Mord im Spiegel - Agatha Christie - E-Book

Mord im Spiegel E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Die glamouröse Schauspielerin Marina Gregg zieht ins verschlafene Dorf St. Mary Mead. Sie lädt zu einem Empfang ein, bei dem die Tratschtante Heather Badcock - gerade noch mit ihrem Filmidol ins Gespräch vertieft - tot umfällt. War der Giftcocktail für einen anderen Gast bestimmt? Miss Marples Spürsinn schaltet sich ein, da sie weiß, dass jedes noch so harmlos erscheinende Dorf seine dunklen Geheimnisse birgt.

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Seitenzahl: 329

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Agatha Christie

Mord im Spiegel

Ein Fall für Miss Marple

Aus dem Englischen von Ursula Gaïl

Atlantik

Für Margarete Rutherford, mit Bewunderung

Out flew the web and floated wide;

The mirror crack’d from side to side;

›The curse is come upon me!‹ cried

The Lady of Shalott.

Alfred Tennyson

1

I

Miss Marple saß am Fenster und blickte in ihren Garten hinaus, der einst eine Quelle des Stolzes und der Freude für sie gewesen war. Doch das war lange vorbei. Wenn sie heute hinaussah, tat ihr das Herz weh. Schon seit einiger Zeit hatte ihr der Arzt alle Gartenarbeit verboten. Kein Bücken mehr, kein Graben und Pflanzen – höchstens ab und zu einen kleinen Ast abschneiden. Der alte Laycock, der dreimal in der Woche kam, tat sein Bestes, zweifellos. Aber wie die Dinge nun einmal lagen, war sein Bestes nicht sehr viel, obwohl er das glaubte, im Gegensatz zu seiner Arbeitgeberin. Miss Marple wusste genau, was Laycock im Garten machen sollte und wann er es machen sollte, und besprach ihre Wünsche mit ihm. Doch der alte Laycock hatte ein besonderes Talent, ihr mit großer Begeisterung zuzustimmen und danach nichts zu unternehmen.

»Sie haben völlig recht, Miss Marple«, meinte er zum Beispiel. »Der Klatschmohn sollte dort drüben stehen, und die Glockenblumen pflanzen wir an der Mauer. Und wie Sie sagen, sollte man es gleich Anfang nächster Woche in Angriff nehmen.«

Die Ausflüchte, die Laycock erfand, wirkten sehr glaubwürdig und erinnerten an jene, die Kapitän George in Drei Mann in einem Boot vorgebracht hatte, um nicht in See stechen zu müssen. Im Falle des Kapitäns blies der Wind immer aus der falschen Richtung, mal vom Land her, mal vom Meer, oder es wehte ein launischer Westwind oder ein tückischer Ostwind. Bei Laycock war es das Wetter. Zu trocken – zu nass – der Boden zu feucht – ein Hauch Frost in der Luft. Oder etwas unerhört Dringendes musste vorher erledigt werden. Gewöhnlich hatte es mit Kohl oder Rosenkohl zu tun, was er beides in ungeheuren Mengen zog. Laycocks eigene gärtnerische Prinzipien waren simpel, und kein Arbeitgeber, wie sachkundig er auch war, konnte ihn von ihnen abbringen.

Diese Prinzipien bestanden vor allem darin, zur Aufmunterung zahllose Tassen Tee zu trinken, süß und stark, im Herbst ständig Blätter zusammenzurechen und eine gewisse Anzahl seiner eigenen Lieblingsblumen für den Sommer in ein Beet zu pflanzen, hauptsächlich Astern und Malven, »damit es hübsch aussieht«, wie er sagte. Er war auch sehr dafür, die Rosen gegen die grüne Blattlaus zu spritzen, doch es dauerte lange, bis er es tat, und der Bitte, für die Wicken tiefe Rillen zu ziehen, wurde gewöhnlich mit der Bemerkung begegnet, dass man seine eigenen Wicken hätte sehen sollen. Die waren im vergangenen Jahr eine richtige Pracht gewesen, ganz ohne besondere Pflege.

Um fair zu sein: Er war sehr anhänglich und hatte Verständnis für die Schwächen seiner Arbeitgeber, was ihren Garten betraf – solange nicht zu viel Arbeit damit verbunden war –, doch eigentlich ließ er nur Gemüse als wirklich wichtig gelten, hübschen Wirsing oder ein wenig Grünkohl. Blumen waren ein Luxus, den die Damen liebten, weil sie mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen wussten. Er zeigte seine Zuneigung, indem er Pflanzen wie die schon erwähnten Astern oder Malven anschleppte, dazu Lobelien und Sommerchrysanthemen.

»Ich habe drüben in der neuen Siedlung gearbeitet. Hübsche Gärten hat man dort geplant, sehr hübsch. Sie haben mehr Pflanzen, als sie brauchen, da habe ich ein paar mitgebracht. Ich steck sie bei den altmodischen Rosen rein. Die sind nicht mehr besonders.«

Als Miss Marple daran dachte, senkte sie den Blick und nahm das Strickzeug wieder auf.

Man musste sich mit den Tatsachen abfinden: St. Mary Mead war nicht mehr so wie früher. In gewisser Weise war natürlich nichts mehr so wie früher. Man konnte dem Krieg – beiden Kriegen – die Schuld geben, oder den jungen Leuten, oder weil die Frauen heute arbeiteten, oder der Atombombe, oder ganz einfach der Regierung – aber was man in Wirklichkeit damit sagen wollte, war die klare Tatsache, dass man alt wurde. Miss Marple, die eine sehr vernünftige alte Dame war, wusste dies sehr gut. Es war nur so, dass sie es in gewisser Weise in St. Mary Mead mehr spürte. Vielleicht, weil sie hier schon seit so langer Zeit lebte.

St. Mary Mead, den alten Ortskern, gab es immer noch. Das Blue Boar, und die Kirche und das Pfarrhaus und die kleine Ansammlung von Queen-Anne-Häusern und georgianischen Villen, zu denen auch ihr Haus gehörte. Auch Miss Hartnells Haus gab es noch, wie auch Miss Hartnell selbst, die bis zum letzten Atemzug den Fortschritt bekämpfen würde. Miss Wetherby war gestorben, und in ihrem Haus wohnte jetzt der Bankdirektor mit seiner Familie, nachdem Türen und Fensterrahmen durch einen Anstrich in leuchtendem Königsblau verschönert worden waren. In den meisten alten Häusern wohnten neue Leute, doch die Häuser selbst waren kaum verändert worden, da die Käufer sie gerade wegen ihres »altmodischen Charmes« gekauft hatten, wie der Makler es nannte. Die neuen Bewohner hatten höchstens ein Badezimmer angebaut oder eine Menge Geld für neue Leitungen, einen elektrischen Herd oder eine Spülmaschine ausgegeben.

Die alten Häuser sahen zwar noch so aus wie früher, doch von der Dorfstraße konnte man das kaum behaupten. Wenn hier ein Laden den Besitzer wechselte, so geschah es mit der Absicht, sofort und so gründlich wie möglich zu modernisieren. Mit seinem neuen riesigen Schaufenster, hinter dem die auf Eis liegenden Fische glitzerten, war das Fischgeschäft kaum wiederzuerkennen. Der Metzger hatte am Althergebrachten festgehalten – denn gutes Fleisch blieb gutes Fleisch, falls man das Geld hatte, es zu bezahlen. Sonst musste man die billigeren Stücke und die Knochen nehmen und sich eben damit zufriedengeben. Barnes, der Lebensmittelladen, war noch da und unverändert, wofür Miss Hartnell und Miss Marple und andere Gott täglich dankten. So zuvorkommend – bequeme Stühle an der Theke und ausführliche Gespräche über die Dicke der Speckscheiben, und eine große Auswahl an Käse. Am Ende der Straße, wo einst Mr Toms Korbgeschäft gewesen war, stand jetzt allerdings ein glitzernder moderner Supermarkt – für die alten Damen von St. Mary Mead ein ständiger Stein des Anstoßes.

»Die verkaufen abgepacktes Zeug, von dem man noch nie gehört hat«, empörte sich Miss Hartnell. »Riesige Pakete mit Frühstücksflocken, statt einem Kind ein ordentliches Frühstück aus Eiern und Speck zu machen! Man muss einen Einkaufskorb nehmen und selbst nach den Sachen suchen … manchmal dauert es eine Viertelstunde, bis man es gefunden hat … und dann ist es nicht die passende Menge, entweder zu groß oder zu klein abgepackt. Und wenn man hinausgehen will, wartet immer eine lange Schlange an der Kasse. Höchst ermüdend! Natürlich ist es für die Leute aus der Siedlung sehr bequem …«

An dieser Stelle brach sie ab.

Denn es war ihr zur Gewohnheit geworden, dann nicht weiterzusprechen. Die Siedlung und Punkt. Das Wort sprach für sich, und zwar großgeschrieben.

II

Miss Marple stieß einen kurzen ärgerlichen Ausruf aus. Sie hatte wieder eine Masche fallen gelassen. Und das schon vor einiger Zeit. Aber erst jetzt, als sie für den Hals abnehmen und die Maschen zählen musste, hatte sie es bemerkt. Sie nahm eine Reservenadel, hielt das Strickzeug schräg ins Licht und betrachtete es besorgt. Sogar die neue Brille nützte nicht viel. Weil, überlegte sie, anscheinend eine Zeit kam, wo selbst der Optiker, trotz seines üppigen Wartezimmers, trotz seiner modernen Instrumente, trotz der grellen Lampe, mit der er einem ins Auge leuchtete, und trotz der hohen Gebühren, die er verlangte, nichts mehr für einen tun konnte. Miss Marple dachte mit einer gewissen Wehmut daran, wie gut ihre Sehkraft noch vor ein paar Jahren gewesen war (nun, vielleicht nicht gerade vor ein paar Jahren). Von ihrem Garten aus, der so günstig gelegen war wie ein Aussichtspunkt – wie wenig war ihrem wachsamen Auge von dem entgangen, was in St. Mary Mead geschah! Und mit Hilfe des Fernrohrs, das sie angeblich brauchte, um die Vögel zu beobachten – eine höchst nützliche Ausrede –, hatte sie stets sehen können, wie …

Sie wollte nicht weiter daran denken, sondern ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit zurückwandern. Anne Protheroe im Sommerkleid, wie sie zum Pfarrgarten ging. Und Oberst Protheroe – der Ärmste –, ein sehr langweiliger und unangenehmer Mann, das stand fest … aber auf diese Weise ermordet zu werden … Miss Marple schüttelte den Kopf und dachte an Griselda, die hübsche junge Frau des Pfarrers. Die liebe Griselda … so eine treue Freundin … Jedes Jahr zu Weihnachten eine Karte. Ihr netter kleiner Junge hatte sich zu einem strammen jungen Mann entwickelt, mit einem sehr anständigen Beruf. War er nicht Ingenieur? Es hatte ihm immer Spaß gemacht, seine Eisenbahn zu zerlegen. Hinter dem Pfarrhaus war der Zaunübergang und der Feldweg zu den Weiden von Bauer Giles gewesen, wo nun – heute …

Dort lag jetzt die Siedlung.

Und warum auch nicht, überlegte Miss Marple sachlich. Es war einfach notwendig. Die Häuser wurden dringend gebraucht und waren sehr solide gebaut. Jedenfalls hatte man ihr das erzählt. »Landerschließung«, oder wie die Fachleute es nannten. Obwohl sie nicht begreifen konnte, warum so viele Straßen Close hießen, was Hof bedeutete: Aubrey Close, und Longwood Close, und Grandison Close, und all die anderen. Dabei hatten die Häuser keinen Hof. Miss Marple wusste genau, wie ein richtiger Hof auszusehen hatte. Ihr Onkel war Domherr der Kathedrale von Chichester gewesen. Als Kind hatte sie ihn besucht und bei ihm im Domhof gewohnt.

Mit Cherry Baker war es dasselbe. Sie nannte Miss Marples altmodisches, übermöbliertes Wohnzimmer »Halle«. Miss Marple pflegte sie dann freundlich zu korrigieren. »Es ist das Wohnzimmer, Cherry.« Und Cherry, die jung und gutmütig war, bemühte sich, daran zu denken, obwohl sie die Bezeichnung »Halle« viel moderner fand. Miss Marple mochte Cherry sehr. Eigentlich hieß sie Mrs Baker. Sie stammte aus der Siedlung und gehörte zu dem Trupp junger Ehefrauen, der im Supermarkt einkaufte und seine Kinderwagen durch die stillen Straßen von St. Mary Mead schob, alles intelligente, hübsche Frauen, mit gepflegtem, lockigem Haar. Sie lachten und unterhielten sich und schienen sich alle zu kennen. Sie erinnerten an einen fröhlichen Vogelschwarm. Obwohl ihre Männer ordentlich verdienten, waren sie immer in Geldschwierigkeiten, weil sie der Versuchung, irgendetwas auf Raten zu kaufen, nicht widerstehen konnten. Deshalb gingen sie putzen oder kochen. Cherry war eine tüchtige Köchin, eine intelligente Person, die Telefonanrufe richtig notierte und sofort merkte, wenn eine Rechnung nicht stimmte. Die Matratzen umzudrehen, hielt sie für ziemlich überflüssig, und was das Abwaschen betraf, so ging Miss Marple immer mit abgewandtem Gesicht an der Spülküche vorbei, um nicht mit ansehen zu müssen, wie Cherry das schmutzige Geschirr in den Ausguss knallte und mit einem Schaumberg aus Spülmittel zudeckte. Miss Marple hatte stillschweigend das alte Worcester-Teegeschirr aus dem Verkehr gezogen und es in den Eckschrank gestellt, aus dem es nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt wurde. Sie hatte ein modernes Service in Weiß mit grauem Muster gekauft, ohne jede Goldverzierung, die doch nur von Cherry weggewaschen worden wäre.

Wie anders war es früher gewesen … Zum Beispiel die treue Florence, ein Dragoner von einem Dienstmädchen, und dann Amy und Clara und Alice, reizende junge Mädchen aus dem Waisenhaus von St. Faith, die sie ausgebildet hatte und die sich später eine besser bezahlte Stelle suchten. Einige waren ziemlich einfältig gewesen, viele hatten Polypen gehabt, und Amy hatte eindeutig Anzeichen von Schwachsinn gezeigt. Sie hatten mit den anderen Dienstmädchen im Ort geklatscht und waren mit dem Verkäufer vom Fischhändler ausgegangen, oder mit dem Gärtnergehilfen vom Gut, oder mit einem der vielen Angestellten aus Mr Barnes’ Lebensmittelgeschäft.

Miss Marple ließ ihre Gedanken voll Freundlichkeit in die Vergangenheit wandern, und ihr fielen die unzähligen Wolljäckchen ein, die sie später für die Kinder ihrer Mädchen gestrickt hatte. Am Telefon hatten sie alle nichts getaugt, und rechnen konnten sie überhaupt nicht. Andererseits wussten sie, wie man sorgfältig abwusch und ein Bett machte. Sie hatten mehr Sachkenntnis als Erziehung gehabt. Seltsam, dass es heutzutage immer mehr gebildete junge Mädchen gab, die im Haushalt arbeiteten, Schülerinnen aus dem Ausland, Au-pair-Mädchen, Studentinnen während der Semesterferien, junge verheiratete Frauen wie Cherry Baker, die in neuen Siedlungen wohnten, in Straßen, die sie Close nannten, obwohl es keine Höfe gab.

Blieben immer noch Leute wie zum Beispiel Miss Knight. Der Gedanke an sie kam Miss Marple ganz plötzlich, weil Miss Knights Schritte über ihr die Kristallprismen an den Leuchtern auf dem Kaminsims warnend klirren ließen. Offenbar hatte Miss Knight ihren Nachmittagsschlaf beendet. Jetzt würde sie sich, wie gewöhnlich, zu ihrem Spaziergang aufmachen. In ein paar Minuten würde sie erscheinen und Miss Marple fragen, ob sie ihr etwas besorgen solle. Wie immer, wenn sie an Miss Knight dachte, gingen Miss Marples Gedanken in eine bestimmte Richtung.

Natürlich war es äußerst großzügig vom lieben Raymond (ihrem Neffen) … und jemand freundlicheren als Miss Knight konnte man sich gar nicht vorstellen … und natürlich hatte sie die schwere Bronchitis sehr geschwächt … und Dr. Haydock hatte sehr bestimmt gesagt, dass sie nicht allein im Haus schlafen solle, denn sie hatte nur eine Tageshilfe, aber … Miss Marple rief sich zur Ordnung. Es hatte keinen Zweck, dem Gedanken nachzuhängen, was wäre, wenn jemand anders als Miss Knight sich um sie kümmern könnte. Als alte Frau hatte man heute keine große Wahl. Treue Dienstmädchen waren aus der Mode. Im Ernstfall konnte man eine ausgebildete Krankenschwester bekommen, die unglaublich viel kostete und schwer zu finden war, oder man konnte ins Krankenhaus gehen. Doch wenn das Schlimmste vorbei war, blieben nur noch Frauen wie Miss Knight, um einen zu pflegen.

Nicht dass irgendetwas mit Frauen vom Typ Miss Knights nicht stimmte – außer der Tatsache, dass man sich ständig über sie ärgern musste. Sie waren voll Sympathie, bereit, ihren Schützlingen freundlich entgegenzukommen, sie aufzumuntern, fröhlich und zuversichtlich mit ihnen umzugehen und sie, überlegte Miss Marple, im Allgemeinen zu behandeln, als sei man ein geistig leicht zurückgebliebenes Kind.

»Aber«, sagte Miss Marple, »ich bin kein geistig zurückgebliebenes Kind, auch wenn ich alt bin.«

In diesem Augenblick stürmte Miss Knight voll Fröhlichkeit ins Zimmer, wie üblich ziemlich heftig atmend. Sie war eine große, etwas schwammig wirkende Frau von sechsundfünfzig Jahren mit sehr gut frisiertem gelbgrauem Haar, einer Brille, einer langen dünnen Nase, mit einem gutmütigen Mund darunter und einem schwachen Kinn.

»Da wären wir!«, rief sie mit lärmender Heiterkeit, die sie für angebracht hielt, um alte Leute aus ihrem grauen Trübsinn zu reißen und aufzumuntern. »Ich hoffe, wir haben ein Nickerchen gemacht?«

»Ich habe gestrickt«, erwiderte Miss Marple mit der Betonung auf dem Ich, »und habe«, fuhr sie, ihre Schwäche beschämt eingestehend, fort, »eine Masche fallen gelassen.«

»Ach, meine Gute«, sagte Miss Knight, »das werden wir gleich in Ordnung bringen, nicht wahr?«

»Sie tun das«, erklärte Miss Marple. »Ich kann es leider nicht.«

Die leichte Schärfe in ihrem Ton verpuffte ziemlich wirkungslos. Wie gewöhnlich war Miss Knight voll Hilfsbereitschaft.

»So«, sagte sie kurz darauf. »Das hätten wir, meine Gute. Der Fehler ist behoben.«

Obwohl Miss Marple es völlig richtig fand, dass die Frau des Gemüsehändlers sie »meine Gute« – oder sogar »meine Beste«, nannte, oder die Verkäuferin aus dem Schreibwarengeschäft, ärgerte sie sich jedes Mal entsetzlich, wenn Miss Knight es zu ihr sagte. Noch so eine Sache, die alte Leute dulden mussten. Sie bedankte sich höflich bei Miss Knight.

»Und jetzt gehe ich ein kleines bisschen bummeln«, sagte Miss Knight spaßhaft. »Bleibe nicht lange.«

»Bitte, Sie brauchen sich nicht zu beeilen«, antwortete Miss Marple höflich und ernst.

»Nun, ich möchte Sie nicht zu lange allein lassen, meine Gute, damit Sie nicht anfangen, Trübsal zu blasen.«

»Sie können ganz beruhigt sein. Ich fühle mich sehr wohl. Vielleicht mache ich ein Schläfchen.« Miss Marple schloss die Augen.

»Sehr schön, meine Gute. Soll ich Ihnen etwas mitbringen?«

Miss Marple öffnete die Augen wieder und überlegte.

»Sie könnten bei Longdon fragen, ob die Vorhänge fertig sind. Und mir vielleicht noch einen Strang blaue Wolle bei Mrs Wisley holen. Und eine Schachtel Johannisbeerpastillen aus der Apotheke. Und tauschen Sie bitte in der Bibliothek mein Buch um, aber lassen Sie sich nur etwas geben, das auf meiner Liste steht! Der letzte Roman war fürchterlich. Ich konnte ihn nicht lesen.« Sie hielt Frühlingserwachen hoch.

»Ach, mein Gute, Sie mochten es nicht. Ich dachte, Sie würden begeistert sein. So eine entzückende Geschichte!«

»Und wenn es Ihnen nicht zu weit ist, könnten Sie noch bei Halletts vorbeischauen und fragen, ob sie einen Schneebesen haben – aber nicht den zum Drehen, Sie wissen schon.«

Miss Marple wusste genau, dass Halletts keine Schneebesen hatte, aber es war der Laden, der am weitesten entfernt war.

»Hoffentlich ist es Ihnen nicht zu viel …«, murmelte sie.

Aber Miss Knight antwortete mit offenkundiger Ernsthaftigkeit.

»Selbstverständlich nicht. Es freut mich, wenn ich Ihnen einen Gefallen tun kann.«

Miss Knight kaufte für ihr Leben gern ein. Es war das Salz der Erde für sie. Man traf Bekannte und konnte einen kleinen Schwatz halten, man klatschte mit dem Verkäufer und hatte die Möglichkeit, die unterschiedlichsten Dinge in vielen verschiedenen Läden zu betrachten. Und man konnte eine Menge Zeit mit dieser erfreulichen Beschäftigung verbringen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil man nicht auf dem schnellsten Weg zurückkehrte.

Nach einem letzten Blick auf die gebrechliche alte Dame, die so friedlich am Fenster saß, machte sich Miss Knight also fröhlich auf den Weg.

Nachdem Miss Marple ein paar Minuten gewartet hatte, ob Miss Knight zurückkam, um ein Netz oder ihre Handtasche oder ein Taschentuch zu holen – Miss Knight war groß im Vergessen und Zurückkommen –, und auch, um sich von der Anstrengung zu erholen, die das Erfinden von Aufträgen für Miss Knight hervorgerufen hatte, stand sie rasch auf, warf ihr Strickzeug auf einen Stuhl und ging zielstrebig durch das Zimmer und in den Flur hinaus. Sie nahm ihren Sommermantel vom Haken, holte einen Spazierstock aus dem Ständer und vertauschte die Hausschuhe gegen ein Paar solide Laufschuhe. Dann verließ sie durch die Hintertür das Haus.

»Sie wird mindestens eineinhalb Stunden brauchen«, sagte Miss Marple laut. »Wenn nicht länger – bei den vielen Leuten aus der Siedlung, die um diese Zeit einkaufen.«

Im Geist sah Miss Marple Miss Knight bei Longdon wegen der Vorhänge nachfragen, die noch gar nicht fertig sein konnten. Ihre Vermutung stimmte bemerkenswert genau. Gerade in diesem Augenblick sagte Miss Knight: »Natürlich war mir klar, dass sie noch nicht fertig sein konnten! Aber natürlich sagte ich, ich würde mich erkundigen, als die alte Dame mich darum bat. Die lieben alten Leute, sie haben so wenig, auf das sie sich freuen können! Man muss sie aufmuntern. Und sie ist eine so reizende alte Dame. Etwas schwächlich geworden, doch das war zu erwarten – die Kräfte nehmen eben ab. Wirklich ein hübscher Stoff, den Sie da haben. Gibt es ihn auch in anderen Farben?«

Miss Knight verbrachte angenehme zwanzig Minuten in dem Laden und verabschiedete sich schließlich. Nachdem sie gegangen war, bemerkte die erste Verkäuferin mit einem verächtlichen Schnüffeln: »Schwächlich soll sie sein? Das glaube ich erst, wenn ich sie selbst gesehen habe. Die alte Miss Marple war immer munter wie ein Reh und ist es bestimmt auch jetzt noch!« Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit einer jungen Frau in engen Hosen und Segeltuchjacke zu, die einen Plastikvorhang mit Krabbenmuster für das Badezimmer suchte.

»Sie erinnert mich an Emily Waters, ja, genau!«, sagte Miss Marple, der es immer Spaß machte, Vergleiche mit Menschen aus ihrer Vergangenheit anzustellen und Ähnlichkeiten zu entdecken. »Das gleiche Spatzenhirn! Was ist eigentlich aus Emily geworden?«

Nichts Besonderes, überlegte sie. Einmal hätte sie sich beinahe mit dem Pfarrer verlobt, doch nachdem sie sich ein paar Jahre gekannt hatten, war die Sache im Sand verlaufen. Entschlossen verdrängte Miss Marple jeden weiteren Gedanken an ihre Pflegerin aus ihrem Kopf und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Umgebung. Sie hatte eilig den Garten durchquert und nur aus den Augenwinkeln heraus festgestellt, dass Laycock die Rosen zurechtgestutzt hatte, als wären es Polyantharosen, doch sie ließ sich von dem Anblick nicht deprimieren. Sie wollte das köstliche Gefühl auskosten, dass es ihr gelungen war, ihrer Pflegerin zu entschlüpfen und allein einen Ausflug machen zu können. Es war wie ein großes Abenteuer. Sie wandte sich nach links, schritt durch das Tor zum Pfarrgarten, ging durch den Garten und stand vor dem Zaunübergang zu den Viehweiden. Aber wo einst dieser Übergang gewesen war, befand sich jetzt ein Gittertor, der Weg dahinter war asphaltiert. Die schmale Straße führte zu einer hübschen kleinen Brücke und auf der anderen Seite des Flusses zu den einstigen Viehweiden, wo keine Kühe mehr grasten, sondern jetzt die Siedlung stand.

2

Mit dem Gefühl, das Columbus gehabt haben musste, als er auszog, die Neue Welt zu entdecken, schritt Miss Marple über die Brücke und den Weg entlang. Vier Minuten später war sie schon in der Aubrey Close.

Natürlich hatte Miss Marple die Siedlung von der Market Basing Road aus schon gesehen, das heißt, aus der Ferne. All die Reihen von hübschen, ordentlich gebauten Häusern mit den Fernsehantennen und den blau und rosa und gelb und grün gestrichenen Türen und Fenstern! Doch so wie die Dinge lagen, hatte die Siedlung bisher nur die Realität eines Stadtplans gehabt. Miss Marple war noch nie dort gewesen. Aber jetzt war sie hier und betrachtete die schöne, neue Welt, die entstand, eine Welt, die völlig anders war als alles, was sie kannte. Miss Marple musste an ein Baukastenmodell denken, so wenig echt wirkte alles.

Selbst die Menschen sahen so unecht aus. Die jungen Frauen in den engen Hosen, die eher düster blickenden jungen Männer, die üppigen Brüste der jungen Mädchen. Miss Marple konnte nicht anders – sie fand alles höchst unmoralisch. Niemand schenkte ihr Beachtung. Sie schlenderte weiter durch die Aubrey Close und bog dann in die Darlington Close. Sie ging langsam und lauschte dabei aufmerksam auf die Bruchstücke der Gespräche, die zu ihr herüberklangen. Mütter, die einen Kinderwagen vor sich herschoben, unterhielten sich angeregt, Mädchen sprachen mit jungen Burschen, und düster blickende Teds (sicherlich hießen sie alle Ted) tauschten geheimnisvoll klingende Bemerkungen aus. Frauen kamen an die Haustür und riefen nach den Kindern, die wie üblich eifrig genau das taten, was sie nicht tun sollten. Kinder änderten sich nie, überlegte Miss Marple dankbar. Und sie lächelte und begann, Betrachtungen über die Leute anzustellen, wie das ihre Gewohnheit war.

Die Frau dort ist genau wie Carry Edwards … und die Dunkelhaarige erinnert an das Mädchen der Hoopers; ihre Ehe wird genauso in die Brüche gehen wie die von Mary Hooper … Und die Jungen dort – der dunkle erinnert sehr an Edward Leeke, viele große Worte, aber harmlos, ein netter Kerl … Und der blonde ist wie eine neue Ausgabe von Mrs Bedwells Josh. Ordentliche Jungen, alle beide. Der dort, der Gregory Binns ähnelt, taugt nicht viel, fürchte ich, vermutlich hat er die gleiche Art von Mutter …

Sie bog um die Ecke in die Walsingham Close. Ihre Stimmung hob sich mit jedem Augenblick mehr.

Die neue Welt war genau wie die alte. Die Häuser sahen zwar anders aus, die Straßen hießen Close, die Kleider, die Stimmen waren anders, doch die Menschen selbst waren sich gleich geblieben. Auch die Themen ihrer Gespräche hatten sich nicht geändert, obwohl sie sich etwas anders ausdrückten als früher.

Auf ihrer Entdeckungsreise war Miss Marple so häufig in eine andere Straße eingebogen, dass sie die Orientierung verloren hatte und plötzlich am Ende der Siedlung angekommen war. Sie befand sich jetzt in der Carrisbrook Close, deren Häuser zum Teil noch nicht fertig waren. Im ersten Stock eines Rohbaus stand ein junges Paar an einem Fenster und unterhielt sich. Ihre Stimmen klangen bis zu Miss Marple hinunter.

»Du musst zugeben, dass es hübsch liegt, Harry!«

»Das andere war genauso gut.«

»Es hat zwei Räume mehr.«

»Für die man zahlen muss.«

»Also, mir gefällt es.«

»Das glaube ich gern.«

»Ach, sei kein Spielverderber! Du weißt, was Mutter gesagt hat, als wir bei ihr waren.«

»Deine Mutter sagt viel, wenn der Tag lang ist.«

»Wage es nicht, auf meine Mutter zu schimpfen! Wo wäre ich heute ohne sie? Und sie hätte dir gegenüber viel ekelhafter sein können, das möchte ich einmal klarstellen. Sie hätte dich anzeigen können.«

»Ach, hör schon auf, Lily!«

»Man hat eine hübsche Aussicht auf die Hügel. Beinahe kann man das Staubecken sehen …« Sie beugte sich weit hinaus und drehte sich dabei nach links. »Beinahe …«

Sie lehnte sich noch weiter hinaus und merkte nicht, dass sie sich auf ein paar lose Bretter stützte, die als Fenstersims dienten. Die Bretter gaben unter ihrem Gewicht nach und begannen, sich nach außen zu verschieben. Lily wurde mitgezogen. Sie schrie auf und versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen.

»Harry!«, rief sie.

Der junge Mann stand da, ohne sich zu rühren, etwa einen oder zwei Schritte hinter ihr. Dann trat er noch weiter zurück.

Verzweifelt suchte Lily am Fensterrahmen Halt, und es gelang ihr, sich aufzurichten.

»Oh!« Sie seufzte vor Schreck auf. »Beinahe wäre ich hinausgefallen. Warum hast du mich nicht festgehalten?«

»Es passierte alles so schnell. Na ja, es ist ja alles wieder in Ordnung.«

»Was weißt denn du schon! Um ein Haar wäre ich hinuntergestürzt. Und sieh mal, wie mein Pullover aussieht, ganz schmutzig!«

Miss Marple ging ein kleines Stück weiter und drehte sich unwillkürlich um.

Lily stand jetzt auf der Straße und wartete auf ihren Begleiter, der die provisorische Haustür abschloss.

Miss Marple trat auf sie zu und sagte mit gedämpfter Stimme hastig: »Wenn ich Sie wäre, meine Liebe, würde ich ihn nicht heiraten. Man braucht jemanden, auf den man sich in der Not verlassen kann. Entschuldigen Sie, bitte, wenn ich mich einmische – aber ich fand, jemand sollte Sie warnen.«

Sie wandte sich ab. Lily starrte ihr entgeistert nach.

»Na, so was …«

Der junge Mann kam auf Lily zu und fragte: »Was hat die Alte gesagt?«

Lily öffnete den Mund, um zu antworten – und schloss ihn wieder. Nach einer Pause sagte sie: »Sie hat mir die Zukunft gedeutet, wie eine Zigeunerin.« Nachdenklich betrachtete sie ihn.

Miss Marple hatte nur den einen Gedanken, möglichst schnell zu verschwinden. In ihrer Eile bog sie zu unvorsichtig um eine Hausecke, stolperte über ein paar lose Steine und stürzte.

Eine Frau kam aus einem der Häuser gerannt.

»Ach, meine Gute«, rief sie, »was für ein schreckliches Missgeschick! Hoffentlich haben Sie sich nicht wehgetan?«

Mit beinahe zu großer Hilfsbereitschaft legte sie die Arme um Miss Marple und zog sie auf die Füße.

»Sie haben sich doch nichts gebrochen? So, das hätten wir! Sicherlich sind Sie sehr erschrocken.«

Die Stimme war laut und freundlich. Sie gehörte einer untersetzten Frau von ungefähr vierzig Jahren, mit braunem Haar, in das sich die ersten grauen Fäden mischten, blauen Augen und einem breiten großzügigen Mund, der viel zu viele schimmernde weiße Zähne hatte, wie Miss Marple in ihrer Benommenheit schien.

»Kommen Sie lieber hinein und ruhen Sie sich etwas aus! Ich mache uns eine Tasse Tee.«

Miss Marple bedankte sich und ließ es zu, dass die Frau sie durch die blau gestrichene Haustür in ein kleines Zimmer voll bunt bezogener Sessel und Sofas führte.

»Da wären wir«, sagte ihre Retterin und setzte sie in einen weichen Sessel. »Machen Sie es sich bequem, während ich den Kessel aufstelle!«

Sie eilte aus dem Zimmer, das jetzt ruhig und friedlich wirkte. Miss Marple seufzte auf. Sie hatte sich nicht verletzt, sie war nur sehr erschrocken. In ihrem Alter sollte man einen Sturz möglichst vermeiden. Wenn sie Glück hatte, dachte sie mit schlechtem Gewissen, würde Miss Knight es nie erfahren. Zögernd bewegte sie Arme und Beine. Nichts gebrochen. Wenn sie es nur bis nach Hause schaffte! Nach einer Tasse Tee würde sie sich sicherlich …

Da kam der Tee auch schon. Kanne und Tasse standen auf einem Tablett, zusammen mit einem kleinen Teller mit vier Plätzchen.

»Da bin ich wieder«, sagte die Frau und stellte das Tablett auf einem Tischchen neben Miss Marple ab. »Soll ich Ihnen eingießen? Nehmen Sie lieber viel Zucker?«

»Nein, danke, keinen Zucker.«

»Sie müssen welchen nehmen! Wegen des Schocks, verstehen Sie? Im Krieg war ich Krankenschwester. Bei Schock wirkt Zucker Wunder.« Sie warf vier Stücke in die Tasse und rührte energisch. »Trinken Sie! Dann werden Sie sich wieder wohl fühlen wie ein Fisch im Wasser.«

Miss Marple trank gehorsam.

Was für eine freundliche Person, dachte sie. An wen erinnert sie mich nur?

»Sie sind sehr freundlich«, sagte sie lächelnd.

»Ach, nicht der Rede wert. Ein kleiner Schutzengel, das bin ich. Es macht mir Freude, Leuten zu helfen.« Sie sah aus dem Fenster, weil das Gartentor klickte. »Da kommt mein Mann.«

Sie ging in den Flur und kehrte gleich darauf mit ihrem Mann zurück, der ziemlich verblüfft zu sein schien. Er war ein dünner, blasser Mann, der nicht viele Worte machte.

»Die Dame ist gestürzt, genau draußen vor unserem Haus. Da habe ich sie natürlich hereingeholt.«

»Ihre Frau ist sehr hilfsbereit, Mr …«

»Mein Name ist Badcock.«

»Mr Badcock. Ich fürchte, ich habe ihr viel Mühe gemacht.«

»Ach, Heather ist nichts zu viel. Es macht ihr Spaß zu helfen.« Er sah Miss Marple neugierig an. »Wollten Sie jemanden besuchen?«

»Nein, ich habe nur einen Spaziergang gemacht. Ich wohne in St. Mary Mead, im Haus hinter dem Pfarrhof. Mein Name ist Marple.«

»Nein, so was!«, rief Heather. »Sie sind Miss Marple! Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Sie sind die Miss Marple, die in all die Morde verwickelt war!«

»Aber Heather!«

»Ach, du weißt schon, was ich meine. Natürlich hat sie die Morde nicht begangen. Sie hat sie aufgeklärt. Das stimmt doch, nicht wahr?«

Miss Marple meinte bescheiden, dass es das eine oder andere Mal der Fall gewesen sei.

»Selbst hier im Ort sollen Leute ermordet worden sein. Erst kürzlich wurde im Bingo-Club darüber gesprochen. Ein Mord passierte sogar in Gossington Hall. Ein Haus, in dem jemand umgebracht wurde, möchte ich nicht haben. Ich hätte Angst, dass es spukt.«

»Der Mord passierte nicht in Gossington Hall. Die Leiche wurde nur dort gefunden.«

»In der Bibliothek, vor dem Kamin, wie man sich erzählt.«

Miss Marple nickte.

»Unglaublich!«, sagte Heather. »Vielleicht drehen sie einen Film darüber. Vielleicht hat Marina Gregg Gossington Hall deshalb gekauft.«

»Marina Gregg?«

»Ja. Sie und ihr Mann. Seinen Namen habe ich vergessen. Er ist Produzent, glaube ich, oder Regisseur. Heißt er nicht Jason? Aber Marina Gregg ist reizend, nicht wahr? In den letzten Jahren hat sie nicht mehr viele Filme gemacht, weil sie lange krank war. Aber ich finde immer noch, dass es keine andere mit ihr aufnehmen kann. Haben Sie sie in Carmanella gesehen? Und im Preis der Liebe und in Maria Stuart? Sie ist nicht mehr ganz jung, aber immer noch eine wunderbare Schauspielerin. Ich bin immer ein großer Fan von ihr gewesen. Als junges Mädchen habe ich von ihr geträumt. Das aufregendste Ereignis in meinem Leben war ihr Besuch auf den Bermudas, wo sie eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten der St. John’s Ambulance eröffnete. Ich war verrückt vor Aufregung, und genau an dem Tag bekam ich plötzlich Fieber, und der Arzt verbot mir, hinzugehen. Aber ich gab mich nicht so schnell geschlagen. Mir schien es nicht so schlimm zu sein. Ich stand also auf und legte eine Menge Make-up auf und zog los. Ich wurde ihr sogar vorgestellt! Sie unterhielt sich ein paar Minuten mit mir und gab mir ein Autogramm. Es war herrlich! Jenen Tag werde ich nie vergessen.«

Miss Marple starrte sie nachdenklich an.

»Ich hoffe, Sie hatten keinen Rückfall?«, fragte sie dann, etwas besorgt.

Mrs Badcock lachte.

»Nein, nein. Ich habe mich nie wohler gefühlt. Was ich damit sagen will, ist, dass man eben etwas riskieren muss, wenn man etwas erreichen will.«

Sie lachte wieder, ein fröhliches, klingendes Lachen.

Ihr Mann blickte sie bewundernd an. »Heather ist nicht zu bremsen. Sie setzt ihren Kopf immer durch.«

»Alison Wilde«, murmelte Miss Marple und nickte zufrieden.

»Wie bitte?«, sagte Mr Badcock.

»Ach, nichts. Nur jemand, den ich mal gekannt habe.«

Heather sah sie fragend an.

»Sie erinnern mich an sie, das ist alles«, erklärte Miss Marple.

»Tatsächlich? Hoffentlich war sie nett.«

»Sehr nett sogar«, erklärte Miss Marple. »Freundlich, gesund, voller Leben.«

»Aber sie muss auch ihre Fehler gehabt haben«, meinte Heather fröhlich. »Jedenfalls, ich habe welche.«

»Nun, Alison war von ihrer Handlungsweise immer so überzeugt, dass sie häufig nicht erkannte, wie die Dinge auf andere Leute wirkten oder was für Folgen sie für andere Leute haben konnten.«

»Wie damals, als du die Familie aufnahmst, deren Haus beschlagnahmt worden war und die evakuiert werden sollte. Die haben unsere Teelöffel geklaut«, sagte Mr Badcock.

»Aber Arthur! Ich konnte sie nicht abweisen. Das wäre sehr unfreundlich gewesen.«

»Es war das Familiensilber«, erwiderte Mr Badcock. »Und gehörte schon der Großmutter meiner Mutter.«

»Ach, denk doch nicht mehr an diese dummen Löffel, Arthur! Immer wieder wärmst du alte Geschichten auf.«

»Ich kann eben nicht so schnell vergessen.«

Miss Marple musterte sie nachdenklich.

»Was ist aus Ihrer Bekannten geworden?«, fragte Heather.

Miss Marple antwortete nicht sofort.

»Alison Wilde?«, sagte sie dann. »Ach, die ist gestorben.«

3

I

»Ich bin froh, dass ich wieder da bin«, sagte Mrs Bantry. »Obwohl es natürlich eine schöne Zeit gewesen ist.«

Miss Marple nickte verständnisvoll und nahm die dargebotene Tasse Tee in Empfang.

Nachdem Oberst Bantry vor ein paar Jahren gestorben war, hatte Mrs Bantry Gossington Hall, und die dazugehörigen Ländereien verkauft und nur East Lodge, behalten, ein reizendes kleines Haus mit einem Säulenvorbau, aber so unbequem und ohne jeden Komfort, dass selbst der Gärtner sich geweigert hatte, dort zu wohnen. Mrs Bantry hatte die wesentlichen Annehmlichkeiten des modernen Lebens einbauen lassen, wie Elektrizität, mehr Wasserleitungen, ein Bad und eine vollautomatische Küche. Dies alles hatte sie eine schöne Stange Geld gekostet, aber bei weitem nicht so viel wie der Versuch, weiter in Gossington Hall wohnen zu bleiben. Um wenigstens ein gewisses Maß an Ungestörtheit zu haben, hatte sie einen etwa einen halben Hektar großen Garten behalten, der von vielen Bäumen umgeben war, »damit ich nicht sehen kann, was sie mit Gossington machen«, wie sie zu sagen pflegte.

In den letzten Jahren war sie viel gereist und hatte Kinder und Enkel an den verschiedensten Orten des Globus besucht. Hin und wieder war sie zurückgekommen, um sich in der Abgeschiedenheit ihres Hauses zu erholen. Gossington Hall selbst hatte ein- oder zweimal den Besitzer gewechselt. Zuerst war es ein Gästehaus gewesen, das Pleite machte, dann hatten es vier Leute gekauft, es in vier Wohnungen aufgeteilt und sich sofort zu streiten angefangen. Schließlich war es vom Gesundheitsministerium erworben worden, aus irgendwelchen obskuren Gründen, aus denen man es schließlich doch nicht brauchen konnte. Das Ministerium hatte den Landsitz veräußert, und dieser Verkauf war es, über den die beiden Freundinnen sich im Augenblick unterhielten.

»Es sind natürlich nur Gerüchte«, meinte Miss Marple.

»Natürlich«, antwortete Mrs Bantry. »Es wurde sogar behauptet, dass Charlie Chaplin mit seinen vielen Kindern hier wohnen wollte. Das wäre wirklich eine große Freude für mich gewesen. Leider ist kein Wort davon wahr. Nein, es steht fest, dass Marina Gregg es gekauft hat.«

»Was für eine schöne Frau sie gewesen ist«, sagte Miss Marple und seufzte. »Ich erinnere mich noch genau an ihre ersten Filme. Zugvögel zum Beispiel, mit dem gut aussehenden Joel Robert. Und Maria Stuart. Und natürlich Im Kornfeld, sehr sentimental, aber mir gefiel der Film. Ach, meine Liebe, das ist lange her.«

»Ja«, bestätigte Mrs Bantry. »Sie muss jetzt – was glaubst du, ist sie erst fünfundvierzig oder schon fünfzig?«

Miss Marple schätzte sie auf fünfzig.

»Hat sie in letzter Zeit gefilmt? Natürlich gehe ich heute nicht mehr so oft ins Kino.«

»Nur Nebenrollen«, antwortete Mrs Bantry. »Obwohl sie viele Jahre ein Star war. Sie hatte einen schlimmen Nervenzusammenbruch. Nach einer ihrer Scheidungen.«

»Was für eine Menge Ehemänner solche Frauen haben«, sagte Miss Marple. »Muss ziemlich mühsam sein.«

»Mir würde so was nicht gefallen«, sagte Mrs Bantry. »Erst verliebt man sich in einen Mann und heiratet ihn und gewöhnt sich an seine Eigenheiten und richtet sich gemütlich ein – und plötzlich wirft man alles hin und fängt von vorne an. Das ist doch Wahnsinn!«

»Ich kann nicht mitreden«, meinte Miss Marple mit einem altjüngferlichen Hüsteln, »weil ich nie verheiratet war. Aber ich finde so was auch sehr bedauerlich.«

»Vermutlich können sie nicht anders«, sagte Mrs Bantry etwas unbestimmt. »Bei dem Leben, das sie führen müssen! Immer in der Öffentlichkeit, verstehst du? Ich habe sie mal kennengelernt. Ich meine, Marina Gregg. Als ich in Kalifornien war.«

»Wie ist sie denn?«, fragte Miss Marple interessiert.

»Charmant«, antwortete Mrs Bantry. »So natürlich und unverdorben.« Nachdenklich fügte sie hinzu: »Es ist wie eine Maske.«

»Was meinst du damit?«

»Wenn man ständig natürlich und freundlich tun muss. Man lernt, wie man es macht, und dann wird es einem zur zweiten Natur, man kann nicht mehr anders. Stell dir mal vor, wie entsetzlich das ist, wenn man nie mal aus seiner Haut fahren und sagen darf: ›Ach, scher dich zum Teufel! Stör mich nicht länger damit!‹ Ich finde, aus reinem Selbsterhaltungstrieb muss man sich da ab und zu betrinken oder ein verrücktes Fest feiern.«

»Sie hatte fünf Männer, nicht wahr?«

»Mindestens. Sie hat beim ersten Mal sehr jung geheiratet, jemanden, der nicht zählt. Dann einen Prinzen oder Grafen, jedenfalls einen Ausländer, dann Robert Truscott, den Filmstar. Angeblich war es die große Liebe. Sie dauerte nur vier Jahre. Dann kam Isidore Wright, der Schriftsteller, es wurde ruhiger um sie, sie bekam sogar ein Kind. Anscheinend hatte sie immer Kinder haben wollen. Fast hätte sie ein paar Waisen adoptiert. Jedenfalls war sie sehr glücklich. Es wurde viel Rummel gemacht – die werdende Mutter, die Erfüllung ihres Lebens und so. Doch das Kind war schwachsinnig oder irgend so etwas. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und wurde in der Folge süchtig, nahm Tabletten und Rauschgift und so weiter, und sie spielte in dieser Zeit auch in keinem Film mehr mit.«

»Du weißt eine Menge über sie«, sagte Miss Marple.

»Das ist nur selbstverständlich«, antwortete Mrs Bantry. »Als sie Gossington kaufte, begann sie mich zu interessieren. Mit ihrem jetzigen Mann ist sie ungefähr zwei Jahre verheiratet, und sie soll wieder ganz in Ordnung sein. Er ist Filmproduzent. Oder ist er Regisseur? Ich bringe es immer wieder durcheinander. Es soll eine Jugendliebe sein, aber damals war er noch ein Niemand. Jetzt ist er ziemlich berühmt. Wie heißt er doch noch? Jason … Jason Hudd, nein, Rudd, genau! Sie haben Gossington gekauft, weil es günstig liegt.« Sie zögerte. »Elstree ist von hier aus bequem zu erreichen. Es ist doch Elstree?«

Miss Marple schüttelte den Kopf.

»Nein, ich glaube nicht. Elstree ist in Nordlondon.«

»Dann müssen es die neuen Studios sein. Hellingforth – ja, Hellingforth. Klingt so finnisch, finde ich. Ungefähr sechs Meilen von Market Basing entfernt. Sie dreht einen Film über die österreichische Kaiserin Elisabeth.«

»Was du alles weißt!«, sagte Miss Marple. »Sogar über das Privatleben von Filmstars weißt du Bescheid. Hat man es dir in Kalifornien erzählt?«

»Eigentlich nicht«, gestand Mrs Bantry. »Ich erfahre es aus diesen seltsamen Illustrierten, die ich beim Friseur lese. Die meisten Filmgrößen kenne ich nicht einmal dem Namen nach, aber wie ich bereits sagte, Marina Gregg und ihr Mann interessierten mich, weil sie Gossington gekauft haben. Unglaublich, was für Dinge in diesen Illustrierten stehen. Ich glaube, dass nicht mal die Hälfte wahr ist, vermutlich nicht mal ein Viertel. Ich glaube auch nicht, dass die Gregg eine Nymphomanin ist oder trinkt. Sicherlich ist sie auch nicht süchtig, und vermutlich ist sie auch nicht weg gewesen, weil sie einen Nervenzusammenbruch hatte, sondern weil sie sich ausruhen wollte. Aber eines stimmt – sie will hier wohnen.«

»Angeblich kommt sie schon nächste Woche«, sagte Miss Marple.

»So bald schon? Ich habe gehört, dass sie Gossington den Leuten von der St. John’s Ambulance für die Feierlichkeiten am Einundzwanzigsten zur Verfügung stellen wollen. Sie haben sicherlich gründlich renoviert, was?«