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Stück für Stück Puzzle-Glück Grotesk, makaber, skurril − Kabarett trifft Krimi in Kai Magnus Stings Debüt Eigentlich beginnt alles mit einem Körper, der in seine Einzelteile zerlegt wird … Kopf … Arme … Beine … Ein regelrechtes Puzzle aus menschlichen Gliedern ist das. Doch dies ist erst der Auftakt zu einer schrecklichen Geschichte: Alfons Friedrichsberg, Jupp Straaten und Willi Dahl, ein kriminalistisches Altherren-Trio vom Niederrhein, hat schon bald alle Hände voll mit einer mysteriösen Selbstmordserie, mit fiesen Axtmorden und rüpelhaften Schlägertruppen zu tun. Bei ihren Nachforschungen stoßen die drei Alten auf allerlei Ungereimtheiten, hinter denen sich weitaus gefährlichere Dinge verbergen, als ursprünglich angenommen. Die inoffiziellen Ermittlungen fördern Überraschendes zutage. Und vor allen Dingen auch noch die ein oder andere weitere Leiche ... Ob sich am Ende alle Stücke dieses Leichenpuzzles zu einem klaren Bild zusammenfügen lassen?
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Seitenzahl: 338
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Kai Magnus Sting
Leichenpuzzle
Kai Magnus Sting, geboren 1978, schreibt Kabarettprogramme, Hörspiele, Kriminalromane, Kurzgeschichten und Kolumnen für Radio und Zeitung. Seit zwanzig Jahren ist er mit seinen Bühnenprogrammen auf Tournee, produziert Live-CDs und Hörspiele, ist im Fernsehen zu bestaunen und im Radio zu hören und hat für seine kabarettistischen Arbeiten zahlreiche Preise gewonnen.
Kai Magnus Sting
Originalausgabe© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH,Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Coverillustration: © Heiko SakuraiFoto Kai Magnus Sting: © Friedhelm KrischerRedaktion: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-95441-238-9E-Book-ISBN 978-3-95441-248-8
»Nachdem A gesagt hatte, dass er schon immerder festen Überzeugung gewesen wäre,Veränderung sei das halbe Leben, stellte er fest,dass sich B überhaupt nicht gewandelt habe,was diesen zutiefst erschrecken ließund sehr zu denken gab.«
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Er stand nun bereits eine Viertelstunde vor dem leblosen Körper und dachte krampfhaft über die Möglichkeiten nach, den unförmigen Leichnam problemlos in kleine, appetitliche Stücke zu zerteilen.
Das war im Prinzip wie bei einem Puzzle, nur umgekehrt. Bei dem Puzzle musste man zusehen, wie man den vor einem liegenden Haufen Puzzleteilchen sortiert bekam – der Rand wurde als Erstes zusammengesetzt, dann ging es daran, die Mittelteilchen so gut wie möglich miteinander zu verbinden, sodass sie im Endeffekt ein passendes Ganzes ergaben, das sich zu einem Bild formierte. Katzenmotive, meistens Landschaften, Berge bevorzugt, Schloss Neuschwanstein.
Er dagegen musste aus einem fertigen, wenn auch leblosen Körper kleine, passende Fleischpuzzleteilchen machen. Und diese Aufgabe gestaltete sich schwieriger als angenommen. Vor allen Dingen war er noch nie ein großartiger Bastler gewesen; geschweige denn ein Hobbypuzzler.
Er blickte auf die vor ihm liegende Leiche. Es half alles nichts, da musste er jetzt durch. Die Vorbereitungen waren getroffen, den groben Holztisch in seiner Hinterhofwerkstatt hatte er vorher vorsichtshalber mit einer Abdeckplane überspannt und an den Enden mit einem ziemlich robusten Klebeband versehen, sodass sie nicht verrutschen konnte. Der Werkstattboden war mit alten Tapetenresten ausgelegt, mit denen er einst das elterliche Wohnzimmer beklebt hatte: rosa Blümchen auf beigefarbenem Grund.
Wie wohl das Wohnzimmer des Toten aussehen mochte? Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Und für den Toten erst recht nicht.
Er hatte, zugegeben, mit Blut seine Schwierigkeiten, also genauer gesagt mit Menschenblut. Mit Tierblut kannte er sich aus. Sein Onkel war Metzger gewesen und er hatte damals oft im Sommer bei Onkel und Tante Urlaub machen dürfen auf dem Dorf. In heißen und schwülen Sommern hatte so eine kleine Familienschlachterei ihren ganz eigenen Reiz. Da hatte man Urlaub, spielte den ganzen Tag in den Feldern, ließ Drachen steigen, man sah die ganzen Tiere, die der Onkel hatte, manche von ihnen ein letztes Mal, bald stieg einem dieser Viehgestank in die Nase und der Geruch nach altem, getrocknetem Blut machte sich überall breit, ein Geruch, den er selbst heute, Jahrzehnte danach, nicht vergessen hatte.
Gerüche fressen sich in Nasen wie Falten ins Gesicht.
Einmal hatte er auch den Bolzenschussapparat bedienen dürfen. Der Onkel stand selbstverständlich daneben; ein Schwein davor. Dann drückte er ab. Der Onkel stand noch immer, das Schwein lag. Dann wurde es auseinandergenommen und verwurstet. »Das, was man selber verwurstet, schmeckt immer noch am besten.« Zitat Onkel.
Er schaute auf den Toten vor sich. Verwursten wollte er ihn nicht. Auseinandernehmen schon. Er überlegte, wie man den leblosen Menschen zerteilen könnte, ohne dass es allzu viel Arbeit machte. Schließlich ließ sich nicht behaupten, dass es eine angenehme Beschäftigung sei, einen Toten übers Knie zu brechen. Er überlegte, ob er die weicheren Stellen des Körpers mithilfe eines Filzschreibers markieren sollte, um nachher, wenn es ans Sägen ging, eben jene Partien besser und schneller zu treffen. Oder sollte er den Leichnam nach alter Weidmanns Sitte aufbrechen?
Nein, nein, das wäre des Toten unwürdig. Schließlich lag da ein ehemaliges Menschenwesen vor ihm – und kein Tier. Wie sollte er weiter vorgehen? Weiche Körperpartien mit Filzschreiber markieren war auf jeden Fall nicht schlecht. Aber welcher käme da infrage? Er hatte so ein billiges Werbegeschenk einer Möbelfirma anlässlich dessen fünfzigjährigen Bestehens geschenkt bekommen, das könnte er benutzen. Und dann? Säge? Und wenn ja, welches Modell? Eine handelsübliche Säge, mit der man in der Herbstzeit auch kleinere Laubsägearbeiten durchführen konnte? Oder eine, mit der man auf Bäume klettern und sich dickerer Äste entledigen konnte? Nein, am besten wäre sicher die Kettensäge, das ging bestimmt am schnellsten.
Oder sollte er besser mit der Axt arbeiten? Das wäre deutlich problematischer und arbeitsintensiver. Die Axt hatte er bereits benutzt: Er hatte dem zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Menschen die Axt von hinten, Scheitel ziehend sozusagen, in den Schädel geschlagen. Der Mensch war natürlich auf der Stelle tot gewesen. Die Axt blutig; sie hatte ganze Arbeit geleistet.
Skalpell ging auch. Das wollte er sich aber für das Zerlegen aufheben, wenn er den Körper auseinandernehmen musste, wenn es an die Innereien ging und er feiner zu arbeiten hatte. Innereien nahm man sich nicht mit einer Säge zur Brust. Und schließlich brauchte er die Teile noch. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, fiel ihm doch ein, wie seine Oma früher immer Leber angebraten hatte. Mit Apfelscheiben und Zwiebeln. Oder Hühnerherzen …
Sollte er die Geflügelschere nehmen? Er dachte daran, als er noch klein war und sein erstes Hähnchen zerteilt hatte, was an und für sich recht gut geklappt hatte.
So kam er nicht weiter. Ein Blick auf die Uhr, es war schon kurz vor zwei. Beherzt griff er zum Filzschreiber, er war müde und musste in fünf Stunden wieder raus. Und dazwischen hatte er den ganzen Menschenkörper mit Filzstift zu bemalen und zu zerteilen, immerhin ein Körper von 185 Zentimetern Größe und einem Gewicht von schätzungsweise 94 Kilo. Diese Angaben allerdings mit Vorbehalt oder, wie es bei den Lottozahlen immer hieß: ohne Gewähr.
Nach einem erneuten Blick auf die Uhr legte er den Filzschreiber zur Seite und griff hinter sich ins Regal. Die Kettensäge lag gut in der Hand. In der linken Leistengegend setzte er zum ersten Mal an, dass es nur so krachte. Schon bei der rechten Leiste war er angenehm überrascht, wie schnell ihm das Zerteilen von der Hand ging. Beim Axthieb in den Hinterkopf hatte er noch ernsthafte Bedenken gehabt. Besonders, ob er überhaupt die Kraft aufbringen würde, den Menschen mit einem einzigen Schlag direkt außer Gefecht zu setzen. Was wäre denn gewesen, wenn er es nicht geschafft hätte? Wenn die Axt im Hinterkopf stecken geblieben wäre, das Opfer hätte sich umgedreht, Blut wäre ihm das Gesicht runtergelaufen und eine horrorfilmartige Verfolgungsjagd hätte stattgefunden? Nicht auszudenken! Er hätte nach solch einem Erlebnis bestimmt wochenlang nicht schlafen können.
Ein Mord musste ja schnell gehen. Da konnte man nicht vorwarnen, mal kurz Maß nehmen, schon mal probehalber ansetzen, das Opfer sachte umdrehen, um ihm dann von hinten den Schädel in zwei Stücke zu schlagen. Nein, die ganze Geschichte war ruckzuck vom Tisch. Das Opfer hatte ihm den Rücken zugekehrt, er hatte die Axt gepackt, weit ausgeholt und sie ihm fallbeilartig direkt in den Schädel gehauen. Die Axt brauste hinein, das Blut spritzte kurz und heftig auf – und gut war’s. Dann hatte er natürlich noch Bedenken gehabt von wegen Mensch und Gewalt, also Totschlag, um nicht zu sagen Mord. Und das mit den eigenen Händen. Beim Axthieb hatte er noch den ein oder anderen Skrupel. Das jetzige Zerteilen sah er vielmehr als sportliche Herausforderung.
Mittlerweile war es schon halb drei. Viereinhalb Stunden noch. Er schaute auf den Leib, von dem einige Teile bereits abgetrennt waren. Jetzt dachte er wieder an das Puzzle: den Rand links, die Mitte rechts. So hier jetzt auch, bei diesem Leichenpuzzle: Den Torso ließ er unbewegt liegen, da musste er ja auch noch dran arbeiten, die abgetrennten Teile legte er ans Kopfende des Tisches. So gesehen war hier die Körpermitte auch die Puzzlemitte, die einzelnen Körperglieder bildeten den Rand.
Er legte die Kettensäge beiseite, fischte aus seiner Hosentasche ein Taschentuch und wischte sich damit durchs Gesicht. Als er das Taschentuch wieder wegnahm und reinblickte, sah er, dass es voller Blut war. Zunächst erschrak er, dann sagte er sich aber, wie zur eigenen Beruhigung, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach das Blut des Toten sein musste. Er fasste den Entschluss, nachher erst mal ein Duschbad zu nehmen.
In einer Dreiviertelstunde würde er fertig sein, den Klebestreifen vom Tisch lösen, die Plane mitsamt der Leichenteile zusammenpacken und fürs Erste alles im Keller verstauen. Morgen würde er dann die Tapetenreste verbrennen und, wenn das zeitlich hinhaute, die Leichenstücke wieder auswickeln und schon mal die Päckchen fertigmachen.
Eigentlich begann alles mit einem Toten ohne Hinterkopf in der Badewanne. Aber der Reihe nach: Der alte Backsteinbau schien auf den ersten Blick wenig einladend und vermittelte einem unbeabsichtigt hinaufblickenden Passanten, gerade zur vorgerückten Stunde, einen eher befremdlichen Eindruck. Einige der Bewohner hatten auf den Fensterbänken Geranienkästen angebracht, rote Blüten zumeist. Die sechs Parteien, je zwei pro Geschoss, schienen sich ob ihrer Bepflanzung abgesprochen zu haben. Vielleicht auch was das weitere Interieur anging, denn soweit man es von außen her sehen konnte, hatten die Flurfenster ein und dieselbe Gardinenart, sie unterteilten die Fenster und bedeckten die untere Hälfte mit einem weißen Stoff. Auch die übrigen Fenster hatten Gardinen; kleinere Lampen, Grünpflanzen und sonstiger Fensterschmuck füllten die Fensterbänke aus und versperrten den Einblick in die Wohnstuben. Deutsche Gemütlichkeit auf 60 Quadratmetern. Nebst Schrankwand, Läufer, TV-Schränkchen, röhrendem Hirsch in Öl und Dackel (der nicht in Öl, sondern im Körbchen). Der ganze Bau war symmetrisch, links und rechts die Wohnparteien, in der Mitte die grüne Haustüre, darüber stiegen die Flurfenster hoch, und links und rechts der Flurfenster waren kleinere Fenster mit unklarem Milchglas, um so den Einblick von außen komplett zu verhindern. Mögliche Schatten hätte man wahrnehmen, Personen, Einzelheiten aber nicht erkennen können. Typische Badezimmerfenster also.
Eines dieser Badezimmerfenster stand offen, das der zweiten Etage rechts. Und dieses Fenster gehörte zu einem sehr schönen, gepflegten Bad. Blaue Fliesen bis rauf unter die Decke, die, da an dieser Seite in eine Dachschräge mündend, auch gefliest war. Und diese blauen Fliesen, die einen feinen, weißen Rand hatten und erstaunlich gut verlegt worden waren, schienen über die Jahre regelmäßig so sorgfältig geputzt und gepflegt worden zu sein, dass jeder noch so kleine Tropfen oder Staubflusen an ihnen sofort unliebsam ins Auge gesprungen wäre.
Deshalb fiel der große Blutflecken an der Fliesenstirnseite nur umso unangenehmer auf.
Es war, als hätte man einen Luftballon ziemlich prall mit Flüssigkeit gefüllt, in diesem Fall Blut, und ihn mit voller Wucht gegen die Fliesen geworfen, woraufhin ihm nichts anderes übrig blieb, als zu zerplatzen, was ein ziemlich kräftiges Blutzentrum beweisen konnte und die Restflüssigkeit folglich dazu zwang, langsam, der Schwerkraft folgend, der Badewanne entgegenzulaufen. Es war aber nicht frisches, warmes Blut. Das Blut hier war schon getrocknet und hatte eher eine Braun- als eine Rottönung. Und der tote Mann in der Wanne, der zu dem Blut gehörte, war eher blass als mit gesunder Hautfarbe ausgestattet. Blutleer fast. Natürlich, befand sich doch ein Großteil seines Blutes an der Fliesenstirnseite, etwas noch an seiner Schläfe und anderen Kopfpartien.
Das Wasser war mittlerweile kalt, noch nicht mal mehr der Hauch einer Schaumkrone war auszumachen, dafür vermischten sich zarte Blutflüsse kess mit dem leichten Blau des Wannenwassers, das Ganze einem Tuschekasten gleich. Der Mann musste seit einigen Stunden so in der Wanne gelegen haben, als sich gegen 16.30 Uhr die Badezimmertüre öffnete und seine Frau eintrat, die in der Bewegung stockte, einen Schritt zurückwich und in einem Reflex die Hände vor ihr Gesicht schlug.
Sofort hatte sie das Gefühl, als legten sich zwei unsichtbare Hände um ihren Hals und drückten ihr die Kehle zu. Sie schluckte, besser: Sie versuchte zu schlucken. Sie ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank, holte eine Flasche Mineralwasser hervor, nahm sich ein Glas von der Anrichte, schüttete es halb voll und trank in großen Schlucken. Dann ging sie wieder ins Bad, um zu überprüfen, ob das, was sie gesehen hatte, auch der Wirklichkeit entsprach.
Und es entsprach.
Wie ferngesteuert nahm sie das Telefon und wählte die Nummer der Polizei. »Ja, äh … Also … Zimmermann hier. Ich … Ich glaube, da … da ist irgendwas mit … mit meinem Mann.«
Da war nicht nur irgendwas mit ihrem Mann, ihr Mann war tot, das war mit ihm. Also war nichts mehr mit ihrem Mann.
»Was ist denn mit Ihrem Mann?«, wollte der Polizeibeamte am anderen Ende der Leitung wissen.
»Der … äh… ja, also … der … der liegt hier.«
»Wo liegt Ihr Mann?«
»Der liegt hier im … im Bad.«
»Ist Ihr Mann umgefallen? Hat er sich verletzt? Ist ihm schlecht geworden? Muss er Tabletten nehmen?«
Bei dieser Art von Verletzung halfen nicht mal mehr Tabletten.
»Nein … Er ist … Da ist so viel Blut … Das war da sonst nie. Ich putze regelmäßig … So viel Blut … Das hat er noch nie gemacht …«
Und heute auch zum letzten Mal.
»Jetzt seien Sie mal ganz ruhig.« Der Beamte schien die Tragweite der Situation zumindest in Ansätzen erkannt zu haben und versuchte, durch das Telefon zu beruhigen. »Setzen Sie sich mal hin und geben Sie mir Ihre Adresse durch, wir sind dann sofort da.«
Frau Zimmermann tat wie ihr geheißen und legte auf. Dann erschrak sie, weil sie sich im Auflegen erneut fragte, ob das, was sie da vorhin im Bad gesehen hatte, auch tatsächlich real gewesen war. So was hatte sie noch nie gesehen.
Warum lag ihr Mann da? Es war Sonntagnachmittag, da lag er sonst nie in der Badewanne, sonst spielte er mit seinen Kollegen Fußball.
Sie ging zurück ins Badezimmer. Ihr Mann lag immer noch in der Wanne, genau so, wie sie ihn vorhin entdeckt hatte. Unbeweglich. Die ganze anatomische Szene wie von Rembrandt als Stillleben festgehalten.
Das braune Blut hing an den Fliesen knapp über seinem Kopf. Und die Blutflecken in seinem Gesicht verrieten, dass er nicht schlief.
Sie setzte sich auf die Toilette neben der Badewanne und betrachtete ihren Mann. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er in seiner rechten Hand eine Pistole hielt, halb auf seinem Bauch ruhend, halb unter Wasser. Wieso war er mit der Waffe in die Wanne gestiegen? Warum wollte er sich erschießen? Warum hat er sich erschossen? Woher hatte er die Waffe?
Sie stand auf, ging zur Wanne und betrachtete ihren Mann. Nackt, blutleer und tot. Sie ging zur Stirnseite und schaute auf das Blut. Und wieder auf ihren Mann. Und dann erst sah sie seinen Hinterkopf. Das heißt das, was von seinem Hinterkopf übrig geblieben war. Die Reste seines Hinterkopfs. Denn dort, wo mal Hinterkopf gewesen war, klaffte jetzt ein großes, schwarzes, blutverkrustetes Loch. Sie starrte auf das Loch und fragte sich, wie man mit einer so kleinen Waffe ein so großes Loch erwirken konnte. Er hatte sich buchstäblich das Hirn weggefetzt. So sah es jedenfalls aus. Sie schaute auf die Fliesen hinter ihm und auf diese Melange aus Blut und Hirnmasse. Wieder legte jemand seine unsichtbaren Hände um ihren Hals und drückte langsam zu, stärker als zuvor.
Sie verließ das Bad, ging ins Wohnzimmer, steuerte auf die große Schrankwand zu, öffnete ein Schrankelement links neben dem Fernseher, förderte ein Schnapsgläschen und einen Obstbrand zutage, goss das Gläschen randvoll, hob an und leerte es in einem Zug. Sie hatte während des Trinkens die Flasche gar nicht aus der Hand gestellt, goss nun nochmals voll, hob an und leerte.
Dann erst stellte sie das Gläschen und die Flasche beiseite, ließ das Schrankelement geöffnet, man wusste ja nie, ging zur Balkontür, öffnete sie, trat auf ihren Balkon, stellte sich an die Brüstung und schrie aus Leibeskräften.
Er hatte sie seit einiger Zeit im Visier. Genau betrachtet, Entfernung abgeschätzt, die Umgebung auf sich wirken lassen, sich selbst zur Ruhe gebracht. Wenn jetzt nichts falsch lief, musste er sie haben. Die Kugel musste sitzen. Er stand unter immenser Konzentration.
Um ihn herum ging das Leben weiter, die Vögel zwitscherten in den umherstehenden Bäumen, Menschen saßen in Büros und gingen ihren Tätigkeiten nach, andere liefen über die Straße mit Einkaufstaschen in der Hand.
Eine Kugel. Ein Schuss, ein Treffer. Und aus. Vor allen Dingen musste es unerwartet passieren. Eben so, dass die anderen nicht damit rechneten. Er war ja nicht alleine. Wäre er allein gewesen, hätte er sich noch mehr Zeit lassen können, alles kein Problem. So aber stand hinter ihm der Rest; der Erfolgsdruck saß ihm im Nacken.
Er kniff die Augen zusammen, nahm ein letztes Mal Maß, sog scharf die Luft ein, holte aus und … Treffer.
Punktgenau. Besser hätte er es nicht machen können. Blattschuss, sozusagen. Er nickte, drehte sich zum Rest um und verbeugte sich kurz, woraufhin er leichten Applaus erntete.
»Ein guter Treffer, wahrlich«, so der Kommentar.
Sie trafen sich jeden Montagvormittag zum Boule.
»Den kriegen wir nicht besser hin.«
»Er hat sich ja auch lang genug vorbereitet.«
Friedrichsberg hob beschwichtigend die Hände. »Nur die Ruhe, Freunde, und kein falscher Neid. Wer kann, der kann.« Mit diesen Worten brachte er seinen wuchtigen Körper in Bewegung und sammelte die Kugeln ein.
Gewinner sammelt ein, goldene Regel. Und für Friedrichsberg kein Problem. Er sammelte gerne ein. Und oft. Eben ein Profi in Sachen Boule. Das einzige Problem für ihn war nur, aus der gebückten Haltung einigermaßen mühelos wieder in die Ausgangsposition zu kommen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es ihm, auch ohne dabei zu tänzeln wie eine Primaballerina im Tütü, immerhin, bei 128 Kilo und 182 Zentimetern. Er ächzte. Er war, durch seine Größe und sein Gewicht, sehr imposant und wirkte sehr mächtig, konnte er doch, wenn er einen Raum betrat, durch sein visuelles und akustisches Erscheinen sämtliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Oft wirkte er wie ein Nilpferd im Stresemann bei einer Ausstellungseröffnung: nett anzusehen und unterhaltsam, aber irgendwie deplatziert.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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