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Andreas Winkelmann mal ganz anders: Lernen Sie den SPIEGEL-Bestsellerautor mit dem Auftakt seiner Campingkrimi-Serie von seiner cosy Seite kennen! »Mord im Himmelreich« ist der erste Band einer humorvollen Wohlfühlkrimi-Reihe rund um Verbrechen auf dem schönen Campingplatz Himmelreich. Es ermitteln der passionierte Camper und Hobby-Tatort-Kommissar Björn Kupernikus und die bezaubernde Künstlerin Annabelle Schäfer. Cosy Krimi mit tollem Setting und liebenswerten Figuren So hat sich der ehemalige Schauspieler Björn Kupernikus seinen Ruhestand nicht vorgestellt – oder vielleicht doch? Kaum hat er sich auf dem idyllischen Campingplatz Himmelreich gemütlich eingerichtet, muss er einen kleinen Hund retten, der auf einem Paddleboard mitten im See treibt. Kupernikus zieht das Tier ans Ufer – und mit ihm eine Leiche, die aufwendig unter das Board geschnallt ist. Zwar geht die Polizei von einem Unfall aus, sonderlich erfahren wirken die Beamten aber nicht. Wenn man zudem im Himmelreich etwas in Erfahrung bringen will, braucht man jemanden, der sich im Mikrokosmos Campingplatz bestens auskennt. Ganz klar, Kupernikus muss selbst ran, das Campen liegt ihm schließlich im Blut und auf die Rolle als Tatort-Kommissar hat er sich sein Leben lang akribisch vorbereitet. Unterstützt wird er von Annabelle, einer weitgereisten Künstlerin, die die kuriosesten Dinge weiß, vor Ort lebt und daher einen guten Draht zu den Einheimischen hat ... Ein Fest für alle, die lustige Krimis lieben Sie sind einfach ein herrliches Ermittler-Duo: der etwas brummige, aber mit wunderbarem Humor gesegnete Björn Kupernikus und die lebenslustige Künstlerin Annabelle. Gemeinsam sind sie der Polizei stets einen klugen Gedanken voraus. Bestseller-Autor Andreas Winkelmann zeigt mit seinem Camping-Krimi, dass er unheimlich gut unterhalten kann, auch ohne Blut.
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Seitenzahl: 349
Andreas Winkelmann
Kriminalroman
Knaur eBooks
So hat sich der ehemalige Schauspieler Björn Kupernikus seinen Ruhestand nicht vorgestellt – oder vielleicht doch? Kaum hat er sich auf dem idyllischen Campingplatz Himmelreich gemütlich eingerichtet, muss er einen kleinen Hund retten, der auf einem Paddleboard mitten im See treibt. Kupernikus zieht das Tier ans Ufer – und mit ihm eine Leiche, die aufwendig unter das Board geschnallt ist. Zwar geht die Polizei von einem Unfall aus, sonderlich erfahren wirken die Beamten aber nicht. Wenn man zudem im Himmelreich etwas in Erfahrung bringen will, braucht man jemanden, der sich im Mikrokosmos Campingplatz bestens auskennt. Ganz klar, Kupernikus muss selbst ran, das Campen liegt ihm schließlich im Blut, und auf die Rolle als Tatort-Kommissar hat er sich sein Leben lang akribisch vorbereitet. Unterstützt wird er von Annabelle, einer weitgereisten Künstlerin, die die kuriosesten Dinge weiß, vor Ort lebt und daher einen guten Draht zu den Einheimischen hat.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Kapitel 1
Szene 1
Szene 2
Szene 3
Szene 4
Szene 5
Szene 6
Szene 7
Szene 8
Szene 9
Szene 10
Kapitel 2
Szene 1
Szene 2
Szene 3
Szene 4
Szene 5
Szene 6
Szene 7
Szene 8
Szene 9
Szene 10
Kapitel 3
Szene 1
Szene 2
Szene 3
Szene 4
Szene 5
Szene 6
Szene 7
Szene 8
Szene 9
Szene 10
Szene 11
Kapitel 4
Szene 1
Szene 2
Szene 3
Szene 4
Szene 5
Szene 6
Szene 7
Szene 8
Szene 9
Szene 10
Ende gut, alles gut.
Annabelles Rezepte für Essen, das glücklich macht
Gottesbscheißerle
Hoppelpoppel
Nachwort
Nachbemerkung
Fragen an Andreas Winkelmann
»Hilfe! So helfen Sie mir doch!«
Frühmorgens, wenn die Sonne gerade aufgegangen war und Stille noch das Land beherrschte, störte so ein Hilferuf ungemein.
Besonders Björn Kupernikus, der um diese Zeit meist ungehalten war. Einen bestimmten Grund gab es dafür nicht, es war eben so. Der Morgen war nicht sein Freund, und er konnte nur durch zwei Tassen starken Kaffee aus der French-Press besänftigt werden. Aus gutem Grund hing in seinem alten Wohnmobil ein Metallschild mit der Aufschrift »Ohne Kaffee nicht ansprechbar«. Seine obligatorischen zwei Tassen hatte er heute noch nicht gehabt, weil er mit der grandiosen Idee aufgestanden war, vor dem Frühstück eine Runde im See zu schwimmen. In diesem Zustand des Ungehaltenseins mochte er niemanden sehen und mit niemandem reden, was kein Problem war, wenn man wie er allein lebte. Allein zu leben löste sowieso die allermeisten Probleme, bevor sie überhaupt entstehen konnten.
Dieses aber nicht. Denn die Frau rief weiter und kam jetzt auch noch auf ihn zugelaufen.
Merkwürdig sieht sie aus, dachte Kupernikus, wie ein Geist. Wie diese weiße Frau aus dem Ebersberger Forst, die immer mal wieder auftauchte und die Leute in Angst und Schrecken versetzte. Über die gab’s sogar einen Kurz-Gruselfilm, den er ganz gelungen fand.
»Hilfe!«, rief die weiße Frau wieder und wedelte mit den langen dünnen Armen.
Dass sie kein Geist war, bewiesen die Fußabdrücke, die sie im Sand hinterließ. Geister schwebten schließlich, das wusste jeder. Die Frau war barfuß, wie Kupernikus auch. Allerdings hüllte ein weißes, wallendes Kleid ihren dünnen Körper ein, während Kupernikus seine alte rote Badehose trug, die er dereinst nach einigen Folgen Baywatch in einem Anfall von Selbstüberschätzung in einem Sportfachgeschäft erstanden hatte. Ihn kleidete sie allerdings weniger gut als David Hasselhoff. Das mochte an seiner untersetzten Figur mit dem recht rundlichen Bauch liegen. Vielleicht war Hasselhoff auch einfach nur besser belichtet worden.
Kupernikus fielen die Blutflecke auf der Vorderseite des weißen Kleides auf. Auf die Entfernung sah es aus, als sei die Frau von mehreren Schüssen getroffen. Schüsse hatte er allerdings nicht gehört, und sie würde wohl kaum noch so laut schreien und so schnell rennen mit drei oder mehr Kugeln im Leib.
Obwohl … bei Frauen wusste man nie so genau. Die waren oft zäher, als Mann dachte.
Der Strand war breit an dieser Stelle und sie außer Atem, als sie ihn endlich erreichte.
»Da draußen …«, stammelte sie und zeigte zurück zum See. »Jemand muss ihn retten. Sie müssen ihn retten.«
»Ich? Wen?«
»Da draußen, auf dem Wasser, na los, kommen Sie schon!«
Sie packte ihn am Handgelenk und zog ihn mit sich. Erstaunlich, welche Kraft in dieser zwar großen, aber grazilen Person steckte. Und schnell war sie noch dazu auf ihren langen, dünnen Hühnerbeinstelzen. Kupernikus kam kaum hinterher, und obwohl er immer noch ungehalten war – jetzt sogar noch mehr als vor zwei Minuten –, hatte die fremde Frau es geschafft, ihn mit ihrer Panik ein wenig anzustecken. Eile war geboten. Ein Leben musste gerettet werden.
Direkt am Ufersaum, ein hölzernes Bein im Wasser, stand eine Staffelei. Darauf eine weiße Leinwand mit einigen Farbklecksen. Auf einem kleinen Klapptisch daneben lagen Pinsel und Palette und Tuben verschiedenster Farben. Damit war klar, woher die roten Flecken auf dem weißen Kleid stammten. Die Projektil-These hatte sich erledigt. Kupernikus bedauerte das ein wenig, war sein kriminalistischer Spürsinn doch bereits geweckt.
Jetzt endlich ließ sie sein Handgelenk los und zeigte auf den See hinaus. »Da! Er treibt immer weiter ab.«
Kupernikus sah, was die Frau meinte.
In hundert, vielleicht hundertfünfzig Metern Entfernung trieb eines dieser neumodischen Surfbretter, mit denen man nicht surfen konnte. SUP lautete die Abkürzung dafür, was – das hatte Björn Kupernikus gegoogelt – für Stand-up-Paddling stand. Er hatte es einmal ausprobiert, aber aus dem Stand-up war bei ihm ein Fall-down ins kalte Wasser geworden. Dutzende Male hintereinander. Nein, nein, das war nichts für ihn. Sein Gewicht war zu sehr nach vorn ausgerichtet, um es auf dem Wasser austarieren zu können. Ist der Bauch erst mal zu dick, fällt man vor und nicht zurück.
»Ein Hund?«, stieß Kupernikus überrascht aus.
»Ja, so helfen Sie ihm doch!«
»Ist das Ihr Hund?«
»Nein.«
So früh am Morgen lag der Templiner See noch ruhig da, das Wasser war nicht von Außenbordmotoren aufgewühlt, und es ging nur ein leichter Wind, der keine Wellen schlug. Insofern sah es recht gemütlich und entspannt aus, wie der kleine weiß-braun-schwarz gescheckte Hund da draußen rumschipperte. Keineswegs nach einem Notfall, für den man um Hilfe rufen und ihm den Morgen verderben musste.
»So stehen Sie doch nicht nur herum!«, fuhr die Frau ihn an.
»Vielleicht schwimmt sein Besitzer gerade«, sagte Kupernikus und behielt das Board im Auge.
»Dann schwimmt er schon sehr lange«, hielt die Frau dagegen. »Jemand muss den Hund retten. Ich … kann leider nicht schwimmen.«
Über dem östlichen Ufer blendete die noch tief stehende Sonne. Kupernikus hob die Hand und beschattete die Augen. Der Hund trieb weiter Richtung Seemitte. Stocksteif stand er mitten auf dem Board, bewegte nur den Kopf auf der Suche nach Rettung. Es wirkte nicht, als fühlte er sich sonderlich wohl.
»Bitte. Tun Sie endlich etwas.«
Ihr flehentlicher Tonfall ließ Björn Kupernikus nicht unberührt. Allerdings war er schon lange nicht mehr so weit hinausgeschwommen. Hundertfünfzig, mittlerweile vielleicht zweihundert Meter – würde er das überhaupt schaffen? Gut, auf dem Rückweg könnte er sich an dem Board festhalten, dennoch war das für einen etwas übergewichtigen Sechzigjährigen eine gewisse Herausforderung.
Die Frau sah ihn an. Mit ihren grünen Augen, die vor Sorge geweitet waren und nach einem Helden verlangten. Einem von der Art, der sich mit einem Hechtsprung vom Steg in die Fluten stürzte. Nur leider gab es keinen Steg hier. Und mit Hechten hatte Kupernikus es nicht so. Wegen seines Ischias. Der verhakte sich mitunter. Da aber weit und breit kein David Hasselhoff in Sicht war, blieb es wohl an ihm hängen.
Kupernikus legte sein Handtuch in den Sand und schritt ins Wasser. Dabei zog er den Bauch ein, was nicht so leicht war. Irgendwas drückte von innen dagegen. Bauchhöhlenfett nannte sein Arzt das, um dann kopfschüttelnd anzufügen, dass es das gefährlichste Fett überhaupt sei und er dringend eine Diät einhalten müsse, um ein hohes Alter zu erreichen. Kupernikus aber fand, leckeres Essen gegen ein paar mehr Jahre war ein schlechter Tausch. Vor allem, wenn man die letzten Jahre im Pflegeheim zwangsernährt werden müsste.
Zum Glück konnte Kupernikus mit breiten Schultern punkten, was zumindest bei einem Blick von hinten den Bauch kaschierte.
Nach wochenlangem Sonnenschein war das Wasser auch am Ende des Sommers noch angenehm temperiert, einen Kälteschock würde er folglich nicht erleiden. Nur fünf Schritte, dann fiel das Ufer steil ab, und er begann zu schwimmen. Wasserpflanzen berührten seine Beine. Schon beim dritten Schwimmzug bekam er einen Schwall Wasser in den Mund. Hustend spuckte er aus, konnte aber nicht verhindern, einen ordentlichen Schluck zu nehmen. Außer ihm war niemand im Wasser. Sollte er einen Schwächeanfall erleiden, würde er noch vor dem Hund ertrinken. Kupernikus rief sich David Hasselhoff in Erinnerung, wie er geschmeidig durchs Wasser pflügte, um die um Hilfe schreiende Blondine mit dem perfekten Make-up zu retten. So autosuggerierte er sich in einen gleichmäßigen Schwimmstil hinein.
Außer Atem war er trotzdem, als er das SUP-Board mit dem Hund darauf endlich erreichte.
Der Hund trippelte auf dem Board ein paar Schritte in seine Richtung und wedelte mit dem Schwanz. Er schien erfreut, Kupernikus zu sehen.
Kupernikus war seinerseits erfreut, nach dem Board greifen und sich daran festhalten zu können. Seine Kraft hätte wohl nur noch für wenige Schwimmzüge gereicht. Zum Glück waren um das Board vier Spanngurte gespannt, in die er hineingreifen konnte. Zwar saßen sie straff, doch es gelang ihm, die Finger darunter zu schieben.
»Gestatten. Björn Kupernikus von der Baywatch. Benötigen Sie Hilfe?«
Der Hund leckte ihm zuerst die Finger und dann mit langer rauer Zunge durchs Gesicht. Liebe auf den ersten Blick hatte Kupernikus nie erlebt, glaubte aber, dass sie so beginnen musste. Mit Schleim auf der Stirn.
»Dann machen wir uns mal auf den Weg, was meinst du?«
Der Hund fiepste und kratzte auf dem Board herum, als wolle er ein Loch hineingraben.
Aus dem Wasser auf das Board zu klettern war ein Ding der Unmöglichkeit, das war Björn Kupernikus bewusst. Sein Bauch war zu dick, seine Arme nicht trainiert genug. Zudem würde er den Hund dabei ins Wasser schubsen. Das wäre kontraproduktiv, und er konnte sich die entsetzten Schreie der weißen Frau am Ufer vorstellen, wenn er, statt zu helfen, den Hund ertränkte.
Also hangelte er sich ans Heck, hielt sich auch dort an einem Spanngurt fest und begann, mit den Beinen zu strampeln. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, eine Hand berühre ihn unter Wasser am Oberschenkel, aber das waren sicher wieder die Schlingpflanzen. Er hatte sich schon immer schwergetan damit, in dunklen Gewässern zu schwimmen, in denen man nicht erkennen konnte, was sich darin befand.
Erstaunlich, wie schwer das Board mit dem Hund darauf war!
Kupernikus hatte sich vorgestellt, es sei einfach zu manövrieren, doch er musste sich ordentlich anstrengen, um überhaupt Fahrt aufnehmen zu können. Bei Patrick Duffy in der Serie Der Mann aus dem Meer hatte der spezielle Beinschwimmstil spielend leicht ausgesehen, er selbst bekam ihn nicht einmal ansatzweise hin. Seine Beinmuskulatur brannte lichterloh, als er endlich das Ufer erreichte.
Sobald er Grund spürte, hörte er auf zu strampeln, stieß die Füße in den Schlick, drückte sich nach vorn und schob das Board mit dem aufgeregten Hund darauf vor sich her. Der Hund versuchte noch immer, ein Loch ins Board zu buddeln, kratzte wie verrückt, während er winselte und wimmerte.
Erneut hatte Kupernikus das Gefühl, eine eiskalte Hand berühre ihn unter Wasser am Oberschenkel. Dieses Mal war es äußerst intensiv und erschreckend realistisch. Er zuckte zusammen und konnte einen hysterischen Aufschrei gerade noch verhindern.
Die weiße Frau stand nicht tatenlos herum, sie kam ihm entgegen, und ihr Kleid wurde an den Waden nass, als sie ins flache Wasser lief. Beherzt packte sie den Bug des Boards, um zu helfen, es aufs Ufer zu ziehen. Doch obwohl sie zog und Kupernikus schob, gelang es ihnen nicht, das Board aus dem Wasser zu wuchten. Es blieb irgendwo hängen. Die weiße Frau verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Hintern. Da lag sie nun auf dem Strand, mit der Spitze des Boards zwischen den Beinen, und schaute überrascht drein.
Der Hund nutzte seine Chance, sprang auf den Schoß der Frau, dann aufs Ufer, drehte sich herum und kläffte das Board wütend an – oder sie beide, das war nicht ganz klar.
Die weiße Frau versuchte sich aufzurappeln und den Hund mit wohlwollenden Worten zu beruhigen. Der wollte aber lieber bellen. Er war eindeutig ungehalten. Vielleicht hatte er noch keinen Kaffee gehabt.
Björn Kupernikus erklomm das Ufer, bis das Wasser ihm nur noch um die Fußgelenke schwappte.
»Danke, vielen Dank!«, rief die weiße Frau ihm zu. »Sie haben den Hund gerettet!«
»Nicht der Rede wert«, winkte Kupernikus ab. In Gedanken war er woanders.
Nachdenklich betrachtete er das Board.
Denn hier stimmte etwas nicht.
Warum die Spanngurte?
Warum war es so schwer?
Warum ließ es sich nicht an Land ziehen?
Bei genauerer Betrachtung bemerkte Kupernikus, dass die Spanngurte oben auf dem Board zwar straff anlagen, unter Wasser aber in einem großen Bogen verliefen, ganz so, als fixierten sie etwas an der Unterseite des Surfbretts.
»Suspekt, äußerst suspekt«, flüsterte Kupernikus sich in den Bart.
Er ging in die Knie und hob das SUP so weit an, wie es ihm möglich war.
Herrschaftszeiten, war das schwer!
Am Ufer drehte der Hund komplett durch und begann wie verrückt, ein Loch in den Sand zu buddeln.
Er hatte allen Grund für sein merkwürdiges Verhalten.
Denn ein kurzer Blick reichte Kupernikus als Antwort auf seine drei Warum-Fragen und erklärte auch das Gefühl, unter Wasser berührt worden zu sein.
Das war nicht eingebildet gewesen.
Die Spanngurte hielten einen menschlichen Körper unter dem Board fixiert.
Im leichten Wellengang schien ihm die linke Hand zuzuwinken.
»Bitte, setzen Sie sich doch«, bot Björn Kupernikus an, nachdem er zwei bequeme Campingstühle unter die bereits ausgefahrene Markise gestellt hatte.
Unter Campern war es ein ungeschriebenes Gesetz, sofort nach Ankunft die Markise auszufahren, ob das nun sinnvoll war oder nicht. Alles, was beschattet wurde, war annektiertes Land, auf das fortan Fremde keinen Fuß setzen durften. Man markierte sein Revier. Und diese Art war naturgemäß auch akzeptierter als die des kleinen Hundes, der gerade an den Reifen von Kupernikus’ Camper pinkelte.
»Vielen Dank«, sagte die Frau und ließ sich in den Stuhl fallen. Ihr Gesicht war nun genauso weiß wie ihr Kleid. Während es ihm nicht sonderlich viel ausmachte, vertrug sie den Leichenfund offenkundig nicht so gut. Auf dem Weg vom Ufer durch den feinen Sand hier hinauf zu seinem Wohnmobil hatte sie sich auf Kupernikus’ Unterarm stützen müssen. Zugegeben: Das war ein ganz angenehmes Gefühl gewesen. Alles in allem, also inklusive der Rettung des Hundes, war er sich sogar ein wenig heldenhaft vorgekommen in seiner David-Hasselhoff-Gedenkbadehose.
»Mein Name ist Kupernikus«, stellte er sich nun vor. »Björn Kupernikus.«
»Wie dieser Wissenschaftler?«
»Ja, aber mit einem U statt einem O hinter dem ersten K. Hinter dem zweiten passt es wieder wunderbar.«
»Interessant. Mein Name ist Annabelle Schäfer. Mit einem E wie Ende am Ende. Also, der Vorname.«
»Sieh an«, konstatierte Kupernikus, räusperte sich, und weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte, stellte er sein Wohnmobil vor. »Übrigens: Das ist Otto. Dreißig Jahre alt, doch der Lack ist noch lange nicht ab. Mitunter dickköpfig, macht er doch niemals nicht schlapp.«
»Sehr erfreut, Otto«, sagte Frau Schäfer. »Die Umstände unseres Zusammentreffens sind ein wenig … nun ja, ungewöhnlich, daher erspare ich mir die Floskel ›Schön, Sie beide kennenzulernen‹. Aber für Ihre Hilfe möchte ich Ihnen meinen aufrichtigen Dank aussprechen.«
»Keine Ursache. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Frau Schäfer, würde ich wieder hinuntergehen und mit der Polizei sprechen.«
Kupernikus drehte sich in Richtung des Menschenauflaufs unten am Ufer.
Als er am gestrigen Nachmittag auf dem Campingplatz Himmelreich in der Nähe von Potsdam angekommen war, hatte er einen Stellplatz unweit des Ufers auf einer schmalen Landzunge ergattern können. Der Campingplatz hatte ihm sofort gefallen, da er durch seine offene Gestaltung ein Gefühl von Freiheit und Ungezwungenheit vermittelte, und die einmalige Lage zwischen drei Seen machte ihn zu einem echten Juwel.
Der Blick aus dem Alkovenfenster seines dreißig Jahre alten Wohnmobils aufs Wasser hinaus war unverstellt und würde es auch bleiben, da zwei Meter vor der Markise weißer Sand begann. Er hatte sozusagen die erste Reihe am Tatort.
Mittlerweile waren alle da: Mordkommission, Spurentechniker, Rettungssanitäter, Streifenpolizisten, Schaulustige. Verschwörungspraktiker. Flatterndes Flatterband untermalte die hektische Grundstimmung, der leichte Wind trieb Gesprächsfetzen herüber. Kurzum: Da unten spielte die Musik. Die herbeigeeilte Polizei hatte bisher nur wenige Worte mit Kupernikus und der weißen Frau gewechselt und sie dann gebeten, oben auf dem Campingplatz zu warten. Jenseits des Flatterbandes, wie all die anderen Schaulustigen auch. Das fand Kupernikus unfair. Immerhin hatte er die Leiche gerettet – insofern man das so sagen konnte.
»Mein Kreislauf ist ein wenig runter. Otto bevorratet nicht zufällig Sekt oder Prosecco?«, fragte Frau Schäfer.
»Ich, äh … glaube nicht …«
Kupernikus war eher der Typ Biertrinker. Vielleicht einmal das eine oder andere Glas Wein, aber dieses süße Blubberwasser sagte ihm gar nicht zu.
»Champagner?«
»Ich fürchte, den erst recht nicht.«
»Schade. Nun, ein starker Kaffee wird es auch tun.«
Björn Kupernikus war hin- und hergerissen. Einerseits gehörte es sich als Gentleman, der Dame einen Kaffee zuzubereiten. Andererseits wurde er dort unten am Ufer gebraucht. Na ja, vielleicht nicht wirklich gebraucht, aber er könnte seinen Teil zu den Ermittlungen beitragen. Zudem war sein kriminalistischer Spürsinn geweckt. Es interessierte ihn brennend, wie es zu diesem doch recht merkwürdigen Vorfall gekommen war.
Doch Spürsinn und Interesse hin oder her, Annabelle Schäfer schaute ihn mit ihren grünen Augen aus einem immer noch leichenblassen Gesicht mitleiderregend an, und damit war die Entscheidung gefallen. Zumal er auch noch keinen Kaffee gehabt hatte und ihn gut gebrauchen könnte.
»Mit einem Kaffee kann ich dienen«, sagte Kupernikus. »Aber ich bereite ihn in der French-Press zu, daher dauert es einen Moment. Um genau zu sein, sechs Minuten und dreißig Sekunden.«
Er hoffte, dass sie ob der langen Wartezeit abwinken würde. Tat sie aber nicht. »Ich denke, die Zeit haben wir, ehe die Polizei sich um uns kümmert.«
Seufzend wollte Kupernikus den Camper betreten, doch so einfach war das nicht. Denn vor ihm saß der gerettete kleine Hund, starrte zu ihm hinauf und wedelte mit der Rute Staub auf. Seitdem er von dem Board herunter war, wich er ihm nicht von der Seite. Es schien, als wolle das Tier ihm ebenfalls aufrichtigen Dank aussprechen. Wie auch immer, jedenfalls konnte Kupernikus nicht ins Wohnmobil, solange der Hund ihm den Weg versperrte.
Er legte den Kopf schräg, der Hund, nicht Kupernikus. Ein Ohr stand kerzengerade, das andere hing schlapp herunter, und sein Blick war so herzzerreißend, dass Kupernikus nicht anders konnte, als in die Hocke zu gehen und ihn zu streicheln.
»Wie heißt du eigentlich, kleiner Mann?«, fragte er ihn.
»Nun«, hob Frau Schäfer an. »Zum einen ist es eine kleine Frau, und zum anderen spricht er nicht Ihre Sprache.«
Björn Kupernikus quittierte diese Bemerkung mit einem Lächeln.
»Weißt du was, kleine Dame, ich nenne dich einfach Pinguin.«
»Warum das?«
»Weil das der Herstellername von dem Board ist, unter dem …«
Er ließ den Satz unvollendet. Nicht alles musste bis ins Letzte ausformuliert und besprochen werden. Das galt nicht nur für die Leiche unter dem Stand-up-Board, sondern gleichsam fürs ganze Leben. Wer wenige Worte machte, ließ mehr Platz für Stille. Und die Stille gebar die besten Gedanken.
»Verstehe«, sagte Frau Schäfer, beugte sich vor und lockte den Hund zu sich. »Komm her zu mir, kleiner Pinguin. Damit der nette Herr mir einen Kaffee kochen kann. Ich bin mir sicher, er findet auch ein Schälchen Wasser für dich.«
Der Hund verfiel dem Gesang der Sirene, und Kupernikus eilte ins Wohnmobil.
Dort kochte er Wasser in seinem altmodischen Teekessel auf und mahlte derweil die Bohnen. In dieser Woche gab es Jamaica Blue Mountain, eine der exklusivsten Bohnen der Welt mit einem ganz besonderen Aroma. Kochen und Mahlen dauerte zwei Minuten. Dann übergoss er das duftende Pulver mit ein wenig nicht mehr kochendem Wasser – ein Extravorgang, den man »Blooming« nannte. Dreißig Sekunden. Danach füllte er die French-Press bis zur Markierung und ließ den Sud bei geschlossenem Deckel ziehen. Vier Minuten. Zwischendurch zog er sich um, schließlich konnte er nicht in Badehose mit der Dame Kaffee trinken.
Als er mit zwei gefüllten Tassen, Milch und Zucker und seiner Müslischale mit Wasser auf dem Tablett wieder herauskam, eilte ein Mann zügig das Ufer herauf. Ein hoch aufgeschossener Schlaks in beigen Chinos und einem blauen Blouson. An den Füßen trug er braune Loafers. Erst als er vor Kupernikus und Frau Schäfer stehen blieb, schob er die Sonnenbrille von der Nase auf den Kopf, wo sie sein dunkelbraunes Haar aufstaute. Er mochte um die vierzig Jahre alt sein. In seinem Nacken schauten zwei dünne schwarze Kabel unter dem Blouson hervor, so wie man es in Hollywood-Filmen bei den FBI-Agenten sah, die ständig in unsichtbare Mikrofone sprachen. Gentleman, Test, Test, Adler ist im Nest, ich wiederhole, Test, Test, Adler ist im Nest.
Mit den Worten: »Fass. Hauptkommissar«, stellte er sich vor.
Pinguin knurrte. Sie war kein besonders eindrucksvoller Hund mit ihren kurzen krummen Beinen und dem niedlichen Gesicht, aber ihr Knurren ließ keinen Raum für Spekulation: Sie war wehrtüchtig.
»Mit dem Namen wäre ich Hunden gegenüber vorsichtig«, sagte Frau Schäfer.
»Wie? Ach so! Wegen Fass.«
Wieder ein Knurren.
»Können Sie ihn festhalten?«, bat der Hauptkommissar. »Ist das die Kröte von dem Paddelbrett?«
Annabelle Schäfer nahm Pinguin auf den Schoß.
»Ja, ist sie«, antwortete Kupernikus und stellte das Tablett auf dem Tisch ab.
»Und Sie haben das Brett ans Ufer gezogen?«
Kupernikus fiel auf, dass der Kommissar immer wieder mit den Schultern zuckte. Eine Art Tick oder nervöse Zuckung, vermutete er.
»Richtig. Die Dame hier hat es entdeckt und mich um Hilfe gebeten.«
»Wie ist Ihre Beziehung zueinander?«
Der Kommissar zückte Notizblock und Kugelschreiber.
»Wir haben uns gerade erst kennengelernt, und ich hatte bisher nie einen Hund, deshalb weiß ich nicht, ob man gleich von einer Beziehung sprechen kann.«
»Ich meine nicht zum Hund. Wie stehen Sie beide in Beziehung zueinander?«
Er zeigte mit dem Kugelschreiber zuerst auf Frau Schäfer, dann auf Kupernikus.
»Nun, wir haben uns auch gerade erst kennengelernt. Durch diese Sache«, antwortete Frau Schäfer.
»Gehört die Staffelei dort unten Ihnen?«
»Ja.«
»Können Sie mir berichten, was vorgefallen ist?«
»Ich habe am Ufer gemalt, wie ich es häufig tue, und da ist mir der Hund aufgefallen, der mutterseelenallein auf dem Wasser trieb.«
»Warum malen Sie so früh?«
Wieder zuckten die Schultern. Zusätzlich drehte der Mann den Kopf auf die Seite, als müsse er seine Nackenmuskulatur dehnen.
»Das Morgen- oder Abendlicht eignet sich immer besonders gut. Im Moment haben wir auch noch Wüstenlicht, das wollte ich nicht verpassen.«
»Wüstenlicht?«, echoten Fass und Kupernikus zugleich.
»Ihnen wird die lange Trockenperiode nicht entgangen sein«, erklärte Frau Schäfer. »In solchen Phasen ist oft viel Staub oder auch Wüstensand in der Luft, das verstärkt den Rayleigh-Effekt, und es kommt zu diesen wunderschönen Rottönen.«
»Aha.« Fass notierte etwas in seinen Notizblock. Dabei schielte er neidisch über den Rand, als Kupernikus Frau Schäfer eine Tasse Kaffee anbot und sie nach Milch und/oder Zucker fragte.
»Beides in Maßen, vielen Dank.«
Da sie nach wie vor den Hund hielt, übernahm es Kupernikus, ihren Kaffee anzurichten. Dabei sprach er mit dem Kommissar. »Wissen Sie schon, um wen es sich bei der Leiche handelt?«
»Nein«, antwortete Fass. »Leider haben wir keine Ausweispapiere gefunden. Die Leiche trägt ja auch nur eine Badeshorts.«
»Und die Leute«, sagte Kupernikus, »die Schaulustigen sind doch sicher alle vom Campingplatz. Kennen die den Mann nicht?«
»Darüber kann ich keine Auskunft geben«, wich Kommissar Fass aus. »Sie haben nicht zufällig auch eine Tasse Kaffee für mich?«
Kupernikus verzog das Gesicht. Er hatte die Frage befürchtet. Leider passten in seine French-Press nur genau zwei Tassen Kaffee, was vollkommen ausreichte, da er ja allein unterwegs war. Und er würde weitere sechs Minuten und dreißig Sekunden benötigen, um frischen Kaffee zu kochen. Das ertrug seine Neugierde nicht. Da verzichtete er lieber und reichte dem Kommissar die Tasse, die für ihn selbst gedacht war.
Fass bedankte sich.
»Und die Todesursache?«, hakte Kupernikus nach. »Ist das Opfer ertrunken, oder weist es andere Verletzungen auf?«
»So weit ist die Rechtsmedizinerin noch nicht, und selbst wenn, dürfte ich diese Information nicht an Sie weitergeben. Außerdem ist es meine Aufgabe, die Fragen zu stellen. Sie sind Gast hier auf dem Campingplatz?«
Fass probierte den Kaffee. Seine Augenbrauen rutschten die hohe Stirn hinauf.
»Ich bin gestern Nachmittag angekommen. Es ist also mein erster Morgen hier. Ich wollte gerade eine Runde schwimmen gehen, als ich die Hilferufe von Frau Schäfer hörte.«
»Der ist gut!«, lobte der Kommissar und hob die Tasse.
»Jamaica Blue Mountain. Höhenlage. Achtzehnhundert Meter. Wächst dort besonders langsam und schonend.«
»Interessant. Und dann sind Sie sofort rausgeschwommen?«
»Was blieb mir anderes übrig. Der Hund drohte abzutreiben.«
»Aber Sie haben nicht gewusst, was sich unter dem Brett befand?«
»Nein, wie denn auch. Das war vom Strand aus nicht zu sehen. Ich habe mich allerdings über die Spanngurte und das Kratzen des Hundes gewundert.«
»Er hat gekratzt?«
»Ja, auf dem Board. So, als wolle er ein Loch hineinbuddeln.«
»Oder als wusste er, was unter dem Board ist«, sagte Frau Schäfer. »Man kann wohl davon ausgehen, dass Leiche und Hund zusammengehören.«
Der Kommissar hob eine Augenbraue, sah sie über den Rand des Notizblocks hinweg an, ersparte sich aber eine Erwiderung. Er zuckte.
»Haben Sie zuvor etwas Ungewöhnliches bemerkt?«, fragte er. »Schreie. Geräusche. Ist Ihnen eine Person aufgefallen, die etwas gesehen oder mit der Sache zu tun haben könnte? Beim Malen haben Sie die Umgebung doch sicher genau beobachtet.«
»Könnte man meinen«, entgegnete Annabelle Schäfer. »Aber so ist es nicht. Wenn ich male, fokussiere ich mich auf den Bildausschnitt, den ich malen will. Heute das Schilf mit der dahinter aufgehenden Sonne. Das Drumherum nehme ich dann nicht mehr wahr. Es würde mich stören.«
»Und Sie?«, fragte Fass in Kupernikus’ Richtung.
»Mich stört es nicht.«
»Ich meine, ob Sie etwas Auffälliges bemerkt haben?«
»Nein, nichts. Ich bin aufgewacht, habe aus meinem Wohnmobil heraus auf den See geblickt und entschieden, schwimmen zu gehen. Den Rest kennen Sie.«
Kommissar Fass seufzte, steckte den Notizblock weg, trank Kaffee und nickte anerkennend.
»Ihre Personalien wurden ja bereits aufgenommen«, sagte er. »Ihre Aussage habe ich auch, aber es kann sein, dass sich noch Fragen ergeben. Haben Sie vor, demnächst abzureisen?«
»Ich lebe hier …«, sagte Annabelle Schäfer.
»Und ich bin gerade erst angekommen. Ein paar Tage bleibe ich sicher noch.«
»Sie sind im Urlaub?«, fragte Fass.
»Ich bin ein vagabundierender Privatier.«
Der Kommissar lächelte unverbindlich, warf einen Blick auf seine Armbanduhr, reichte die leere Tasse zurück und kippte die Sonnenbrille über seine Augen. »Haben Sie eine Leine für mich?«
»Eine Leine? Sie meinen eine Hundeleine?«, fragte Frau Schäfer.
»Richtig. Ich muss den Hund mitnehmen. Sie haben es ja schon gesagt, wahrscheinlich gehört er zu der Leiche. Damit ist er wichtig für die Ermittlungen.«
»Und … wo bleibt er während der Ermittlungen?«
»In einem Tierheim natürlich, wo er beaufsichtigt und verpflegt wird.«
»Kommt gar nicht infrage«, echauffierte sich Frau Schäfer. »Beides können auch wir übernehmen. Ein Tierheim! Was sind Sie für ein herzloser Mensch!«
»Moooment«, machte der Kommissar. »Diese Entscheidung trifft das Gesetz.«
»Und wenn wir Ihnen versprechen, gut auf den Hund aufzupassen?«, fragte Kupernikus, dem nicht entgangen war, wie aufgebracht Frau Schäfer war.
»Wie lange beabsichtigen Sie zu bleiben?«
»Da bin ich flexibel«, sagte Kupernikus.
»Ich muss mich darauf verlassen können, jederzeit Zugriff auf den Hund zu haben.«
»Das können Sie. Und wenn es Ihnen recht ist, laufe ich gleich nachher mit dem Hund über den Platz und versuche, jemanden zu finden, der den Hund oder den Besitzer kennt. Damit wäre doch allen geholfen, nicht wahr?«
Kommissar Fass überlegte einen Moment mit Blick auf Frau Schäfer. Sie hielt den Hund umklammert und signalisierte nonverbal, dass sie ihn nicht kampflos aufgeben würde. Pinguins Blick unterstrich die Kriegserklärung.
»Gut, dann halten wir es vorerst so. Ich habe ja Ihre Telefonnummer, und Sie bekommen meine Karte. Rufen Sie bitte umgehend an, wenn sich etwas ergibt.«
»Natürlich!«, sagten Kupernikus und Frau Schäfer zugleich.
Der Kommissar hatte sich gerade drei Schritte entfernt, da rief Kupernikus ihm hinterher: »Ist Ihnen aufgefallen, dass das Board verkehrt herum schwamm, Kommissar Fass?«
Pinguin knurrte.
Fass drehte sich um. Seine Schultern zuckten. »Wie bitte?«
»Verkehrt herum. Mit der Unterseite nach oben. Die Finnen waren zwar nicht angebaut, aber man kann es an den Halterungen für die Finnen erkennen … und am Schriftzug Penguin auf der Seite. Der steht auf dem Kopf.«
Kommissar Fass kam zurück. »Finnen?«
Kupernikus nickte. »Dadurch lässt sich so ein Board besser manövrieren. Man schraubt sie an die Unterseite. Dieses Board hat zwei Aufnahmestellen für zwei Finnen, die sind aber nicht dran.«
»Sind Sie Profipaddler?«
»Mitnichten. Ich habe es einmal ausprobiert. War aber nichts für mich.«
»Aha. Gut. Dann danke ich für die Information.« Der Kommissar fixierte Kupernikus aus schmalen Augen. »Sagen Sie, kenne ich Sie nicht von irgendwoher?«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Dachte ich aber gerade. Wie auch immer. Einen schönen Tag noch.«
Kommissar Fass ging das Ufer hinunter. Auf halber Strecke blieb er stehen, zog den linken Schuh aus, schüttelte Sand heraus und marschierte weiter.
»Woher könnte er Sie kennen?«, fragte Annabelle Schäfer.
Kupernikus zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich eine Verwechslung, das passiert mir häufig mit meinem Allerweltsgesicht. Noch einen Kaffee?«
»Unbedingt. Ich hatte nie besseren. Es klang so, als kennen Sie sich mit Kaffee aus?«
Kupernikus’ Herz machte einen kleinen Sprung ob des Lobes. »Nun, es ist schon eine kleine Leidenschaft, ja. Ich wechsle jede Woche die Bohne.«
»Dann sind Sie ein Barista?«
»Nein, eher ein Sommelier. Der Barista kümmert sich um die Zubereitung, der Sommelier um die Sensorik.«
»Wie spannend!«
Kupernikus freute sich. Er traf nur selten jemanden, der sich für seine Leidenschaft interessierte. »Der Jamaica Blue Mountain hat eine feste und harte Bohne, das ist ein Zeichen gehobener Qualität. Es liegt an der Höhe, in der die Pflanze wächst. Noch viel weiter oben gedeiht kaum ein Kaffee.«
»Allein der Name macht schon Lust auf mehr. Jamaica Blue Mountain – das klingt wie ein exotischer Cocktail. Davon hätte ich gern noch eine Tasse.«
»Sehr gern, gnädige Frau.«
Über eintausend Euro hatte er seinerzeit für das Fernglas ausgegeben. Wie er jetzt feststellte, eine gute Investition. Der Lackaffe von einem Kommissar und die beiden Personen, mit denen er sich auffallend lange unterhielt, waren auf diese Entfernung bestens zu erkennen. Selbst die Mimik gab die 10,5-fache Vergrößerung und der 44-mm-Objektivdurchmesser des Genesis Prominar detailgenau wieder.
Schade nur, dass er nicht hören konnte, was gesprochen wurde. Und da er das Lippenlesen nicht beherrschte, war er auf Spekulationen angewiesen. Je länger sie redeten, desto aufgeregter wurden sie, und bald schien es so, als wolle die Frau einen Streit mit dem Kommissar beginnen.
Die Frau kannte er. Die lebte hier in der Gegend. Sie war etwa eins achtzig groß, wog nicht mehr als sechzig Kilo, hatte einen schmalen, zierlichen Körper und trug ihr weißes Haar auffallend kurz. Einen Pixie-Cut nannte man so etwas wohl. Sie war schätzungsweise Mitte fünfzig. Er hatte sie noch nie anders als in Kleidern gesehen. Im Winter zog sie eine Jacke darüber und warme Stiefel dazu an, aber nie eine Hose. Sie war ein Unikat – auch unter den vielen Künstlerinnen, die sich an diesem Ort niedergelassen hatten. Der große Name, den man mit Caputh verband, lockte illustre Leute an.
Den Mann kannte er nicht. Ein Gast des Campinglatzes. Das uralte Wohnmobil gehörte wohl ihm, immerhin hatte er darin Kaffee zubereitet. Er war klein, vielleicht eins siebzig, hatte einen stämmigen Körper mit breiten Schultern und einen Bierbauch. Sein Gewicht mochte bei fünfundachtzig Kilo liegen. Er hatte volles, weiß-graues Haar mit einer kleinen Platte oben auf dem Schädel. Zudem einen Vollbart. Beim Kaffeekochen hatte er sich umgezogen, trug nun eine Jeans, ein weißes Shirt und darüber eine schwarze Weste. Täuschte er sich, oder waren das wirklich Hosenträger unter der Weste? Wer kleidete sich denn heutzutage so?
Merkwürdiger Kerl.
Warum rief er den Kommissar zurück, als dieser sich schon verabschiedet hatte?
Wusste er etwas, das den Kommissar interessierte?
Er hielt sich für einen überaus ordentlichen, ja, beinahe schon peniblen Mann. Dennoch könnte er einen Fehler gemacht, etwas übersehen oder vergessen haben. Auch er wurde nicht jünger, zudem war die Situation chaotisch gewesen. Jetzt bedauerte er es, keinen kühlen Kopf bewahrt und seine Reaktion auf später verschoben zu haben.
Nachdem er zehn Minuten ununterbrochen durch das japanische Fernglas geschaut hatte, setzte er es ab und rieb sich die Augen. Sein Kopf brummte, und der Tinnitus nervte schon wieder. So war das immer, wenn er unter Stress stand. Darum hatte er sich seinerzeit einen ruhigen Job und einen ruhigen Wohnort gesucht und alle die Jahre ein ruhiges Leben geführt. Seine Vergangenheit hatte ihn nur in seinen Träumen heimgesucht, nie im wirklichen Leben. Das war jetzt vorbei.
Was passiert war, war passiert, an der Vergangenheit konnte er nichts ändern. Aber die Zukunft lag in seiner Hand.
Was galt es jetzt zu tun?
Er wusste, ein strategisches, gut durchdachtes Vorgehen und eine bis ins Letzte ausgefeilte Vorbereitung waren unabdingbar.
Zunächst einmal musste er den toten Körper loswerden. Irgendwann würde die Polizei sicher auch bei ihm auftauchen, Fragen stellen und herumschnüffeln, bis dahin musste hier zudem alles blitzsauber sein. Staubsaugen, feucht durchwischen, am besten mit einem Chlorreiniger, alle Oberflächen und Türklinken abwischen – es gab genug zu tun. Zudem war es angebracht, sich mit einer Tasse Tee hinzusetzen und einmal alle Fragen aufzuschreiben, die man ihm vermutlich stellen würde. Und darauf Antworten zu finden. Plausible Antworten.
Keine leichte Aufgabe.
Er setzte das Fernglas wieder an die Augen.
Beobachtete den Kommissar. Er wusste nicht sicher, dass es sich bei dem Lackaffen mit den unangebrachten Schuhen um einen Kommissar handelte, aber da der Mann die Führung über die Meute zu haben schien, lag es nahe. Unglaublich, wie viele Menschen zu tun hatten, wenn eine Leiche auftauchte. Unten am Strand wuselte ein Dutzend Beamte und zivile Mitarbeiter herum, und die Einzigen, die sich langweilten, waren die Uniformierten, die den Bereich sicherten. Einer von denen popelte doch tatsächlich in der Nase und schaute sich seinen Fund dann auch noch genau an. Schnell ließ er das Fernglas weiterwandern. Der Kommissar sprach mit einem Spurentechniker, der in einen weißen Schutzanzug gehüllt war. Sie beugten sich über das Paddleboard, zeigten mit den Fingern auf dieses und jenes.
Was gab es Interessantes an dem Brett?
Hatte er etwas verkehrt gemacht?
Er ließ sein Fernglas zu dem Pärchen am Wohnmobil wandern.
Die beiden tranken in aller Herrgottsruhe Kaffee miteinander. Schienen sich sogar zu amüsieren. Und der Hund! Er fühlte sich sichtlich wohl auf dem Schoß der Frau.
Er spürte Neid. Und auch ein wenig Hass. Es war nicht gerecht, dass es dem Hund gut ging. Es hätte nur eine Möglichkeit gegeben, das zu verhindern – aber das wäre ein großes Unrecht gewesen. Dazu war er dann doch nicht bereit.
Der Mann mit dem Vollbart war ihm unsympathisch. Nicht nur, weil er den Hund gerettet hatte. Nein, auch weil er gefährlich erschien. Sein Äußeres ließ auf einen schlichten Charakter schließen, aber sein Blick war wach und listig. Den musste er unbedingt im Auge behalten. Die Frau auch.
Weil die Emotionen in seinen Eingeweiden wühlten und ihm Tränen in die Augen trieben, nahm er das Fernglas herunter und stellte es auf dem Holztisch ab.
Es nützte nichts. Er musste sich an die Arbeit machen.
Aus dem Geräteschuppen holte er einen Spaten, ging hinaus in den Garten, der in Hanglage angelegt war, und grub ein Loch zwischen die Hortensien. Die Schattenlage des Beetes erschien ihm sinnvoll, um den toten Körper zu vergraben. In einer sonnigen Lage würde es womöglich zu unerwünschter Geruchsbelästigung kommen. Warme Erde, Verwesung und so weiter. Musste man alles bedenken.
Es kam ins Schwitzen. Sein Herz wummerte in der Brust. Das lag nicht an der körperlichen Anstrengung, dafür war er durch die viele Gartenarbeit zu fit. Nein, es war die seelische Belastung. Mehrfach musste er pausieren. Dabei stützte er sich auf den Spaten, lauschte und suchte die Umgebung ab. Man konnte nie wissen.
Als das Loch tief und breit genug war, kam die schwerste Aufgabe: den toten Körper herbeischaffen. Das kostete ihn alle Kraft, die er hatte, aber er war ein Mann, der sich den Aufgaben stellte, die das Leben bereithielt. Aufgeben kam nicht infrage. So war er schon immer gewesen.
Eine Stunde später setzte er die noch kleinen Hortensien über der Leiche ein, die er aus einem anderen Beet ausgebuddelt hatte. Mit der Gießkanne holte er zehn Liter Wasser herbei und wässerte die Pflanzen. Das war bei dieser Trockenheit wichtig, sonst würden sie nicht anwachsen.
Damit war die erste Aufgabe erledigt.
Jetzt würde er sich der Hütte widmen und die Spuren vernichten.
Nachdem Kommissar Fass gegangen war und sie noch eine zweite Tasse Jamaica Blue Mountain getrunken hatte, fühlte Annabelle Schäfer sich in der Lage, den Rückweg anzutreten.
»Ich muss zu Hause nach dem Rechten sehen und ein paar Telefonate führen. Vielleicht lege ich mich auch noch einmal hin … das war doch alles sehr aufregend.«
»Natürlich.«
»Kommen Sie zurecht mit Pinguin, oder soll ich mich kümmern?«
Sie blickten hinunter auf den Hund, der ihre Blicke erwiderte und eifrig mit dem Schwanz wedelte.
»Ich denke, es ist besser, er bleibt hier bei mir für den Fall, dass ihn jemand vermisst oder weiß, wohin er gehört. Und ich habe dem Kommissar ja versprochen, mich umzuhören.«
»Gut, dann mache ich mich auf den Weg.«
»Wie weit haben Sie es nach Hause?«
»Nicht weit, eine Viertelstunde. Ich wohne außerhalb von Caputh, das ist die nächste Ortschaft hier.«
»Möchten Sie, dass ich Sie begleite? Das würde mir nichts ausmachen.«
»Ach, Sie sind ein Schatz, aber das ist nicht nötig. Ich würde mich aber gern zum Abendessen bei Ihnen einladen.«
»Bei mir? Ich habe kaum etwas …«, wollte Björn Kupernikus abwehren.
»Papperlapapp«, unterbrach ihn Frau Schäfer. »Sie stellen diesen wunderbaren Platz mit Blick auf den See zur Verfügung, ich bringe das Essen mit.«
»Aber das ist doch nicht …«
»Doch, ist es. Und es ist das Mindeste, um meine Dankbarkeit für Ihren mutigen Einsatz auszudrücken. Keine Widerrede. Punkt neunzehn Uhr bin ich wieder hier.«
Sprach’s und verschwand in dem wehenden Kleid.
Zurück blieb ein sprachloser Kupernikus, der nicht so recht wusste, wie ihm geschah. Zum Frühstück eine Leiche und zum Abendessen eine fremde Frau, das war für einen Tag, der gerade erst begonnen hatte, doch ein bisschen viel. Besonders für einen Menschen wie ihn, dem seine Ruhe heilig war. Weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte, und weil es sowieso an der Zeit war, brühte er neuen Kaffee auf, diesmal nur für sich allein, setzte sich damit vor sein Wohnmobil, trank und beobachtete das Tatort-Treiben am Ufer. Der kleine Hund, den er Pinguin getauft hatte, schlief beinahe sofort zu seinen Füßen ein. Im Schlaf zuckten seine Hinterläufe, und er fiepte leise. Wahrscheinlich jagte er im Traum ein Eichhörnchen.
Irgendwann war die Arbeit der Ermittlungsmeute erledigt, der Strandabschnitt wurde abgesperrt, und es kehrte Ruhe ein im Himmelreich.
Aber nicht in Björn Kupernikus.
Er war unruhig, aufgedreht, vielleicht sogar ein bisschen vorfreudig. In Anbetracht eines toten Menschen sollte er das natürlich nicht sein, aber wer konnte schon seine Gefühle beherrschen. Immerhin hatte er den halb offiziellen Auftrag, mit dem Hund über den Campingplatz zu ziehen, um herauszufinden, zu wem er gehören könnte oder wer ihn vermisste.
Kupernikus zog seine Lederstiefel an. Eigentlich waren die zu warm, aber besser einen warmen Lederschuh am Fuß als eine kühle Plastiksandale. Flipflops kamen für ihn nicht infrage. Bei all den hässlichen nackten Füßen musste er seine nicht auch noch zeigen. Und weil er eine andere nackte Stelle ebenfalls nicht gern zeigte, setzte er sein geliebtes und vom vielen Tragen schon recht speckiges schwarzes Baseball-Cap mit dem Schriftzug »Oldskull« auf.
Da er bis dato keinen Hund gehabt hatte, hatte er auch keine Leine. Auf Campingplätzen galt allerdings die Leinenpflicht, und die Gesetze eines Campingplatzes mussten unter allen Umständen eingehalten werden. Also musste die Wäscheleine herhalten, die er nach großer Wäsche am Heck des Wohnmobils anbrachte und bis zum nächsten Baum spannte, um die Wäsche zu trocknen. Er band eine Schleife hinein, deren Durchmesser sich verändern ließ, legte sie Pinguin um den Hals, nickte zufrieden und machte sich auf den Weg.
Spazieren war er schon immer gern gegangen. Nun eben mit Hund. Und das nicht ohne Grund.
Wenn ein Mann im Bereich des Campingplatzes zu Tode kam, lag die Vermutung nahe, dass er hier zu Gast war oder in der unmittelbaren Umgebung lebte. Jemand musste ihn gesehen haben. Mit Hund. Kupernikus glaubte genau wie Annabelle Schäfer daran, dass Hund und Leiche zusammengehörten. Aus Erfahrung wusste er, dass es nie schaden konnte, der Polizei ein wenig unter die Arme zu greifen, und genau das beabsichtigte er nun zu tun.
Das Gelände des Campingplatzes Himmelreich war ein lichter Kiefernwald auf einer Halbinsel, der Wentorf-Insel. Idyllisch gelegen, umgeben von drei Seen, ein einzigartiges Paradies mit guter Verkehrsanbindung nach Potsdam und Berlin. Einzig die Hauptdurchfahrtsstraße war befestigt, die übrigen Wege nicht.
Es hatte lange nicht mehr geregnet, der Boden war trocken, bei jedem Schritt wallte der haltlose Sand auf. Die Flipflop-Menschen hatten allesamt schwarze Füße.
Nach wenigen Minuten passierte das Malheur.
Pinguin machte einen Katzenbuckel und kackte. Wenigstens tat sie das nicht mitten auf dem Weg, sondern hatte dafür den niedrigen Stumpen einer gefällten Kiefer erklommen. Da lag nun ihr Geschäft und dünstete in die Morgenluft.
Kupernikus schob die Kappe hoch, kratzte sich am Kopf und sah sich um.
Guckte jemand?
Nee.
Also schnell weiter!