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Vor wenigen Stunden hat Pfarrer Clement noch gesagt, der Menschheit würde ein großer Dienst erwiesen, wenn jemand Kirchenvorsteher Colonel Protheroe ins Jenseits befördere - nun ist Protheroe tatsächlich tot und Pfarrer Clement in einer unangenehmen Situation. Zum Glück führt das seitliche Tor der Pfarrei direkt in den Garten von Miss Marple, die die Ermittlungen aufnimmt.
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Seitenzahl: 337
Agatha Christie
Mord im Pfarrhaus
Ein Fall für Miss Marple
Aus dem Englischen von Irmela Brender
Hoffmann und Campe
Für Rosalind
Es ist schwer zu sagen, wo man mit dieser Geschichte beginnen soll, aber ich habe mich für einen gewissen Mittwoch beim Lunch im Pfarrhaus entschieden. Obwohl das Gespräch im großen Ganzen für die bewusste Angelegenheit belanglos war, fielen doch ein oder zwei Andeutungen, die den Fortgang der Ereignisse beeinflussten.
Ich hatte gerade das gekochte Rindfleisch zerlegt (es war übrigens bemerkenswert zäh) und setzte mich wieder, da erklärte ich in einer meinem Stand ganz unangemessenen Regung, dass jeder, der Colonel Protheroe um die Ecke bringen würde, der Welt einen großen Dienst erweise.
Mein junger Neffe Dennis sagte sofort: »Das wird gegen dich sprechen, falls der alte Knabe in seinem Blut gefunden wird. Mary wird es bezeugen, nicht wahr, Mary? Und beschreiben, wie rachsüchtig du das Fleischmesser geschwungen hast.«
Mary, die ihren Dienst im Pfarrhaus als Sprungbrett zu besseren Dingen und höherem Gehalt betrachtet, sagte nur laut und sachlich: »Gemüse«, und knallte aufsässig eine angeschlagene Schüssel auf den Tisch.
Meine Frau fragte mitfühlend: »War er sehr anstrengend?«
Ich antwortete nicht gleich, weil Mary mir eine Platte mit ausnehmend feuchten und unappetitlichen Klößen unter die Nase schob. Ich sagte: »Nein, danke«, sie schmiss die Platte geräuschvoll auf den Tisch und ging hinaus.
»Zu schade, dass ich eine so grässliche Hausfrau bin«, sagte meine Frau mit echtem Bedauern.
Ich neigte dazu, ihr recht zu geben. Meine Frau heißt Griselda – ein höchst geeigneter Name für eine Pfarrersfrau. Aber da hört die Eignung auch schon auf. Sie ist kein bisschen sanft.
Ich war immer der Meinung, ein Geistlicher sollte unverheiratet bleiben. Warum ich Griselda nach vierundzwanzigstündiger Bekanntschaft bedrängte, mich zu heiraten, ist mir ein Rätsel. Die Ehe, behaupte ich stets, ist eine ernste Angelegenheit, die erst nach reiflicher Überlegung und mit Vorbedacht in Angriff genommen werden sollte, und die Übereinstimmung von Geschmack und Neigung spielt dabei die bedeutendste Rolle.
Griselda ist fast zwanzig Jahre jünger als ich. Sie ist verwirrend hübsch und ganz unfähig, irgendetwas ernst zu nehmen. Sie ist in jeder Hinsicht untüchtig und eine äußerst anstrengende Lebensgefährtin. Sie betrachtet die Pfarrei als eine Art riesigen Spaß, der zu ihrer Belustigung arrangiert wurde. Ich habe mich bemüht, ihren Geist zu formen, und bin gescheitert. Mehr denn je bin ich davon überzeugt, dass der Zölibat für den Klerus wünschenswert ist. Häufig habe ich das Griselda gegenüber angedeutet, aber sie hat nur gelacht.
»Meine Liebe«, sagte ich jetzt, »wenn du dir ein wenig Mühe geben würdest …«
»Manchmal mache ich das«, sagte Griselda. »Aber alles in allem glaube ich, dass noch mehr schiefgeht, wenn ich es versuche. Ich bin offenbar von Natur aus keine Hausfrau. Ich finde es besser, Mary alles zu überlassen und mich damit abzufinden, ungenügend zu sein und scheußliche Sachen essen zu müssen.«
»Und was ist mit deinem Ehemann, meine Liebe?«, fragte ich tadelnd und folgte dem Beispiel des Teufels, indem ich die Schrift in meinem Sinne zitierte: »›Sie schaut, wie es in ihrem Hause zugeht …‹«
Griselda unterbrach mich schnell. »Denk nur, wie gut du dran bist! Du wirst weder von Löwen in Stücke gerissen noch am Marterpfahl verbrannt. Schlechtes Essen und viel Staub und tote Wespen sind wirklich kein Grund zur Aufregung. Erzähl mir mehr über Colonel Protheroe. Jedenfalls konnten die frühen Christen von Glück reden, dass sie keine Kirchenvorsteher hatten.«
»Aufgeblasenes altes Ekel«, sagte Dennis. »Kein Wunder, dass ihm seine Frau davongelaufen ist.«
»Ich weiß nicht, was sie sonst hätte tun sollen«, bemerkte meine Frau.
»Griselda! Ich dulde nicht, dass du so sprichst.«
»Liebling«, sagte meine Frau zärtlich. »Erzähl mir von ihm. Was war los? Ging es darum, dass Mr Hawes ständig knickst und nickt und sich bekreuzigt?«
Hawes ist seit gut drei Wochen unser neuer Vikar. Er ist Anhänger der High Church und fastet freitags. Colonel Protheroe hasst Rituale in jeder Form.
»Diesmal nicht. Er hat das Thema nur gestreift. Nein, der ganze Ärger dreht sich um Mrs Price Ridleys unglückselige Pfundnote.«
Mrs Price Ridley ist ein frommes Mitglied meiner Gemeinde. Beim Frühgottesdienst am Jahrestag des Todes ihres Sohns hatte sie eine Pfundnote in den Klingelbeutel gesteckt. Als sie später las, was die Kollekte eingebracht hatte, bemerkte sie zu ihrem Schmerz, dass ein Zehn-Shilling-Schein als höchster Einzelbeitrag genannt wurde.
Sie beschwerte sich deshalb bei mir, und ich wies sie mit allem Respekt darauf hin, dass sie sich geirrt haben musste.
»Wir sind alle nicht mehr so jung, wie wir einmal waren«, taktvoll hatte ich versucht abzulenken, »und wir müssen den Jahren Tribut zollen.«
Merkwürdigerweise schienen meine Worte sie noch mehr zu erbosen. Sie sagte, die Sache sehe höchst merkwürdig aus und sie sei überrascht, dass ich ihre Meinung nicht teile. Dann stürmte sie davon und trug offenbar ihre Sorgen Colonel Protheroe vor. Protheroe gehört zu den Menschen, die mit Vergnügen aus jedem nur denkbaren Anlass Wirbel machen. Und er machte Wirbel. Zu schade, dass er sich dazu einen Mittwoch aussuchte. Mittwochs morgens unterrichte ich am theologischen Seminar, was mich immer Nerven kostet und den ganzen Tag aus dem Gleichgewicht bringt.
»Nun, ein bisschen Spaß muss er wohl haben.« Meine Frau gab sich den Anschein einer Unparteiischen. »Schließlich schwirrt niemand um ihn herum und nennt ihn ›lieber Pfarrer‹ und bestickt ihm grässliche Pantoffeln und schenkt ihm Bettschuhe zu Weihnachten. Seine Frau und seine Tochter haben die Nase voll von ihm. Wahrscheinlich macht es ihn glücklich, dass er sich irgendwo wichtig vorkommen kann.«
»Er hatte keinen Grund, beleidigend zu werden«, erwiderte ich erregt. »Ich glaube, ihm war gar nicht richtig klar, was er da sagte. Er will die gesamte Buchhaltung der Kirche prüfen – ob es Veruntreuungen gegeben habe. Das war das Wort, das er gebrauchte. Veruntreuungen! Verdächtigt er vielleicht mich, Kirchengelder zu unterschlagen?«
»Niemand würde dich irgendwelcher Verfehlungen verdächtigen, Liebling«, sagte Griselda. »Du bist so offenkundig über jeden Verdacht erhaben, dass es wirklich eine fabelhafte Gelegenheit wäre. Ich wünschte, du würdest die Gelder der Missionsgesellschaft unterschlagen. Ich hasse Missionare – seit jeher.«
Ich hätte sie wegen dieser Äußerung zurechtgewiesen, doch in diesem Moment kam Mary mit einem halbgaren Reispudding herein. Ich protestierte mild, aber Griselda sagte, dass die Japaner immer halbgaren Reis essen und dieser Diät ihre fabelhaften Hirne verdanken.
»Ich wette«, sagte sie, »wenn du täglich bis Sonntag solchen Reispudding essen würdest, könntest du eine fabelhafte Predigt halten.«
Ich schauderte. »Da sei der Himmel vor.«
»Protheroe kommt morgen Abend, und wir nehmen uns zusammen die Bücher vor«, fuhr ich fort. »Heute muss ich meinen Vortrag für den M.V.A.K. fertigschreiben. Als ich einen Quellenvermerk nachschlug, habe ich mich so in Kanonikus Shirleys Reality vertieft, dass ich nicht so weit gekommen bin, wie ich sollte. Was tust du heute Nachmittag, Griselda?«
»Meine Pflicht«, sagte Griselda. »Meine Pflicht als Pfarrfrau. Um vier Uhr dreißig gibts Tee und Skandale.«
»Wer kommt?«
Griselda errötete tugendhaft und zählte sie an den Fingern ab: »Mrs Price Ridley, Miss Wetherby, Miss Hartnell und diese schreckliche Miss Marple.«
»Ich mag Miss Marple eigentlich«, sagte ich. »Sie hat zumindest Sinn für Humor.«
»Sie ist die schlimmste Katze im Dorf. Und sie weiß immer alles, was passiert – und zieht daraus die schlimmsten Schlüsse.«
Griselda ist, wie ich bereits erwähnt habe, wesentlich jünger als ich. In meinem Alter weiß man, dass das Schlimmste gewöhnlich stimmt.
»Also mit mir brauchst du zum Tee nicht zu rechnen, Griselda«, sagte Dennis.
»Unmensch!«, sagte Griselda.
»Ja, aber schau mal, die Protheroes haben mich wirklich heute zum Tennis eingeladen.«
»Unmensch!«, wiederholte Griselda.
Dennis zog sich vorsichtig zurück, und Griselda und ich gingen in mein Arbeitszimmer.
»Ich bin mal gespannt, was wir zum Tee serviert bekommen.« Griselda setzte sich auf meinen Schreibtisch. »Wahrscheinlich Dr. Stone und Miss Cram und vielleicht Mrs Lestrange. Übrigens wollte ich sie gestern besuchen, aber sie war ausgegangen. Ja, bestimmt gibts zum Tee Klatsch über Mrs Lestrange. Es ist so mysteriös, nicht wahr, wie sie hier ankommt, ein Haus mietet und es fast nie verlässt. Da fallen einem gleich Kriminalromane ein. Du weißt schon – ›Wer war sie, die geheimnisvolle blasse, schöne Frau? Was lag hinter ihr? Niemand wusste es. Sie hatte etwas Unheimliches an sich.‹ Ich glaube, Dr. Haydock weiß etwas über sie.«
»Du liest zu viele Kriminalromane, Griselda«, bemerkte ich nachsichtig.
»Und du? Neulich habe ich überall Der Fleck auf der Treppe gesucht, als du hier eine Predigt schriebst. Und wie ich hereinkomme und dich fragen will, ob du das Buch irgendwo gesehen hast, was stelle ich da fest?«
Anstandshalber wurde ich rot. »Ich habe es ganz in Gedanken in die Hand genommen. Zufällig fiel mein Blick auf einen Satz, und …«
»Das kenne ich.« Eindrucksvoll deklamierte Griselda: »Und dann geschah etwas sehr Merkwürdiges – Griselda erhob sich, durchquerte das Zimmer und küsste liebevoll ihren ältlichen Ehemann.« Sie setzte ihre Worte in die Tat um.
»Ist das etwas sehr Merkwürdiges?«, fragte ich.
»Natürlich. Ist dir klar, Len, wen ich alles hätte heiraten können? Einen Staatsminister, einen Baronet, einen reichen Unternehmer, drei Offiziere der niederen Dienstgrade und einen Tunichtgut mit hinreißenden Manieren. Und statt ihrer habe ich dich gewählt. Hat dich das nicht sehr gewundert?«
»Damals schon. Ich habe mich oft gefragt, warum du das getan hast«, antwortete ich.
Griselda lachte. »Es hat mir ein solches Gefühl der Macht gegeben«, murmelte sie. »Die anderen fanden mich einfach wunderbar, und natürlich wäre es für sie sehr schön gewesen, mich zu kriegen. Aber ich bin alles das, was du am meisten verabscheust und missbilligst, und trotzdem konntest du mir nicht widerstehen! Das war zu viel für meine Eitelkeit. Es ist wesentlich schöner, eine geheime und köstliche Sünde für jemanden zu sein als eine Feder an seinem Hut. Ich mache dich grässlich verlegen und gehe dir gegen den Strich, und trotzdem liebst du mich wahnsinnig. Du liebst mich wahnsinnig, stimmts?«
»Natürlich habe ich dich sehr gern, meine Liebe.«
»Oh! Len, du liebst mich. Weißt du noch, wie ich in der Stadt blieb und dir ein Telegramm schickte, das du nie erhieltest, weil die Schwester der Postmeisterin Zwillinge bekam und sie vergaß, es herzuschicken? Du warst außer dir und hast Scotland Yard angerufen und das tollste Theater aufgeführt.«
Es gibt Dinge, an die man nicht gern erinnert wird. Damals hatte ich mich wirklich unvorstellbar albern benommen. Ich sagte: »Wenn du nichts dagegen hast, Liebes, möchte ich jetzt mit dem M.V.A.K. weitermachen.«
Griselda seufzte höchst irritiert, zerzauste mir die Haare, glättete sie wieder und sagte: »Du verdienst mich nicht. Wirklich nicht. Ich werde eine Affäre mit dem Maler anfangen. Das werde ich – wirklich und wahrhaftig. Und dann stell dir den Skandal in der Pfarrgemeinde vor.«
»Davon gibt es schon genug«, entgegnete ich mild.
Griselda lachte, warf mir eine Kusshand zu und ging durch die Glastür hinaus.
Griselda ist eine sehr irritierende Frau. Als ich vom Mittagstisch aufstand, war ich in der richtigen Stimmung, einen wirklich zündenden Vortrag für den Männerverband der Anglikanischen Kirchen zu schreiben. Jetzt war ich nervös und verstört.
Gerade als ich mich wieder auf die Arbeit konzentrierte, wehte Lettice Protheroe herein.
Ich benutze das Wort »wehte« mit Bedacht. Ich habe Romane gelesen, in denen junge Leute vor Energie bersten – joie de vivre, die herrliche Vitalität der Jugend … Aber alle jungen Leute, denen ich persönlich begegne, haben etwas Geisterhaftes an sich.
Lettice war an diesem Nachmittag besonders gespenstisch. Sie ist ein hübsches Mädchen, sehr groß und blond und völlig geistesabwesend. Sie glitt durch die Glastür, zog gedankenverloren die gelbe Baskenmütze vom Kopf und murmelte vage mit einer Art unbeteiligter Überraschung: »Ach! Sie sind es.«
Von Old Hall führt ein Weg durch den Wald, der an unserem Gartentor endet, sodass die meisten Leute von dort durch den Garten zum Arbeitszimmer kommen, statt außen herum über die Straße zu gehen und die Haustür zu nehmen. Ich war nicht überrascht, dass Lettice so das Haus betrat, aber ich ärgerte mich etwas über ihre Bemerkung.
Wenn man zum Pfarrhaus geht, sollte man sich darauf einstellen, einem Pfarrer zu begegnen.
Sie kam herein und ließ sich in einen meiner großen Sessel fallen. Dort saß sie zusammengesunken, zupfte sinnlos an ihrem Haar und starrte an die Decke.
»Ist Dennis hier irgendwo?«
»Seit dem Mittagessen habe ich ihn nicht gesehen. Ich glaube, er wollte zu Ihnen und Tennis spielen.«
»Oh!«, sagte Lettice. »Hoffentlich nicht. Er wird niemanden antreffen.«
»Er sagte, Sie hätten ihn eingeladen.«
»Ich glaube, das stimmt. Nur war es für Freitag. Und heute ist Dienstag.«
»Es ist Mittwoch«, sagte ich.
»O wie schrecklich. Das bedeutet, dass ich zum dritten Mal vergessen habe, mit ein paar Leuten zum Essen zu gehen.«
Zum Glück schien ihr das nicht viel auszumachen.
»Ist Griselda irgendwo in der Nähe?«
»Ich nehme an, Sie finden sie im Atelier im Garten – sie sitzt Lawrence Redding Modell.«
»Es hat ein ziemliches Trara seinetwegen gegeben«, sagte Lettice. »Mit Vater, wissen Sie. Vater ist grässlich.«
»Worum ging es denn bei dem Tr – weshalb?«, fragte ich.
»Weil er mich malt. Vater ist dahintergekommen. Warum darf ich mich nicht im Badeanzug malen lassen? Wenn ich darin zum Strand gehe, kann man mich doch auch darin malen?«
Lettice machte eine Pause, bevor sie weitersprach.
»Es ist wirklich absurd – dass Vater einem jungen Mann das Haus verbietet. Lawrence und ich kichern natürlich bloß darüber. Ich werde hierherkommen und mich in Ihrem Arbeitszimmer malen lassen.«
»Nein, meine Liebe. Nicht, wenn Ihr Vater es verbietet.«
»Ach je.« Lettice seufzte. »Wie langweilig alle sind. Ich bin am Boden zerstört. Absolut. Wenn ich nur ein bisschen Geld hätte, würde ich weggehen, aber ohne kann ich nicht. Wenn mein Vater nur anständig genug wäre zu sterben, ginge es mir gut.«
»Sie dürfen so etwas nicht sagen, Lettice.«
»Nun, wenn er nicht will, dass ich ihm den Tod wünsche, sollte er sich nicht so wegen Geld anstellen. Mich wundert nicht, dass meine Mutter ihn verlassen hat. Wissen Sie, dass ich jahrelang geglaubt habe, sie sei tot? Was für ein junger Mann war das, mit dem sie davongelaufen ist? War er nett?«
»Es geschah, bevor Ihr Vater hierhergezogen ist.«
»Ich wüsste gern, was aus ihr geworden ist. Wahrscheinlich wird Anne bald mit jemandem eine Affäre haben. Anne hasst mich – sie verhält sich ganz anständig mir gegenüber, aber sie hasst mich. Sie wird alt, und das gefällt ihr nicht. In diesem Alter bricht man aus, wissen Sie.«
Ich fragte mich, ob Lettice den ganzen Nachmittag in meinem Arbeitszimmer verbringen würde.
»Haben Sie meine Schallplatten gesehen?«, fragte sie.
»Nein.«
»Wie dumm. Ich weiß, dass ich sie irgendwo gelassen habe. Und ich habe den Hund verloren. Und meine Armbanduhr ist irgendwo, aber das macht weiter nichts, denn sie geht nicht. Ach je, ich bin so müde. Ich weiß nicht warum, ich bin nämlich erst um elf aufgestanden. Aber das Leben ist sehr anstrengend, finden Sie nicht auch? Ach je, ich muss gehen. Ich will mir um drei Dr. Stones Hügelgrab anschauen.«
Ich schaute auf die Uhr und sagte, dass es jetzt fünf nach halb vier sei.
»Oh! Wirklich? Wie schrecklich. Ob sie wohl gewartet haben, oder ob sie ohne mich gegangen sind? Ich sollte lieber gehen und mich darum kümmern.«
Sie stand auf und schwebte hinaus, wobei sie über die Schulter murmelte: »Sagen Sie Dennis Bescheid, bitte.«
Ich sagte automatisch »Ja« und merkte zu spät, dass ich keine Ahnung hatte, was ich Dennis sagen sollte. Aber ich überlegte, dass es sehr wahrscheinlich keine Rolle spielte. Ich dachte über Dr. Stone nach, einen bekannten Archäologen, der vor kurzem im Blauen Eber Quartier bezogen hatte und die Ausgrabung eines Hügelgrabs auf dem Grundstück von Colonel Protheroe leitete. Es hatte schon mehrere Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Colonel gegeben. Dass er sich mit Lettice verabredet hatte und ihr die Arbeiten zeigen wollte, amüsierte mich.
Lettice Protheroe hatte, fand ich, etwas von einem Biest. Wie sie wohl mit der Sekretärin des Archäologen, Miss Cram, auskam? Miss Cram ist eine gesunde junge Frau von fünfundzwanzig, laut in ihrem Auftreten, mit kräftigen Farben, guten Instinkten und einem Mund, der mehr als die übliche Anzahl Zähne zu enthalten scheint.
Im Dorf ist man geteilter Meinung über sie. Die einen halten sie für nicht besser, als zu erwarten, die anderen sehen in ihr eine junge Frau von eiserner Tugend, die beabsichtigt, bei nächster Gelegenheit Mrs Stone zu werden. Sie ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von Lettice.
Ich konnte mir vorstellen, dass in Old Hall die Dinge nicht zum Besten standen. Colonel Protheroe hatte vor etwa fünf Jahren wieder geheiratet. Die zweite Mrs Protheroe war eine bemerkenswert hübsche Frau mit ziemlich ungewöhnlichem Stil. Ich hatte schon immer vermutet, dass die Beziehungen zwischen ihr und ihrer Stieftochter nicht allzu glücklich waren.
Ich wurde noch einmal unterbrochen. Diesmal von meinem Vikar Hawes. Er wollte die Einzelheiten meines Gesprächs mit Protheroe wissen. Ich sagte ihm, dass der Colonel seine »römischen Tendenzen« missbilligte, sein Besuch aber einen ganz anderen Anlass hatte. Zugleich äußerte ich mein eigenes Missfallen und machte ihm klar, dass er sich meinen Anweisungen zu fügen habe. Im großen Ganzen nahm er meine Bemerkungen sehr gut auf.
Als er gegangen war, hatte ich Gewissensbisse, weil ich ihn nicht besser leiden konnte. Diese irrationalen Sympathien und Antipathien sind bestimmt sehr unchristlich.
Seufzend merkte ich, dass die Zeiger auf meiner Schreibtischuhr auf Viertel vor fünf standen. Das bedeutete, dass es eigentlich halb fünf war, und ich machte mich auf in den Salon.
Vier meiner Pfarrkinder waren dort beim Tee versammelt. Griselda saß hinter dem Teetisch und versuchte in ihrer häuslichen Umgebung natürlich auszusehen, wirkte aber noch deplatzierter als sonst.
Ich schüttelte allen die Hand und setzte mich zwischen Miss Marple und Miss Wetherby.
Miss Marple ist eine weißhaarige alte Dame mit freundlichem, einnehmendem Wesen, Miss Wetherby eine Mischung aus Essig und Sentimentalität. Miss Marple ist die weitaus Gefährlichere von beiden.
»Gerade haben wir«, sagte Griselda mit honigsüßer Stimme, »über Dr. Stone und Miss Cram geredet.«
Ein frecher Reim von Dennis schoss mir durch den Kopf: »Ach, Miss Cram kennt keine Scham.« Plötzlich hatte ich größte Lust, ihn laut zu sagen und die Wirkung zu beobachten, doch glücklicherweise hielt ich mich zurück.
Miss Wetherby sagte knapp: »Kein anständiges Mädchen würde es tun«, und kniff missbilligend die dünnen Lippen zusammen.
»Was tun?«, fragte ich.
»Als Sekretärin für einen unverheirateten Mann arbeiten«, sagte Miss Wetherby empört.
»Oh, meine Liebe«, sagte Miss Marple, »ich glaube, die verheirateten sind die schlimmsten. Denken Sie an die arme Mollie Carter.«
»Verheiratete Männer, die von ihren Frauen getrennt leben, sind natürlich die schlimmsten«, erklärte Miss Wetherby.
»Und selbst einige von denen, die mit ihren Frauen leben«, murmelte Miss Marple. »Ich denke da an …«
Ich unterbrach diese unerfreulichen Erinnerungen. »Aber heutzutage kann doch ein Mädchen genauso eine Stelle annehmen wie ein Mann.«
»Um aufs Land zu gehen? Und im selben Hotel zu wohnen?«, fragte Mrs Price Ridley streng.
Miss Wetherby murmelte leise Miss Marple zu: »Und alle Zimmer sind im gleichen Stockwerk …«
Miss Hartnell, wettergegerbt und fröhlich und der Schrecken der Armen, erklärte laut und herzhaft: »Der arme Mann wird eingefangen, bevor er noch weiß, wo er ist. Er ist so unschuldig wie ein ungeborenes Baby, das kann man sehen.«
Merkwürdig ist das mit Redensarten. Auf ein tatsächliches Baby hätte keine dieser Damen auch nur im Traum angespielt, bevor es nicht sicher und sichtbar für alle in der Wiege lag.
»Widerlich nenne ich das«, äußerte Miss Hartnell mit ihrer üblichen Taktlosigkeit. »Der Mann muss mindestens fünfundzwanzig Jahre älter sein als sie.«
Drei weibliche Stimmen erhoben sich und machten zusammenhanglose Bemerkungen über den Ausflug des Knabenchors, den bedauerlichen Zwischenfall beim letzten Müttertreff und die Zugluft in der Kirche. Miss Marple blinzelte Griselda zu.
»Glauben Sie nicht«, sagte meine Frau, »dass Miss Cram nur einfach einen interessanten Job haben möchte? Und dass sie Dr. Stone lediglich als Arbeitgeber betrachtet?«
Es wurde still. Offenbar stimmte keine der vier Damen zu. Miss Marple redete als Erste. Sie tätschelte Griseldas Arm und sagte: »Meine Liebe, Sie sind noch sehr jung. Die Jungen haben ein so unschuldiges Gemüt.«
Griselda entgegnete ungehalten, dass sie ganz und gar kein unschuldiges Gemüt habe.
»Natürlich«, Miss Marple überhörte ihren Protest, »denken Sie von jedem das Beste.«
»Glauben Sie wirklich, dass sie diesen glatzköpfigen Langweiler heiraten will?«
»Soviel ich weiß, ist er recht betucht«, sagte Miss Marple. »Ein ziemlich jähzorniger Charakter, fürchte ich. Neulich hatte er einen recht heftigen Streit mit Colonel Protheroe.«
Alle beugten sich interessiert vor.
»Colonel Protheroe hat ihn beschuldigt, ein Ignorant zu sein.«
»Wie typisch Colonel Protheroe, und wie absurd«, sagte Mrs Price Ridley.
»Typisch Colonel Protheroe, aber ich weiß nicht, ob es so absurd ist«, entgegnete Miss Marple. »Erinnern Sie sich an die Frau, die kam und behauptete, sie sei vom Wohlfahrtsverein, und nachdem sie Spenden gesammelt hatte, verschwand sie, und es stellte sich heraus, dass sie mit dem Wohlfahrtsverein überhaupt nichts zu tun hatte. Man neigt so dazu, vertrauensselig zu sein und die Menschen nach ihrer Selbsteinschätzung zu bewerten.«
Nicht im Traum hätte ich Miss Marple als vertrauensselig beschrieben.
»Es hat Ärger wegen dieses jungen Malers gegeben, Mr Redding, nicht wahr?«, fragte Miss Wetherby.
Miss Marple nickte. »Colonel Protheroe hat ihn aus dem Haus geworfen. Offenbar hat er Lettice im Badeanzug gemalt.«
»Ich dachte doch immer, dass sie etwas miteinander haben«, sagte Mrs Price Ridley. »Dieser junge Mensch lungert ständig dort oben herum. Zu schade, dass das Mädchen keine Mutter hat. Eine Stiefmutter ist nie das Gleiche.«
»Ich behaupte, Mrs Protheroe tut ihr Bestes«, sagte Miss Hartnell.
»Mädchen sind so durchtrieben«, beklagte Mrs Price Ridley.
»Eine schöne Liebesgeschichte, nicht wahr«, sagte die weichherzige Miss Wetherby. »Er ist ein sehr gutaussehender junger Mann.«
»Aber mit lockerem Lebenswandel«, fand Miss Hartnell. »Zwangsläufig. Ein Maler! Paris! Modelle! Das ganze Drumherum!«
»Sie im Badeanzug zu malen«, bemerkte Mrs Price Ridley. »Nicht sehr anständig.«
»Mich malt er auch«, sagte Griselda.
»Aber nicht in Ihrem Badeanzug«, entgegnete Miss Marple.
»Es könnte schlimmer sein«, antwortete Griselda.
»Unartiges Mädchen!« Miss Hartnell reagierte großzügig auf den Scherz. Alle anderen sahen leicht schockiert aus.
»Hat die liebe Lettice Ihnen von dem Ärger erzählt?«, fragte mich Miss Marple.
»Mir?«
»Ja. Ich habe gesehen, wie sie durch Ihren Garten zu Ihrem Arbeitszimmer ging.«
Miss Marple sieht immer alles. Gartenarbeit ist gute Tarnung, und die Gewohnheit, Vögel durch starke Ferngläser zu beobachten, kann stets als Erklärung dienen.
»Sie hat die Sache erwähnt, ja«, gab ich zu.
»Mr Hawes hat bedrückt ausgesehen«, sagte Miss Marple. »Hoffentlich arbeitet er nicht zu viel.«
»Oh!«, rief Miss Wetherby aufgeregt. »Fast hätte ich es vergessen. Ich wusste doch, dass ich Neuigkeiten für Sie habe. Ich sah, wie Dr. Haydock aus dem Haus von Mrs Lestrange kam.«
Alle schauten einander an.
»Vielleicht ist sie krank«, gab Mrs Price Ridley zu bedenken.
»Dann muss das sehr plötzlich gekommen sein«, sagte Miss Hartnell. »Ich sah sie nämlich heute Nachmittag um drei durch ihren Garten gehen, und da wirkte sie ganz gesund.«
»Sie und Dr. Haydock müssen alte Bekannte sein.« Das war Mrs Price Ridley. »Darüber schweigt er sich aus.«
»Merkwürdig«, sagte Mrs Wetherby, »dass er es nie auch nur erwähnt hat.«
»Tatsache ist …«, sagte Griselda mit tiefer, geheimnisvoller Stimme und schwieg wieder. Alle beugten sich erregt vor.
»Zufällig weiß ich«, Griselda machte das sehr eindrucksvoll, »dass ihr Mann Missionar war. Eine schreckliche Geschichte. Er wurde aufgegessen, wissen Sie. Tatsächlich verzehrt. Und sie musste die Frau des Häuptlings werden. Dr. Haydock war auf einer Expedition und rettete sie.«
Einen Augenblick nahm die Erregung überhand, dann sagte Miss Marple vorwurfsvoll, aber lächelnd: »Unartiges Mädchen!«
Tadelnd klopfte sie Griselda auf den Arm. »Sehr unklug von Ihnen, meine Liebe. Wenn Sie solche Sachen erfinden, könnten die Leute sie glauben. Und manchmal führt das zu Komplikationen.«
Die Gesellschaft war merkbar ernüchtert. Zwei Damen standen auf und verabschiedeten sich.
»Ich frage mich, ob der junge Lawrence Redding und Lettice Protheroe wirklich etwas miteinander haben«, sagte Miss Wetherby. »Es sieht jedenfalls so aus. Was meinen Sie, Miss Marple?«
Miss Marple schien nachzudenken. »Ich würde das nicht behaupten. Nicht Lettice. Eine ganz andere Person, würde ich sagen.«
»Aber Colonel Protheroe muss gedacht haben …«
»Auf mich hat er schon immer einen ziemlich dummen Eindruck gemacht«, sagte Miss Marple. »Er setzt sich die falsche Idee in den Kopf und hält stur daran fest. Erinnern Sie sich an Joe Bucknell, den ehemaligen Wirt vom Blauen Eber? So ein Wirbel um seine Tochter, die angeblich etwas mit dem jungen Bailey hatte. Und die ganze Zeit war es dieses Biest von seiner Frau.«
Während sie redete, sah sie direkt Griselda an, und ich spürte plötzlich, wie heiße Wut in mir aufstieg.
»Glauben Sie nicht, Miss Marple«, sagte ich, »dass wir alle dazu neigen, unseren Zungen zu freien Lauf zu lassen? Nächstenliebe kennt keine bösen Gedanken, wissen Sie. Törichtes Geschwätz und bösartiger Klatsch können unvorstellbaren Schaden anrichten.«
»Lieber Pfarrer«, sagte Miss Marple, »Sie sind so weltfremd. Ich fürchte, wenn man die menschliche Natur so lange beobachtet hat wie ich, erwartet man nicht mehr sehr viel von ihr. Ich möchte behaupten, müßiger Tratsch ist sehr unrecht und unfreundlich, aber so häufig wahr, oder etwa nicht?«
Dieser letzte Giftpfeil traf.
»Widerliche alte Katze«, sagte Griselda, sobald die Tür geschlossen war.
Sie schnitt eine Grimasse hinter den scheidenden Gästen, dann sah sie mich an und lachte.
»Len, verdächtigst du mich wirklich, eine Affäre mit Lawrence Redding zu haben?«
»Mein Liebes, natürlich nicht.«
»Aber du hast gedacht, Miss Marple würde das andeuten. Und du hast dich wunderbar zu meiner Verteidigung aufgeschwungen. Wie – wie ein wütender Tiger.«
Einen Moment lang überkam mich Beklommenheit. Ein Pfarrer der anglikanischen Kirche sollte sich nie in eine Situation bringen, in der er als wütender Tiger beschrieben werden kann.
»Ich fand, der Anlass könne nicht ohne Protest vorübergehen. Aber Griselda, ich wünschte, du wärst in deinen Äußerungen etwas vorsichtiger.«
»Meinst du die Kannibalengeschichte?«, fragte sie. »Oder die Andeutung, dass Lawrence mich nackt malt! Wenn sie nur wüssten, dass er mich in einem dicken Mantel mit hohem Pelzkragen porträtiert – damit könnte man höchst schicklich den Papst besuchen – nirgendwo auch nur ein bisschen sündiges Fleisch! Überhaupt ist alles so wunderbar schicklich. Lawrence versucht noch nicht einmal, zärtlich zu werden – ich kann mir nicht denken, warum.«
»Bestimmt weil er weiß, dass du eine verheiratete Frau bist.«
»Tu doch nicht so, als kämst du aus der Arche Noah, Len. Du weißt genau, dass eine attraktive junge Frau mit einem älteren Ehemann eine Art Himmelsgeschenk für einen jungen Mann ist. Es muss einen anderen Grund geben – es ist schließlich nicht so, als wäre ich nicht attraktiv – das bin ich.«
»Bestimmt willst du doch nicht, dass er zärtlich wird?«
»N-n-ein«, sagte Griselda mit mehr Zögern, als ich für passend hielt.
»Wenn er in Lettice Protheroe verliebt ist …«
»Miss Marple schien das nicht zu glauben.«
»Miss Marple kann sich irren.«
»Sie irrt sich nie. Alte Katzen wie sie haben immer recht.« Sie überlegte eine Minute und sagte dann mit einem raschen Seitenblick auf mich: »Du glaubst mir doch, oder? Ich meine, dass nichts zwischen Lawrence und mir ist?«
»Meine liebe Griselda«, sagte ich überrascht. »Natürlich.«
Meine Frau kam herüber und küsste mich. »Ich wollte, du wärst nicht so schrecklich leicht zu täuschen, Len. Du würdest alles glauben, was ich sage.«
»Das hoffe ich doch. Aber mein Liebes, ich bitte dich wirklich, deine Zunge zu hüten und darauf zu achten, was du sagst. Diese Frauen sind einmalig humorlos, denk daran, und nehmen alles ernst.«
»Was sie brauchen«, sagte Griselda, »ist ein bisschen Unmoral in ihrem Leben. Dann würden sie in dem anderer Leute nicht so eifrig danach suchen.«
Und damit ging sie hinaus, und nach einem Blick auf die Uhr beeilte ich mich, einige Hausbesuche zu machen.
Der Mittwochabendgottesdienst war wie gewöhnlich schlecht besucht. Als ich mich in der Sakristei umgezogen hatte und durch die Kirche hinausging, war sie leer bis auf eine Frau, die zu einem unserer Fenster hochschaute. Wir haben einige ziemlich schöne alte Buntglasfenster, und auch die Kirche selbst lohnt eine Besichtigung. Bei meinen Schritten drehte sich die Frau um. Es war Mrs Lestrange.
Wir zögerten beide einen Moment, dann sagte ich: »Hoffentlich gefällt Ihnen unsere kleine Kirche.«
»Ich habe den Lettner bewundert.«
Ihre Stimme war angenehm, leise, doch sehr deutlich, mit klarer Aussprache. Sie fügte hinzu: »Es tut mir leid, dass ich gestern Ihre Frau verfehlt habe.«
Wir redeten noch ein paar Minuten über die Kirche. Sie war offenbar eine kultivierte Frau, die einiges über Kirchengeschichte und Architektur wusste. Zusammen verließen wir das Gebäude und gingen die Straße entlang, da mein Weg zum Pfarrhaus an ihrem Haus vorbeiführte. An ihrem Gartentor bat sie freundlich: »Kommen Sie doch bitte herein. Und sagen Sie mir, was Sie von meinen Veränderungen im Haus halten.«
Ich nahm die Einladung an. Little Gates hatte vorher einem angloindischen Colonel gehört, und ich muss zugeben, dass ich erleichtert das Fehlen der Messingtische und birmanischen Götzenbilder registrierte. Das Haus war jetzt sehr einfach, aber mit erlesenem Geschmack eingerichtet. Es hatte eine friedliche, harmonische Atmosphäre.
Doch ich fragte mich immer mehr, was eine Frau wie Mrs Lestrange nach St. Mary Mead gebracht hatte. Sie war so eindeutig eine Frau von Welt, dass nur eine merkwürdige Neigung sie getrieben haben konnte, sich in einem Dorf auf dem flachen Land zu vergraben.
Im hellen Licht des Salons konnte ich sie zum ersten Mal genau betrachten.
Sie war eine sehr große Frau. Ihr goldfarbenes Haar hatte einen Stich ins Rötliche. Augenbrauen und Wimpern waren dunkel, ob von Natur aus oder durch künstliche Nachhilfe, konnte ich nicht entscheiden. Wenn sie überhaupt Make-up trug, dann war es sehr kunstvoll aufgetragen. Ihr Gesicht hatte etwas Sphinxartiges, wenn es ruhig und entspannt war, und sie hatte die seltsamsten Augen, die ich je gesehen hatte – im Schatten waren sie fast golden.
Ihre Kleidung war perfekt, und sie hatte das ungezwungene Auftreten einer Frau aus gutem Haus, und doch war etwas Ungereimtes und Verwirrendes an ihr. Sie wirkte mysteriös. Das Wort, das Griselda benutzt hatte, fiel mir ein – unheimlich. Absurd natürlich, und doch – war es so absurd? Ungebeten kam mir der Gedanke in den Sinn: »Diese Frau würde skrupellos sein.«
Unser Gespräch verlief in völlig normalen Bahnen – über Bilder, Bücher, Kirchen. Doch irgendwie hatte ich den starken Eindruck, dass da noch etwas war – etwas ganz anderes, was Mrs Lestrange mir sagen wollte.
Ein- oder zweimal bemerkte ich, wie sie mich mit einem seltsamen Zögern anschaute, als könnte sie sich nicht entscheiden. Sie beschränkte die Unterhaltung ganz auf unpersönliche Themen und erwähnte nie einen Ehemann oder Angehörige.
Die ganze Zeit war da aber diese sonderbare, dringliche Aufforderung in ihrem Blick, als wollte sie sagen: »Soll ich Sie darauf ansprechen? Ich möchte es. Können Sie mir helfen?«
Doch dann verschwand dieser Zug – oder vielleicht hatte ich ihn mir nur eingebildet. Ich hatte das Gefühl, dass ich entlassen war. Ich stand auf und verabschiedete mich. Als ich aus dem Zimmer ging, wandte ich mich um und sah, wie sie mir mit einem verwunderten, zweifelnden Ausdruck nachschaute. Spontan kehrte ich um. »Wenn ich irgendwas für Sie tun kann …«
Sie sagte zweifelnd: »Das ist sehr freundlich von Ihnen …«
Wir schwiegen beide. Dann sagte sie: »Wenn ich es nur wüsste. Es ist schwierig. Nein, ich glaube, niemand kann mir helfen. Aber danke für das Angebot.«
Das schien endgültig, also ging ich. Aber ich hörte nicht auf mich zu wundern. In St. Mary Mead sind wir an Rätsel nicht gewohnt.
Das trifft so sehr zu, dass sich sofort jemand auf mich stürzte, als ich aus dem Gartentor kam. Miss Hartnell ist sehr gut darin, sich gnadenlos und lästig auf jemanden zu stürzen.
»Ich habe Sie gesehen!«, rief sie mit plumpem Humor. »Und ich war so aufgeregt. Jetzt können Sie uns alles über sie erzählen.«
»Über wen oder was?«
»Die geheimnisvolle Dame! Ist sie Witwe, oder hat sie irgendwo einen Ehemann?«
»Das weiß ich wirklich nicht. Sie hat es mir nicht erzählt.«
»Höchst sonderbar. Man sollte denken, dass sie so etwas unbedingt erwähnt. Es sieht fast so aus, als hätte sie einen Grund zum Schweigen, nicht wahr?«
»Das sehe ich wirklich nicht so.«
»Ah! Aber wie die liebe Miss Marple sagt, Sie sind so weltfremd, lieber Pfarrer. Sagen Sie, kennt sie Dr. Haydock schon lange?«
»Sie hat ihn nicht erwähnt, ich weiß es also nicht.«
»Wirklich nicht? Worüber haben Sie denn gesprochen?«
»Bilder, Musik, Bücher«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
Miss Hartnell, deren einzige Gesprächsthemen rein persönlicher Natur sind, sah mich misstrauisch und ungläubig an. Während sie überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte, nutzte ich ihr kurzes Zögern, wünschte ihr gute Nacht und ging schnell davon.
Ich machte einen Besuch in einem Haus weiter unten im Dorf und kehrte durch den Garten ins Pfarrhaus zurück, wobei ich an der Gefahrenzone von Miss Marples Garten vorbeikam. Doch da ich es für unmöglich hielt, dass die Neuigkeit von meinem Besuch bei Mrs Lestrange bereits an ihre Ohren gedrungen war, fühlte ich mich einigermaßen sicher.
Als ich das Gartentor verriegelte, fiel mir ein, dass ich die paar Schritte zum Schuppen gehen könnte, den der junge Lawrence Redding als Atelier benutzte. Dann könnte ich mich selbst überzeugen, welche Fortschritte Griseldas Porträt machte.
Ich füge hier eine grobe Skizze bei, die im Licht späterer Ereignisse nützlich sein wird, wobei ich nur die nötigen Einzelheiten einzeichne.
Ich hatte keine Ahnung, dass jemand im Atelier war. Keine Stimmen von innen hatten mich gewarnt, und meine eigenen Schritte machten vermutlich kein Geräusch auf dem Gras.
Ich öffnete die Tür und blieb verlegen auf der Schwelle stehen. Denn im Atelier waren zwei Menschen, der Mann hatte die Arme um die Frau gelegt und küsste sie leidenschaftlich.
Die beiden waren der Maler Lawrence Redding und Mrs Protheroe.
Überstürzt machte ich kehrt und trat den Rückzug in mein Arbeitszimmer an. Dort setzte ich mich, zog meine Pfeife heraus und überlegte. Die Entdeckung hatte mich ungeheuer erschreckt. Vor allem seit meinem Gespräch mit Lettice am Nachmittag war ich ziemlich sicher gewesen, dass eine Art Einverständnis zwischen ihr und dem jungen Mann keimte. Zudem war ich überzeugt, dass sie selbst so dachte. Bestimmt hatte sie keine Ahnung von den Gefühlen des Malers für ihre Stiefmutter.
Ein schlimmes Durcheinander. Widerwillig musste ich Miss Marples Scharfsinn anerkennen. Sie hatte sich nicht täuschen lassen, sondern offenbar den wahren Sachverhalt ziemlich genau vermutet. Ihren vielsagenden Blick auf Griselda hatte ich völlig missverstanden.
Nicht im Traum wäre ich auf Mrs Protheroe gekommen. Sie hatte stets etwas Hoheitsvolles an sich – eine stille, zurückhaltende Frau, der man keine sehr tiefen Gefühle zutraute.
So weit war ich in meinen Überlegungen gekommen, als mich ein Klopfen an der Glastür aufschreckte. Ich ging hinüber. Draußen stand Mrs Protheroe. Ich öffnete die Tür, und sie kam herein, ohne auf meine Aufforderung zu warten. Atemlos ging sie durchs Zimmer und ließ sich aufs Sofa fallen.
Mir war, als hätte ich sie nie zuvor wirklich gesehen. Die stille, zurückhaltende Frau, die ich kannte, war verschwunden. Stattdessen saß da ein nach Luft ringendes, verzweifeltes Geschöpf. Zum ersten Mal erkannte ich, dass Anne Protheroe schön war.
Sie war eine braunhaarige Frau mit blassem Gesicht und sehr tiefliegenden grauen Augen. Jetzt war ihr Gesicht gerötet, und ihre Brust hob und senkte sich erregt. Es war, als wäre eine Statue plötzlich lebendig geworden. Erstaunt sah ich die Verwandlung.
»Ich hielt es für das Beste, zu Ihnen zu kommen«, sagte sie. »Sie – Sie haben uns gerade gesehen?« Ich neigte den Kopf.
Sehr schnell sagte sie: »Wir lieben uns …«
Und sogar mitten in ihrer sichtlichen Not und Aufregung konnte sie ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Das Lächeln einer Frau, die etwas sehr Schönes, Wunderbares sieht.
Ich sagte immer noch nichts, und sie fuhr schnell fort: »Ich nehme an, Ihnen kommt das sehr unrecht vor?«
»Können Sie von mir etwas anderes erwarten, Mrs Protheroe?«
»Nein – nein, wahrscheinlich nicht.«
Ich versuchte, meine Stimme so sanft wie möglich klingen zu lassen: »Sie sind doch eine verheiratete Frau …«
Sie unterbrach mich. »Oh, ich weiß – ich weiß. Glauben Sie, dass ich mir das nicht immer wieder gesagt habe? Ich bin im Grunde keine schlechte Frau – das bin ich nicht. Und die Dinge sind – sind nicht so, wie Sie glauben könnten.«
Ernst sagte ich: »Darüber bin ich froh.«
Ziemlich zaghaft fragte sie: »Werden Sie es meinem Mann sagen?«
Trocken antwortete ich: »Es scheint allgemein die Ansicht zu herrschen, dass ein Pfarrer unfähig ist, sich wie ein Gentleman zu benehmen. Das stimmt nicht.«
Sie schaute mich dankbar an. »Ich bin so unglücklich. Oh! Ich bin so schrecklich unglücklich. Ich kann so nicht weiterleben. Ich kann es einfach nicht. Und ich weiß nicht, was ich tun soll.« Ihre Stimme klang jetzt leicht hysterisch. »Sie wissen nicht, wie mein Leben aussieht. Von Anfang an war ich unglücklich mit Lucius. Keine Frau könnte mit ihm glücklich sein. Ich wollte, er wäre tot … Es ist schrecklich, aber es stimmt … Ich bin verzweifelt. Ich sage Ihnen, ich bin verzweifelt.« Sie schreckte zusammen und sah zum Fenster.
»Was war das? Ich dachte, ich hätte jemanden gehört? Vielleicht ist es Lawrence.«
Ich ging zur Glastür und merkte, dass ich sie nicht geschlossen hatte. Ich trat hinaus und schaute in den Garten, aber niemand war zu sehen. Und doch war ich fast überzeugt, dass auch ich jemanden gehört hatte. Oder vielleicht hatte ihre Sicherheit mich überzeugt.
Als ich wieder ins Zimmer kam, saß sie vorgebeugt mit gesenktem Kopf, ein Bild der Verzweiflung. Dann wiederholte sie: »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Ich setzte mich neben sie. Ich sagte, was ich für meine Pflicht zu sagen hielt, und versuchte es mit der nötigen Überzeugungskraft vorzubringen, wobei mir die ganze Zeit beklemmend bewusst war, dass ich am selben Tag geäußert hatte, die Welt wäre ohne Colonel Protheroe in einem besseren Zustand.
Vor allem bat ich sie, nichts zu überstürzen. Ihr Heim und ihren Mann zu verlassen, war ein sehr bedeutsamer Schritt.
Ich glaube nicht, dass ich sie überzeugte. Ich habe lange genug in der Welt gelebt, um zu wissen, dass es so gut wie sinnlos ist, mit Verliebten zu argumentieren, aber ich glaube, dass meine Worte ihr einen gewissen Trost spendeten.
Als sie aufbrach, dankte sie mir und versprach zu bedenken, was ich gesagt hatte.
Dennoch war ich sehr besorgt, als sie gegangen war. Ich hatte das Gefühl, Anne Protheroes Charakter falsch beurteilt zu haben. Jetzt erschien sie mir als eine sehr verzweifelte Frau, die vor nichts zurückschrecken würde, wenn ihre Gefühle einmal geweckt waren. Und sie war verzweifelt, heftig, wahnsinnig verliebt in Lawrence Redding, einen Mann, der mehrere Jahre jünger war als sie.
Es gefiel mir nicht.
Ich hatte ganz vergessen, dass wir Lawrence Redding für diesen Abend zum Dinner eingeladen hatten. Als Griselda hereinstürmte und mich schalt, weil wir in zwei Minuten essen sollten, war ich ziemlich überrascht.
»Ich hoffe, dass alles klappt«, rief Griselda mir auf der Treppe nach. »Ich habe mir zu Herzen genommen, was du beim Lunch gesagt hast, und mir wirklich ein paar ziemlich gute Gerichte ausgedacht.«
Nebenbei gesagt bestätigte unser Abendessen weitgehend Griseldas Versicherung, dass noch mehr schiefging, wenn sie sich Mühe gab, als wenn sie das sein ließ. Das Menü war ehrgeizig entworfen, und Mary schien ein perverses Vergnügen daran gefunden zu haben, die Speisen abwechselnd zu kurz und zu lange zu kochen. Ein paar Austern, die Griselda bestellt hatte und die jenseits des Zugriffs Unfähiger zu sein schienen, konnten wir unglücklicherweise nicht kosten, weil wir nichts im Haus hatten, um sie zu öffnen – wir merkten es erst, als sie gegessen werden sollten.
Ich hatte eher bezweifelt, dass Lawrence Redding kommen würde. Er hätte sehr leicht eine Entschuldigung schicken können.
Doch er traf pünktlich ein, und wir vier gingen zu Tisch.
Lawrence Redding hat eine unbestreitbar gewinnende Persönlichkeit. Ich schätze ihn auf etwa dreißig. Er hat dunkles Haar, doch die Augen sind von einem leuchtenden, fast verblüffenden Blau. Er gehört zu den jungen Männern, die alles gut machen. Er ist ein guter Sportler, ein ausgezeichneter Schütze, ein guter Amateurschauspieler und kann eine erstklassige Geschichte erzählen. Er vermag jede Party zu einem Erfolg zu machen. Ich glaube, er hat irisches Blut in den Adern. Er entspricht überhaupt nicht dem Bild, das man sich von einem typischen Künstler macht. Doch ich glaube, er ist ein guter Maler der modernen Richtung. Ich selbst verstehe sehr wenig von Malerei.
Es war nur natürlich, dass er gerade an diesem Abend ein wenig distrait wirkte. Im großen Ganzen hatte er sich sehr gut im Griff. Ich glaube nicht, dass Griselda oder Dennis etwas bemerkten. Wahrscheinlich hätte ich selbst nichts bemerkt, wenn ich nicht Bescheid gewusst hätte.