Mord in der Mittsommernacht - Kerry Greenwood - E-Book
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Mord in der Mittsommernacht E-Book

Kerry Greenwood

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Beschreibung

Ein Antiquitätenhändler wird tot am Strand von St. Kilda aufgefunden – war es Mord oder Selbstmord? Phryne Fishers Spürsinn ist gefragt. Und als wäre das nicht genug, soll sie noch ein illegitimes Kind ausfindig machen, dem ein großes Erbe winkt. Trotz der nicht endenwollenden Hitzewelle, die Melbourne heimsucht, heißt es nun, einen kühlen Kopf zu bewahren. Unerschrocken, mit Charme und Chuzpe nimmt Phryne Fisher die Ermittlungen auf und muss sich dabei mit unliebsamen englischen Aristokraten, dubiosen Geisterbeschwörern und allerlei merkwürdigen Gestalten herumschlagen …

Glamourös, klug und unabhängig, eine moderne Frau und eine gewitzte Detektivin – das ist Miss Phryne Fisher. Die wohlhabende englische Aristokratin lässt sich in den wilden 1920er Jahren in Melbourne nieder, wo sie ihr Single-Dasein in vollen Zügen genießt – und nebenbei einen Mordfall nach dem anderen löst. Nicht immer zur Freude der örtlichen Polizei.

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Seitenzahl: 416

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Titel

Kerry Greenwood

Mord in der Mittsommernacht

Miss Fishers mysteriöse Mordfälle

Roman

Aus dem australischen Englisch von Regina Rawlinson und Sabine Lohmann

Insel Verlag

Widmung

Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod … Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen noch die Ströme sie ertränken.

Das Hohelied Salomos 8.6-7 Die Bibel

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

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Zu dieser Ausgabe

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

1

Auch wenn der Weg von Schmerz begleitet ist,

der schwaches Fleisch vor bittrer Well sich fürchten lässt?

Edmund Spenser

The Faerie Queene

Dabei hatte der Tag so erbaulich angefangen …

Das Jahr 1929, das gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckte, benahm sich ausgesprochen manierlich und zeigte sich von seiner besten Seite. Der Himmel war blau, die Luft war lau, und dass die sanfte Brise in St. Kilda nach Zuckerwatte und schalem Bier roch, konnte man dem neuen Jahr nun wirklich nicht vorwerfen. Nach ihrem morgendlichen Bad im kühlen Nass des Meeres hatte Phryne Fisher ihren exquisit geformten Körper unter der heißen Dusche mit duftend schäumender Kiefernnadelseife verwöhnt, mit einem flauschig weichen Handtuch trockengetupft und sich anschließend zum Frühstück niedergelassen. Zubereitet von Mrs Butler, dieser Perle von einer Köchin, und serviert von Mr Butler, diesem Juwel des Butlerberufs, bestand es unter anderem aus getoastetem Baguette mit hausgemachter Zitronenbutter und echtem Bohnenkaffee aus echten Kaffeebohnen – nicht aus einem Konzentrat aus der Flasche, auf deren Etikett das Konterfei eines Mannes mit einem Fez auf dem Kopf prangte.

An diesem sonnigen Morgen gingen die Mitglieder von Phrynes kleinem Haushalt in stillem Fleiß ihren jeweiligen Aufgaben nach. Ihre beiden Adoptivtöchter Ruth und Jane klebten im Wohnzimmer Rezepte in einen Ordner, ihre Vertraute Dot saß unter dem Jasmin im Garten und stopfte Strümpfe. Der schwarze Kater Ember jagte Spatzen, und Molly, die kleine schwarz-weiße Hündin, bewachte die Küchentür. Für den mehr als unwahrscheinlichen Fall, dass sich ein Einbrecher am helllichten Tag ins Haus stehlen wollte, bekäme er es mit ihr zu tun. Gleichzeitig konnte Molly auf ihrem Posten ein wachsames Auge auf die Köchin halten, deren Großzügigkeit in Sachen Leckerlis in Hundekreisen legendär war.

Mr Butler brachte das Weinkellerbuch auf den neuesten Stand, eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Ein Tablett mit Gläsern stand bereit, falls es Miss Phryne plötzlich nach einer Erfrischung gelüsten sollte. Der Krug Citron pressé wartete schon in dem neumodischen amerikanischen Kühlgerät, zusammen mit geraspeltem Eis, Zitronenscheibchen und Pfefferminzstängeln.

Phryne arbeitete im Salon an der Gästeliste für ihre Geburtstagsfeier. Am dreizehnten Januar wurde sie neunundzwanzig. Ein Alter, das nachdenklich machte und in dem die meisten Frauen längst verheiratet waren und Kinder in die Welt gesetzt hatten, glücklich in einem Haus im Grünen samt Ehemann und Tennislehrer. Während sie nach einer türkischen Zigarette und dem Feuerzeug griff, erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild. Sie sah eine kleine junge Frau mit knabenhafter Figur in einem Hauskleid in Scharlachrot und Gold, das Haar, so schwarz wie Krähengefieder, zu einer haubenartigen Frisur geschnitten, die zu beiden Seiten des Gesichts in einer kecken modischen Spitze auslief. Ihr Teint war hell, die Lippen rot, die Augen strahlend grün.

»Du siehst nicht wie neunundzwanzig aus«, sagte sie. »Du bist eine Schönheit!«

Sie warf der gespiegelten Phryne eine Kusshand zu und läutete nach ihrer zitronigen Erfrischung.

Kaum hatte Mr Butler das Tablett mit dem eisgekühlten Krug hereingebracht, klingelte es an der Haustür, so heftig und laut, dass Dot im Garten zusammenzuckte und sich in den Finger stach, dass Jane der Leimtopf aus der Hand fiel – und Mrs Butler ein Hühnerei. Es zerschellte auf den Küchenfliesen und wurde von der dankbaren Molly ruck, zuck aufgeschlabbert. Ember schimpfte den Spatzen hinterher, die aufgeregt davonflogen.

Mr Butler, der eilig zur Tür gehuscht war, meldete den Besuch von »Miss Eliza und einer … Person.«

»Na gut«, seufzte Phryne. Ihre Schwester Eliza, die sich mit Haut und Haaren der Wohlfahrt verschrieben hatte, schleppte ihr manchmal die rätselhaftesten Fälle ins Haus, stolz wie ein Irish Terrier, der eine tote Ratte apportiert. Doch weil Phryne ihre Schwester trotzdem sehr gern hatte, stand sie auf, um die Gäste zu empfangen.

Eliza war eine mollige, lebhafte Adelstochter, eine glühende Sozialistin und eine Frau, der der Anspruch auf den Titel »Trägerin der hässlichsten Hüte der Welt« allein von ihrer Seelenverwandten Lady Alice Harborough streitig gemacht werden konnte. Das Exemplar des Tages bestand aus struppigem, gelbem Stroh und saß ihr wie ein Kerzenlöscher auf dem Kopf. Ein Mensch, der weder einen Funken Kunstsinn noch einen Hauch Scham besaß, hatte sich erdreistet, das Monstrum auch noch mit einer durch eine Bakelitnadel daran befestigten getrockneten Hortensienblüte zu verzieren.

Nachdem Eliza ihrer Begleiterin einen Platz in einer weichen Sofaecke angeboten hatte, rupfte sie sich als Erstes den das Auge beleidigenden Kopfputz herunter.

»Uff! Ist das heiß da draußen. Danke, dass du uns empfängst, Phryne.« Sie wischte sich ein paar feine braune Haarsträhnen aus dem rosigen Gesicht.

»Kalte Zitrone?«, fragte ihre Schwester. »Oder lieber Tee?«

»Zitrone«, sagte Eliza. »Puh, danke, Mr Butler. Und für Sie, Mrs Manifold?«

»Nichts«, antwortete die Frau auf dem Sofa, die Phryne mit klugen Papageienaugen musterte. Sie hatte langes graues Haar, zum Zopf geflochten und hochgesteckt, und trug ein weites braunes Kleid, das aussah wie aus Sackleinen, und Sandalen an den bloßen Füßen. Als – allerdings höchst unwahrscheinlicher – modischer Bezugspunkt fielen Phryne dazu höchstens die präraffaelitischen Maler ein. Sie nippte an ihrer Zitrone und ließ Mrs Manifolds Inspektion über sich ergehen.

»Phryne, Mrs Manifold hat einen Sohn«, begann Eliza.

»Hatte einen Sohn«, verbesserte Mrs Manifold sie mit tonloser, schroffer Stimme.

»Er wurde am Strand von St. Kilda aufgefunden. Ertrunken«, fuhr Eliza fort. »Er hatte einen alten Uniformmantel an, die Taschen voller Steine. Die Polizei geht von Selbstmord aus.«

»Undenkbar«, knarzte Mrs Manifold.

»Genau das hat Mrs Manifold auch bei der Polizei ausgesagt. Sie hat so lange nicht lockergelassen, bis schließlich doch noch eine amtliche Untersuchung der Todesursache angeordnet wurde. Man hat den Leichnam ihres Sohnes obduziert.« Eliza leerte ihr Glas in einem Zug und hielt es Mr Butler zum Nachfüllen hin. »Bitte sehr, hier ist der Bericht.«

»Eliza, für einen solchen Fall bin ich die Falsche«, protestierte Phryne, während sie nach dem Dokument griff. »Der Untersuchungsbeamte muss entscheiden, was …« Sie warf einen Blick auf die Akte. »… Augustin zugestoßen ist.«

»Das hat er schon«, sagte Mrs Manifold. »Er ist zu der Überzeugung gelangt, dass mein Augustin betrunken ins Wasser gefallen ist.«

»Er hat auf Unfalltod entschieden?«

»Ja, der Narr.«

»Ich lese hier, dass man bei der … entschuldigen Sie … bei der Magenöffnung erhebliche Mengen an Alkohol festgestellt hat. Anscheinend Whisky.«

»Aber wieso hätte Augustin Whisky im Magen haben sollen?«, rief Mrs Manifold. »Er hat nicht getrunken, höchstens zu Weihnachten ein Gläschen Sherry! Und wenn er sich tatsächlich das Leben hätte nehmen wollen, dann doch nicht durch Ertrinken. Er konnte schwimmen wie ein Fisch! Er wurde ermordet!« In ihrer Stimme schwang abgrundtiefe Verzweiflung mit. »Mein Sohn ist ermordet worden.«

»Erzählen Sie mir von ihm – und auch, woher Sie Eliza kennen. Ich lasse Ihnen einen Brandy mit Soda und ein paar Sandwiches bringen«, sagte Phryne, denn Mrs Manifold sah so aus, als ob sie dringend einer Stärkung bedurfte, und Mrs Butlers Sandwiches würden auch den Weg durch eine vor Gram zugeschnürte Mutterkehle finden. Die unerschütterliche Gewissheit der Trauernden beeindruckte Phryne. Andererseits war absolute Gewissheit bei einem Selbstmord immer ein wenig verdächtig. Der Selbstmord war von allen Todesarten die unglückseligste, weil er die Hinterbliebenen mit peinigenden Schuldgefühlen in den Wahnsinn trieb. »Hätte er doch nur mit mir geredet«, hieß es dann. »Hätte ich ihn doch nur an dem Abend besucht …«

Aber Phryne wusste aus eigener Erfahrung, dass man einen Menschen, der unbedingt sterben wollte, nicht aufhalten konnte und dass allein der Versuch grausam war. Denn sie hatte es selbst einmal versucht.

Mr Butler brachte ein Tablett mit appetitlich belegten Weißbrotsandwiches herein und verteilte Teller und Servietten. Obwohl man Mrs Manifold schon beim ersten Bissen anmerkte, wie hungrig sie war, hielt sie sich vornehm zurück, und es brachte sie auch nicht aus der Fassung, von einem Butler bedient zu werden. Offensichtlich stammte sie aus gutem Hause und war ein wesentlich besseres Leben gewohnt als das, das sie jetzt führte. Dot kam ins Zimmer, setzte sich dazu und ließ sich ebenfalls ein erfrischendes Getränk geben.

Nachdem Mrs Manifold die meisten Sandwiches verzehrt und sich mit dem von Phryne verschriebenen Brandy gestärkt hatte, bekam sie langsam wieder ein bisschen Farbe, und ihr Blick wurde wacher.

»Und jetzt erzählen Sie mir von Ihrem Augustin«, sagte Phryne.

»Er war mein einziger Sohn«, begann Mrs Manifold. »Mein jüngstes Kind. Meine Mädchen sind längst verheiratet und aus dem Haus. Nur Augustin war mir noch geblieben. Sein Vater ist vor zehn Jahren gestorben. Der Ärmste hat es nicht weit gebracht. Er hatte ein kleines Geschäft, einen Altwarenhandel. Schmutzige Arbeit. Aber Augustin hat das nichts ausgemacht! Nachdem er das Geschäft übernommen hatte, hat er zu mir gesagt: Mutter, wir wollen höher hinaus. Schluss mit den Lumpen und dem Schrott! Man kann auch mit schönen Sachen handeln. Wir müssen einen anständigen Gewinn machen, damit du so leben kannst, wie du es verdient hast.« Mrs Manifold schluchzte laut auf, die Hand vor dem Mund. »Er ist mit einem Wagen herumgefahren, um alte Möbel aufzukaufen, die er anschließend restauriert und weiterverkauft hat. Er besaß eine große Auswahl an Stücken aus der Kolonialzeit, die doch momentan so beliebt sind.«

»Verstehe«, murmelte Phryne. Sie selbst konnte mit der neumodischen Vorliebe für Möbelstücke, die angeblich in einer Rindenhütte stümperhaft zusammengezimmert worden waren, nichts anfangen. »Ja, mit solchen Möbeln kann man seit einiger Zeit beste Preise erzielen.«

»Er war ein kultivierter Mensch, mein Augustin«, fuhr Mrs Manifold fort. »Sehen Sie, hier? Er war nicht kräftig, er hatte es auf der Brust. Meine Mutter meinte, ich würde ihn niemals durchbringen. Ich habe sie eines Besseren belehrt.«

Phryne betrachtete die Fotografie, die Mrs Manifold ihr in die Hand gedrückt hatte. Das war also Augustin. Ein schwaches, nicht besonders gut proportioniertes Gesicht mit fehlendem Kinn, wässrig blauen Augen und Schmollmund. Ein Gesicht, das wohl nur eine Mutter lieben konnte. Aber nachdem Phryne erst kürzlich einen Mordversuch durch einen wahren Schönling überlebt hatte, legte sie bei einem jungen Mann gerade nicht sehr viel Wert auf ein attraktives Äußeres. Augustin musste andere Tugenden besessen haben. Dass er sich durch Attraktivität keine Vorteile verschafft hatte, stand jedenfalls fest.

»Und später erschien mir seine schwache Brust sogar als großes Glück«, schluchzte Mrs Manifold. »Weil er deswegen nämlich nicht in den Krieg musste.«

Dot schenkte ihr Tee nach und gab ihr ein frisches Taschentuch. Eliza sah sich das Lichtbild an.

»Ich kannte ihn«, sagte sie zu Phryne. »Er war ein furchtbar schüchterner, aber sehr netter Mensch. Wir haben Alices Saphirschmuck von ihm schätzen lassen. Später hat sie dafür bei einem stadtbekannten Juwelier genau die von ihm bezifferte Summe erzielt. Damals habe ich auch Mrs Manifold kennengelernt. Meines Wissens hat Augustin tatsächlich keinen Alkohol getrunken, und in den Kreisen meiner Mädchen hat er auch nicht verkehrt. Das hätten sie mir erzählt.«

Phryne nickte. Da Eliza mit den leichten Mädchen aus St. Kilda freundschaftliche Beziehungen pflegte, wusste sie zwangsläufig auch über deren Freier Bescheid.

»Gott behüte!« Mrs Manifold tauchte im ungünstigsten Augenblick aus ihrer abgrundtiefen Verzweiflung auf. »Mein Augustin war nicht hinter den Röcken her! Ich brauche keine Frau außer dir, Mutter, hat er immer gesagt. Er hat die jungen Dinger nicht einmal angesehen. Sicher hätte er irgendwann geheiratet. Eines Tages, aber doch jetzt noch nicht. Mein Augustin kannte nur seine Arbeit. Nachdem er aus dem Schrotthandel ausgestiegen war, hat er einen Tischler und eine Verkäuferin eingestellt und das Geschäft mit den Antiquitäten praktisch aus dem Nichts aufgebaut. Er war immer viel unterwegs, die Geschäfte liefen gut.«

»Und er hat sich auf hochwertigere Objekte verlegt? Wie Briefmarken vielleicht oder Gemälde?«, fragte Phryne.

»Ja. Ich habe früher in Künstlerkreisen verkehrt. In England, vor dem Krieg.«

»Ach ja?«

»Ich war Modell. Aber nicht, was Sie jetzt denken!«, schob sie eilig hinter. »Ich war ein ehrbares Mädchen, wie meine Schwestern. Wir haben alle Modell gesessen. Mein Maler war William Holman Hunt. Die Künstler bildeten eine Bruderschaft. Der berühmte William Morris, der das Muster Ihrer Tapeten entworfen hat, gehörte auch dazu.«

»Gut erkannt«, sagte Phryne. Ihr Salon verdankte sein grünes Unterwasserflair dem ornamentalen Rankenwerk des William-Morris-Designs Golden Lily. »Ein präraffaelitisches Malermodell, wie interessant. Dabei fällt mir auf, dass mir das Muster Ihres Kleides ebenfalls bekannt vorkommt. Das ist doch das Daisy-Muster, nicht wahr?«

Mit dem kaum wahrzunehmenden Anflug eines Lächelns zog Mrs Manifold sich das rostrote Kleid über den Knien glatt. »Ja, richtig«, sagte sie. »Wenn es einen neuen Entwurf gab, haben wir Mädchen beim Sticken geholfen. Auch bei den Gobelins. Wir waren sehr geschickt mit der Nadel, aber anders wäre es bei den anspruchsvollen Mustern von Morris auch gar nicht gegangen. Alles nur Wellen und Kurven. Und bis auf den letzten Stich genau ausgetüftelt! Wir hätten den kleinsten Fehler mit dem Leben bezahlt.«

»Keine sehr augenfreundliche Arbeit«, sagte Eliza mitfühlend.

»Aber eine lohnende Arbeit, bei den wunderschönen Ergebnissen«, bemerkte Phryne.

Mrs Manifold warf ihr einen anerkennenden Blick zu.

»Das ist wahr«, antwortete sie. »Wenn man sich schon Kopfschmerzen einhandeln muss, dann doch lieber, weil man etwas Einzigartiges geschaffen hat. Wenn Mr Hunt uns nicht als Modelle brauchte, haben wir alle zusammen an einem großen Werkstück gestickt. Manchmal haben wir Lieder dabei gesungen. Mr Morris hat darauf geachtet, dass wir regelmäßig Pause machten. Es gab nämlich sogar eine Kantine. Die Manufaktur hatte viele, viele Fenster, sodass es immer schön hell war. Wir haben gern da gearbeitet und hatten viel Spaß miteinander, bevor wir irgendwann getrennter Wege gegangen sind, weil wir geheiratet haben. Und dann kamen die schweren Zeiten. Meine Schwester Deborah, ums Leben gekommen in Frankreich, mit Mann und Kind, von einer verirrten Granate getötet. Ich als Witwe in Melbourne. Am anderen Ende der Welt. Und unsere Lizzie? Ist auf Abwege geraten. Über sie wurde nie wieder gesprochen. Ich dachte immer, ich hätte es von uns dreien noch am besten getroffen. Bis jetzt.«

»Verstehe«, sagte Phryne.

»Wenn die Künstler mal kein Geld hatten, haben sie uns mit einem Bild bezahlt. Ich habe viele davon nach Australien mitgebracht. Augustin wollte sie verkaufen.«

»Aha«, sagte Phryne. Die Präraffaeliten waren ernstzunehmende Maler gewesen. Die es sich zu sammeln lohnte. Sie entsprachen zwar nicht mehr dem Zeitgeschmack, konnten aber durchaus wieder in Mode kommen. Phryne für ihren Teil liebte die Kunstrichtung, und sie überlegte bereits, zu gegebener Zeit für das eine oder andere Gemälde in Mrs Manifolds Geschäft ein Gebot abzugeben.

Die Witwe erzählte weiter von ihrem Sohn. »Er war gebildet, mein Augustin. Sein Vater hat ihm nicht erlaubt zu studieren, er meinte, die Universität wäre nichts für kleine Leute wie uns – der Mann war ein Dummkopf. Augustin hat sich alles selbst beigebracht. Er hat viel gelesen, Bücher auf Griechisch und Latein. Er hat mit Münzen und Altertümern gehandelt. Bis ihn jemand ermordet hat«, endete sie, abrupt wieder auf ihr ursprüngliches Anliegen zurückkommend.

»Wie alt war Ihr Sohn?«, fragte Phryne.

»Neunundzwanzig«, antwortete Mrs Manifold.

Phryne rang sich zu einem Entschluss durch.

»Einverstanden«, sagte sie. »Ich werde seinem Tod nachgehen. Leider kann ich Ihnen nicht versprechen, dass das Ergebnis meiner Nachforschungen dem entsprechen wird, was Sie sich erhoffen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich kein Licht ins Dunkle bringen kann. Oder ich stelle womöglich fest, dass Augustin sich doch selbst das Leben genommen hat. Ich werde die Wahrheit nicht verdrehen. Können Sie das akzeptieren?«

Mrs Manifold fixierte Phryne mit entschlossenem Blick. »Selbstverständlich. Ich weiß ja, dass er sich nicht getötet hat. Sie untersuchen seinen Tod, und ich zahle Ihnen, was auch immer Sie dafür verlangen. Augustin hat gut für mich vorgesorgt.«

»Erst einmal abwarten, ob ich ein Honorar verdiene.« Phryne war seltsam deprimiert. »Ich komme heute Nachmittag zu Ihnen ins Geschäft. So gegen drei Uhr? Gut. Eliza, kannst du dich bis dahin um Mrs Manifold kümmern? Wir sehen uns später.«

Nachdem Mr Butler die Besucherinnen zur Tür begleitet hatte, führte er mit strenger Miene Jane und Ruth herein.

»Ja, Mr Butler?« Bei seinem Anblick machte Phryne sich auf eine gewichtige Ankündigung oder eine erschütternde Beichte gefasst.

»Miss Jane möchte sich entschuldigen, dass sie den Leimtopf auf den Wohnzimmerteppich hat fallen lassen, Miss Fisher.«

»Ist doch bloß ein Teppich.« Phryne lachte erleichtert. Sie umarmte die Übeltäterin, bewunderte den Rezeptordner und empfahl Mr Butler, die unvergleichliche Mrs Johnson anzurufen, die beste Putzfrau von allen, auf dass sie kommen und das Malheur beseitigen möge.

Anschließend begab sie sich in ihr Boudoir, um sich schon einmal für später umzukleiden – ein dezent gemustertes leichtes Sommerkostüm, das sich einfach reinigen ließ. Sie kannte keinen Trödelladen, in dem nicht die unterschiedlichsten Staubarten anzutreffen waren, angefangen bei fettigem Schmierölstaub über schwebende Lackteilchen bis hin zu hafermehlfarbenem Pergamentstaub, der sich einfach nicht mehr abschütteln ließ, so lästig wie ein unerwünschter Verehrer.

Dot, die das Kostüm für sie ausgesucht hatte, packte Phrynes frisch gestopfte Strümpfe in die Kommode. Für die nachmittägliche Expedition hatte sie ihr die am häufigsten geflickten herausgelegt, denn wenn es in einem Trödelladen außer Staub noch etwas im Überfluss gab, dann waren es jede Menge Ecken und Kanten, an denen man sich eine Laufmasche ziehen konnte.

»Also, Dot, wir müssen einen Selbstmord untersuchen. Begleitest du mich nachher zu Mrs Manifold? Du weißt ja, wie sehr ich deinen Rat und dein Urteil schätze.«

»Wenn Sie möchten«, antwortete Dot. »Aber ich kenne mich nicht aus mit Gemälden und solchen Sachen.«

»Nein, aber du kennst den Unterscheid zwischen einem alten Tuch und einem neuen. Und du kannst ein Bügeleisen von einem Kartoffelstampfer unterscheiden, womit ich schon überfordert bin. Das ist der junge Mann.« Sie zeigte Dot die Fotografie.

»Ein Leinwandheld wäre er wohl nicht geworden«, sagte Dot. »Aber er sieht nicht unsympathisch aus.«

»Nein. Und er hat seine Mutter geliebt und gelobt, sie nie zu verlassen.«

»Aha.« Seit Dot unter Miss Fishers Dach wohnte, hatte sich ihr Wissen über die weniger bekannten Spielarten der Liebe beträchtlich erweitert. »Meinen Sie, er war …?«

»Schon möglich. Vielleicht hat er aber auch nur keine Frau gefunden, die seiner Mutter das Wasser reichen konnte«, antwortete Phryne. »Mrs Manifold hat einen sehr starken Charakter. Und sie ist überzeugt, dass sich ihr Sohn niemals das Leben genommen hätte.«

»Das sagen die Angehörigen immer«, sagte Dot, während sie die verstreuten Kleidungsstücke einsammelte. Phryne staunte immer wieder aufs Neue, wie sich jedes Teil, das sie aufhob, in Sekundenschnelle wie von selbst akkurat zusammenzulegen schien.

»Das ist schon wahr, aber ihr Einwand hat Hand und Fuß. Er wurde ertrunken am Strand aufgefunden, die Manteltaschen mit Steinen beschwert. Aber angeblich konnte er schwimmen wie ein Fisch. Und so ein guter Schwimmer würde niemals versuchen, sich zu ertränken.«

»Warum nicht?« Für Dot war das Wasser ein fremdes Element, in das man sich nur ganz am Rand hineinwagte – und auch dann höchstens bis zu den Knien.

»Es bleibt nicht aus, dass man, wenn man schwimmen lernt, auch mal untergeht. Bis man sich wieder nach oben gekämpft hat, atmet man garantiert Wasser ein. Und das tut weh, Dot. Du würdest nicht glauben, wie weh. Man würgt und krampft und hat das Gefühl, es würde einem jemand mit einem Schlauch auf die Rippen schlagen. Wer behauptet, Ertrinken sei ein schöner, friedvoller Tod, lügt.«

»Und es ist auch noch nie jemand wiedergekommen, um uns zu sagen, ob es stimmt.«

Phryne lachte. »Genau. Mrs Manifold hat recht, wenn sie meint, dass jemand, der schwimmen kann, sich niemals ertränken würde. Es gibt so viele andere Methoden – Erhängen, Erschießen, Kehledurchschneiden, Vergiften …«

»Miss!«, rief Dot erschrocken und presste das rot-goldene Hauskleid an sich.

»Entschuldige, ich wollte dein Zartgefühl nicht verletzen. Aber ein Lebensmüder findet immer einen Weg.«

»Selbstmord ist eine Todsünde!« Dot schüttelte sich.

»Für Katholiken, ja. Ich habe nicht gefragt, welcher Konfession oder Religion Augustin angehört hat. Doch er wäre auch nicht der erste Katholik gewesen, der sich selbst getötet hätte, Dot. In einem solchen Fall wird oft auf Unfall oder auf eine Verzweiflungstat im Zustand geistiger Umnachtung entschieden, damit der Verstorbene in geweihter Erde beigesetzt werden kann.«

»So jemand muss wahnsinnig sein«, sagte Dot. »Finden Sie nicht auch? Wer sein Leben einfach wegwirft?«

Phryne sah ihre Vertraute liebevoll an. Als Dot halb verhungert und misshandelt gewesen war, als sie nicht mehr ein noch aus wusste, wonach hatte sie da getrachtet? Nicht nach Selbstmord, sondern nach Mord! Sie war der letzte Mensch, dem man einen Freitod zutrauen konnte, und genau deshalb die richtige Hilfe bei einer Ermittlung, die möglicherweise Erschütterndes zutage fördern würde.

Warum hatte sie den Auftrag angenommen? Wegen Mrs Manifolds felsenfester Gewissheit? Weil Augustin genau in ihrem Alter gewesen war? Oder weil sie sich an den Selbstmord erinnerte, den sie vor langer Zeit zu verhindern versucht hatte?

Aber die Beantwortung dieser Frage musste fürs Erste warten, denn Phryne wurde von Dot mit einer Bemerkung zu ihrem Schuhwerk aus ihren Gedanken gerissen.

»Lunch«, sagte Phryne. »Dann eine Recherche zu einigen Künstlern, dann Abmarsch ins Land des Trödels.«

Die beiden Soldaten ließen den Blick über die Landschaft schweifen. Es gab nicht viel zu sehen, nur schmutziggelben Kalkstein, der mit Sandsteinbrocken übersät war.

»Am Anfang, als wir hier angekommen sind«, knurrte Curly und griff nach seinem Tabaksbeutel, »dachte ich, das hier wäre die trockenste Wüste, die es gibt, Vern, schlimmer als die bei uns zu Hause, schlimmer als die Simpsonwüste, so trocken wie ein Echsenschlund.«

»Und jetzt?«, fragte sein Begleiter, die Nüstern seines Pferdes sanft beiseiteschiebend. »Lass gut sein, Brauner. Wir finden bald Wasser, dann gibt's was zu saufen.«

»Jetzt glaube ich, dass es noch schlimmer ist«, antwortete Curly und zündete sich mit einem Schwefelholz die Zigarette an. »Es ist die Hölle, eine platte, steinige, wasserlose Hölle. Und sonst nichts.«

»Stimmt«, sagte Vern.

2

Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe nachgraben und stehlen … Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.

Matthäus 6. 19-21

Die Bibel

Die Front des Ladens mit der hellgrünen Tür gab sich bescheiden. Phryne klopfte energisch an, denn sie wusste, dass sie erwartet wurden.

Eliza ließ sie ein. »Mrs Manifold musste sich hinlegen«, erklärte sie. »Es war sehr anstrengend für sie, mit dir zu sprechen. Sie hat mich gebeten, dich herumzuführen. Du dürftest dir alles ansehen, sie hätte keine Geheimnisse. Was sagst du dazu, Phryne? Jetzt helfe ich dir zum ersten Mal bei der Ermittlung in einem Mordfall. Das ist ganz schön aufregend.«

»Das glaube ich dir«, antwortete ihre Schwester. »Dann wollen wir uns mal umsehen. Ich zähle auf deine Hilfe, Dot. Sieh dir alles an und sag mir dann, was das Inventar wert ist.«

Das Innere des Ladens wurde von einem geschlossenen Fensterladen verdunkelt, den Dot als Erstes aufklappte und an der Wand einhängte. Gleißend hell flutete das Tageslicht durch die blitzblank geputzte Scheibe herein, sodass die Waren mit einem Mal alt und schäbig erschienen. Staubflöckchen tanzten in den Sonnenstrahlen. Ein solch starkes, hartes Licht kannte man in Europa nicht. Phryne musste dabei jedes Mal an Frühjahrsputz denken. Bei ihrer Mutter hatte die blendende Helligkeit immer den Scheuerreflex ausgelöst. Schon hieß es: runter mit den Vorhängen! Und die Seifenlauge schäumte. Phryne konnte den säuerlichen Geruch der frisch geschrubbten Fußböden fast riechen. Eliza schien es ähnlich zu gehen.

»Waschbottiche«, murmelte sie. »Wieso muss ich plötzlich an Waschbottiche und Seifenschaum denken?«

»Frühjahrsputz«, antwortete Phryne. »Los, komm. Ans Werk.«

»Ja, natürlich«, sagte Eliza. »Während drinnen geputzt wurde, mussten wir draußen auf der Treppe hocken, und du hast mir Geschichten erzählt.«

»Wie nett von mir. So kenne ich mich gar nicht«, entgegnete Phryne, die nicht gern in Erinnerungen schwelgte. Eliza verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und trollte sich, um sich die Verkaufstische mit den Haushaltswaren vorzunehmen. Dot durchforstete einen Stapel zusammengefalteter Wandteppiche und staunte: »So viele Gobelins. Sind sie nicht schön? Mit Kampfer und nicht mit Naphthalin behandelt. Da hat keine Motte dran geknabbert.«

»Das Geschirr ist ebenfalls in gutem Zustand«, sagte Eliza. »Obwohl kein vollständiges Service darunter ist. Alle Teile sind heil, keine Macken oder Sprünge, nur kunterbunt durcheinandergewürfelt. Das meiste stammt aus namhaften Manufakturen.« Zum Beweis drehte sie eine Tasse um und zeigte ihnen die Marke von Royal Doulton.

»Hier fände sich bestimmt ein Ersatz für die Tasse, die das Aushilfsküchenmädchen nach unserer letzten großen Abendgesellschaft zerschlagen hat«, sagte Phryne. »Und für manche Menschen gibt es ja auch nichts Schöneres als das Stöbern.«

»Ja«, stimmte Dot ihr zu. »Meine Schwestern klappern alle vierzehn Tage die Trödler und Gebrauchtwarenhändler ab. Jeden zweiten Samstag. Ich habe keinen Sinn dafür. Wenn ich etwas kaufe, muss es neu sein, nicht gebraucht.«

»Wenn du irgendwann dein eigenes Haus führst, Dorothy, richtest du es dann auch ganz neu ein?«, fragte Eliza, während sie die Punzen einer Reihe halb polierter Silberschalen überprüfte.

»Aber ja, Miss Eliza. Zur Not auch erst mal nur mit Sachen von Woolworth, bis ich mir etwas Besseres leisten kann. Überhaupt ist billiges Porzellan am praktischsten. Wenn etwas kaputtgeht, kann man es für ein paar Pennys ersetzen, und keiner muss sich grämen.«

»Eine gute Lebenseinstellung«, sagte Eliza. »Die Geschirrteile sind alle aus Silber, Phryne, nicht aus EPNS.«

»Was ist EPNS?«, fragte Dot.

»Elektroplattiertes Nickelsilber«, erklärte Eliza. »Wesentlich billiger als echtes Silber, weshalb es sich früher oder später auch abnutzt. Was hast du da gefunden, Phryne?«

»Besteck«, antwortete Phryne. »Messer, Gabeln, Suppenlöffel. Alles Silber, genau wie dein Geschirr. Das hier ist ein sehr teurer Trödelladen. Sieht aus wie jeder andere, hat aber ein qualitativ überdurchschnittliches Sortiment.«

»Und es gibt keine Preisschilder«, sagte Dot. »Normalerweise findet man auf solchen Verkaufstischen ein Schild: Jedes Stück drei Pence. Einzeln ausgezeichnet sind die Sachen anscheinend auch nicht.«

»Nein, das Kapital dieses Ladens ist die Ausstrahlung des Besitzers.« Phrynes Hochachtung vor dem Geschäftssinn des Verstorbenen stieg. »Bei der Kundschaft handelte es sich um feine Damen, die Spaß daran hatten, um einen Spode-Unterteller oder ein Morris-Geschirrtuch zu feilschen. Das war für sie bestimmt der Höhepunkt der Woche. Ich gehe jede Wette ein, dass Mr Manifold seine Mutter wohlversorgt zurückgelassen hat. Es sieht hier nur so aus wie in einem ganz normalen Gebrauchtwarenladen, dabei ist es eher so etwas wie eine Pariser brocante, ein Geschäft, wo man mit Engelszungen auf den Besitzer einreden muss, damit er einem überhaupt etwas verkauft. Ein gewiefter Bursche, unser Mr Manifold. So, Dot, ich bin schon gespannt auf dein fachmännisches Urteil.«

»Lauter schöne Sachen«, sagte Dot. »Aber nur zum Anschauen. Es ist nichts Nützliches dabei. Keine Töpfe und Pfannen, keine Kochlöffel, keine Wasserkessel. Alles nur zur Dekoration.«

»Eliza?«

»Das sehe ich genauso. Ein Paradies zum Stöbern.«

»In dem man sich wie ein echter Schatzsucher vorkommen kann. Das Porzellan leicht angestaubt, das Silber nicht ganz blank poliert. Eine sorgsam zusammengestellte Auswahl, dazu angetan, der wohlhabenden Kundin ein Gefühl von Abenteuerlust und Entdeckerfreude zu vermitteln. So habe ich zum Beispiel eine zweite Royal-Doulton-Tasse am anderen Ende des Warentischs gesehen, und die dazugehörigen Unterteller verstecken sich in dem Stapel da drüben. Ich bin beeindruckt. Kommt weiter.«

Eliza brachte sie in ein mit einer verriegelten Tür gesichertes Hinterzimmer.

»Hier sind die Kunstwerke ausgestellt«, erläuterte sie. »Und es sind wirklich schöne Stücke dabei, Phryne. Ich vermute, diese Kreidezeichnung ist von Burne-Jones und die Frau mit den Eisbären von Edmund Dulac. Man erkennt sein typisches Blau, das bleu du lac.« Bevor die Begeisterung vollends mit Eliza durchging, besann sie sich auf ihre sozialistischen Prinzipien und fügte hinzu: »Es ist regelrecht unanständig, wie viel Kapital in diesen Objekten steckt. Was man damit für Wohnraum schaffen und Armenspeisungen finanzieren könnte!«

Phryne schmunzelte leise in sich hinein.

In dem Raum hingen hundert Bilder. Die Wände waren von oben bis unten mit Gemälden behängt. Mit prüfendem Blick schritt Phryne langsam an ihnen vorbei. Eine interessante Sammlung, in der für jeden Geschmack etwas geboten war. Nachgedunkelte europäische Ölschinken, die kaum voneinander zu unterscheiden waren. Dramatische Seestücke mit Schiffen in Seenot. Bauern, Bäume, Pferde, Kühe. Jede Menge kleine Kinder, die einander Blümchen schenkten, Lämmchen fütterten oder mit großen Augen unschuldig aus dem Bild schauten. Dazu kamen eine erkleckliche Auswahl an kleinen Kätzchen in Körben und Hundewelpen im Heu, sowie mehrere Studien von bekleideten Mäusen.

Aber Eliza hatte recht, zwischen all dem Kitsch verbargen sich echte Schätze: der Engel von Burne-Jones, die Frau mit den Eisbären von Dulac, eine griechische Ikone der Jungfrau Maria, die staunend in die seltsame Runde blickte, in der sie sich befand. Die kleine Landschaft stammte möglicherweise von Sisley, der erdfarbene Akt in Öl musste von Sickert sein. Die zwei herrlichen emaillierten Kacheln mit den jungen Weinreben, die Phryne am liebsten selbst besessen hätte, waren auf jeden Fall von William Morris. Aber so wie sie Mr Manifold inzwischen einschätzte, hätte sie sich die beiden Stücke sicher niemals leisten können. Die Sammlung beschränkte sich nicht nur auf das vergangene Jahrhundert. Phryne erkannte ein Tuschepferd von Picasso, eine Zeichnung von einem Tisch mit Gläsern von Cézanne und eine fauvistische Blumenwiese. Natürlich waren keine wirklich großen Werke von wirklich avantgardistischen Malern darunter, aber die Sammlung eignete sich wunderbar für den Verkauf, enthielt sie doch zahlreiche einfache Gemälde für Kunden, die nicht viel von Kunst verstanden, aber wussten, was ihnen gefiel. Und für den wahren Kenner waren ebenfalls einige erlesene Stücke dabei.

In einem Kohlebecken auf dem Tisch glomm Weihrauch, der die Luft mit süßem Duft schwängerte, daneben ein Aschenbecher aus blau-weißem Porzellan, eine Vase mit jungen Eukalyptuszweigen und ein großer Foliant, der Zeichnungen in Papphüllen enthielt.

»Tust du mir einen Gefallen, Eliza? Würdest du die Zeichnungen durchgehen, ob irgendetwas Besonderes dabei ist? Gibt es hier noch einen Raum?«

»Ja, hier ist der Schüssel«, sagte Eliza, setzte sich auf einen Charles-Rennie-Mackintosh-Stuhl und schlug den Folianten auf. »Und wonach suche ich genau?«

»Nach allem, was dir auffällt. Und nach einem Inventar«, fügte Phryne hinzu, während sie die Tür zum Sanctum aufschloss.

Der Raum hatte keine Fenster, und Phryne musste erst Licht machen. An den Wänden standen Glasvitrinen mit funkelnden Schmuckstücken, kleinen Skulpturen und Münzen. Phryne atmete tief durch, und auch Dot schnappte nach Luft.

»So viele Diamanten!«, staunte sie.

»Nein, das sind Imitate, Strass-Steine, aber dennoch eine sehr teure Sammlung, Dot. Meisterwerke des Jugendstils. Jede Wette, die Halskette dort ist von Fabergé. Donnerwetter! Ich hätte zu gern gewusst, welche Stücke der gute Augustin noch von seinem Vater geerbt und welche er selbst gekauft hat. Das hier sind ausgesprochen geschmackvolle Objekte.«

»Der Schmuck sieht aus, als könnte er Ihnen gehören«, sagte Dot, über die Fabergé-Kette gebeugt. »Das sollen Misteln sein, nicht wahr? Die kleinen Mondsteine stellen die Beeren dar, die Diamanten die Blüten. Und die grünen Steine sind die Blätter.«

»Stimmt. Jade, Mondstein und Strass, mit Emaille für die Zwischenräume. Das Erkennungszeichen von Fabergé. Eine wirklich hinreißende Arbeit, vom Wert der Steine einmal ganz abgesehen. Ich hätte hier eher so etwas erwartet.« Sie deutete auf ein Tablett mit stark verfärbten »Diamant«-Ringen und goldenen Uhren, die schon vor langer, langer Zeit ihr letztes Ticken von sich gegeben hatten.

»Was man früher Erbstücke genannt hätte«, sagte Dot.

»Die man der Großmutter vom Finger gezogen hat, noch bevor ihre Leiche kalt war.« Phryne rümpfte die Nase.

»Besser unsereins als der Bestatter«, entgegnete Dot, die unerschütterliche Sterbebettveteranin. »Aber ich weiß, was Sie meinen, Miss. Die Sachen sind nicht so edel wie der andere Schmuck. Wahrscheinlich hat Mr Manifold sie in St. Kilda gekauft.«

»Ja, das denke ich auch.« Phryne inspizierte die nächste Vitrine, die mit »Kuriositäten« gefüllt war, darunter ein überaus kunstvolles Netsuke, das mehrere Personen bei interessanten Verrenkungen zeigte. Gleich daneben lagen eine meisterlich geschnitzte Jadekugel, die mehrere andere Kugeln enthielt, und einige Fächer von erstaunlicher Schönheit. »Aber der größte Teil seiner Waren stammt nicht von hier. Die Gemälde sind aus England, zum Teil vermutlich noch aus den Modellzeiten seiner Mutter. Ich vermute, dass er einige Stücke bei den Matrosen am Hafen eingetauscht und andere auf Reisen erworben hat. Hoppla, was haben wir denn hier? Eine Schriftrolle, eine echte Schriftrolle, geschrieben in …« Sie spähte durch die Scheibe. »In einer unbekannten Schrift, und eine weitere auf Griechisch.«

»Können Sie Griechisch lesen, Miss?«, fragte Dot beeindruckt.

»Nur die Buchstaben entziffern. Da steht Josephus. Könnte Flavius Josephus sein, der die Geschichte des jüdischen Krieges geschrieben hat. Demnach wäre die Rolle sehr alt. Was gibt es sonst? Ein paar Ikonen, eine Terrakottafliese mit einem Medusenhaupt, etwas, was das Mundstück eines Pferdezaums sein könnte …«

»Und ein Relikt der heiligen Cäcilia.« Dot bekreuzigte sich. »Sehen Sie doch, Miss! Auf dem goldenen Kästchen steht Hl. Cäcilia.«

»Tatsächlich. Die Schutzpatronin der Musik, wenn ich mich nicht irre. Vermutlich enthält das Behältnis einen Fingernagel oder die Saite einer Harfe.« Beim Blick in Dots Gesicht verkniff Phryne sich die abschätzige Bemerkung über Relikte, die ihr schon auf der Zunge lag. »Mr Manifold ist ganz schön in der Weltgeschichte herumgekommen. Ein findiger junger Mann.«

»Der sich bestimmt nicht selbst getötet hat, so gut, wie sein Geschäft lief«, sagte Dot.

»Da hast du wohl recht.« Phryne sah sich weiter um. »Zumindest scheint es so. Aber wir sollten erst seine Bücher prüfen. Womöglich war er bis über beide Ohren verschuldet. Und danach nehmen wir uns sein Herz vor.«

»Sein Herz?«, fragte Dot verwirrt.

»Die Menschen sind von Zeit zu Zeit gestorben, und die Würmer haben sie verzehrt«, zitierte Phryne. »Aber nicht aus Liebe. Doch da irrt der Barde. Sagte nicht Mrs Manifold etwas von einer Verkäuferin?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Weißt du, was mir einmal ein alter Polizist erzählt hat, Dot? Dass man diejenigen, die sich aus Liebeskummer ertränkt haben, immer von denen unterscheiden kann, die aus Geldsorgen ins Wasser gegangen sind. Die Liebeskranken haben aufgeschürfte Finger, weil sie noch verzweifelt versucht haben, wieder aus dem Wasser zu klettern und sich zu retten. Die Verschuldeten gehen unter wie ein Stein.«

»Ich möchte so etwas lieber gar nicht wissen, Miss Phryne.« Dot schüttelte sich.

»Entschuldige. Wollen wir mal sehen, wo Eliza abgeblieben ist?«

Offenbar war Phrynes Schwester mitten in eine handgreifliche Auseinandersetzung geraten. Obwohl sie eine große Kämpferin für die Rechte des Arbeiters als solchem war, schloss das nicht sein vermeintliches Recht mit ein, seine Klassengenossin mit dem Spaten zu verdreschen. Als Phryne und Dot, lautem Geschrei folgend, auf den Hof hinter dem Laden hinaustraten, stauchte Eliza, die den Griff des Werkzeugs grimmig festhielt, den Übeltäter mit Ausdrücken zusammen, wie sie dieser aus dem Mund einer Dame noch nie vernommen hatte. Dass ihm derweil auch noch das junge weibliche Opfer kräftig gegen die Schienbeine trat, war nicht dazu angetan, seine Wut zu besänftigen.

»Das reicht, meine Herrschaften! Waffen fallen lassen«, befahl Phryne. »Du hörst auf zu treten, Fräuleinchen. Eliza, gib Dot den Spaten. Und Sie, mein Bester, nehmen schön Haltung an, stecken sich das Hemd in die Hose und wischen sich das Gesicht ab.«

»Verflixt«, knurrte der Mann.

»Wie wäre es mit zum Kuckuck? Oder mit Donner und Doria? Garniert mit einigen der deftigeren Schimpfwörter, die meine freigeistige, sozialistische Schwester zu benutzen beliebte. Wer sind Sie, und worum geht es hier?«

»Schmeißen Sie mich doch einfach raus«, sagte der Mann düster.

»Nein«, entgegnete Phryne. »Beantworten Sie meine Frage.«

Er musterte sie, die kleine, resolute Frauensperson. So wie ihre smaragdgrünen Augen blitzen, traute er es ihr zu, es sogar mit Mutter Manifold persönlich aufzunehmen. Das Mädchen war in Tränen ausgebrochen und hatte sich an Elizas warmen Busen geflüchtet. Was für einen gesunden Menschenverstand sprach.

»Hätten Sie ein Bier da?«, fragte Phryne zum Erstaunen des Mannes.

»In dem Coolgardie in der Küche«, antwortete er. »Aber der alte Drachen rückt es bloß für Gäste raus.«

»Wir sind Gäste«, sagte Phryne. »Holst du uns ein paar Flaschen, Dot? Und bring auch gleich den Gin mit, den du in der Küche sicher irgendwo findest, und was dir sonst noch einfällt.«

»Ja, Miss.« Vorsichtshalber nahm Dot den Spaten mit.

»Und du? Hörst auf zu weinen!«, befahl Phryne. »Dir ist nichts passiert. Wie heißt du?«

»Sophie Westwood«, schluchzte das Mädchen.

»Und Sie?«

»Cedric Yates.« Der Mann drückte die Schultern durch und strich sich das straßenköterblonde Haar aus der Stirn. Er hatte hellblaue Augen und ein zernarbtes Gesicht. Unter dem blauen Unterhemd leuchtete seine Haut papierweiß hervor. Phryne grinste.

»Verwandt mit Cecil Yates, Taxifahrer und Hafenarbeiter?«

»Mein Vetter. Unsere Väter sind Brüder«, antwortete Cedric. »O Mann, sind Sie etwa Cecils Miss Fisher?«

»Ich geb's zu«, sagte Phryne.

»O Mann«, wiederholte Cedric. »Und ich hätte Ihnen um ein Haar den Spaten übergebraten!«

»Wohl kaum. Ich hatte nicht die Absicht, mir irgendetwas überbraten zu lassen. Kommen Sie, wir setzen uns in den Schatten, und dann erzählen Sie mir, worum es hier gerade ging. Ich untersuche den Tod von Mr Augustin Manifold«, fügte sie hinzu, während sie den hochgewachsenen Mann dazu brachte, unter einem Vordach auf einem Baumstamm Platz zu nehmen. Eliza bugsierte das Mädchen an das andere Ende des Stamms und quetschte sich selbst zwischen die beiden Streithähne. Nur für den Fall, dass die Feindseligkeiten erneut aufflammten. Im Schatten duftete es angenehm nach Sägespänen.

»Tschuldigung, dass die Pferde mit mir durchgegangen sind«, begann Cedric. »Du hättest das einfach nicht sagen dürfen.«

»Und ich würde es jederzeit wieder sagen«, konterte Sophie, ein breithüftiges, pickeliges Mädchen. »Alle Soldaten sind …«

»Behalte es für dich«, riet Phryne. »Du kannst es mir später sagen, wenn du möchtest. Unter vier Augen. Ah, da kommt das Bier!«

Dot hatte ein Tablett, einige Gläser und den erforderlichen Alkohol gefunden. Sie machte sich ans Einschenken und Servieren. Cedric Yates leerte seine Flasche geübt in einem Zug und streckte die Hand sofort nach der nächsten aus.

»Nicht so hastig«, sagte Phryne. »Erst will ich ein paar Antworten. Sie haben für Mr Manifold gearbeitet?«

»Stimmt. Volle sieben Jahre. Als Veteran, der ein Bein verloren hatte, hab ich nach dem Krieg eine Tischlerlehre gemacht, zum Möbeltischler. Für die gibt's sowieso nicht viel Arbeit, und so mobil wie die Kollegen bin ich ja nun auch nicht. Ich hatte nicht viel zu beißen, bis ich Augustin kennengelernt habe. Der hat einen Tischler gesucht und ich eine Stelle. Ich hab die alten Möbel aufgearbeitet, die er gekauft hat. Fast alles prima Stücke. Gutes Holz. Man musste sie bloß hier und da nachleimen, manchmal die eine oder andere Schnitzerei ergänzen, ein bisschen schmirgeln und polieren. Es kam auch mal vor, dass ich ein neues Bein oder eine Schublade bauen musste. Augustin war froh, dass er so einen guten Handwerker wie mich gefunden hatte.«

»Was war er für ein Mensch?« Weil Phryne die Bierflasche noch immer nicht herausrückte, blieb Cedric nichts anderes übrig, als weiterzureden.

»Mamis kleiner Liebling«, griente er. »Nichts war gut genug für ihren Augenstern. Er nahm sich sehr wichtig. Beim kleinsten Schnupfen hat er sofort lange Unterwäsche angezogen. Aber als Chef war er nicht übel. Bloß seine Mutter, die alte Manifold, die ist eine richtige Gewitterziege. Weniger Lohn für mehr Arbeit, das ist ihre Devise. Sie ist so geizig, dass es wehtut.«

»Sie sind ja so ein …«, begann Sophie, aber Eliza fuhr ihr über den Mund.

»Sosehr ich mich für die Redefreiheit einsetze, so wenig halte ich von schlechten Manieren, Fräuleinchen«, sagte sie streng – wofür sie zu Phrynes Überraschung von der kleinen Verkäuferin keine frechen Widerworte erntete, sondern nur ein bewunderndes Lächeln. Eliza konnte eindeutig besser mit Frauen umgehen als sie selbst. Vielleicht wäre es am gescheitesten, ihr Sophie zu überlassen und sich ganz auf Cedric zu konzentrieren. Der vor lauter Bierdurst immer zappeliger wurde.

»Erzählen Sie mir von Mr Manifold. War er deprimiert? Traurig? Steckte er in Schwierigkeiten?«

»Bevor er sich umgebracht hat? Nee. Ich dachte, ich kipp aus den Pantinen, wie ich gehört hab, dass er ins Wasser gegangen sein soll. Das hätte ich nie von ihm gedacht. Der Leichenbeschauer hat mich das auch schon gefragt. Augustin war putzmunter und kreuzfidel. Er hatte ein richtig großes Geschäft in Aussicht, das ihm zum reichen Mann gemacht hätte. Mit dem Vermögen wollte er seiner Ma in Toorak ein Haus bauen. Sie hätte sich zur Ruhe setzen können und in ihrem Leben nie mehr einen Finger rühren müssen.«

»Ja, das hatte er vor«, bestätigte Sophie.

»Auf jeden Fall ging's ihm gut.« Cedric streckte sehnsüchtig die Hand nach der Flasche aus. »Krieg ich dann jetzt mein Bier, Lady?«

»Bitte sehr.« Phryne reichte ihm den bernsteinfarbenen Gerstensaft hinüber. »Hatte er Freunde?«

»Keine Ahnung«, antwortete Cedric.

»Sophie?«

»Ja«, sagte das Mädchen, das nach einem halben Glas Gin mit Limonade ein wenig beschwipst war. »Jede Menge Freunde, fesche Leutchen, waren dauernd im Laden.«

»Auch Damenbekanntschaften?«

Sophie, die schon den Kopf schütteln wollte, hielt inne. »Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Seine Mutter wollte, dass er heiratet, damit das Geschäft in der Familie bleibt, aber darüber hat er nur gelacht. Er wäre auch so glücklich und zufrieden mit seinem Leben und hätte gar nicht die Zeit, sich nach einer Frau umzusehen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er eine feste Freundin hatte. Vielleicht weiß Mr Atkinson mehr darüber.«

»Mr Atkinson?«

»Mr Gerald Atkinson. Mr Manifolds bester Freund. Er hat ihn ganz oft in einem schicken großen Schlitten zum Mittagessen abgeholt.«

»Er fährt einen Rolls-Royce, einen Silver Ghost«, erläuterte Cedric. »Feiner Pinkel, Mantel mit Pelzkragen. Affektierte Stimme. Aber mit Möbeln kennt er sich aus«, schob er fairerweise hinterher. »Hat sogar selbst welche entworfen. Eine Künstlertype. Was soll's? Muss es auch geben.« Damit ließ er sich von Phryne die letzte Flasche Bier herüberreichen.

Sophie war vor Empörung knallrot angelaufen. »Sie … Sie … Sie Banause!«

»Du hast es erfasst«, lautete die selbstgefällige Antwort. Sophie wollte sich auf ihn stürzen, doch Eliza warf sich entschlossen dazwischen.

»Schluss jetzt! Wie lange arbeitest du schon bei Mr Manifold, Sophie?«

»Drei Jahre. Seit ich mit der Schule fertig bin.«

»Und wie sehen deine Aufgaben aus?«

»Morgens den Laden aufschließen, die Post aufgeben, Telefonanrufe annehmen, abstauben, flicken und ein bisschen putzen. Wenn Mr M es wollte, habe ich den Kunden die Sachen gezeigt.«

»Dann kennst du die Bestände?«

»Ja, Miss.«

»Gut. Ich habe die Inventarliste hier. Nachher gehen wir sie gemeinsam durch, um uns zu überzeugen, dass nichts fehlt. Jetzt möchte ich zunächst einmal hören, was du von Mr Manifold gehalten hast.«

Sophie faltete die Hände im Schoß und holte tief Luft.

»Er war so ein netter Mann. Ist nie … zudringlich geworden, Miss.«

Cedric schnaubte verächtlich, und Phryne verpasste ihm eine Kopfnuss, was er aus Angst, sie würde ihm die Flasche wegnehmen, klaglos über sich ergehen ließ. Sophie pflanzte sich wieder hin, das perfekte Abbild einer beleidigten Leberwurst. Phryne war beeindruckt.

Mit moskitoschriller Stimme fuhr das Mädchen fort: »Ist er wirklich nicht, Miss. Keine Annäherungsversuche. Nicht einen. Er hat mich gut bezahlt, und jedes Jahr gab's eine Lohnerhöhung, weil ich mich immer besser mit dem Geschäft ausgekannt habe. Welche Stücke man welchem Kunden zeigen muss. Wann man einem Kunden behilflich ist, und wann man ihn lieber alleine stöbern lässt. Ich hatte viele wichtige Leute zu bedienen. Und ich war eine Spitzenkraft! Was soll jetzt bloß aus uns werden?«

Sie brach in Tränen aus. Eliza tätschelte ihr tröstend die Schulter.

»Wir kümmern uns schon darum, dass du dein Auskommen hast«, sagte sie. »Und Cedric auch. Vielleicht führt Mrs Manifold das Geschäft ja weiter.«

»Aber die Leute sind nur wegen Mr M gekommen«, schluchzte Sophie. »Er hatte so eine wunderschöne, tiefe Stimme … und er wusste, wo in Melbourne die wertvollsten Stücke angeboten wurden. Egal, wo eine Auktion stattfand, er hat keine verpasst. Vor allem, wenn Nachlässe versteigert wurden. Er hat immer gesagt, dass er mehr über die Reichen in dieser Stadt weiß als jeder Einbrecher. Und er hat Sachen angekauft, von denen man nie gedacht hätte, dass er sie je wieder an den Mann bringen kann. Diese grässlichen Kolonialmöbel, an denen sogar noch die Rinde dran ist, wie bei dem dreibeinigen Tisch da drüben.« Sophie zeigte auf einen mehr oder weniger runden Tisch mit einer Platte, die aus einer Baumscheibe bestand, und Beinen aus drei unterschiedlich langen Ästen. Offensichtlich war er erst kürzlich repariert worden. Man sah noch die Klemmzwingen, die ihn zusammenhielten, bis der Leim fest geworden war.

»Das ist wirklich Plunder«, bestätigte Cedric, der sein Bierchen bis zum letzten Tropfen auskostete. »Da hast du recht, Soph. Irgendwelche Hinterwäldler haben die Sachen mit ein bisschen Draht – und Geduld und Spucke – aus grünem Holz zusammengebastelt, weil sie nämlich keine Nägel, Hobel oder sonst welche Werkzeuge hatten. Und dann wollen plötzlich die Reichen ihre Häuser damit einrichten, obwohl sie sich leicht einen gut gepolsterten Ohrensessel leisten können. Man fasst es nicht. Aber ich erinnere mich noch, wie wir die erste Ladung Kolonial-Ramsch aus einem Farmhaus in Horsham geliefert bekommen haben. Ich hätte mich fast totgelacht, aber Augustin hat gesagt: ›Merk dir meine Worte: Das ist bares Geld, Cedric.‹ Und er sollte recht behalten, auch wenn ich's bis heute nicht glauben kann.«

»Er war ein Fuchs«, sagte Sophie. »Mit einem Näschen für gute Geschäfte. Er hatte viele Bekannte unter den Trödlern und Schrotthändlern. Alte Freunde seines Vaters. Und er hat immer alle Läden abgeklappert, sogar die richtig schlimmen Alteisenläden. Damit ihm auch ja nichts durch die Lappen geht.«

»Alteisen?«, fragte Phryne.

»Wo man alte Blechbüchsen und rostige Schrauben kaufen kann, Schlüsselbunde ohne Schlüssel und Maschendrahtzäune ohne Maschen«, erklärte Dot.

»Ich danke dir, Dot, du Veteranin der Wiederverwertung. Hast du in einem Alteisenladen schon mal irgendetwas gesehen, was einen Kauf gelohnt hätte?«

»Nein. Allerdings hab ich auch nicht allzu genau hingesehen.«

»Aber unser Chef, der hat sich alles angesehen«, sagte Cedric. »Oft kam er völlig verdreckt nach Hause, weil er in einem Schrotthaufen gewühlt hatte. Was seine Mutter dann für einen Aufstand gemacht hat! Dabei hat er oft genug etwas entdeckt, das wir aufarbeiten und weiterverkaufen konnten.«

»Ja! Weißt du noch, wie er den großen Silberteller gefunden hat? Der war ganz schwarz angelaufen, deswegen wollte der Alteisenhändler bloß zehn Pence dafür haben«, warf Sophie aufgeregt ein. »Ich habe ihn erst acht Mal mit dem Putzstein poliert und danach noch dreimal mit Silvo-Politur, bis er wieder geglänzt hat. Bei den Schnörkeln musste ich ein Streichholz nehmen, um in die Ritzen zu kommen. Aber der Teller hat sich am Ende für fünfzehn Pfund verkauft, und Mr M hat mir für die viele Arbeit eine Prämie gezahlt.«

»Stimmt, knickerig war er nicht.« Cedric stellte die leere Flasche weg. »So gern ich auch mit Ihnen plausche, aber davon wird keiner satt. Soll ich weiterarbeiten?«, fragte er Phryne.

»Ja«, antwortete sie. »Machen Sie das. Mrs Manifold soll Sie bezahlen, bis sie sich entschieden hat, was sie mit dem Laden machen will. Wenn nicht, bekommt sie es mit mir zu tun.«

»Das glaub ich Ihnen gerne.« Cedric nickte und ging zurück an seine Werkbank. Nachdem Phryne jetzt über seine Verletzung Bescheid wusste, fiel ihr auch auf, dass er ein Bein nachzog. Er spürte ihren Blick. »Erstklassiges Mahagoni«, sagte er. Phryne sah weg.

Eliza wandte sich an Sophie. »Und du kannst uns bei den Ermittlungen helfen.«

»Ich schlage vor, Dot bleibt ebenfalls hier, und ihr geht zusammen mit Sophie die Inventarliste durch«, sagte Phryne. »Und ich statte in der Zwischenzeit Mr Manifolds bestem Freund Gerald Atkinson einen Besuch ab.«

Sie ließ sich von der kleinen Verkäuferin die Adresse geben. Eliza würde schon mit Mrs Manifold fertig werden, wenn die Herrin des Hauses bemerkte, dass das Bier verschwunden und der Gin bedenklich zur Neige gegangen war.

»Wie heißt die Gegend hier, Sir?«, fragte Vern.

»Das ist die Wüste Sinai«, antwortete der Offizier. »Nein, Entschuldigung. Das ist die verfluchte Wüste Sinai.«

»Im dreimal verfluchten Palästina«, vervollständigte Vern das Ritual.

»Egal. Bald bekommen wir Ersatzpferde«, sagte der Offizier. »Jetzt, nach Roumani.«

Alles war still. Die Sterne leuchteten über ihnen, hell wie Lampions.

»Nach dem Desaster in Roumani. Erinnern Sie sich noch an Bill, die alte Schabracke?«, fragte Vern.

»Den Gaul, der nicht galoppieren konnte, ohne zu buckeln? Aber sicher.«

»Nach Roumani konnte er's. Er kam mit fünf Reitern aus dem Blutbad: zwei hinter dem Kameraden im Sattel und je einen in den Steigbügeln. Da hat er noch nicht mal versucht zu buckeln. Klar, er musste ja ne halbe Tonne Soldaten schleppen.«

»Ist er deswegen jetzt mein Packpferd?«, fragte der Offizier.

»Ja. Der arme Kerl hat ne Atempause verdient. Aber die leichte Kavallerie hat's noch übler erwischt als uns.«

»Viel übler …«

»Wäre toll, wenn unser Oberbefehlshaber es ein bisschen näher ran an den Feind geschafft hätte als bis nach Kairo oder, genauer gesagt, bis ins Shepherd's Hotel, oder, noch genauer gesagt, bis in die Hotelbar«, sagte Vern, ohne die Lippen zu bewegen. Die Selbstgedrehte hing ihm wie angeklebt im Mundwinkel.

»Ich bin mir sicher, dass Sir Archibald Murray sich seiner Verantwortung als Oberbefehlshaber bewusst ist«, gab der Offizier tonlos und ohne große Überzeugungskraft zurück.

»Worauf Sie einen lassen können«, sagte Vern.

3

Glücklich das Kind, dessen Vater zur Hölle fährt.

Sprichwort

Phryne fuhr mit dem Taxi zu Mr Gerald Atkinsons Villa. Sie hätte auch zu Hause anrufen und sich von Mr Butler abholen lassen können, aber sie wurde das unbestimmte Gefühl nicht los, dass die Zeit drängte. Ihre Entscheidung erwies sich als Fehler. Kaum war sie nämlich aus dem Taxi gestiegen und die ersten Schritte auf die Haustür zugegangen, da machte das Melbourner Wetter seiner sprichwörtlichen Unberechenbarkeit alle Ehre. Der Himmel tat sich auf und ein Wolkenbruch ging auf ihr ungeschütztes Haupt nieder. In Sekundenschnelle war sie nass bis auf die französischen Dessous und halb taub vom Donner, der, wie es sich anfühlte, nur wenige Schritte zu ihrer Rechten und höchstens einen Meter über ihrem Kopf loskrachte.

»Donner zur Rechten soll ja ein gutes Omen sein«, sagte sie sich, während sie durch den gepflegten Vorgarten lief und energisch am Klingelzug riss. »Also verspricht dieser Besuch ein interessantes Intermezzo zu werden.«

Die Tür ging auf, und eine Ehrfurcht einflößende Butlergestalt erkundigte sich nach der Dame Begehr. Sein Ton ließ durchblicken, dass er Phryne die Bezeichnung »Dame« nur aus Gnade zuteilwerden ließ und sie schon mit einem sehr guten Grund aufwarten musste, um in ihrem durchnässten Zustand über die Schwelle gelassen zu werden.