Mord in Linz - Andreas Weber - E-Book

Mord in Linz E-Book

Andreas Weber

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Fred Dreier schreibt eine Reportage über das gefallene Handball-Wunderkind Ivo, dem angeblich von einem Pater Gewalt angetan wurde. Doch Tage später fliegt ihm die Story um die Ohren. Die Anschuldigung stellt sich als Lüge heraus und Ivo ist tot. Dreier ist versucht, seinen Ruf zu retten, hat aber nun mächtige Gegner: einen rechtspopulistischen Lokalpolitiker, eine Linzer Unterweltgröße und seinen Freund Fabian Pitter, Inspektor bei der Mordkommission.

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Seitenzahl: 234

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Andreas Weber

Mord in Linz

Kriminalroman

Zum Buch

Linzer Reigen Der Lehrer und Journalist Fred Dreier trifft zufällig seinen alten Freund Drago wieder. Dieser erzählt ihm, dass seinem Sohn Ivo, ein Handball-Wunderkind, angeblich von einem Pater Gewalt angetan wurde. Dreier kennt den Geistlichen gut und hat vor längerer Zeit eine Reportage über ihn geschrieben. Der Pater engagiert sich seit Jahren für Kinder und Jugendliche. Dreier zieht die Story groß auf, er schreibt darüber und arbeitet mit einem Fernsehteam zusammen, das eine reißerische Reportage darüber dreht. Kurz darauf wirft sich Ivo vor einen Zug und die Story erweist sich als Lüge. Dreier findet heraus, dass der Junge und der Pater die gleiche Frau geliebt haben. Nachdem die Wahrheit ans Licht kam, erhält Dreier von allen Seiten Anschuldigungen. Er bekommt es mit einem rechtspopulistischen Lokalpolitiker und einer Linzer Unterweltgröße zu tun. Auch sein Freund Fabian Pitter, Inspektor bei der Mordkommission, schaltet sich in die Sache ein. Denn Ivo ist nicht freiwillig aus dem Leben getreten …

Andreas Weber, geboren 1961, in Horn, studierte in Wien Germanistik und Geschichte und arbeitete danach unter anderem als Journalist, Sprachlehrer in England und bis September 2010 als freier Schriftsteller, Herausgeber und Filmemacher. Neben dem Schreiben geht er derzeit einer Lehrverpflichtung für Deutsch und Geschichte nach. »Mord in Linz« ist Webers Debüt im Gmeiner-Verlag.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Klaus Gruber / shutterstock.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6196-5

Zitat

»Es gibt keinen perfekten Mord«, sagte Tom abschließend zu Reeves. »Das ist doch nichts als Spielerei, wenn einer versucht, sich so was auszudenken. Ungelöste Mordfälle, die gibt’s natürlich haufenweise, aber das ist ganz was anderes.«

(Patricia Highsmith, Ripley’s Game)

I. – Zuletzt

Niemand wusste von uns.

Ich stand auf der Plattform des Aussichtsturms, der hinter B. etwa fünfzig Meter hoch aus dem Hochwald ragt, wartete auf sie, schloss die Augen – und sah sie. Spürte sie. Hörte ihr Lachen. In mir war Freude. Denn unsere Geschichte war unmöglich, aber seit drei Wochen die Wirklichkeit ihres und meines Lebens. Wir trafen uns nicht zum ersten Mal hier oben, wo wir schon viele Stunden uns gemeinsam aus allem fortträumend verbracht hatten, vor dem Ausblick über den Wald, der die sanften Wellen dieser Landschaft über die Landesgrenze hinaus bis an den Horizont bedeckte. Viel zu früh da, genoss ich jede Sekunde des Wartens – bis sie auf dem Parkplatz unter mir halten, aussteigen, mir ihren Blick zuwenden und zu mir heraufeilen würde; ich saß mit meinem Walkman auf der Bank auf der Spitze des Turms, hatte Miles Davis im Ohr – und flog mit dieser Musik über den Wald hinaus, hinein in das, was ich mir unter Unendlichkeit vorstellte.

Doch dann sah ich, wie zum ausgemachten Zeitpunkt einer dieser klobigen Mercedes Geländewagen unten hielt. Die Tür neben dem Fahrersitz ging auf – und nicht sie, sondern ihr Ehemann, den ich nur von Bildern auf Wahlplakaten und aus dem Regionalfernsehen kannte, ausstieg. Seine Füße steckten in Haferlschuhen, an seinem massigen Körper hing ein waldgrüner Umhang, ein Jägerhut, den tatsächlich ein Gamsbart zierte, saß auf seinem Kopf.

Vollendung des Widerwärtigen, dachte ich oben stehend.

Er sah herauf zu mir und grinste, nickte mir zu, bevor er sich auf den Weg nach oben machte, schnaufend, mit vielen Pausen in immer kürzeren Abständen innehaltend. Als er mir gegenüberstand, schwitzte er. Aber Triumph war in seinem Gesicht, als er sagte: »Du wartest vergeblich. Sie wird nicht kommen.« Er sah schwer atmend zu Boden und lachte plötzlich schallend, als er sagte: »Sie wird nie wieder zu dir, bei und mit dir kommen. Eure Geschichte ist aus und vorbei. Dafür habe ich gesorgt.«

Ich erschrak.

Er setzte sich auf die Bank. Grinste wieder. »Keine Angst, ich denke nicht daran, mir wegen so einer Schlampe die Hände schmutzig zu machen. Ich bin hier, um dir einen Auftrag zu erteilen.« Er zeigte dabei mit Begeisterung im Gesicht auf die Mappe, die er sich unter seinen Arm geklemmt hatte.

Beim Wegschauen sah ich, wie dick dieser Mann war; die Fingernägel seiner roten Arbeiterhände waren nicht sorgfältig geputzt. Ich dachte daran, dass diese Hände ihren nackten Körper berührt, dass diese Hände sie geschlagen hatten, und jetzt saß dieser Ehemann vor Tatkraft strotzend, rotwangig und mit vollen Lippen vor mir. Ein Politiker jener Partei, deren Namen ich mich seit Jahren weigerte auszusprechen. Bürgermeister von Laching klang nach Komödie, aber in mir war kein Lachen, sondern Zorn. Meine Freunde waren Lehrer, Schriftsteller, Filmemacher und Journalisten. Ich hätte keine Sekunde mit so jemandem geredet und blieb nur, weil er unser Treffen irgendwie herausgefunden und ich mit ihr ausgemacht hatte, mit ihrem Mann einmal über die Scheidungsmodalitäten zu reden, alleine, sie lebte längst getrennt von ihm bei einer Freundin. Außerdem war diese Gestalt nicht jemand, vor dem ich davongelaufen wäre. Erwartet hatte ich eine Besprechung der juristischen Lage, doch da sagte er: »Wir sind keine dieser Alt-Parteien, sondern eine Bewegung. Aber wir haben ein völlig falsches Image. Gegen dieses Unrecht möchte ich etwas unternehmen, um zu erreichen, dass wir am neunundzwanzigsten März für die breite Masse der Wähler interessanter werden, wählbar auch für jene, die sich von unserem falschen Image abschrecken lassen.« Er lehnte sich zurück, sah mir ins Gesicht und sagte: »Eine Erneuerung der Gesellschaft ohne Gott ist für mich nicht denkbar. Pfaffen, die sich beim Zeitgeist anbiedern, mag ich so wenig wie Migranten, die unsere Werte nicht akzeptieren. Aber das darf man in unserem Land nicht laut sagen, dank der linkslinken Medien-Jagdgesellschaft, die versucht, den Ruf unseres allzu früh verstorbenen großen Parteiführers in den Schmutz zu ziehen.«

Was will diese lächerliche Figur von mir? Ich sah ihn kopfschüttelnd an und sagte, dass mich seine Partei noch weniger als die Politik im Allgemeinen interessierte.

»Man liebt dich. Daher wirst du für mich arbeiten. Und dabei nichts verdienen, sondern mich dafür bezahlen, dass ich nichts über dich sage.«

Mein Blick war eine Frage.

Er klappte seine Mappe auf, die er mir vor mir sitzend stolz entgegenhielt. Ich sah eine aus Fotos und bunten Grafiken bestehende Zeitschrift im Layout und hörte ihn sagen: »Ich weiß Dinge über dich, von denen du nicht willst, dass sie in der Zeitung stehen oder dass dein Chef sie weiß.«

Der Mann war peinlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, was so jemand von mir wollen könnte.

Er sagte: »Du bist als kritischer Geist und Querdenker für mich sogar noch interessanter.«

Ich antwortete: »Was über mich in der Zeitung steht, ist mir so egal wie mein Chef. Und mein Job ist das krisensicherste Geschäft der Welt.«

Als hätte ich geschwiegen, sagte er: »Du musst zugeben, mein Angebot ist ein spannendes Projekt, mein Konzept wird dich überzeugen.«

Meinte er Mitarbeit bei dieser Zeitschrift? Ich stand ihm mit in die Hüften gestemmten Händen gegenüber und ärgerte mich über das Du, mit dem er mich anredete. Ich trat an das Geländer des aus dicken Rundhölzern gefügten Turms, sah hinaus in die Landschaft und wollte in der unendlichen Schönheit des Waldes verschwinden, wollte in diesem Großen aufgehen, mich darin auflösen und weg und nicht mehr da sein, aber ich musste mit einem dicken und dummen Menschen auf diesem Turm stehen.

Der Anblick des Waldes rettete mich.

Da stand der neben mir sitzende Mann auf. Trat neben mich und drängte mir die aufgeschlagene Mappe von der Seite vor meinen Blick. Ich sah nicht hin, er gab keine Ruhe, bis ich einen Blick hineinwarf und Namen las, von Heimatdichtern, die naiv kitschigen Blödsinn schrieben und von Gemeinden und Landesregierungen gefördert wurden, worüber ich mich früher, als Literatur mich noch interessierte, geärgert hatte.

»Na, was sagst du?«

Ich stand neben ihm, roch sein billiges Rasierwasser – und sah das von ihm blau geschlagene Gesicht der Frau vor mir, die ich liebte. Und plötzlich war alles in mir rot vor Zorn.

Ich schloss einen Augenblick meine Augen, sah hinaus in die Ferne zum Horizont, atmete über den Wipfeln der Bäume des Geheimrats Goethe tief durch, legte in vollendeter Ruhe – so als wollte ich nun den ausführlichen Blick, um den er mich gebeten hatte, in seine Mappe werfen – meinen Arm um seine Schultern, trat dabei hinter ihn und gab ihm einen Tritt, sodass er mit seinem Bauch gegen die Brüstung flog. Plötzlich war in mir Kraft, die mich platzen ließ. Ich bückte mich, packte den Überrumpelten an den Füßen, hob sie hoch und warf ihn über das Geländer – so schnell, dass der abstürzende Politiker nicht einmal zum Schreien gekommen war, bevor ich ihn dumpf aufschlagen hörte.

Ich trat vor und sah nach unten.

Der Boden, Büsche, Sträucher, alles war übersät mit den Blättern der Konzept-Mappe. Der Mann lag in der Mitte. Ein wenig verrenkt, als würde er auf dem Rücken liegend schlafen – nur der verdrehte Winkel, in dem sein Kopf auf diesem großen Stein lag und in einer rasch ausfließenden Blutlache zu versinken schien, passte nicht zu diesem Eindruck.

Ich hatte es eilig. Lief die Stiege hinunter und sammelte die Blätter ein. Eilte hinauf und sah fünf weitere Seiten aus der Natur leuchten, holte sie und machte mich auf den Weg durch den Wald in das Dorf, wo ich mein Auto auf dem Marktplatz geparkt hatte.

Nach wenigen Minuten im Laufschritt hörte ich Gesang und Stimmen durch den Wald herauf näher kommen. Schaffte es gerade noch, mit einem Sprung in Deckung zu gehen. Lag mit angehaltenem Atem hinter einer auf dem Boden liegenden Fichte und hörte, wie zwei Meter neben mir Wandersleute vorbeimarschierten, plötzlich stehen blieben und zu rätseln begannen, wie mächtig wohl die Kraft gewesen sein musste, die hier gewirkt hatte, um diesen »Baumriesen« zu stürzen. Ich schloss die Augen und hielt den Atem an, als ich hörte, wie einer näher treten wollte, um sich dieses »Naturwunder« aus der Nähe anzusehen, bis einer, der Durst hatte, zum Weitergehen drängte. Die Schreie und die Aufregung beim Finden des Abgestürzten hörte ich nicht mehr – auf dem Weg zurück in die Stadt.

Mir war heiß.

II – Tod mit Aussicht

Ein toter Mann lag im Wald. Auf einer kleinen Lichtung am Ende einer Forststraße. Etwa drei Meter neben der ersten Stufe des Aufstiegs in den Aussichtsturm, der hinter Bad Großpertholz fünfzig Meter aus dem Hochwald ragt. Auf den ersten Blick war klar, dass der Mann von diesem Turm gefallen war; ob freiwillig oder oben zusammengeschlagen und heruntergeworfen, also Selbstmord oder Mord, war die zu klärende Frage.

Gefunden hatten den Toten die »Wandervögel«.

Drei Männer und vier Frauen, die viel Zeit in ihrem Ruhestand auf gemeinsamen Wanderungen verbrachten und daher angeregt vom ehemaligen Bankdirektor der Gruppe für gelegentliches Sponsoring einen Pensionisten-Wanderverein mit zünftigem Titel gegründet hatten. Der Anblick des in der Mitte des Waldes liegenden Toten erschreckte sie nicht, sie scherzten seit Jahren über ihr Gefühl, beim Warten aufs Sterben in der ersten Reihe zu sitzen. Lediglich etwas Unbehagen bereitete ihnen der zwischen zwei Steinen eingeklemmte Leichnam, in dessen totem Gesicht noch ein verzweifelter Schrei steckte. Durch das von einem Stein gebrochene Genick stand der Kopf seltsam zur Seite, der Körper war in Schmerzen verrenkt, so als hätte sich der Sterbende mit letzter Kraft in seiner Todesqual aufzurichten versucht. Der Mann lag da, als wollte er jeden Menschen wissen lassen, dass er mit den größten Schmerzen und vollem Hass auf seinen Mörder aus seinem Leben gerissen worden war.

Kriminalinspektor Fabian Pitter stand auf der Aussichtsplattform. Er sah von oben auf den Toten und sagte dem neben ihm stehenden Kommandanten der örtlichen Polizeidienststelle, dass hier ein Verbrechen verübt worden sei und ob er sich vorstellen könne, wer diesen Mann gehasst hatte. Der Postenkommandant fragte den Herrn von der Kripo, woran er das Verbrechen auf den ersten Blick erkenne?

Pitter lächelte, als er sagte: »Die Aktenmappe und der Terminkalender des Mannes befinden sich hier vor uns auf der Sitzbank, eine leere Klarsichthülle liegt neben dem Toten. Selbstmord mit Aussicht – ja; aber dass jemand seinen Schreibtisch hier aufstellt und dann springt – nein. Wo ist der Inhalt der Mappe, wo sind die Unterlagen, Akten, was auch immer? Jemand hat den Mann außer Gefecht gesetzt, hinuntergeworfen und den Inhalt der leeren Hüllen eingesammelt, bevor er abgehauen ist. Kennen Sie den Toten?«

»Sie nicht?«

Pitter schüttelte den Kopf.

»Das ist Franz Miesenböck, unser Bürgermeister. Da werden jetzt ein paar Leute eine Freude haben. Nicht alle hier haben den geliebt.«

»Und Sie?«

Der Polizist lächelte. »Na ja.« Er sah zu Boden und dann in die Weite über den Wald; es wäre ihm lieber gewesen, diese Frage nicht beantworten zu müssen, schon gar nicht auf dem Turm im Angesicht der Leiche. »Herr Inspektor, über Tote soll man ja bekanntlich nichts Schlechtes und so weiter, aber Miesenböck ging einigen Leuten ziemlich auf die Nerven. Und ich gebe da jetzt nur wieder, also ich berichte, meine Meinung können Sie sich selber denken, sagen tue ich dazu nichts. Außerdem werden Sie das alles schnell herausfinden, ist ja im Übrigen alles sogar aktenkundig und war sogar im Fernsehen, haben Sie davon nichts gesehen?«

Pitters Kopfschütteln ließ ihn weiterreden.

»Na, zuerst hat er sich mit diesem Deutschlehrer angelegt, sich im Lokalfernsehen über den furchtbar aufgeregt, dafür hat er diese Leute vom Fernsehen angerufen und angebettelt, dass sie kommen; die sind dann hier aufgetaucht, lächerliche Typen, Angeber, die sich hier aufgespielt haben, als kämen sie aus Hollywood. Aber die haben gut zu unserem Bürgermeister gepasst, da haben sich die Richtigen gefunden. Das war so peinlich, wie sich der Wichtigtuer Miesenböck da aufgespielt hat – und das ist meine Meinung, die ich Ihnen ja jetzt doch gesagt habe.« Er griff in seine Uniformtasche nach einer Packung Zigaretten und steckte sich eine an. »Stört Sie hoffentlich nicht, aber wir sind hier an der frischen Luft.«

Pitter nickte lächelnd.

»Etwas anderes war die Geschichte mit dem Puff hier im Ort. Eigentlich etwas außerhalb, am Ortsrand. Das war in dem Haus, das Miesenböck von einem Bruder seiner Mutter, also von seinem Onkel, geerbt und vermietet hat. An ein paar wirklich ziemlich schlimme Figuren. Wiener Unterwelt, mit albanischem Migrationshintergrund, wie man das heutzutage korrekt bezeichnet. Ausgemacht war eine halbjährliche Pauschalzahlung, doch dann hat der Vermieter gesehen, wie viel Geld da im Spiel ist, und er wollte mehr, hat behauptet, man habe ihn über die Einnahmen und so weiter nicht korrekt informiert. Ich sag, schlecht verhandelt und ausgemacht, aber Vertrag ist Vertrag, wo kämen wir denn da hin. Das ging vors Gericht, die Herren von der Unterwelt haben recht bekommen, aber Miesenböck hat gegen das Urteil berufen. Dann hat es dort einmal gebrannt, aber dazu sag ich nur: Unschuldsvermutung. Und dass unser Herr Bürgermeister jetzt da unten liegt, auch dazu sage ich: Unschuldsvermutung, erlaube mir aber – unter uns, also das streite ich dann im Fall des Falles ab – die Bemerkung, dass sich unser Herr Miesenböck da mit Leuten eingelassen hat, die solche Interessenkonflikte eben drastisch lösen, ich kenne so was nur aus dem Fernsehen, wie es im wirklichen Leben zugeht, wissen Sie besser als ich.«

Pitter kannte diese Geschichte aus den Medien, er bedankte sich für die Information. Er trat an das Geländer, stützte sich ab und blickte hinunter auf den Toten; zwei eingeschaltete Lampen erhellten den Körper, der gerade fotografiert wurde. Fabian Pitter sah dabei zu, erinnerte sich an die Geschichten des Postenkommandanten und hatte plötzlich das Gefühl, dass es hier nicht um Geschäfte, sondern um Gefühle ging. Dann stand Pitter da. Er blickte um sich.

Altweibersommer.

Er liebte diese Zeit nach dem Sommer, sie war jedes Jahr neu für ihn. Er blickte nach unten und nickte, als ihn jemand fragte, ob man den Toten wegbringen dürfe.

Fabian sah, wie Franz Miesenböck aufgehoben und in den grauen Sarg gelegt, mit der zweiten Sarghälfte zugedeckt und davongetragen wurde, zum schwarzen Leichenwagen, der neben dem Polizeiauto und seinem Peugeot parkte.

Die Natur und das Licht taten ihm gut, als er dabei zusah, wie der tote Bürgermeister weggebracht wurde. Er befand sich in sicherer Entfernung zum Tod etwa fünfzig Meter über dem Waldboden. Doch auf der Plattform des Turms war an diesem Tag auch noch etwas anderes. Pitter spürte hier oben etwas wie Aggression und viel Wut. Nichts war friedlich, da konnten die Aussicht und die Landschaft noch so schön sein. Das gute Gefühl beim Blick in die Unendlichkeit war falsch und eine Täuschung. Er stellte sich vor, wie jemand Miesenböck niedergeschlagen, seinen schweren Körper gepackt, angehoben und über das Geländer geworfen hatte. Die Vorstellung der Kraft, die hier in den letzten Momenten dieses fremden Menschenlebens Wirklichkeit geworden war, hatte etwas Erschreckendes. Einen Augenblick lang war etwas wie Mitgefühl für den Toten in Fabian Pitter – der noch nicht wusste, dass die Geschichte dieses Mordes zwei Jahre vor diesem goldenen Spätsommertag begann.

III – Fuck you!

1

Fred Dreier hatte Erfolg.

Romane, Erzählungen, Herausgeber von Büchern, Dokumentarfilme, Kulturjournalismus – sein Werk beeindruckte durch Vielfalt. Er tauchte in einigen Fernsehberichten als Schriftsteller aus dem Gesichtermeer des Fernsehens auf, aber beeilte sich zu betonen, dass er eigentlich Deutschprofessor sei. Auch seine Ehefrau und die zwei Kinder erwähnte er in jedem Interview. Im Schulalltag sprach Fred grundsätzlich nicht über seine Literatur oder seine Filme. Fragte ihn jemand danach, berichtete er gern von seinem Umgang mit Weltstars des Films oder Fußballs bei diversen Projekten. Er lief täglich um den See in Sichtweite seines Hauses, spielte einmal pro Woche in der Halle Fußball und fühlte sich an seinem fünfundvierzigsten Geburtstag körperlich stärker als je zuvor. Seine Frau Helene war froh, dass er sie in Ruhe ließ mit seiner »angeschwollenen Trainings-Libido«, wie sie es nannte. Fred dagegen war froh, dass kein LehrerInnen-Fortbildungsseminar ohne außereheliche Begeisterung verlief. Im großen Buch seiner Lebensreise stand in diesen Tagen nur das Beste – und er lenkte einen günstig erworbenen Jaguar, an den er sich nie gewöhnen würde.

Sein Leben galt als erfüllt.

Doch an einem Montagmorgen im Spätsommer, als er nach dem Rasieren einen Augenblick zu lange sein neunundvierzigjähriges Gesicht im Spiegel ansah, hallte plötzlich das Wort »Kleinschriftsteller« durch seinen Kopf – eigentlich eine Wortschöpfung, dachte Fred und musste lächeln, den Blick ins Waschbecken senkend.

Als er drei Stunden später auf die Kreuzung am Europaplatz von Linz zufuhr, sah er von Weitem die grün blinkende Ampel, nahm den Fuß vom Gas und schaltete auf der langen, geraden Franckstraße vom vierten in den dritten, zweiten und ersten Gang; oft schaffte Fred Dreier es, diese Kreuzung ohne Betätigung der Bremse zu überqueren. Doch die größte Geschichte seines Lebens begann damit, dass ihm das nicht gelang – als sein Lebenslauf die Richtung änderte, musste Fred bremsen.

Stehen bleiben.

Den Wagen, der ihn beim Langsamer-Werden von hinten bedrängte und fast seine Stoßstange touchierte, hatte er natürlich längst bemerkt. Als der Fahrer ihn dann auch noch anhupte, weil er bei Orange nicht über die Kreuzung gefahren war, sondern anhielt, zeigte Dreier ihm, ohne sich umzudrehen, die Faust mit aufgestelltem Mittelfinger. Beim Blick in den Rückspiegel sah er, wie hinter ihm eine Autotür aufgerissen wurde und einer aus dem Auto sprang. Aus den Augenwinkeln erkannte Fred einen dunklen Typ, der nach vorn stürmte. Türke, Balkan, Ausländer, bitte nicht, dachte Dreier, der früher Ausländer grundsätzlich als Opfer der österreichischen Bürokratie gesehen hatte. An diesem Montagvormittag saß er da und starrte nach vorn auf die Ampel über ihm, auch als der Mann neben seinem Fenster stand, das er nicht aufmachte, weil er einen Faustschlag ins Gesicht fürchtete.

Da trat der Kerl gegen seine Tür und schrie etwas, das nach Stinkefinger-Arsch klang.

Das reichte!

Fred riss die Autotür auf und schrie, was denn das Gehupe soll und ob der Mann einer dieser lebensgefährlichen Trottel sei, die bei Orangerot über jede Kreuzung fuhren! Dabei sprang er aus dem Auto und sah den anderen von oben bis unten an.

Beide Männer erstarrten.

»Drago!«

»Fred!«

Sie brechen beide in Gelächter aus.

Drago fällt Fred um den Hals, drückt ihn und ruft immer wieder »Bruder!«

Dreier ist überwältigt und spürt beim Umarmen seines alten Freundes, dass seine Augen feucht werden. Die zwei Männer blockieren mit ihrem Wiedersehen die Kreuzung und verursachen ein Chaos aus hupenden und schreienden Fahrern, die Autotüren aufreißen und mit Fäusten drohend herausspringen.

Zehn Minuten später sitzen sie in dem Gastgarten, den sie von früher her kennen. Drago sagt kein Wort zu Freds Jaguar. Sein Gesicht hat sich so rasch nach der Wiedersehensfreude verdunkelt, dass Dreier Schlimmes befürchtet. Der »Ex-Jugoslawe«, eine von Drago Kuncz aus »Respekt« für Titos Idee oft benutzte Selbstbeschreibung, kommt gleich zur Sache: »Ich bin auf dem Weg ins Gefängnis. Besuch«, und fügt mit Blick auf den Boden neben dem Tisch, noch bevor Fred fragen kann, hinzu: »Ivica.«

Ivo. Das ist sein Sohn. Fred sieht ihn erschrocken an.

Drago umklammert mit beiden Händen sein Bierglas, starrt auf die Tischplatte und sagt so leise, dass Dreier es gerade noch verstehen kann: »Der Pfaffe hat ihn dorthin gebracht.«

Klar, schuld sind immer die anderen, die Pfaffen sowieso, denkt Fred und erinnert sich an Dragos Sohn Ivica, der als Teenager schon den Körper eines Mannes besessen hat.

»Wir uns viel zu lang nicht gesehen«, klingt es wie eine Feststellung, nicht wie ein Vorwurf.

»Ja, es ist viel ist passiert«, meint Fred.

Dann sagt Drago: »Begonnen alles wie Hollywood.«

Und er berichtet, dass Ivica hier in der Landesliga mit dem Handballspielen begonnen hat; den Klub-Torrekord bricht er schon im ersten Jahr, ein vierzehnjähriger Torschützenkönig in der Männer-Liga, das hat es noch nie gegeben, bester Torschütze auch im folgenden Jahr, das fiel natürlich auf, der Klub der Landeshauptstadt Linz meldete sich, das war Profi-Liga; sie gaben ihm einen Vertrag, er war sechzehn und verdiente mit seinem Hobby mehr, als der Vater ihm Taschengeld geben konnte. Das Geld für den neuen Geschirrspüler hatte der Bub vorgestreckt. Der ging neben dem Sport aufs Gymnasium. Die Noten waren gut, besser als Durchschnitt, keine Rede vom Durchfallen, er würde mit achtzehn die Matura machen.

Aber eines Tages drehte Ivica durch. Schlägereien, Alkohol, Schule aus.

»Scheiße! Und auch kein Training. Packt Sporttasche, aber trifft neue Freunde, hat Geld und kauft für alle ein: Hasch, Tabletten, Drogen, Zeug, das ihn verrückt macht. Ivo muss niemand was sagen. Immer. Als Mutter sagt, Trainingssachen aus der Sporttasche nicht verschwitzt, lacht er, muss nicht schwitzen, weil er besser als alle anderen.«

Die Post der Schule an die Eltern fing er ab, von Internet und E-Mail hatten die Eltern keine Ahnung. Ivica sprach nicht mehr mit ihnen. Zorn, Verzweiflung und viele Tränen wurden zum Alltag der Familie. Irgendwann schlug Drago, früher selbst ein Sportler, seinem Sohn ins Gesicht. Danach war Ivica verschwunden. Das nächste Mal sahen sie einander im Verhörzimmer der Polizeistation. Ivica hatte einen Mann krankenhausreif geprügelt und sagte kein Wort. Saß da und sah die Polizisten an, als würde er vor ihnen ausspucken. Seinen Vater blickte er gar nicht an. Niemand wusste, was in ihn gefahren war.

Dreier fragte sich, was das alles mit einem Pfaffen zu tun hatte. Da sagte Drago: »Du erinnerst Pater Ralf?«

Natürlich. Gelebte Integration, eine seiner am meisten beachteten Reportagen über das Projekt des Jugendseelsorgers Ralf Wader, der junge Menschen unabhängig von Herkunft und sozialem Hintergrund in seine Pfarre zum Sport einlud, hatte ihn fasziniert. Wader redete nicht von Gott und seiner Kirche, bei ihm trafen sich Christen, Moslems, Buddhisten, Orthodoxe diverser Prägungen und Bekenntnislose. Der Priester war als Protagonist in seinem Text ausführlich zu Wort gekommen und beschrieb, wie die spirituellen Bedürfnisse »seiner Jugendlichen« mit der Zeit ohne priesterliches Zutun zum Thema wurden, was den bekennenden Agnostiker Fred begeistert hatte. Auch Drago und seine Frau hatten diesen Mann fast schwärmerisch bewundert, weil in Pater Ralfs Sportstunden das Handballtalent ihres Sohnes entdeckt worden war. Ivica wechselte aus der Pfarre in die Landesliga, besuchte das Jugendprojekt aber auch als aktiver Vereinsspieler, so oft er neben Schule und Training Zeit dazu fand, erzählte sein Vater, der noch anfügte: »Aber Wader kein richtiger Mann, ist ein Schwein.«

Dreier sah Drago kopfschüttelnd ins Gesicht.

Der starrte in sein Bierglas und sagte: »Ralf Wader ist Deutscher, kommt aus der Gegend von Bonn …«

»Drago, bitte …« Fred hätte fast gelacht. »Was hat er denn angestellt?«

»Kann nicht sagen. Ein Schwein, musst mir glauben.«

Fred spürte Ärger in sich aufsteigen und sah auf seine Uhr, dieses Gerede interessierte ihn nicht. Das schien Drago zu spüren, gerade noch hörbar sagte er: »Ralf ein Schwuler.«

Dreier erschrak, sagte, dass Wader deswegen kein Schwein sein müsse, redete von Toleranz für andere Lebensformen und so weiter.

»Er geweint wie ein kleines Kind«, sagte Drago, wobei er sich Tränen aus den Augen wischte und erzählte, wie Ivica vor zwei Wochen im Besuchszimmer der Jugendstrafanstalt seinem Vater die größte Schande seines Lebens gestanden hatte.

»Er niemand gesagt, dass er nicht mehr in Jugendklub geht, weil dort diese Sachen, du weißt, ich kann nicht sagen. Er nicht der Einzige. Ralf gesagt, dass niemand angeht, was sie machen. Dann Ivica ihn bei Spielen als Zuschauer gesehen. Und sogar beim Training. Ivica nicht mehr hin, hat so schlecht gespielt, dass nicht mehr in der ersten Mannschaft. Wollte nicht mehr spielen, weil Wader immer dort. Ich keine Ahnung. Und im Sommer sieht Ivo den Wader am Pichlingersee. Der will ihn, hat ihn gesucht, Ivo das gewusst. Und am Abend ist er mit Freund in die Pfarre, Tür eingetreten, hat dieses Schwein verprügelt, fürs Krankenhaus, Freund hat ihn vor dem Schlimmsten zurückgehalten. Pfarrer nicht einmal Anzeige gemacht, Krankenhaus und die Kirche hat nicht mitgespielt.«

Fred starrte ihn an – und wusste, was die größte Schande im Leben eines jungen Mannes wie Ivica Kuncz war; und er dachte keine Sekunde daran, diesen Vater zu nötigen, ihm die Schande seines Sohnes in allen Details zu beschreiben, ihn noch einmal Wort für Wort wiederholen zu lassen, was Ivica ihm vor zwei Wochen in diesem Besuchszimmer genau gestanden hatte. Dreier sah dem Mann, der ihm gegenübersaß, in die Augen – und glaubte ihm.

Und in ihm ist Zorn. Fremd und groß und schwer. Und Wut. Auf Ralf Wader, auf die Kirche – und auf sich! Auf seine Wichtigtuerei, die mit Journalismus nichts zu tun hat; er sieht dieses Priestergesicht, offen, heiter, männlich schön, und erinnert sich an das gute Gefühl während der Stunden mit Ralf Wader, seine Begeisterung für diesen Mann – und weiß: Ich habe mit meiner Reportage zu diesem Missbrauch beigetragen. Hätte ich spüren müssen, wie Wader gepolt ist? Sind die wirklich alle schwul?

Die Behauptung, dass ein Viertel aller Priester und Mönche homosexuell fühle und die Berufung zu priesterlichem oder mönchischem Leben in der Homosexuellenszene als Traumberuf gilt, hat Fred immer für journalistische Übertreibung gehalten; den sportlichen, braun gebrannten, sehr gut aussehenden, jungen Geistlichen Ralf Wader hat er sich eher als Zölibatsbrecher im Bett einer katholisch ehebrecherischen Bürgersgattin vorgestellt.

Da sagt Drago: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Die zwei Männer sehen einander an.

Da spürt Dreier die Hände Dragos, der seine Linke gepackt hat.

Fred sieht ihm ins Gesicht. »Ich verspreche dir, ich werde mich um die Sache kümmern«, sagt Fred.

»Danke, Bruder.«

2

Helene sagte: »Nein!«