdem stand ihm nicht der Sinn nach einer lauten Party vor seiner Zimmertür. Er war nach Hållö gekommen, um ein paar Tage nichts als Ruhe zu haben.
Inzwischen war es neunzehn Uhr. Das Ehepaar, das die Jugendherberge leitete, war nach achtzehn Uhr nicht mehr vor Ort und hatte seinen Zimmerschlüssel im Briefkasten neben der Eingangstür hinterlegt. Karl fischte ihn heraus und verschwand in seinem Zimmer, ohne die anderen Gäste zu begrüßen.
Aus dem Speisesaal stiegen ihm verführerische Essensdüfte in die Nase, aber er war kein Teil dieser Gruppe. Karl stellte seine Tasche ab und beschloss, seinen Spaziergang jetzt gleich zu machen. Der Fährkapitän hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass die momentane Windstärke im Vergleich zum aufziehenden Sturm lediglich ein laues Lüftchen war, und er wollte die Taschenlampe unbedingt ausprobieren. Er hatte sie extra wegen des Marmorbeckens gekauft.
Im historischen Eishaus auf Hampholmen herrschte das Stimmengewirr erwartungsvoller Einheimischer. Die Karten für die Erzählabende waren heiß begehrt und jedes Mal im Handumdrehen ausverkauft. Die hiesige Küstenbevölkerung schien nicht genug zu bekommen von Geschichten über ihre Vorfahren und die Landschaft, die sie geprägt hatte. Der heutige Abend stand im Zeichen der Bedeutung der Frauen auf den Leuchttürmen. Für gewöhnlich waren bei diesen Veranstaltungen die Männer in der Überzahl, doch dieses Thema hatte auch Frauen in den Herbstturm hinausgelockt. Hampholmen beschäftigte einen eigenen Fährmann, der die Besucher auf die Insel übersetzte. Seine Frau verwaltete das Eishaus und richtete dort ganzjährig Hochzeiten und andere Veranstaltungen aus. Mittlerweile erstrahlte das historische Gebäude wieder in seinem traditionellen gelben Anstrich, der es von den weißen Fischerhäuschen und den roten Bootsschuppen abhob.
Sandra und Dennis hatten einen Tisch in der Mitte des Saals zugewiesen bekommen, auf dem Meeresfrüchte-Häppchen und Weißwein parat standen. Auf einer Leinwand war eine Fotografie des Hållöer Leuchtturms zu sehen. Die aufgebauten Lautsprecher rauschten und knackten, doch kurz darauf brachte die Stimme der Erzählerin das Gemurmel im Saal zum Erliegen.
»Nur wenige wissen, welche Bedeutung die Ehefrauen der Leuchtturmbesatzungen beim Betrieb der Leuchttürme gespielt haben«, begann sie. Sie war die Tochter des letzten Leuchtturmmeisters von Hållö und hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Überlieferungen, Erzählungen und Fotografien einer entschwundenen Zeit zusammenzutragen. »Heute sind die Leuchttürme entlang der schwedischen Küsten unbemannt und haben in vielen Fällen ihre ursprüngliche Funktion verloren«, fuhr sie fort.
Sie erzählte, wie ihre Mutter ihren Vater bei der Arbeit unterstützt hatte, damit er sich zwischen den Wachen ausruhen und schlafen konnte. Von Mitternacht bis vier Uhr morgens übernahm sie die Wache und war nach ein paar Stunden Schlaf wieder auf den Beinen, um die im Laufe der Jahre immer größer werdende Familie zu versorgen. Wenn ihr Vater Besorgungen auf dem Festland erledigte, hatte sie den Leuchtturm oft mehrere Tage lang am Stück betreut.
Dennis warf Sandra einen Seitenblick zu. Sie hing gebannt an den Lippen der alten Dame. 1969 machte die Automatisierung des Hållöer Leuchtturms den Dienst des Leuchtturmmeisters überflüssig, und die Familie zog von der Insel weg. Ihr Vater habe diese Zäsur nie verwunden, sagte die alte Dame. Ein Spur Wehmut und Nostalgie schwang in ihrer Stimme mit. Eine Trauer über eine verlorene Zeit, als Menschen und ihre Arbeitskraft auf Außenposten gebraucht wurden und jeden Berufsstand eine spezifische Berufsehre auszeichnete.
Dennis schmunzelte. Als er Sandra eingeladen hatte, hatte sie sich zuerst gesträubt. Erst als er sagte, dass es auch ein Glas Wein gäbe, hatte sie eingewilligt. In diesem Moment vibrierte zum zweiten Mal an diesem Abend sein Diensttelefon. Schnell verließ er den Saal.
»Polizei Kungshamn«, meldete er sich.
»Jan Elofsson von der Küstenwache.«
»Aha. Hallo.«
»Auf Hållö wurde ein Leichenfund gemeldet. Eine tote Frau, im Marmorbecken. Ein Gast der Jugendherberge hat sie gefunden. Wir sind vor Ort und haben die Leiche aus dem Wasser geborgen.«
Elofsson, der seinen Rapport atemlos heruntergespult hatte, verstummte.
»Ist die Tote schon identifiziert?« Dennis entfernte sich einige Schritte vom Eishaus.
»Nein.«
»Gibt es eine Personenbeschreibung?«
»Zwischen fünfunddreißig und vierzig. Teure Kleidung. Das ist bisher alles.«
»Ist die Frau ertrunken, oder warum informiert ihr mich?«
»Es sieht aus, als ob sie erdrosselt wurde. Mit ihrer Halskette.«
»Okay.« Dennis blickte durch ein Fenster in den Vortragssaal, wo Sandra weiter fasziniert der Erzählung der Leuchtturmmeistertochter lauschte.
»Die genaue Todesursache steht noch nicht fest, aber alles deutet auf ein Verbrechen hin. Kannst du herkommen?« Elofsson klang jetzt ungeduldig. »Es besteht Sturmwarnung, und wir müssen bald einen sicheren Hafen ansteuern.«
»Und wie soll ich nach Hållö kommen?« Dennis war jetzt endgültig klar, dass sein gemütlicher Feierabend in behaglicher Wärme und bei einem guten Glas Wein ein Ende hatte.
»Bertil setzt dich mit der Fähre über. Er wartet schon am Steg.«
»Wie habt ihr ihn von Göstas Hummerschwänzen losgeeist? Wir haben seine Frau beim Einkaufen getroffen.«
»Seine Tochter ist eine Kollegin von uns. Sie hat ihn überredet«, erwiderte Elofsson trocken.
»Habt ihr Miriam Morten von der Rechtsmedizin informiert?«
»Ja, sie und Jesper Korp sind unterwegs.«
»Ihr Wasserträger.«
»Wie bitte?«
»Ich komme.« Dennis legte auf und drehte sich um.
»Kann ich daraus schließen, dass du mir dein Glas Wein überlässt?«, fragte Sandra. Sie war in der Pause nach draußen gekommen, um frische Luft zu schnappen.
»Auf Hållö wurde eine Frauenleiche aus dem Marmorbecken geborgen.«
»Ach du grüne Neune. Dann ist unser Feierabend wohl im Eimer?«
»Wie man’s nimmt. Du kannst hierbleiben. Wir sehen uns später auf Smögen.«
»Wenn der Sturm so heftig wird wie vorausgesagt, sitzt du nachher da draußen fest.«
»So schlimm wird es schon nicht werden, und wenn, dann muss ich die Seenotrettung um Hilfe bitten. Irgendwie komme ich schon zurück.«
»Dann bis später!«
Sandra kehrte in den Vortragssaal zurück. Ihre Körperhaltung ließ keinen Zweifel daran, was sie von seiner Entscheidung hielt. Aber er wollte nicht riskieren, dass sie beide auf Hållö strandeten. Falls etwas geschehen sollte, wurde Sandra auf dem Festland gebraucht. Heftige Windböen zerrten an seiner Jacke, als er zum Steg hinunterging. Bevor Dennis sein Diensttelefon in die Tasche zurücksteckte, warf er einen Blick aufs Display. Halb neun.
Karl Ström ließ sich auf die Bettkante sinken. Seine Hände waren zu Eisklötzen erstarrt, während er draußen in der Kälte auf die Küstenwache gewartet hatte. Sie hatten ihn gebeten, vor Ort zu bleiben, damit niemand den Fundort kontaminierte. Nicht einmal die Gäste der Jugendherberge hatte er kontaktieren dürfen, damit sie ihm eine Decke brachten. Das Risiko, dass sie zum Marmorbecken gelaufen wären, war zu groß. Nachdem die Küstenwache die Leiche aus dem Wasser geborgen hatte, war er über die Klippen zur Jugendherberge zurückgegangen. Die Musik und das fröhliche Stimmengewirr aus dem Speisesaal waren ihm unwirklich erschienen. Keiner der dort Versammelten wusste, was geschehen war. Gleichzeitig spürte er, dass sie es erfahren mussten. Vielleicht kannten sie die Frau. Aber es war nicht seine Aufgabe, sie zu informieren. In Kürze würde das Auftauchen eines Polizeibeamten der Partystimmung ein jähes Ende bereiten. Irgendjemand hatte an ihn gedacht und ihm einen Teller mit Häppchen ins Zimmer gestellt. Ein Gaumenschmaus. Verfroren und hungrig, wie er war, hatten das köstliche Essen und eine verhältnismäßig warme Dusche ihn schläfrig gemacht. Aber eine innere Rastlosigkeit hielt ihn wach.
In diesem Moment brach die Musik im Speisesaal abrupt ab. Eine Männerstimme murmelte etwas Unverständliches, die darauffolgenden Aufschreie waren durch die dünnen Wände jedoch deutlich zu vernehmen. Ein Polizist hatte das fröhliche Gelage beendet, und wahrscheinlich würde er die Anwesenden der Reihe nach befragen. Gehörte die tote Frau zu der Gruppe oder war sie eine Unbekannte, die von der Meeresströmung ins Marmorbecken getrieben worden war? Er war zu weit weg gewesen, um ihr Gesicht erkennen zu können. Aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass sie zu der Gruppe im Speisesaal gehörte. Bei dem Gedanken, Lisa oder den Jungs könnte etwas zustoßen, lief ihm ein eiskalter Schauder über den Rücken. Eine unfassbare Vorstellung. Das durfte niemals geschehen. Er würde es nicht überleben.
Heute Abend fehlte ihm die Kraft für noch ein Gespräch mit der Polizei, und er hoffte, dass seine Zeugenaussage, die ein Beamter der Küstenwache aufgenommen hatte, vorerst genügte. Alles, was er sagen konnte, war, dass er einen kurzen Abendspaziergang unternommen hatte, um sich das Marmorbecken mit seinem berühmten weißen Sandboden anzusehen. Da es schon dunkel gewesen war, hatte er seine neue Taschenlampe angeknipst. Obwohl sie nur neunundvierzig Kronen gekostet hatte, hatte die Leuchtstärke gehalten, was der Hersteller versprach. Er hatte den Lichtkegel über das Wasser schweifen lassen, und da hatte er die Leiche entdeckt. Der Beamte der Küstenwache hatte ihn skeptisch gemustert und argwöhnisch gefragt, warum er das Marmorbecken im Dunkeln mit einer Taschenlampe ausgeleuchtet habe. Karl war ihm die Antwort schuldig geblieben. Das Marmorbecken war neben dem Leuchtturm die größte Sehenswürdigkeit der Insel. Und die Taschenlampe trug er bei sich, seit das Päckchen vom Onlineversand eingetroffen war. Was hätte er sonst sagen sollen? Er hatte sich darauf gefreut, die Reichweite der Taschenlampe am Marmorbecken zu testen, und das Misstrauen des Mannes ärgerte ihn. Immerhin waren sie beide Polizisten.
Und jetzt wollte er nur noch seine Ruhe haben. Karl kroch unter die Bettdecke, griff nach einem der Bücher, die er mitgenommen hatte, und knipste die Leselampe an. Forschungsergebnisse – Effektive Methoden zum Erreichen von Entscheidungsträgern. Was für eine bizarre Gutenachtlektüre. Diesen Start ins Wochenende hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Er sehnte sich nach Hause zu Lisa und den Jungs. Lisa und er hatten vereinbart, dass sie nach dem Abendessen anrief, wenn sie Sam und Leo ins Bett gebracht hatte. Die Buchstaben verschwammen vor Karls Augen, und er konnte sich nicht konzentrieren. Hoffentlich rief Lisa bald an.
Auf dem Tisch im Speisesaal standen Wein- und Bierflaschen, halb volle Gläser verschiedenster Größe und mehr oder weniger leer gegessene Teller. Die Personen, die eben noch hier getafelt und getrunken hatten, hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Musik, Gesang und Gelächter waren verstummt. In der Jugendherberge hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Die Küstenwache war auf dem Weg nach Uddevalla, wo die Rechtsmedizinerin Miriam Morten wartete. Jemanden zu finden, der sie bei dem Unwetter nach Hållö brachte, hatte sich als Ding der Unmöglichkeit erwiesen.
Camilla Stålberg hatte ihn informiert, dass es sich bei der toten Frau um Tricia Andersen handelte, die in Stockholm wohnende Tochter des amerikanischen Botschafters, und Dennis wusste, dass sie in dieser Ermittlung gewaltigem Druck von oben ausgesetzt sein würden. Um jegliches Gespräch innerhalb der Gruppe zu unterbinden, hatte er alle Jugendherbergsgäste gebeten, auf ihren Zimmern zu warten, bis er sie zur Befragung holte. Dann hatte er in einem der freien Zimmer einen Tisch in die Mitte gerückt und zwei Stühle daran platziert. Inzwischen hatte er Pia, Katrin, Annelie, den Meteorologen der Hållöer Wetterstation und die Künstlerin Eva Merlin jeweils gut zehn Minuten lang vernommen, aber es hatte ihn keinen Schritt weitergebracht. Alle fünf hatten exakt dasselbe ausgesagt. Gegen achtzehn Uhr waren sie im Speisesaal der Jugendherberge zum Essen zusammengekommen und hatten weder etwas Verdächtiges gesehen noch gehört. Nur Annelie hatte für ein paar Minuten den Raum verlassen, um auf die Toilette zu gehen. Sie hatten den ganzen Abend ausgelassen gefeiert, und das einzig Ungewöhnliche war gewesen, dass ihre Freundin Tricia durch Abwesenheit glänzte und Karl Ström ihre Einladung, sich zu ihnen zu gesellen, ausgeschlagen und sich nach der Rückkehr von seinem Spaziergang auf sein Zimmer zurückgezogen hatte. Kurz darauf war Dennis erschienen und hatte sie informiert, dass Tricia tot aus dem Marmorbecken geborgen worden war.