Mord im Wüstenexpress - Kai Magnus Sting - E-Book

Mord im Wüstenexpress E-Book

Kai Magnus Sting

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Beschreibung

Mumien, Mord und mörderische Mücken Als Rentner Alfons Friedrichsberg von einem alten Freund an den Nil gerufen wird, lässt er sich nicht zweimal bitten und besteigt zusammen mit Jupp Straaten und Willi Dahl den legendären Wüstenexpress, der von Oer-Erkenschwick nach Ägypten fährt. Aber die Fahrt im Luxuszug verläuft nicht so gemütlich wie erhofft. Ein Mord an zwölf Fahrgästen, ein blassblauer Bademantel, der durch die Waggons geistert, sieben abgetrennte dicke Zehen und eine Schallplatte mit dem Hit »Schatz, ich grüß Dich aus der Ferne« spielen eine wesentliche Rolle. Zudem heizen eine mordende Mumie und diverse antike Sagengestalten den drei Freunden ordentlich ein. Und dann wäre da ja auch noch der hochgiftige Stechrüssel der libyschen Dressurmücke … Die drei Hobbydetektive erleben ihr bisher größtes Abenteuer. Atemberaubend, spannend, skurril, kurios und überaus witzig.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 327

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kai Magnus Sting

Mord im Wüstenexpress

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Leichenpuzzle

Die Ausrottung der Nachbarschaft

Tod unter Gurken

Das ABC des schönen Mordens

Kai Magnus Sting, Kabarettist, Krimiautor und Abenteurer, hat so manchen Berg erklommen und dabei einige Eskapaden erlebt: Von der Schwäbischen Alb über die niederrheinische Tiefebene bis hin zu den nordfriesischen Inseln hat er alles bereist und gesehen, so manches Sandkorn dabei umgedreht und einige haarsträubende Abenteuer erlebt. Diese vielfältigen Eindrücke verarbeitet er in seinem neuen Kriminalroman. Für seine Arbeiten ist er mehrfach ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem WDR Publikumspreis zum Deutschen Hörbuchpreis.

Bei KBV veröffentlichte Kai Magnus Sting bislang »Leichenpuzzle«, »Die Ausrottung der Nachbarschaft«, »Tod unter Gurken«, »Das ABC des schönen Mordens« und »Mord im Wüstenexpress«.

www.kaimagnussting.de

Kai Magnus Sting

Mord Im Wüstenexpress

Originalausgabe

© 2025 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH

Am Markt 7 · DE-54576 Hillesheim · Tel. +49 65 93 - 998 96-0

[email protected] · www.kbv-verlag.de

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an unsere

Herstellung: [email protected] · Tel. +49 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: © Büro Dirk Rudolph

Zeichnungen Innenteil: Ralf Kramp

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

ISBN 978-3-95441-683-7 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-95441-693-6 (eBook)

Für Lotta

Inhalt

ES REISEN MIT

PROLOG 1

PROLOG 2

TEIL EINS

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

TEIL ZWEI

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

TEIL DREI

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

TEIL VIER

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

EPILOG

NACHBEMERKUNG UND DANK

Es Reisen Mit:

Erzähler

lässt lieber reisen

Alfons Friedrichsberg

ein großer Reisender in Sachen Aufklärung

Jupp Straaten

lässt seinen Freund nicht alleine reisen

Willi Dahl

reist ungern, wird mitgeschleppt und schleppt dabei zu viel mit

Sir Lancelot Smith

ein Abenteurer, wie er im Buche steht

Gräfin Sophie von Scharmützel

reist nur noch, um andere damit zu ärgern

Bertram, ihr Butler

muss mit, um sich ärgern zu lassen

Ginger, ihre Privatsekretärin

siehe oben

Pankrazius Lübke

weiß eigentlich nie, warum er mitmuss

Eugen Eigen

ein angenehmer Reisender

Hamilton Focus

ein Gentleman, gerade auf Reisen

Zugbegleiter Herr Olaf

Reisen ist sein Leben; gerade auf Schienen

Tessa Langford

trifft über einen Lippenstift ihr Schicksal

Birgit Kautsch

kommt auf der Damentoilette auf eine gute Idee

Dame in Rot

eine atemberaubende Erscheinung

Prof. Dr. Abraham Ambrosius

ein stiller Gast auf Reisen

Dr. Robertson Davies

als Forscher viel zu viel gereist

Wolfram Ulitzner

ein Handlungsreisender in Sachen Bürsten

Inga Strübel

liegt auf Reisen gerne einfach mal so rum

Schmierlappen

reist denen hinterher, die vor ihm fliehen

Hans Gustav Pichelgruber

kommt auf Reisen gerne mal ins Schwitzen

Kommissar Trotto Papadopoulos

reist nie; ist stets da

Costas

dient Reisenden

Malik

ein Durchreisender

Taxifahrer

ohne ihn fängt keine Reise an

Bill

reist mit Bob

Bob

reist mit Bill

Barmann

liefert Verteiler für Reisende

Küchenchef

sorgt fürs Kulinarische

Ober

bringt das, was der oben Erwähnte zaubert

Eine unheimliche Stimme

hat jeder schon mal auf Reisen gehört

Polizist

wenn man ihn braucht, ist er nicht da; wenn er da ist, könnte man gut auf ihn verzichten; das ist überall auf der Welt so

Rezeptionist

ist auf Reisen immer wieder ein anderer und doch stets derselbe

Sphinx

hat schon viel gesehen und wurde viel gesehen

und viele andere Mitreisende*innen

Prolog 1

… wird mir doch glauben, so absonderlich klingt dieses Mysterium, jedoch, es ist eine Tatsache: Wir sind nicht alleine, wir sind viel mehr, über den ganzen Erdball verteilt, Männer wie Frauen.

Einen tut uns alle ein Schicksal. Ist es ein Fluch? Ist es eine Bestimmung? Gewiss ist es eine Aufgabe, folgen müssen wir ihr. Aber welchen Ausmaßes ist sie …? Ob wir in der Lage sein werden, uns zu Lebzeiten zu verbünden, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen …? Werden es vielmehr unsere Nachfahren sein, die dem Ruf Folge zu leisten haben …?

Und alle, die uns hindern oder abhalten werden, soll der Schlag bei ihren leidenschaftlichen Ausübungen treffen, ihre Innereien sollen in einem Blutfeuer aus ihren Leibesöffnungen hinausfahren, die Haare sollen ihnen aus dem Körper wuchern und sich mit den Ästen und Zweigen des Laubes und der Bäume verfangen, Finger und Fußnägel sollen ihnen in Windeseile meterlang herauswachsen, dass sie auf ihren Klauen durch die seelische Einöde geistern, ihre Habgier und ihre Unrast soll sie blindsichtig machen und ohne Besinnung und Orientierung atemlos durch die Welt hetzen lassen, und Würmer und Geschmeiß und Maden und Spinnentiere sollen ihre Eier in sie legen und sie von innen gemächlich auffressen, und nässende Eiterwunden sollen sie am ganzen Körper bedecken – und abschließend habe sie der Blitz beim Kacken zu Staub zu verwandeln.

Aber dennoch bleibt für uns die drängendste Frage von allen: Über wie viele Tote werden wir klettern müssen, um auf den Gipfel des Erkenntnisberges zu gelangen, um endlich das …

(An dieser Stelle bricht der Bericht ab.)

Prolog 2

Schatz, ich grüß Dich aus der Ferne,

denn aus der Ferne hab ich Dich richtig gerne.

Dann tut mein Herz mir auch gar nicht mehr weh,

bist Du weit weg und nicht in meiner Näh’.

Mach, was ich will,

wie wunderbar,

und höre keinen blöden Kommentar.

Und denke ich

dann doch noch mal an Dich,

denk ich nur:

Nein, ich vermiss Dich wirklich nicht.

Schatz, ich grüß Dich aus der Ferne,

denn aus der Ferne hab ich Dich richtig gerne.

Dann tut mein Herz mir auch gar nicht mehr weh,

bist Du weit weg und nicht in meiner Näh’.

Keiner ist da, der mich hier quält,

daran hat’s mir zu Hause oft gefehlt.

Darum mach ich jetzt endlich Schluss

und das ganz ohne einen Abschiedskuss.

(Text des Weltschlagers »Schatz, ich grüß Dich aus der Ferne« aus dem Jahre 1922, Texter und Komponist weitestgehend unbekannt; gelten als verschollen.)

Teil Eins

Kapitel 1

In den Straßenschluchten von Oer-Erkenschwick nimmt diese Geschichte ihren Anfang und endet in einem unterirdischen Grab; dazwischen gibt es abgetrennte Zehen, einen blauen Bademantel, eine Schallplatte, viele Leichen und noch mehr Eierlikör on the rocks.

Doch zunächst nach Oer-Erkenschwick und seinen Straßenschluchten, in denen sich eine wilde Verfolgungsjagd zutrug.

Verfolgtes Vehikel: ein Citroën DS, Baujahr 1966.

Dessen Inhalt: vorne links: Jupp Straaten, vorne rechts: Alfons Friedrichsberg, wie immer hinten rechts: Willi Dahl.

Der dicke Alfons Friedrichsberg saß mit weit aufgerissenen Augen auf dem Beifahrersitz und versuchte vergeblich, seine Zigarre in Brand zu setzen. Ebenso verzweifelt versuchte Jupp Straaten, die Gewalt über sein Automobil nicht zu verlieren.

Und Willi Dahl schrie von hinten: »Du bringst uns noch alle um!!!«

Straaten riss die Augenbrauen hoch: »Dann würd ich doch ’ne Waffe nehmen. Was Handliches. Revolver, Axt, Armbrust. Oder Rattengift ins Püree.« Er saß verkrampft hinterm Steuer und schien die Gesamtsituation (also Auto und Fahrgäste) nicht im Griff zu haben (was jedoch an dem Gefährt direkt hinter ihnen lag). »Gift … da verdirbt man sich doch nur den Magen, und nachher ist man womöglich tot.«

»Das ist doch sein Ziel«, brummte Friedrichsberg.

»Ach. Da wäre ich aber tödlich beleidigt.«

»Ich dachte mir, mit dem Auto geht’s schneller«, sagte Straaten.

»Nee, du ziehst es nur in die Länge.« Langsam war Friedrichsberg es leid: das katastrophale Rumgegurke und dazu die Zigarre, die nicht brennen wollte.

»In meinem Wagen herrscht Rauchverbot.«

»Nicht, wenn ich mitfahre. Und jetzt lös’ endlich die Handbremse, verdammt noch mal!«

»Die Handbremse ist nicht mein Problem.«

»Stimmt. Du bist das Problem.«

»Ich komm nicht in den vierten Gang.«

Es ertönte ein lautstarker Gruß aus dem Getriebe.

»Was heißt hier vierter Gang?! Du solltest längst im sechsten sein!«

Straaten fasste sich an den Kopf. »Ich brettere doch nicht mit 120 durch eine Spielstraße!«

Friedrichsberg schaute sich um. »Wenn nicht hier, wo sonst?!« Er riss ein Streichholz an und setzte endlich seinen Stumpen in Brand.

»Nicht dein Ernst!«, entfuhr es Straaten. »In meinem Auto wird nicht geraucht!«

»Stimmt«, brummte der Dicke und strich sich über den Schnurrbart. »Bis heute. Herzlichen Glückwunsch zur Premiere.«

»Unfassbar!«

Von hinten mischte sich wieder Willi Dahl ein. »Du bist der schrecklichste Autofahrer, den ich je erlebt habe, Straaten.«

»Und wenn er so weitermacht, auch der letzte.«

Straaten schüttelte den Kopf. »Was regt ihr euch denn so auf? Ich bin nicht das Problem. Das Problem sind die Idioten im Auto hinter uns.«

Dahl guckte über die Schulter. »Stimmt, Autofahren können die auch nicht.«

Alfons Friedrichsberg verstellte mit seinen dicken Fingern den Rückspiegel, sodass er auch etwas sehen konnte, ohne sich bewegen zu müssen, und rümpfte die Nase. »Mir machen eher deren Maschinengewehre Sorgen.«

»Was?!«

In der Tat: Der viel zu dicht auffahrende SUV hinter ihnen hatte die Scheiben runtergelassen und präsentierte – links und rechts – zwei Maschinengewehrläufe.

Eine Salve Schüsse hagelte durch die Luft, der Dicke zog den Kopf ein – was unsinnig war, denn wohin sollte der Kopf verschwinden? Das Doppelkinn war ihm im Weg. Und darunter ein viel zu ausladender Wanst. »Oh, jetzt hätt es mich fast erwischt.«

»Uns auch!«, schrien Straaten und Dahl unisono.

»Um mich wäre es aber deutlich schader gewesen«, paffte der Dicke Zigarrenqualmkringel an die Autodecke.

»Das ist grammatikalisch nicht korrekt.«

»Aber inhaltlich! Und viel nicht korrekter, mein lieber Straaten, ist die Einbahnstraße, in die du gerade falschrum eingebogen bist!«

Dahls Gejammer kam vom Rücksitz: »Wenn uns jetzt einer entgegenkommt …«

»Dann weich ich auf den Bürgersteig aus!«

»Untersteh dich!«, brummte es durch dicken Zigarrenqualm.

In dem Moment jedoch kam eine überaltete Schrottlaube von vorne und hupte »die Göttliche« aufs Trottoir, wo es – dankenswerterweise – an dieser Stelle breit genug war.

Straaten krallte sich ins Lenkrad, der Dicke drückte sich noch tiefer in seinen Sitz und schloss zur Sicherheit die Augen, Dahl schrie laut auf, anhaltend. Nach knapp hundert Metern konnten sie die Einbahnstraße via Bürgersteig verlassen und sich in den normalen Straßenverkehr einfädeln.

Allgemeines Aufatmen.

Welche Strecke genau die drei in ihrer Karosse zurücklegten, soll hier aus datenschutzrechtlichen Gründen verschwiegen werden. Nur so viel: Auf der atemlosen Verfolgungstour ging so manches zu Bruch: zwei Scheiben von Blumen Rickert, ein Mülleimer der städtischen Wirtschaftsbetriebe, der Außenspiegel eines Smart Fortwo und eine gelbe Gießkanne.

Von diversen Verkehrsdelikten sei hier nicht weiter die Rede.

Willi Dahl linste vorsichtig nach hinten. »Sind die Piraten noch da?«

»Wieso Piraten?!« Friedrichsberg schielte in den Rückspiegel.

»Na, wie würdest du sonst jemanden mit Holzbein und Hakenhand nennen?«

»Das erkennst du? Auf die Distanz?«

»Ich sitz hinten und bin näher dran.«

»Darf man damit überhaupt ans Steuer?«, wollte Straaten wissen.

»Bei einer Schaluppe vielleicht …«

»Der steuert aber einen Straßenkreuzer!«, grinste Friedrichsberg.

Dahl schaute nochmals nach hinten. »Und ’ne Augenklappe hat er auch noch!«

»Also dazu sehbehindert!«

Mit einem lauten Knall zerschlug ein Schuss die Heckscheibe.

Dahl bibberte. »Und dass bei der Kälte …«

»Das glaubt mir die Versicherung nie!«, jammerte Straaten.

Nur Friedrichsberg schien eine gewisse Genugtuung zu verspüren. »Frische Luftzufuhr … Kann ich wenigstens guten Gewissens weiterqualmen.« Geräuschvoll zog er die Nase hoch und riskierte einen Blick in den Außenspiegel. »Uhh, aber knapp war’s!«

»Sehbehindert eben.« Dahl zuckte mit den Schultern.

»Du meinst, der sieht uns nicht?«

»Jedenfalls nicht richtig, wegen der Augenklappe.«

Friedrichsberg kaute auf seinem Stumpen herum. »Sonst wäre jetzt einer von uns tot.«

»Der könnt ja mal ein Auge zudrücken«, meinte Dahl.

»Bloß nicht! Sieht der noch weniger.«

Straaten schüttelte den Kopf. »Trotzdem sollte er nicht so Auto fahren, das ist doch gefährlich!«

»Richtig gefährlich wird’s auf jeden Fall für uns, Straaten, wenn du jetzt nicht Gas gibst! Tödlich gefährlich!«

Kaum hatte Willi Dahl das gesagt, wurde ihr Auto von dem Piratenstraßenkreuzer hinter ihnen gerammt.

»Was war das?« Straaten hockte nun noch verkrampfter hinter dem Steuer.

»Er hat uns gerammt!« Dahl rückte sein Kassengestell zurecht. »Drück jetzt verdammt noch mal auf die Tube!«

»Noch schneller? Dann heben wir ab.«

»Keine schlechte Idee«, murmelte Friedrichsberg und drückte sich noch tiefer in den ohnehin malträtierten Sitz.

Das Gefährt holperte in irrer Geschwindigkeit über Kopfsteinpflaster und sorgte für einige Schaulustige am Straßenrand.

Willi Dahl duckte sich und lünkerte über die Rückbank. »Aber sagt mal, da hockt doch nicht nur ein Pirat in dem Auto.«

Straaten versuchte, etwas im Außenspiegel zu sehen. »Na ja, die sind meistens zu mehreren, dann heißen sie Piraten!«

»Das ist grammatisch vollkommen korrekt!«

Menschliches Schweigen. Dafür heulte der Motor wieder auf.

»Also haltet mich gerne für verrückt«, Dahl atmete schwer, »aber wenn ihr mich fragt, dann sitzt da eine Mumie neben dem!«

»Eine Mumie?«, kam es bei Friedrichsberg und Straaten wie aus einem Mund.

»Eine Mumie neben dem Piraten.«

»Hast du heute Morgen was gefrühstückt, Dahl?«, brummte Friedrichsberg an seiner Zigarre vorbei.

Der überlegte kurz. »Ja, aber nicht viel.«

»Es tut dir nicht gut«, grummelte der Dicke, »auf nüchternen Magen Fernreisen anzutreten.«

»Ganz mein Reden! Ihr habt mich ja auch praktisch vom Frühstückstisch weggerissen.«

»Mumien und Piraten klingt ein bisschen sehr nach schlechtem Horrorfilm aus den Neunzigern.«

»Nee, dann wäre noch ein Außerirdischer dabei.«

»Könnten wir uns jetzt lieber wieder auf unsere wilde Verfolgungsjagd konzentrieren?«, unterbrach Jupp Straaten den Wortwechsel der beiden.

Draußen schoss Oer-Erkenschwick an ihnen vorbei. Oder besser: Sie schossen durch Oer-Erkenschwick. Noch besser: Draußen wurde geschossen und sie jagten durch OE. Dabei waren sie fast schon in Wanne-Eickel. Was kein Wunder war: die Fahrweise Jupp Straatens in Kombination mit der winterlich vereisten Fahrbahn. Auf den Dächern lag Puderzucker, auf den Straßen eine Mischung aus Neuschnee und von der Stadt hingeschmissener Salz-Granulat-Mischung; der Schneefall wurde dichter, eine winterliche Idylle wie aus dem Reiseprospekt, wenn es nicht Oer-Erkenschwick gewesen wäre.

Straaten saß verkrampft hinter dem Steuer. »Jetzt schießen sie wieder auf uns!«

»Und wie!«, bestätigte Dahl und zog den Kopf ein.

»Das tun sie nicht. Das ist Hagel.« Der Dicke paffte an seiner Zigarre. »Links abbiegen«, befahl er, und Straaten schoss in einem 90-Grad-Winkel um die Ecke.

»Steve McQueen hätte das nicht besser machen können«, nickte Dahl anerkennend.

»Der hätte das gar nicht machen können. Der ist hinüber«, grunzte Friedrichsberg.

»Eben. Weil er so beschissen Auto gefahren ist!«

Von hinter ihnen fielen Schüsse in ihre Richtung. Eleganter formuliert: Erneut wurden sie mit Karacho unter Beschuss genommen.

»Wieso hast du ausgerechnet jetzt deinen Revolver nicht dabei, Friedrichsberg?«

»Das konnte doch keiner ahnen. Denk dran, Straaten: Wir wollten nur schnell zum Bahnhof.«

»Ja«, kann es vom Rücksitz, »um in einen entspannten Urlaub zu fahren.«

»Da hat wohl irgendjemand was dagegen!« Straaten wich unelegant einer Rollatorin aus, die die Straße kreuzte.

»Was wollen die überhaupt?«

»Uns umbringen?!«

»Aber warum?«

»Das solltest du die fragen«, raunzte Friedrichsberg.

Nun denn.

Man hätte auch Alfons Friedrichsberg selbst fragen müssen; schließlich hatten sich im Laufe der letzten Jahre und den in der Zeit angehäuften Abenteuern genug Feinde angesammelt, die ihm nach dem Leben trachteten: Mörder, Serienkiller, Betrüger, Agenten, Spitzbuben und schließlich auch seine Vermieterin.

Mitunter kam es einem so vor, als wären die einzigen beiden Menschen, die ihm wohlgesonnen waren, seine beiden alten Freunde Jupp Straaten und Willi Dahl. Wobei das auch nicht immer der Fall war. Wie oft schon hatten sie sich gegenseitig verflucht (so auch in dieser Situation). Wie oft schon wollten sie nichts mehr miteinander zu tun haben, nur um sich dann doch wieder ge genseitig aus der Patsche zu helfen. Aber: Gemeinsames Studium, die ein oder andere kommende und wieder ziehende Beziehung, viele durchzechte Jahre, Höhen und Täler und atemberaubende Abenteuer schweißten zusammen.

Auch wenn die drei noch so unterschiedlich waren: der immer leicht überforderte, kleine und etwas dickliche Willi Dahl, dem eigentlich immer alles zu viel war und nichts behagte; der lange, hagere und spießige Jupp Straaten, besonnen, ruhig und dem Dicken ein guter Partner; und dann Alfons Friedrichsberg, dick, laut, egozentrisch, alles besserwissend und stets der Mittelpunkt vom Ganzen.

Ein unschlagbares Trio.

Auch in den brenzligsten Situationen, wie eben jetzt und hier in Straatens Vehikel in Oer-Erkenschwick. Nur: Diesmal könnte es etwas zu brenzlig werden.

Kapitel 2

Der dicke Friedrichsberg krallte sich in den Beifahrersitz und schloss die Augen, als Straaten über den zweiten Zebrastreifen in Folge schoss, ohne nach links oder rechts zu schauen.

Dahl dachte nach. »Vielleicht hat Straaten sie provoziert?«

»Ich? Womit denn?«

»Mit deiner defensiven Fahrweise.«

Friedrichsberg blinzelte vorsichtig. »Stimmt, so lahm, wie du immer fährst, könntest du besser schieben.«

Alle: »Huch!«

»Fahr links!«, brüllte Dahl.

»Nein, rechts!«, Friedrichsberg.

»Oder geradeaus!«

»Wir müssen jetzt erst mal hier lebend rauskommen.« Friedrichsberg schielte in den Außenspiegel und sah, dass der Pirat und die Mumie hinter ihnen ihre Flinten aus der Karre schoben und Maß nahmen. »Vorsicht! Deckung!«

Einige Salven knallten durch die wanne-eikelschen Straßenschluchten. Passanten standen am Rand und schauten wie erstarrt; so was hatten sie noch nie gesehen. Wenn, dann nur im Fernsehen und dort auch nur in schlecht. Das hier war sensationell. Nur nicht für die, die in ihrem Auto unter Beschuss saßen. Jupp Straaten versuchte, den Schüssen auszuweichen, und steuerte seine »Göttliche« im Zickzack. An einer Kreuzung bog Straaten viel zu schnell links ab, gekonnt zwischen zwei geradeaus fahrenden Wagen hindurch.

Alfons Friedrichsberg nickte anerkennend. »Scheint so, als hätten wir sie fürs Erste abgehängt.«

»Warum muss ich eigentlich immer hinten sitzen?!«, jammerte plötzlich Willi Dahl. »Und was ist das für eine Schallplatte hier?«

»Das ist jetzt nicht der richtige Augenblick für eine Diskussion!«

»Ach. Und wann bitte schön ist der richtige Augenblick?«

»Nie.«

»Eben.«

»Also halt den Mund.«

»Aber warum muss ich immer hinten sitz…«

»Weil du vorne störst«, unterbrach ihn der Dicke.

Dahl dachte kurz nach und nickte dann. »Stimmt, hatte ich vergessen.«

»Und was für eine Schallplatte meinst du?«

»Vinyl.«

»Das hatten wir früher als Küchenboden …«, kommentierte Straaten und fuhr eine Rechts-links-Kombination.

»Vinyl zum Auflegen, nicht zum Auslegen.«

»Ach so.«

»Was ist es denn?«, wollte Friedrichsberg wissen.

»Die Platte heißt: ›Schatz, ich grüß Dich aus der Ferne‹.«

»Die ist nicht von mir.«

»Es ist aber doch dein Wagen«, grummelte Friedrichsberg.

»Aber nicht meine Platte.«

»Und wie ist die Platte dann in dein Auto gekommen?«

Dahl rief von hinten: »Vorsicht, ’ne Radfahr…«

»Wo?«

»Zu spät!«

Zwei Blicke von Friedrichsberg: einmal in den Rückspiegel, einmal in den Außenspiegel. Ein halber Blick nach hinten über die Schulter. »Aber unsere Verfolger sind weg.«

Straaten und Dahl wie aus einem Mund: »Was?«

»Weg!«

»Nee.«

»Guckt doch.«

Die beiden schauten sich um. Zunächst vorsichtig, dann erleichtert. »Stimmt. Hinter uns ist niemand mehr!«

Straaten drosselte die Geschwindigkeit (Friedrichsberg: »Welche Geschwindigkeit?!«), und die drei ließen den Wagen entspannt durch die Straßen gleiten.

»Echt weg.«

Straaten nickte, hielt kurz inne, riss die Augen auf und rief: »Dafür kommen sie jetzt von vorne!«

Alle drei guckten nach vorne. Der Mumienwagen kam direkt auf sie zu. Alle drei schrien.

Straaten verriss in letzter Sekunde das Lenkrad, vereitelte so aber einen Zusammenprall.

Das gegnerische Fahrzeug fuhr an ihnen vorbei, schoss erneut, die drei zogen ihre Köpfe ein, der andere Wagen ging in die Bremsen, wendete und folgte ihnen.

»Rechts!«, brüllte der Dicke.

»Das war links!«, brüllte Dahl kurz darauf.

»Mist, schon wieder falsch!« Straaten verzweifelte.

»Das ist ’ne Sackgasse.«

»Verflucht!«

Friedrichsberg paffte einen dicken Kringel. »Gemach, Bruder, in jeder Sackgasse findet der Hoffende einen Weg.«

»Boah, wo hast du den denn her?!«

»Abreißkalender. Irgendein Tag im April.«

»Schön, euch zuzuhören«, rief Straaten übers Lenkrad. »Aber was soll ich jetzt tun? Da ist eine Wand!«

»Ist eben eine Sackgasse.« Friedrichsberg blieb gelassen. »Und da ist ’ne Toreinfahrt! Bieg da mal rein!«

Straaten riss das Lenkrad nach rechts, die drei brausten durch die Toreinfahrt, in einen Hinterhof, und hier stellte Straaten fest: »Wir sind gerettet, das ist ’ne Durchfahrt! Da drüben kann ich die Parallelstraße sehen! Was ist mit unseren Verfolgern?«

Friedrichsberg und Dahl drehten sich um, und genau in diesem Moment knallte es hinter ihnen gewaltig: Die Verfolger hatten ihr Auto vor die Wand gesetzt.

»Hm«, machte Dahl, »scheinen die kleine Ausfahrt hier wohl verpasst zu haben.«

»Dafür haben sie die Wand voll erwischt«, grinste der Dicke. »Man kann eben nicht alles haben.«

»Ob wir wohl mal nach denen gucken sollten? Vielleicht ist ihnen ja was passiert?!«

»Selber schuld, was drängeln die auch so?! Außerdem müssen wir unseren Zug kriegen. Das Abenteuer fängt ja gerade erst an.«

Und da sagte er was, der Alfons Friedrichsberg. Dank der im Wege stehenden Wand wurden unsere drei – also Alfons Friedrichsberg, Jupp Straaten und Willi Dahl – ihre seltsamen Verfolger überraschend wieder los, und nur wenige Straßen weiter trafen sie auch schon auf den Hauptbahnhof mit seinem enormen Empfangsgebäude – für Wanne-Eickel amtlich –, auf dessen Gleisen sie sich in ein weiteres haarsträubendes Abenteuer stürzen sollten.

Vor dem Hauptbahnhof: wenig Verkehr. Busse. Taxis. Aber beinahe überall absolutes Halteverbot. Das war das Übliche: Da, wo man mal kurz halten wollen würde, um wen bahnhofstechnisch raus- oder reinzulassen, durfte man überhaupt nicht stehen.

Der dicke Friedrichsberg klemmte sich den Stumpen zwischen die gelben Zähne und wuchtete seinen Körper aus dem Vehikel. »Du müsstest jetzt schleunigst irgendwo das Auto parken, sonst ist der Zug gleich weg!«, sagte er.

Straaten schaute sich verzweifelt um. »Ich darf hier aber nirgendwo stehen bleiben.«

Auch Dahl stieg aus. »Du bist gerade noch gefahren wie der letzte Henker.«

»Das war gerade, jetzt ist jetzt. Ich riskiere doch kein Knöllchen.«

»Ach was?!«

»Am besten lasse ich euch hier raus, dann könnt ihr mit den Koffern vor, und ich suche dann in Ruhe einen Parkplatz.«

»Bis du einen für dich passenden Parkplatz gefunden hast, vergehen immer Stunden …«

»Deswegen fange ich auch jetzt damit an.«

»Viel Vergnügen!« Friedrichsberg schaute sich um.

»Ich komm dann nach!«

»Und pass auf, dass dir keine Einäugigen und Holzbeine über den Weg humpeln. Könnten dich kielholen.«

»Kiel-was?«

»Holen.«

»Hm?«

»Umbringen.«

»Ah. Vielen Dank, als ob Parkplatzsuchen alleine nicht schon Abenteuer genug wäre!«

»Herausforderung auf jeden Fall.«

»Entschuldigt, wenn ich unterbreche«, unterbrach

Dahl. »Was ist mit unseren Koffern?«

»Sind im Kofferraum, wo sonst?«

»Kannst du die nicht gleich …«, grinste Friedrichsberg.

»Das könnt ihr schön selber.«

Dahl machte sich am Kofferraum zu schaffen, fand endlich den Mechanismus, öffnete ihn und zog seinen schweren Reisekoffer heraus. »Mensch … Alles muss man …«

Friedrichsberg klopfte leicht aufs Autodach und drehte sich Richtung Hauptbahnhof. »Dann kannst du meine auch gleich …«

»Nee.«

»Doch«, brummte der Dicke. »Los!«

»Wenn du so freundlich bittest, okay!«

Mit majestätischen Schritten, als wollte der das Bahnhofsgebäude entern, entfernte sich Friedrichsberg vom Auto. »Und beeil dich.«

Dahl hatte jetzt noch die drei Koffer seines Freundes rauszuhieven. »Oh, die sind aber schwer …«

»Klamottage und Lesestoff.«

Mit Schwung hatte Dahl den Kofferraum geschlossen, und Straaten konnte davonfahren.

»Bis gleich!«, rief er den beiden nach. Er konnte ja nicht ahnen, dass sich das »gleich« ziehen und bis zum »gleich« noch eine Leiche anfallen würde.

Kapitel 3

Alfons Friedrichsberg schob seinen mächtigen Körper durch die ehrwürdige Bahnhofshalle und hielt nach einem Tabakladen Ausschau, um seinen Zigarrenvorrat für die Reise etwas aufzufrischen. Hinter ihm japste Dahl, im Schlepptau vier Koffer.

»Wir haben nicht mal mehr fünf Minuten bis zur Abfahrt. Schaffst du das, Dahl?«

»Sehe ich so aus, als könnte ich es schaffen?«

»Nein.«

»Und dann auch noch mit den vier Koffern.« Dahl schwitzte. »Wieso hast du überhaupt drei?«

»Meine Bücher?! Außerdem: Ein bisschen Bewegung tut dir gut, wir sitzen gleich noch lange genug.«

»Wie soll ich das denn schaffen?«

»Beeil dich jetzt mal, der Zug fährt sonst ohne uns!«

»Ich hab schon Seitenstechen und Schnappatmung.«

»Nimm jetzt mal die Beine in die Hand.«

»Dann kann ich aber nicht mehr rennen. Und Koffertragen auch nicht.«

»Ahhhh, mach jetzt endlich!«

Ohne sich umzudrehen, bahnte sich Alfons Friedrichsberg seinen Weg durch die Reisewilligen und Bahngestrandeten. Ein Tabakladen war nicht in Sicht, leider. Gut, dass er für den Notfall im zweiten Koffer …

»Welches Gleis müssen wir denn?« Lange würde Dahl weder die Schlepperei noch die Rennerei aushalten.

Friedrichsberg wurde ungeduldig. »Welches Gleis, welches Gleis … Das sehen wir schon, wenn wir es sehen. Den Zug kann man nicht übersehen.«

»Wieso?«

»Weil es der sagenhafte, oft besungene, höchst exklusive, einzigartige, wunderbare Wüstenexpress ist.«

Im Film oder im Hörspiel wäre jetzt ein Tusch ertönt. Mit Geigen und Firlefanz. In der Realität wartete man vergebens auf so was. Da kam höchstens die Durchsage, dass der Anschluss nicht wartete. Oder der folgende Zug wegen Fahrzeugmangels ausfiel. Kein Wunder, dass man sich so oft in die Fantasie flüchtete. Nach dem Happy End im Liebesfilm war meistens Ende. In der Realität kam die Ehe.

»Der wer?«

»Wüstenexpress.«

»Ach.«

»Ja.«

Dahl riskierte einen Rundblick durch seine beschlagenen Brillengläser. »Kann ich … kann ich nicht noch eben ein Fischbrötchen to go auf die Hand zum Mitnehmen für unterwegs? Also die haben da hinten im Bierteig ausgebackenes Sushi auf Rollmopsgrundlage ganz ohne Reis … Da sind gerade andalusische Wochen.«

Friedrichsberg schnalzte mit der Zunge. »Dafür hast du Augen.«

»Mit denen muss ich ja auch nicht rennen.«

»Da ist er!«

»Hm? Wer jetzt?«

»Der Zug!«

»Stimmt! Da war doch was!«

Da stand er, auf Gleis 1, bereit für eine außerfahrplanmäßige Sonderreise: der sagenumwobene Wüstenexpress; einer DER luxuriösesten Züge der Welt.

Schon von außen: vorne die schwere Dampflok, hinten der letzte Waggon, dazwischen alles andere. Also: die Waggons für die Gäste, die sogenannten Schlafwagen, je Wagen sechs Abteile, teilweise mit vier Betten und einem eigenen kleinen Bad, dann der Speisewagen, ein eigener Küchenwagen, ein Gesellschaftswagen – mit Bar und Bibliothek – und der Gepäckwagen. Der Zug royalblau in der Farbgebung, mit goldener Blattverzierung, sodass auch der scheueste Provinzbahnhof sofort bei der Durchfahrt wusste: Das war der sagenumwobene Wüstenexpress.

Und von innen erst: allein der Gesellschaftswagen, also Bar und Bibliothek, in feinstem Art-déco-Stil gehalten und eingerichtet: abstrahierendes Dekor, hochwertige und exotische Materialien, die sich in den Wandlampen, den Tischen, den Sesselchen, den Regalen oder auch Teppichen, Tapeten, Türverzierungen wiederfanden.

Dann die Fahrgäste: Die Hautevolee der Welt kam hier zusammen: Monarch*innen, Industriell*innen, Nobelpreisträger*innen, Waffenhändler*innen, geistige wie monetäre Oberschicht*innen.

Also selbst mit den Fahrgästen einer S1 Düsseldorf - Dortmund oder der Buslinie 33 über Wagnerstraße und ZOB in keinster Weise zu vergleichen.

Alles in allem, bei aller Noblesse und Vornehmheit: ein hochexklusives und -explosives Spannungsfeld, in dem sich unsere drei Freunde hier bewegen würden.

Keiner stieg mehr ein, die meisten Passagiere hatten ihre Plätze bereits eingenommen. Schaulustige standen staunend auf dem Bahnsteig und gafften.

Eine Bahnsteigdurchsage schallte durchs Gebäude und über die Gleise hinweg: »An Gleis 1 bitte einsteigen! Die Türen schließen selbsttätig. Vorsicht bei der Abfahrt des Zuges.«

Friedrichsberg und Dahl hatten die letzten Meter noch hinter sich zu bringen, dann hatte der Dicke den Zug geentert – vorher wehmütig seinen Zigarrenstumpen unter den Zug geschnippt – und seine knapp 140 Kilo durch die Türe gequetscht.

»Schnell!«, rief er Dahl zu.

»Alter Mann ist doch kein D-Zug!«

»Na, bei den Verspätungen heutzutage … Ich bin jedenfalls drin.«

»Hier, nimm die Koffer.« Dahl reichte an, Friedrichsberg nahm entgegen und schob sie hinter sich.

»Hab ich.«

Die Schaffnerpfeife schallte über den Bahnsteig, Türen schlugen zu. Die Dampflokomotive ächzte auf und stieß Qualm aus.

»Und ich?« Dahl stand leicht verzweifelt auf dem Bahnsteig.

»Spring rein! Mach schon!«

»Ich war noch nie der Mann für große Sprünge!«

»Jetzt musst du!«

Mit letzter Kraftanstrengung machte Dahl einen Riesensatz, und auch die letzte Türe schloss sich.

»Na also. Geschafft!«

Sie waren also drin. Im Wüstenexpress. Purer Luxus, Exotik und Drama. Was für eine Welt: einzigartig und …

»… und erledigt.« Dahl schnaufte durch, nass geschwitzt. »Also ich! Vollkommen!«

»Perfekt«, grinste Alfons Friedrichsberg, »dann kannst du ja jetzt wieder das Gepäck nehmen. Ich hab doch so zarte Hände und krieg da so schnell … du weißt schon …«

»Blasen? Die hab ich jetzt an den Füßen!«

»Nicht so schlimm, die stören dich ja nicht beim Greifen!«

»Stimmt auch wieder. Und was trägst du?«

»Die Verantwortung. Und die ist schwer genug!«

»Für was?«

»Unter anderem für unsere Fahrkarten … apropos …« Friedrichsberg klopfte seine Jackentaschen ab, tat einen raschen Griff in seine Hosentaschen, Innentasche, Brusttasche des Hemdes … »Wo hab ich die nur …?«

»Entschuldigen Sie«, ein Schwarzgekleideter trat auf die beiden zu, »wissen Sie vielleicht, wo …?«

Der Dicke unterbrach: »Nein, ich bin ja nicht der Schaffner, oder sehe ich für Sie so aus?«

»Entschuldigung, aber ich bin vollkommen falsch eingestiegen.«

»Grundsätzlich oder partiell?«

Mit Verwirrung schaute der Schwarzgekleidete zwischen Friedrichsberg und Dahl hin und her. »Verzeihung?«

»Wir befinden uns hier im anfahrenden Wüstenexpress.«

»Ja, da bin ich richtig. Aber welcher Waggon …?«

»Wie bereits gesagt: Das weiß ich nicht, da müssen Sie schon selber gucken!«

Was der Herr dann auch mit einiger Verzweiflung tat.

Vermutlich wäre er noch verzweifelter gewesen, hätte er zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass er sein Ende im Speisewagen finden würde. Zugegeben: bei dem, was die einem dort mitunter servierten, kein unüblicher Ort, um das Zeitliche zu segnen. Nur sollte dem Schwarzgekleideten die Kehle durchgeschnitten werden. Und das war doch – auch bei geübten Fernreisenden – eine nicht so häufige Todesart.

Kapitel 4

Die Lokomotive stieß noch einmal Dampf aus, das Signal einer Trillerpfeife ertönte, die letzten Waggontüren flogen zu, und mit einem mächtigen Ruck setzte sich der Express in Bewegung. Zunächst langsam, fast zögerlich, dann schneller und schneller, und dann kamen Bewegung und Rhythmus in die Sache, und der Wüstenexpress nahm Fahrt auf und verließ den Hauptbahnhof von Wanne-Eickel mit Reiseziel Hitze und Sand.

Zwischen Alfons Friedrichsberg und Willi Dahl kämpfte sich jetzt eine penetrant süße Duftwolke nach vorne, im Schlepptau eine Dame – breit wie hoch, gehüllt in wallende Tücher, obendrauf ein Hütchen –, die sofort lospolterte: »Sie stehen ja denkbar dumm im Weg herum.«

»Oh!« In Dahls Ausdruck schwang kurz Freude mit. »Eine unserer Spezialitäten.«

»Lassen Sie unsereinen doch endlich mal durch, um Himmels willen!«

»Nur Sie?«, wollte Friedrichsberg wissen.

»Und meine drei Sherpas.«

»Sherpas? Dann sind Sie hier falsch, das ist nicht der Alpenexpress, hier geht’s in die Wüste!«

»Ich dachte, zum Speisewagen!«, knurrte die Breitkurze.

»Den suche ich auch.« Dahl nickte ihr zu.

»Da haben Gepäckträger keinen Zutritt.«

»Das ist eine Verwechslung.« Friedrichsberg deutete mit seinem dicken Zeigefinger auf seinen kleinen Freund. »Auch wenn er gerade unsere Koffer trägt. Er ist ein Gebäckträger. Leicht zu erkennen an der starken Vorwölbung seiner Körpermitte.«

»Äh …«

»Machen Sie jetzt endlich Platz!«, maulte die Dame und drängte sich an Friedrichsberg und Dahl vorbei.

Dahl schaute sich verzweifelt um. »Aber wie denn, mit Koffer und Bauch?!«

Die Dame drängte ihren Körper weiter durch den Zug und polterte: »Platz da!«

»Genau den suchen wir jetzt auch«, brummte Friedrichsberg und schob nach: »Wagen 63, Sitzplatz sieben!«

»Oh.« Dahl schaute sich um.

»Wieso oh?«

»Das hier ist Wagen vier.«

»Oh.«

»Ja.«

»Tja, dann müssen wir uns dahin jetzt wohl oder übel durchschlagen.« Und genau das tat der Dicke – Dahl im Gefolge – dann auch, ohne Rücksicht auf Verluste, zu seiner Linken die Abteile, zur Rechten die Fenster, dazwischen gefühlte 50 Zentimeter Gang: »Entschuldigung, dürfen wir mal eben … genau, wir müssen da durch … ja, danke … Wir sind leider auf der falschen Seite des Zuges eingestiegen … Oh, Pardon, das tut mir … leid … Ah, der Untere war meiner … So kommt man sich näher … Na, hoffentlich sehen wir uns nicht wieder …«

So schlug sich der Dicke eine Schneise durch die Fahrgäste, die ebenfalls damit beschäftigt waren, ihren Wagen oder ihr Abteil zu finden und ihr Gepäck zu verstauen.

»Sag mal, Friedrichsberg…«

»Jaaaa?«

»Wo ist eigentlich Straaten?«

»Das weiß ich doch nicht.«

»Wie: Das weißt du nicht?«

»Er wollte das Auto parken und dann nachkommen … Weißt du doch. Hat es wohl nicht mehr geschafft …«

»Was?«

»Einen Parkplatz zu finden … Wahrscheinlich kreist der immer noch …«

»So wie ich den kenne, ist der wieder zurück nach Hause zu seiner Garage und kommt gleich mit dem Taxi zum Bahnhof.«

»Aber wir sind doch schon weg.«

»Er ist ja auch zu spät!«

»Vielleicht ist er so schlau und lässt sich gleich zum nächsten Halt fahren.«

»Wäre ’ne Möglichkeit.«

»Seine einzige.« Friedrichsberg schaute auf die Wagennummer. »Das war Wagen acht, jetzt kommt Wagen neun …«

»Und?«

»Tja.«

»Hm?«

»Hier ist Ende.«

»Wie: Ende?«

»Der Zug geht nicht mehr weiter.«

»Gibt’s doch nicht. Und wo sitzen wir dann jetzt, wenn es den Wagen, in dem wir sitzen sollen, nicht gibt?«

»Wir müssen jemanden vom Bordpersonal suchen. Die kennen sich aus. Also zurück!«

»Ich kann aber nicht mehr …«

»Du musst aber!«

»Mit den ganzen Koffern …«

»Ja, sollen die hier liegen bleiben?«

»Du könntest doch auch …«

»Was soll ich denn noch alles machen?«

»Überzeugt!«

Und so ging es für die beiden wieder retour.

»Entschuldigung, dürfen wir mal eben … Ja, wir sind’s wieder … Genau, wir müssen leider zurück … unseren Waggon gib es leider nicht … Ja, ärgerlich, aber nicht außergewöhnlich … Bahnfahren ist wie Roulette spielen, nur dass man in der Kugel sitzt! Rien ne va plus!«

»Da!«

»Was?«

»Da ist einer.« Dahl zeigte auf einen Uniformträger mit korrekter Mütze – anscheinend ein Zugbegleiter –, der sich in übereifriger Kompetenz pfiffig zurückhielt und den Anschein machte, trotz aller Eifrigkeit nicht entdeckt werden zu wollen.

Was Alfons Friedrichsberg selbstverständlich nicht davon abhielt, ihn anzusprechen: »Verzeihung, verzeihen Sie …«

»Ja, bitte?«, kam es in breitestem Sächsisch.

»Wo ist denn der Wagen 63?«

»Haha! Den gibt’s hier nicht. Bei uns ist bei neun Schluss.«

»Das haben wir schon gemerkt!«

»Gibt’s aber auch bei keinem anderen Zug.«

»Ach, aber das haben wir zufälligerweise gebucht!«

»Zeigen Sie doch mal bitte Ihre Tickets.«

Friedrichsberg fingerte umständlich die Fahrkarten aus der Innentasche seines Jacketts. »Da, bitte!«

Der Zugbegleiter warf einen kurzen Blick und tippte auf die Karten. »Na, wer sagt’s denn! Nicht Wagen 63, Sitzplatz 7, das ist Wagen 7, Abteil 6 für 3 Personen. Sie haben das Ticket falschherum gehalten … obwohl nee … Haha, dann stehen die Zahlen ja auf dem Kopf … Haben Sie ’ne Quersumme …? Oder wenn Sie das malnehmen und einen im Sinn … Ach was, keine Ahnung, wie Sie darauf gekommen sein können, dass das Wagen 63 … Na ja, aber wo ist denn die Nummer 3?«

»Wie meinen?«

»Ich zähle nur zwei … Sie und ihn.«

Dahl mischte sich ein. »Sie machen mich noch ganz verrück mit Ihrem Zahlengeschwurbel …«

»Moment, die Zahlen haben Sie durcheinandergebracht! Und Sie sind nur zu zweit in einem Abteil für drei!«

»Das kann Ihnen doch egal sein«, grummelte Friedrichsberg. »Und wenn ich eins für vier buchen würde oder zwei für neun, wobei dann aber einer stehen müsste und ich nachher nicht mal selbst …«

»Ich mein ja nur…«

»Die kommt noch«, sagte Dahl.

»Eine Frau?«

»Person.«

»Weiblich?«

»Nicht, dass ich wüsste …«

»Was denn nun …?«

»Also die Person …«

»Genau!«

»Die steigt später noch ein. Straaten.«

Der Zugbegleiter winkte ab. »Sagen Sie das doch gleich! Soll ich dann trotzdem schon abknipsen? Ist eh egal … Sie haben Supersparpreis, da gibt’s kein Geld zurück, selbst wenn Ihre Frau …«

»Ist nicht meine Frau.«

»Seine Frau.«

Er zeigte auf Friedrichsberg, der gleich abwehrte: »Noch nie eine gehabt. Also nennenswert.«

»Oh.«

»Hatte Besseres zu tun.«

»Oh, herzlichen Glückwunsch, dann haben Sie jetzt ja einen schönen Anschluss …« Er nickte in Dahls Richtung.

Der wiegelte ab. »Wir sind doch nicht zusammen!«

»Die Welt ist bunt.«

»Man muss nicht überall mitmalen.«

Der Dicke warf sich in die Brust und räusperte sich lautstark. »»Könnten wir bitte alle unsere Tuschekästen jetzt wieder verstauen?! Wir warten auf unseren … einen Freund.«

»Entschuldigung, ich wollte gar nicht Ihre intimen …«

»Nein! Wir machen einfach eine Reise!«

»Genau! Drei Männer, eine Reise.«

»Ja!«

»In einem Abteil.«

»Ja!«

»Ein winzig kleines Bad.«

»Hmhm …«

»Wenn man’s mal laut hört, klingt’s doch seltsam, oder?«

»Nein«, schüttelte Friedrichsberg energisch den Kopf, »wie eine typische Zugreise.«

Der Zugbegleiter tat das ab und wechselte zügig das Thema. »Ja. Und zwar mit dem Wüstenexpress, meine Herren. Und dazu heiße ich Sie jetzt herzlich willkommen! Sie dürfen mich einfach Herr Olaf nennen, und ich werde mich ab sofort um Ihr Wohl kümmern und bin immer für Sie da. Wenn Sie etwas wünschen …«

Jetzt kam die Retoure von Friedrichsberg: »Drei Herren allein in einem Abteil wünschen sich was von einem Herrn Olaf, der immer für sie da ist …?! Wenn man’s mal laut hört, klingt’s seltsam, oder?«

Herr Olaf schluckte kurz. »Touché.«

Mittlerweile hatten die meisten Mitreisenden ihre Abteile gefunden, das Gedränge und Geschiebe durch den Gang nahm ab, langsam kehrte Ruhe ein.

»Wie sind denn Ihre werten Namen?«, wollte Herr Olaf wissen.

»Friedrichsberg. Alfons Friedrichsberg. Und das ist mein … mein … also mein …vielmehr … das ist … nun also … mehr oder weniger … äh … ja, Dahl.«

Der nickte.

Herr Olaf zog aus seiner Uniformtasche schnell einige zusammengefaltete DIN-A4-Zettel hervor, überflog sie und sagte dann: »Perfekt, hier hab ich Sie auch auf meiner Liste …«

»Da sehen Sie mal.«

»Sie haben ein 4er-Abteil mit Betten für drei. Also nein, für vier, aber Sie sind ja nur zu dritt. Besser als umgekehrt … Also Sie wären zu viert und es gäbe nur … egal! Dann wünsche ich Ihnen jetzt eine schöne, spannende und entspannende Reise. Und nochmals: herzlich willkommen im Wüstenexpress.«

»Vielen Dank.«

»Ach, und bevor ich es vergesse …« Herr Olaf linste über seine Schulter nach hinten.

»Ja?«

»Da ist ein Herr, der hat schon zweimal nach Ihnen gefragt.«

Dahl schaute sich um. »Wen hat er gefragt?«

»Mich.«

»Sie?«

»Ja.«

»Nach uns?«, wollten Friedrichsberg und Dahl unisono wissen.

»Sicher.«

Friedrichsberg zog die Stirne kraus. »Wer denn?«

Hätte man hingehört, wäre ein leises Grummeln zu vernehmen gewesen.

Der Zugbegleiter drehte sich um, schaute hinter sich und sagte: »Ach, da ist er ja schon selbst …«

Der »Herr« war nur vage zu erkennen, Friedrichsberg musste blinzeln. »Den kann man ja so gar nicht erkennen, der ist ja ganz in … äh …«

»Klopapier?«, kam von Dahl.

Das Grummeln wurde lauter.

Der »Herr«, besser: die Gestalt, kam immer näher, war aber noch nicht nah genug bei den dreien, sodass der Dicke weiterhin konzentriert in die Richtung des Grummelns schauen musste. »Eher Mullbinden …«

»Die müssten dann aber dringend mal gewechselt …« Jetzt war die Gestalt noch weit genug weg, aber doch nah genug dran. Dahl schaute noch mal hin. »Moment mal, das ist doch …«

»… eine Mumie«, vervollständigte Friedrichsberg den Satz.

Das Grummeln war nun sehr laut und unheilvoll, und der Schrecken war den beiden Freunden ins Gesicht gemeißelt. Der »Herr«, der eine Art Gestalt war und sich als Mumie entpuppte, kam immer näher.

»Ja«, sagte Herr Olaf, wie um etwas Gelassenheit in die Situation zu bringen, »wir sind stolz darauf, eine illustre Gästeschar mit unserem exklusiven Wüstenexpress anzuziehen!«

Die Mumie kam näher und näher, und erst jetzt fiel ihnen auf, wie groß und bedrohlich sie war.

»Wenn mich nicht alles täuscht«, stellte Friedrichsberg fest, »ist das einer unserer Verfolger von eben.«

»Aber sind die nicht eben am Ende der Sackgasse an der Wand zerschellt?«