Mord in Milano - Beate Boeker - E-Book

Mord in Milano E-Book

Beate Boeker

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Mailändische Machenschaften Um dem Trubel zu entgehen, den die chaotische Familie Mantoni rund um Carlinas und Stefanos Verlobung veranstaltet, heiraten die beiden kurzentschlossen in Florenz. Doch wie immer scheinen Carlina und der Commissario vom Unglück verfolgt zu werden. Am Abend der Hochzeit wird Dorotea, die neue Freundin von Carlinas Bruder Enzo, erschossen. Da Dorotea die Inhaberin eines bekannten Modeimperiums war, nimmt Polizeihauptkommissar Cervi die Ermittlungen selbst in die Hand. Für ihn ist klar: Liebhaber Enzo ist der Hauptverdächtige – schon, weil er Doroteas gesamtes Vermögen erbt. Verzweifelt bittet Enzo Commissario Garini und Carlina um Hilfe. Die beiden reisen mit ihm nach Mailand, um Enzo vor den Intrigen der Modewelt zu bewahren …

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Mord in Milano

Die Autorin

BEATE BOEKER ist neben ihrem Beruf als Autorin Betriebswirtin mit internationalem Schwerpunkt, arbeitet im Marketing und lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Deutschland. Der erste Roman der USA Today Bestseller-Autorin wurde 2008 vom Verlag Avalon Books in New York veröffentlicht. Heute ist eine große Auswahl ihrer romantischen Komödien, Krimis und Kurzgeschichten auf Englisch verfügbar. Ihre Bücher wurden für viele Auszeichnungen nominiert, z.B. den Golden Quill Contest, den National Readers' Choice Award und den Best Indie Books. Obwohl sie Deutsche ist, entschied sie sich, zunächst nur auf Englisch zu schreiben, weil sie in den USA mehr Hilfe bei der Entwicklung ihrer schriftstellerischen Fähigkeiten fand. Inzwischen schreibt sie sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch.

Das Buch

Mailändische MachenschaftenUm dem Trubel zu entgehen, den die chaotische Familie Mantoni rund um Carlinas und Stefanos Verlobung veranstaltet, heiraten die beiden kurzentschlossen in Florenz. Doch wie immer scheinen Carlina und der Commissario vom Unglück verfolgt zu werden. Am Abend der Hochzeit wird Dorotea, die neue Freundin von Carlinas Bruder Enzo, erschossen. Da Dorotea die Inhaberin eines bekannten Modeimperiums war, nimmt Polizeihauptkommissar Cervi die Ermittlungen selbst in die Hand. Für ihn ist klar: Liebhaber Enzo ist der Hauptverdächtige – schon, weil er Doroteas gesamtes Vermögen erbt. Verzweifelt bittet Enzo Commissario Garini und Carlina um Hilfe. Die beiden reisen mit ihm nach Mailand, um Enzo vor den Intrigen der Modewelt zu bewahren …

Beate Boeker

Mord in Milano

Aus dem Amerikanischen von Beate Boeker

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe bei MidnightMidnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinOktober 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020© Beate Boeker 2018Titel der englischen Originalausgabe: Elegant DeathUmschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95819-304-8

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

Auszug aus Band 8 der Florentinischen Morde

Leseprobe: Hochzeitstorte mit Todesfall

Empfehlungen

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Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 1

Carlina legte den Telefonhörer ganz sanft wieder in die Ladeschale, dann schüttelte sie mit einem amüsierten Lächeln den Kopf und ging, um ihren Verlobten zu finden.

Er war in der Küche, den Kopf im Kühlschrank, doch als sie hereinkam, drehte er sich um und schaute sie an. »Was haben sie diesmal angestellt?«

Sie blinzelte. »Was meinst du?«

»Du machst dieses Gesicht.«

»Was für ein Gesicht?«

»Diese Mischung aus Vergnügen und Verzweiflung, die du immer zeigst, wenn deine Familie wieder eine neue Katastrophe ausgebrütet hat.«

»Dieses Mal ist es keine Katastrophe.«

»Puh.« Er lehnte seine breiten Schultern an den Kühlschrank und studierte sie. »Also hat es nichts mit unserer Hochzeit zu tun?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Er beäugte sie misstrauisch. »Die Hochzeit findet morgen statt. Bitte sag mir, dass sie kein Überraschungsorchester gebucht haben, das die ganze Nacht lang in einem Ballon über uns spielen wird.«

Sie lachte. »Nein, nein, keine Sorge.« Sie konnte nicht widerstehen, sie musste schnell die kleine Narbe neben seinem Mund berühren. »Wie um alles in der Welt kommst du denn auf so eine Idee?«

»Das ist noch gar nichts, verglichen mit den Mantoni-Ideen.« Er zog sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. »Sag’s mir.«

»Mein Bruder bringt eine Freundin mit zur Hochzeit.«

»Ist das alles? Mir fällt ein Stein vom Herzen.«

Sie legte den Kopf in den Nacken, um sein Gesicht zu sehen. »Du verstehst die Tragweite nicht. Mein Bruder hatte schon diverse Freundinnen, aber bis jetzt hat er noch keine der Familie vorgestellt. Meine Mutter wird einen Herzinfarkt bekommen.«

»Aber erst am Sonntag.« Seine Stimme klang fest. »Ich möchte nicht, dass ein Todesfall unsere Hochzeit sprengt.«

Sie lächelte und genoss den Hauch seines Aftershave und die Wärme seines Körpers. »Ich werde es ihr sanft beibringen. Außerdem bekommen Leute ja meistens nur einen Herzinfarkt, wenn sie schlechte Nachrichten erreichen. Das aber ist eine gute Nachricht. Eine richtig gute.«

Er legte den Kopf schief. »Das hängt von dem Mädel ab, oder?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Mamma wird sie vermutlich nicht leiden können, selbst wenn sie ein Engel sein sollte. Enzo ist der Jüngste, er ist ihr einziger Sohn, und bis jetzt war keine gut genug für ihn. Aber es gibt eine Sache, die für sie sprechen wird: Mamma ist fest überzeugt, dass es höchste Zeit für ihn wird, endlich die Frau fürs Leben zu finden.«

»Aber er ist doch jünger als du, oder?«

»Ja. Sieben Jahre.«

Stefano nickte weise. »Ich kann sie absolut verstehen. Mit sechsundzwanzig ist Enzo ganz klar sitzen geblieben. Kein Wunder, dass deine Mutter in Panik verfällt.«

Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Hör auf damit.«

»Damit haben wir wieder einen Gast mehr auf der Liste. Ich glaube, es sind jetzt schon fünf mehr, als ursprünglich geplant.«

Sie zögerte. »Ja. Es tut mir leid. Wir haben ihn natürlich mit Partnerin eingeladen, aber ich bin davon ausgegangen, dass er alleine kommt. Macht es dir etwas aus, dass es so viele Mantonis sind und nur so wenige Leute von deiner Seite?«

»Ganz und gar nicht.« Er lächelte auf sie herab und zog sanft an einer ihrer braunen Locken. »Ich bin ausgesprochen dankbar, dass wir es geschafft haben, eine Hochzeit zu organisieren, die auch nur entfernt so ist, wie wir sie gern haben wollten, statt der Zirkusveranstaltung, die deine Familie ursprünglich geplant hatte. Es war eine richtig gute Idee, das Datum vorzuziehen und es deiner Familie erst drei Tage vorher zu sagen.«

Sie lächelte zurück. »Jetzt sind sie so sehr damit beschäftigt, Kleider zu kaufen und zum Frisör zu gehen, dass sie gar keine Zeit mehr haben, uns auf die Nerven zu gehen.«

»Eine echte Erleichterung. Ich mag unsere Strategie. Wir sollten sie häufiger anwenden.«

»Gern.« Sie blickte auf einen Knopf an seinem Hemd. »Stefano?«

»Hmm?«

»Bist du nervös wegen morgen?«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine … mich zu heiraten.«

Er zog sie näher an sich. »Es gibt nur eine einzige Sache, die mich nervös macht: die Möglichkeit, dass etwas schiefgehen könnte, bevor die Trauung vorüber ist. Ich möchte mit dir verheiratet sein. Ich möchte, dass du meine Frau bist. Ich bin nicht wild auf den ganzen Tumult, den die Leute rund um Hochzeiten anstellen, aber das weißt du ja schon.«

Sie nickte. »Und du hast keine Zweifel wegen meiner Familie?«

Er lächelte sie voller Zärtlichkeit an. »Ich wusste, dass ich dich nur im Sammelpack mit dem Mantoni-Clan bekommen kann. Das habe ich akzeptiert, und solange wir ab und zu einige Ausweichstrategien in die Tat umsetzen, bin ich zufrieden.«

Sie erwiderte sein Lächeln, während ihr Herz leichter wurde. »Ausweichstrategien … wie die kleine deutsche Insel ohne Autos?«

»Ganz genau.« Seine Arme schlangen sich fester um sie. »Ich kann es gar nicht abwarten, an diesem riesigen Strand entlangzugehen, mit dem Wind im Haar, und weit und breit kein Mantoni. Niemand außer dir.«

»Und abends sitzen wir am Kamin.«

»Ja. Es wird ganz gemütlich. Es ist im Oktober in Deutschland viel kälter als in Italien.«

»Für morgen haben sie für Florenz einen wunderbaren Herbsttag angesagt. Sonne, blauer Himmel, angenehme Temperaturen.«

»Ich habe nichts anderes erwartet. Immerhin haben wir eine Gartenhochzeit, Sonnenschein inklusive gebucht. Ich hoffe nur, dass sie früh die Krawatte abschneiden, damit ich wieder atmen kann. Ich hasse Krawatten. Ich glaube übrigens, dass diese ganz besondere Tradition von jemandem erfunden wurde, der nicht die ganze Nacht gewürgt werden wollte.«

Carlina grinste. »Ich werde Roberto einen kleinen Hinweis geben. Er wird richtig Spaß daran haben, deine Krawatte in kleine Stücke zu schneiden und an die Gäste zu verkaufen. Ich glaube wirklich, dass er den Beruf verfehlt hat. Er hätte Alleinunterhalter werden sollen, nicht Pathologe.«

Stefano nickte. »Das habe ich ihm auch schon oft gesagt.« Er schaute sie forschend an. »Und was ist mit deinen Gefühlen? Hast du keine Zweifel? Ich bin nur ein Inspektor bei der Mordkommission mit einem durchschnittlichen Einkommen. Ich bin brummig und rede nicht viel. Bist du sicher, dass du dich für den Rest deines Lebens an mich binden möchtest?«

Carlinas Lächeln vertiefte sich. »Ich war mir noch nie im Leben einer Sache so sicher wie dieser.«

Das Gefühl von Glück und heiterer Gelassenheit erfüllte Carlina den ganzen nächsten Morgen. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, aber es war ein köstliches Flattern, nicht stressig. Sie würde Stefano heute heiraten, und es war genau so, wie sie es gern haben wollte. Das Wetter war wunderbar, und sie würden sich ihr Eheversprechen im Garten geben, direkt vor den drei alten japanischen Fächerahornbäumen, die mit ihren filigranen Herbstblättern wie leuchtend rote Fackeln aussahen.

Erst als sie im Auto saß, auf dem Weg zur Zeremonie, lief ihr ein nervöser Schauer über den Rücken. Hoffentlich geschieht nichts, was die Trauung unterbricht. Sie musste an Emmas Hochzeit im letzten Jahr denken, als der plötzliche Tod ihres Großvaters fast die ganze Planung umgeworfen hätte. Bitte heute keine Todesfälle. Sie schob ihre Nervosität zur Seite und stieg aus dem Auto, während sie vorsichtig ihr langes, weißes Kleid anhob. Es geht los. Ich heirate Stefano. Ihr Herz sang.

Sie gingen in den Garten mit den wunderschönen Bäumen. Stühle mit weißen Hussen und dicken Schleifen auf dem Rücken standen in ordentlichen Reihen, ein breiter Gang in der Mitte.

Carlinas Blick huschte über die festlich gekleidete Menge. Die Musik setzte ein. Ein aufgeregtes Flüstern ging durch die Gäste, wie das Rascheln von Blättern, dann standen alle auf und drehten sich zu ihr um.

Ihr Herz hämmerte, aber Onkel Teo war an ihrer Seite. Er strahlte und tätschelte ihren Arm. Er sah elegant aus, in seinem neuen Anzug und einem edlen weißen Hemd. Lieber Onkel Teo. Er hatte den Platz ihres toten Vaters eingenommen, um sie zum Altar zu führen. Sie lächelte das verrunzelte Gesicht ihres Großonkels an, dann beugte sie sich spontan nach vorne und küsste seine Wange.

»Jetzt, Lilly!« Ihre Schwester Gabriella stand am Rand und gab ihrer Tochter einen kleinen Schubs. Lilly ging den Gang entlang und streute Blumen. Carlina lächelte. Sie wusste, wie stolz und nervös ihre achtjährige Nichte als Blumenmädchen war.

Die Musik veränderte sich. Da. Das war ihr Einsatz!

Langsam schritten sie vorwärts.

Carlina hatte keine Augen für die Familie. Sie konnte ihren Blick nicht von dem hochgewachsenen Mann am Ende des Wegs abwenden, und als sie schließlich bei Stefano ankam und er ihre Hand nahm, erfüllte sie eine Welle des Glücks, sodass sie anfing zu zittern.

Der Rest der Zeremonie rauschte an ihr vorbei, und später konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Es war, als ob die Hochzeit in dem Augenblick stattgefunden hätte, in dem Stefano ihre Hand nahm, sie mit so viel Liebe, Zärtlichkeit und Stolz ansah und sich neben sie stellte.

Die nächsten Stunden vergingen wie in einem glücklichen Traum. Sie war niemals weit weg von ihrem Mann – was für ein köstliches Wort! –, während sie mit ihren Gästen sprach, aß und tanzte … und jedes Mal, wenn Stefano sie berührte oder ansah, sang etwas in ihr. Sie sah, wie er einen Finger zwischen seinen Kragen und seinen Hals steckte und eine kleine Grimasse zog, und ihr fiel wieder die Unterhaltung zur taglio della cravatta ein. Sie hatte versprochen, Roberto daran zu erinnern.

Carlina schaute über die Gäste hinweg, um den Pathologen zu finden, und entdeckte ihn neben ihrem Bruder, Enzo, und seiner neuen Freundin, Dorotea. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie noch keine drei Worte mit ihnen gewechselt hatte. Höchste Zeit, das zu ändern. Enzo blickte auf, als sie zu ihnen trat, und nahm sie fest in den Arm. »Glückwunsch, Schwesterherz. Du siehst heute Abend wundervoll aus.«

»Danke, kleiner Bruder. Ich glaube nicht, dass du mir das schon jemals gesagt hast.«

Enzo grinste. »Man muss sich die besten Sprüche für die großen Augenblicke aufheben.«

Sie lachte und wandte sich an Roberto. »Roberto, würdest du jetzt mit der Krawatten-Zeremonie beginnen? Stefano bat mich darum, nicht zu lange damit zu warten, damit er den Rest der Nacht besser atmen kann.«

»Mann, ja, natürlich! Es ist höchste Zeit.« Roberto stellte sein Glas auf den nächsten Tisch und zwinkerte ihr zu. »Ich werde sie in Schwung bringen.« Er eilte zu Stefano.

Carlina lächelte und schüttelte den Kopf. »Er ist ein echter Partylöwe.« Dann streckte sie die Hand aus. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Dorotea.«

Dorotea nahm ihre Hand mit zwei kühlen Fingern. »Ich freue mich, hier zu sein.«

Dorotea war groß und dünn und hatte herrliches schwarzes Haar, das ihr glatt und dick den Rücken hinunterfiel. Sie sah wie ein Model aus, mit der gewissen Patina der Reichen. Perfekte Zähne, stilvolle Kleidung, tadellose Frisur, leicht gebräunte Haut und die sichere Gelassenheit, dass ihr die Welt zu Füßen lag. Dorotea hatte alles. Plötzlich fühlte Carlina sich klein und unscheinbar.

Doch Dorotea strahlte auch eine Kühle aus, die Carlina frösteln ließ. Sie fragte sich, wie diese Frau zu Enzo passte, der mehr chaotisch als organisiert war. Enzo war nicht nur bekannt für seine Taktlosigkeit, sondern hatte es auch noch nie in seinem Leben geschafft, seine wilden Locken auch nur im Ansatz zu bändigen. Na ja, Gegensätze ziehen sich an. Sie lächelte Dorotea an und versuchte, ein Gesprächsthema zu finden. »Wussten Sie, dass das Abschneiden der Krawatte eine uritalienische Sitte ist? In den USA, wo ich geboren wurde, kennt man das gar nicht.«

Lautes Lachen kam von Roberto, der Stefano in einer Ecke seiner Krawatte beraubt hatte. Mit viel Theater zerschnitt er sie in kleine Stücke, dann warf er diese in einen schwarzen Zylinder, den er extra zu diesem Zweck mitgebracht hatte.

»Es ist eine barbarische Sitte, und sie sollte verboten werden.« Dorotea hob ihr Kinn. »Der Gedanke, dass dieser schöne Stoff sinnlos zerstört wird, ist mir zuwider. Gott sei Dank zerschneiden sie noch keine Hemden.«

Roberto erschien neben ihnen. »Ich habe ein wunderbares Angebot für euch, meine Lieben! Ein echtes Erinnerungsstück an diesen Abend. Ihr könnt jetzt ein einzigartiges Stück der Bräutigam-Krawatte erwerben, und ich mache euch sogar einen Sonderpreis.« Beim letzten Wort senkte er die Stimme und zwinkerte.

Dorotea seufzte und schüttelte den Kopf.

Enzo grinste, als ob seine Füße schmerzten und er es nicht zugeben wolle.

Carlina runzelte die Stirn. Normalerweise war Enzo der Erste, der bei dem Spiel mitmachte oder sogar selbst eine Auktion veranstaltete. Sie hatte es bei mindestens drei Familienfeiern gesehen. Aber mit Dorotea an seiner Seite hatte er wohl beschlossen, den Ball flach zu halten.

»Es sieht so aus, als ob du hier kein Glück hast, Roberto.« Carlina nahm ihn bei den Schultern und drehte ihn um. »Versuch es mal bei den Leuten dort drüben.«

Roberto winkte und schoss davon, seine gute Laune war trotz der Abfuhr völlig ungetrübt.

Carlina atmete auf. Gott sei Dank war der Pathologe so ein fröhlicher Typ.

Sie wandte sich wieder an Dorotea, während sie sich fragte, worüber sie wohl sprechen könnten. Wann hatte sie sich das letzte Mal so unbeholfen gefühlt? Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Du musst mir erzählen, wie ihr euch kennengelernt habt. Enzo hat mir noch gar nichts verraten, dabei höre ich so gern Liebesgeschichten.«

Dorotea zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, es war nicht sehr romantisch. Enzo ist Vertreter für einen unserer Lieferanten. Er verkaufte mir den Stoff für unsere neueste Hemden-Kollektion.«

Carlina schluckte. Die Freundin ihres Bruders klang alles andere als verliebt. Stattdessen eher nüchtern. Oder war das einfach nur ihre Art? Vielleicht war sie ja unsicher und versuchte, ihre Nervosität zu überspielen? Aber nein, sie wirkte ganz und gar nicht nervös.

Enzo allerdings grinste. Dieses Mal war es ein echteres Grinsen, keines, das aussah, als ob ihm etwas wehtäte. »Ich finde jedenfalls, dass es besser ist, die Liebe seines Lebens bei einem Geschäftstreffen kennenzulernen als über einer Leiche.« Er zwinkerte ihr zu.

»Püh.« Carlina lachte und schüttelte den Kopf, dann wandte sie sich an Dorotea, in der Hoffnung, sie ein wenig aufzutauen. »Vermutlich hast du schon gemerkt, dass Enzo eine Tendenz hat, mit beiden Füßen zuerst in jedes mögliche Fettnäpfchen zu springen. Ich habe Stefano über einer Leiche kennengelernt, wie er es so schön formuliert hat.«

Ein leichtes Stirnrunzeln verschob Doroteas hauchzart nachgezogene Augenbrauen. »Enzo wird lernen müssen, diplomatischer zu werden.«

Oh, oh. Carlina fragte sich, was von ihrem Bruder übrig bleiben würde, wenn diese Frau ihm seine Ungezwungenheit wegnahm. Sie wusste nicht, was sie noch sagen konnte, aber glücklicherweise erschien in diesem Augenblick ihre Mutter.

Fabbiola hatte ihre hennarot gefärbten Haare locker hochgesteckt. Sie trug ein dunkelblaues Chiffonkleid mit silbernen Fäden, das weit schwingend von der Hüfte abwärtsfiel.

Mit einem erleichterten Seufzer wandte Carlina sich ihr zu. »Du siehst heute wirklich toll aus, mamma.«

»Danke, meine Liebe. Als die Mutter der Braut weiß ich ja, dass ich mir besondere Mühe geben muss. Ich bin froh, das trotz der ausgesprochen kurzen Vorbereitungszeit geschafft zu haben.« Sie sog missbilligend Luft durch die Nase.

Enzo hob die Augenbrauen. »Das erinnert mich an etwas. Ich wollte dich schon die ganze Zeit danach fragen, Carlina. Habt ihr den Hochzeitstermin nach vorne gezogen, weil du schwanger bist?«

»Nein, das war nicht der Grund.« Carlina hatte schon viel früher mit dieser Frage gerechnet und war vorbereitet. »Aber die Location hier wurde unerwartet frei, und wir fanden das Restaurant mit den Glaswänden und dem Garten so schön, dass wir uns entschieden haben, sofort zu handeln, anstatt bis zum nächsten Jahr zu warten.« Einen Augenblick lang fragte sie sich, was sie wohl sagen würden, wenn sie den wahren Grund nannte. Wir haben uns entschieden, kurzfristig zu heiraten, damit ihr uns mit den Vorbereitungen nicht in den Wahnsinn treibt. Wie gut, dass sie keine Gedanken lesen konnten.

Doroteas kritischer Blick ging zu Carlinas Bauch und wieder zurück. Sie sagte keinen Ton.

Das Schweigen zwischen ihnen wurde ungemütlich.

»Hast du Kinder, Dorotea?«, fragte Carlina schließlich, verzweifelt auf der Suche nach einem Gesprächsthema.

»Sehe ich so aus?«

»Nein, das tun Sie nicht«, mischte sich Fabbiola ein, und ihr Ton machte ohne den Schatten eines Zweifels klar, dass das kein Kompliment war. »Außerdem tragen Sie Weiß, und selbst in Mailand sollte man wissen, dass man kein Weiß trägt, wenn man zu einer Hochzeit eingeladen ist.«

Carlina blinzelte. Ihre Mutter hatte recht. Sie hatte es noch nicht einmal bemerkt, weil Doroteas weit geschnittene Hose und strenge Jacke so gar nicht wie ein Hochzeitskleid wirkten.

Doroteas gelangweilter Gesichtsausdruck vertiefte sich. »Ich trage immer Weiß. Egal, ob es sich um eine Hochzeit oder eine Beerdigung handelt.«

Fabbiola schnappte hörbar nach Luft. »Sie kommen auch zu einer Beerdigung in Weiß?«

»Ja.«

»Das ist ihr Markenzeichen.« Enzo zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Wein aus seinem Glas. »Die ganze Branche weiß das.«

»Na, wenn du in der Modebranche arbeitest, musst du vermutlich Zeichen setzen.« Carlina bemühte sich, etwas Nettes zu sagen.

»Es ist mehr als ein Zeichen. Sie ist eine Ikone.« Enzo grinste.

»Hör auf, Blödsinn zu reden, Enzo.« Dorotea klang immer noch distanziert. »Es ist nur meine persönliche Note.«

»Und eine sehr schlaue noch dazu, als Geschäftsführerin von Camicie Di Silva.«

»Camicie Di Silva!« Fabbiola starrte Dorotea an. »Das ist die Marke, die Onkel Teo immer für festliche Anlässe kauft. Ich glaube, er trägt sogar heute Abend eines dieser Hemden.«

»Onkel Teo ist mein Großonkel.« Carlina zeigte quer durch den Raum. »Er steht dort hinten, neben dem Buffet.«

»Ich weiß, wer er ist, und ja, er trägt eines unserer Hemden.« Dorotea sprach immer noch mit dieser nüchternen Stimme.

»Sie sind wahnsinnig teuer.« Fabbiola kräuselte die Lippen.

Eine der fein gezogenen Augenbrauen von Dorotea schnellte in die Höhe. »Der Preis ist absolut angemessen. Unsere Hemden sind aus den besten Materialien geschneidert, die es am Markt gibt, sie sind mit absoluter Leidenschaft für Details genäht, und die Qualität ist exquisit. Das Design ist einzigartig, und der Markenname ist auf der ganzen Welt bekannt.«

Fabbiola hob ihr Kinn. »Ich bleibe dabei, dass es einfach nur weiße Hemden sind.«

Doroteas Blick ging von Fabbiolas Kopf bis zu den Füßen und zurück. »Vielleicht ziehen Sie ja die Hemden von Camicie d’Oro vor.«

Enzo stellte sein Weinglas so rasch ab, dass ein Tropfen auf das weiße Tuch überschwappte. Er ergriff Doroteas Hand und zog sie Richtung Tanzfläche. »Komm, tanz mit mir, meine Liebe.«

Sie folgte ihm ohne sichtbare Begeisterung.

Fabbiola und Carlina starrten ihnen hinterher.

Dann blies Fabbiola die Luft durch die Nase wie ein entnervter Bulle. »Was um alles in der Welt sieht er in diesem … diesem Eisberg?«

Carlina räusperte sich. »Gegensätze ziehen sich an, mamma.«

»Oh weh.« Fabbiola schüttelte den Kopf. »Ich wollte so gern, dass er sich ein nettes Mädchen sucht und mit ihr süße Babys macht, aber diese … diese mailändische Modekönigin wird ihm niemals süße Babys schenken.«

»Aber vielleicht schöne Babys. Du musst zugeben, dass sie toll aussieht.«

»Blödsinn!« Fabbiola wandte sich an Carlina. »Außerdem ist sie viel älter als er, Mitte dreißig oder so!« Es klang, als spräche sie über einen Joghurt, der schon längst über das Haltbarkeitsdatum hinaus war. »Und hast du die Sache mit diesem Camicie d’Oro verstanden? Goldene Hemden? Was ist denn das für ein Name?«

»Es klingt wie eine andere Marke. Vielleicht der Wettbewerb? Ich fürchte, sie hat dir kein Kompliment gemacht.«

»Sie ist unverschämt, diese junge Dame.«

»Vielleicht ist sie ja unsicher.«

»Unsicher? Du bist ja verrückt. Wenn sie wirklich die Inhaberin von dieser Firma Camicie Di Silva ist, hat sie Geld wie Heu.«

»Auch reiche Leute können unsicher sein.«

»Nun hör auf, hier herumzuphilosophieren, Carlina. Ich bin schon einige Jahre länger als du auf dieser Welt, und ich erkenne einen Snob, wenn er mir über den Weg läuft.«

»Ich frage mich, warum sie mit Enzo zusammen ist. Sie scheint nicht sehr verliebt zu sein.«

»Enzo ist ein gut aussehender Mann.« Fabbiola klang ein wenig unsicher.

»Das stimmt, aber er spielt nicht in derselben Liga.«

Sie schauten einander an, dann zuckten sie mit den Schultern.

Fabbiola seufzte. »Liebe kommt in allen möglichen Formen und Farben.«

Carlina runzelte die Stirn. »Falls es Liebe ist. Ich bin mir da nicht so sicher.«

»Da bist du ja!«, erklang Stefanos Stimme hinter ihr. »Ich habe dich überall gesucht. Würdest du mit mir bitte zum Caterer kommen? Er hat mir einige Fragen gestellt, die ich nicht beantworten kann.«

»Natürlich.« Carlina schaute Fabbiola an. »Wir sehen uns später, mamma. Mach dir keine Sorgen.«

Stunden später stand Carlina am Rand des Festsaals und schaute über die Tanzfläche, auf der immer noch viele Paare tanzten. Ihr war heiß, und sie war erschöpft vom Tanzen und all den Gefühlen. Sie brauchte eine kleine Pause. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es drei Uhr morgens war. Wow. Wo war die Nacht nur geblieben?

Sie öffnete eine der Glastüren, die seitlich ins Freie führten, und holte tief Luft. Es roch nach Pinien. Glückseligkeit durchflutete sie. Sie war verheiratet. Es war nichts schiefgegangen. Vielen Dank, liebes Schicksal.

Die Musik drang nur leise nach draußen, sodass sie die Blätter im Wind rascheln hören konnte. Was für eine wunderbare Nacht. Die Tür hinter ihr öffnete sich, und ohne sich herumzudrehen, wusste Carlina, dass es Stefano war.

Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Bist du glücklich, Caralina, meine Ehefrau?«

Ein Zittern überlief sie. Sie war Stefanos Frau. Mit einem glücklichen Seufzer lehnte sie sich gegen ihn. »So glücklich, wie man nur sein kann, mein lieber Ehemann.« Es klang köstlich, als sie es das erste Mal zu ihm sagte.

Sein Mund war nah ihrem Ohr. »Ich kann unser Glück kaum glauben. Nichts ist schiefgegangen.«

Sie kicherte. »Das hab ich mir auch gerade gedacht. Ich bin so dankbar.«

»Kann ich dich überreden, wieder hineinzugehen und den nächsten Tanz mit mir zu tanzen? Es ist eine Ballade.«

»Woher weißt du das?«

Er lächelte. »Ich habe sie bestellt.«

Sie drehten sich um, und just in dem Augenblick, als sie über die Schwelle traten, zerschmetterte ein Schuss die Glaswand zu ihrer Rechten.

Kapitel 2

Die Gäste schrieen und sprangen auf.

Carlina packte Stefanos Arm. »Was –?«

Ein zweiter Schuss knallte, und der riesige Kronleuchter über der Tanzfläche krachte so laut auf den Boden, dass ihre Ohren schmerzten. Glitzernde Splitter flogen durch den Raum. Die Gäste drehten sich weg, schützten ihre Gesichter mit den Händen und rannten zum Ausgang.

Stefano fuhr herum. »Es kam aus dem Garten.« Er rannte in die Dunkelheit.

Carlina presste ihre Fäuste gegen den Mund und unterdrückte einen Aufschrei. Geh nicht! Sie wusste, sie durfte es nicht sagen. Sie hatte einen Polizisten geheiratet, und sie konnte ihn nicht darum bitten, nicht in seinem Beruf zu arbeiten, nur, weil sie Angst davor hatte, was ihm passieren könnte. Aber der Täter war bewaffnet, und Stefano war es nicht.

Ein spitzer Schrei von drinnen ließ sie herumfahren.

»Oh, mein Gott, sie ist tot!« Es war die Stimme ihrer Mutter.

Carlina hob ihr weißes Kleid hoch und rannte vorwärts, über die Glassplitter schlitternd.

Fabbiola stand neben dem Tisch, an dem die Familie gesessen hatte, und zeigte mit zitterndem Finger auf eine Person, die mit dem Gesicht nach vorne auf den Tisch gefallen war. Ein kleines Loch im Rücken des eleganten weißen Jacketts war umringt von einem roten Fleck.

Carlina schnappte nach Luft. »Es ist Dorotea!« Sie rannte zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter, dann hob sie sie vorsichtig an.

Doroteas Augen waren weit geöffnet, und der Ausdruck auf dem Gesicht der toten Frau zeigte leichte Überraschung.

Mit zitternden Händen ließ Carlina sie wieder sanft auf den Tisch zurücksinken, dann nahm sie ihre Mutter in die Arme.

Fabbiola weinte an ihrer Schulter.

»Schhhhh.« Carlina fiel nicht ein einziges tröstendes Wort ein.

Fabbiola murmelte etwas, das sie nicht verstand.

»Was hast du gesagt, mamma?«

»Sie … sie wollten dich umbringen.«

Carlina erstarrte. »Was?«

»Auf einer Hochzeit trägt nur die Braut Weiß. Sie wollten die Braut erschießen.« Fabbiola hickste. »Aber sie haben die falsche Frau erwischt.« Sie lehnte den Kopf zurück und nahm Carlinas Gesicht in beide Hände. »Gott sei Dank, dass Dorotea sich nicht an die Regeln gehalten hat. Ich war so wütend vorhin, ich dachte, dass sie dir die Schau stehlen will, als ob sie das überhaupt könnte, wo du doch so hübsch bist, aber jetzt bin ich wirklich froh darüber, endlos glücklich. Sonst wärst du jetzt tot.«

Carlina schüttelte den Kopf. »Mamma, das kann gar nicht sein. Dorotea sieht total anders aus als ich. Sie ist groß und dünn und hat langes, dunkles Haar. Niemand kann sie auch nur im Entferntesten mit mir verwechseln.«

»Aber sie trug Weiß. Sie müssen gedacht haben, dass sie die Braut ist.«

»Wen meinst du, und warum sollte jemand mich umbringen wollen? Was für ein Motiv sollte es dafür geben?«

Fabbiola hob vage die Schultern. »Vielleicht eine ehemalige Freundin von Stefano, die extrem eifersüchtig ist.«

»Ich habe noch nie von ehemaligen Freundinnen gehört.«

»Willst du mir etwa sagen, dass du Stefanos erste Freundin bist?« Ihre Mutter starrte sie an.

»Nein, natürlich nicht! Aber er hat niemals erwähnt, dass er eine Ex-Freundin hat, die besonders eifersüchtig ist.«

Ihre Mutter wackelte mit dem Kopf. »Vielleicht weiß er es nur nicht. Wo ist er überhaupt?«

Carlina biss sich auf die Lippe. »Er ist draußen im Garten.«

»Oh, Madonna. Das ist gefährlich.«

»Ja.«

Carlina schaute sich um. Einige wenige Gäste standen noch in kleinen Gruppen zusammengedrängt beieinander. Ganz hinten konnte sie ihre Schwester Gabriella mit ihrem Mann Bernando sehen. Ihre Nichte Lilly lag in Bernandos Armen und schlief tief und fest. Hatte die Kleine den Krach gar nicht mitbekommen?

Hinter ihnen stand Tante Benedetta mit ihren drei erwachsenen Kindern, Emma, Annalisa und Ernesto. Der Lebensgefährte von Tante Benedetta, der Franzose Leo, hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt, und Emmas Ehemann Lucio streichelte seiner Frau beruhigend über den Rücken. Emma war schwanger. Sie hatte eine Hand schützend auf ihren Bauch gelegt. Ernestos Freundin Nora umklammerte mit schneeweißem Gesicht seinen Arm.

Carlina wandte sich um und schaute zur Band. Ihre beeindruckende Großtante Violetta stand neben dem Klavier, der Rollstuhl vergessen hinter ihr. Ein Stück weiter befand sich ihr Sohn Omar, der die Hände ihrer besten Freundin Francesca hielt. Neben ihnen war Onkel Teo. Sein weißes Haar stand buschig in die Höhe.

Sie atmete einmal erleichtert auf. Die Familie war komplett. Doch dann schoss ihr ein Gedanke durchs Hirn, und plötzliche Angst ließ ihre Knie zittern. Ihr Bruder fehlte. Sie schaute zu ihrer Mutter. »Wo ist Enzo?«

»Enzo?« Fabbiola hob den Kopf. »Oh, Madonna, Enzo. Wir müssen ihm sagen, dass seine Freundin tot ist.«

Wo war er, als geschossen wurde? Carlina wünschte, sie hätte sich in dem Augenblick umgesehen, in dem die Schüsse fielen, und sich gemerkt, wo jeder gestanden hatte. Stattdessen hatte sie nur auf ihre Mutter geachtet. Verdammt.

»Da ist er!«

Enzo kam aus dem Garten und trat durch die Tür, in der Carlina und Stefano gestanden hatten. Er schaute sich um, und seine Augen weiteten sich. Dann fiel sein Blick auf die stille Figur am Tisch. Er wurde blass und rannte zu ihnen, während seine Füße laut über den mit Glassplittern übersäten Boden knirschten. »Dorotea!« Er blieb abrupt stehen und starrte auf den roten Fleck auf ihrem Rücken. »Oh nein. Sie hasst Rot.«

Carlina und Fabbiola warfen sich einen ungläubigen Blick zu.

»Ist sie … ist sie tot?« Enzo schaute seine Mutter wie ein ängstlicher kleiner Junge an.

Fabbiola nickte. »Es tut mir leid.«

Enzo schüttelte den Kopf. »Ich … ich kann es nicht glauben. Sie war unzerstörbar. Eine Ikone.«

Carlina schnappte sich seine kalten Hände und führte ihn zu einem Stuhl. »Setz dich, Enzo.«

Er gehorchte, ohne seinen Blick von Dorotea abzuwenden. Dann hob er den Kopf und schaute Carlina mit weit aufgerissenen Augen an. »Wer war es, Carlina? Wer hat sie umgebracht?«

»Wissen wir nicht.«

»Sie haben die Falsche erwischt«, sagte Fabbiola. »Sie wollten eigentlich die Braut erschießen, und es war alles nur eine Verwechslung, weil Dorotea darauf bestanden hat, Weiß zu tragen.«

Enzos Augen wurden noch größer. »Sie hat immer Weiß getragen. Sie hatte gar nichts anderes im Kleiderschrank.«

Fabbiola verzog den Mund. »Das hat sie uns erzählt. In Mailand ist vermutlich alles möglich.«

Enzo starrte wieder zu Dorotea, als ob er es gar nicht glauben könne. »Sie hat trotzdem Stunden damit verbracht, ihre Garderobe farblich zu sortieren.«

Carlina blinzelte. »Weil Weiß nicht gleich Weiß ist?«

»Genau.« Enzo ließ den Kopf in die Hände fallen. »Warum spreche ich über Klamotten?« Seine Stimme klang gedämpft. »Dorotea ist tot.«

»Enzo.« Carlina legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wo warst du, als der Schuss fiel?«

Enzo schaute nicht hoch. »Ich war im Garten.«

»Warum?«

»Es war so stickig hier drinnen. Und ich … ich wollte nachdenken.«

»Worüber?«

Er hob den Kopf. »Über gar nichts. Es hat sich erledigt.«

Carlina runzelte die Stirn. Als sie aufblickte, sah sie Stefano am anderen Ende des Raumes stehen.

Ihre Blicke trafen sich. Er schüttelte langsam den Kopf. Dann kam er auf sie zu, sein Blick auf Dorotea fixiert. »Ist sie tot?«

»Ja.« Carlina schluckte. »Von hinten erschossen.«

Stefano hob den Blick zu der zertrümmerten Glastür. »Er muss direkt hinter uns gestanden haben.«

»Er wollte Carlina erschießen.« Fabbiola schnappte sich Stefanos Arm und schüttelte ihn. »Du musst dich nach jemandem umsehen, der es auf Carlina abgesehen hat.«

Stefano starrte seine frischgebackene Schwiegermutter an. »Wie bitte?«

»Verstehst du denn nicht? Auf einer Hochzeit trägt nur die Braut Weiß. Sie wollten die Braut umbringen und haben einen Fehler gemacht!«

»Aber Carlina sieht doch ganz anders aus als Dorotea! Willst du mir erzählen, dass der Mörder nur Farben unterscheiden kann und sonst gar nichts? Außerdem war sie sehr viel näher an dem Mörder dran als Dorotea.«

«Oh, Madonna.« Fabbiola presste die Hände gegen ihre Brust. »Woher weißt du das?«

»Weil der Schuss die Glaswand zerstörte, neben der Carlina und ich standen.« Stefano zeigte zur Tür.

Fabbiola blinzelte. »Dort … dort habt ihr gestanden?«

»Ja.«

»Ein Verrückter.« Fabbiola bekreuzigte sich. »Es muss ein Verrückter gewesen sein.«

Stefano runzelte die Stirn. »Das glaube ich nicht. Ein Verrückter hätte noch ein paar mehr Leute umgebracht. Er hätte kaum eine bessere Gelegenheit dafür finden können.«

»Aber er hat es doch versucht!« Fabbiola zeigte auf den Tanzboden. »Er hat den Kronleuchter heruntergeschossen. Er hätte Dutzende umbringen können!«

»Er muss ein extrem guter Schütze sein.« Stefano rieb sich das Kinn.

Carlina wurde kalt. Sie schob eine Hand unter seinen Arm und war froh, als er sie sofort an sich zog. Sie hatte befürchtet, dass er in seinen professionellen Modus verfallen würde, kühl und distanziert.

»Was geschieht jetzt?«, fragte sie leise.

»Ich warte auf Cervi.« Sie hatten Stefanos Chef nicht eingeladen, weil sie nur mit den Leuten feiern wollten, die sie wirklich gern mochten. Die Beziehung zwischen Stefano und seinem Chef konnte bestenfalls als schwierig bezeichnet werden, daher hatten sie ihn als einen der Ersten von der Liste gestrichen. Tatsächlich hatte Stefano ihm nichts von seiner anstehenden Hochzeit erzählt. Er hatte Roberto, den Pathologen, und Giorgio, den Fotografen, darum gebeten, nichts zu verraten.

In diesem Augenblick kam Giorgio auf sie zu. »Soll ich den Tatort fotografieren, Stefano?«

»Du hast deine Ausrüstung nicht dabei.«

»Doch, habe ich. Sie ist im Auto.«

»Im Auto? Ist das nicht zu riskant?«

Giorgio schüttelte den Kopf. »Nö. Ich habe mir eine Metallbox anfertigen lassen, die mit dem Auto verschweißt ist und ein extra festes Schloss hat. Wenn jemand den Kofferraum aufbricht, muss er auch noch die Box aufbrechen, und das ist nicht so einfach.«

»Verstehe.« Stefano nickte. »Ja, es ist eine gute Idee, Bilder zu machen. Danke.«

Giorgio schaute ihn mitleidig an. »Es tut mir leid, dass das geschehen ist, hier auf deiner Hochzeit und so.«

Stefano zog Carlina noch näher an sich. »Ich bin dankbar, dass es so spät am Abend geschehen ist. Ich bin sicher mit Carlina verheiratet, und darauf kam es mir an.«

Giorgio blinzelte. »Soll das heißen, du hast mit einem Mord gerechnet?«

Stefano schüttelte den Kopf. »Ich habe mit einem Familiennotfall gerechnet, nicht mit Mord.«

In diesem Augenblick kam Eva Malentino, die Inhaberin der Location, auf sie zu. Sie war schneeweiß und wrang die Hände. »Es ist furchtbar, absolut furchtbar. Es wird die Villa Vetrata ruinieren.« Sie schaute Carlina an. »Denk doch nur einmal darüber nach! Ich war so froh, dass ihr den abgesagten Termin übernommen habt, nur zwei Wochen vor der Hochzeit. Und jetzt das! Ich bin ruiniert. Niemand wird in einer Location heiraten wollen, wo ein Mord stattgefunden hat.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Stefano. »Es gibt genug Leute, die das sogar als zusätzliche Attraktion verbuchen würden. Vielleicht kannst du sogar Krimidinner anbieten.«

Sie blinzelte. »Das ist eine Möglichkeit.« Plötzlich schüttelte sie sich. »Es tut mir so leid. Ich habe das Erste gesagt, was mir in den Kopf kam. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich weiß noch nicht einmal, wer das Opfer ist. Mein herzlichstes Beileid.« Sie legte ihre kleine Hand auf Carlinas Arm.

Carlina lächelte sie an. »Du hast in den letzten Wochen eine schwere Zeit durchgemacht, also kann ich schon verstehen, dass du zuerst an dein Restaurant denkst. Das Opfer ist Dorotea Di Silva. Sie ist die einzige Person auf unserer Hochzeit, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Sie war die Begleitung meines Bruders.«

Evas Augen weiteten sich. »Dorotea Di Silva? Also war sie es wirklich?«

»Was meinst du?«

»Ich sah sie heute früher am Abend und dachte mir, dass sie Dorothea Di Silva ähnlich sieht, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie es wirklich ist.«

»Also kanntest du sie?«

»Nein, nein, nicht persönlich natürlich. Aber ich habe ihre Bilder in Zeitschriften gesehen. Wann immer sie eine neue Kollektion herausbringt, sind die Modeblätter voll von ihr. Wusstest du, dass sie nur Weiß trägt? Sie nennen sie die Schneekönigin. Diesen Januar war sie als Frau des Jahres und gleichzeitig als Unternehmerin des Jahres nominiert! Sie ist eine echte Celebrity.« Sie schluckte, während Entsetzen in ihren Augen erschien. »Oh, Madonna, das ist ja noch viel schlimmer, als ich dachte. Eine Celebrity, die in der Villa Vetrata ermordet wird! Die Presse wird wochenlang vor meiner Tür stehen.«

Stefano runzelte die Stirn. »Nun, was auch immer du sagst, mache bitte dabei klar, dass sie verklagt werden, wenn sie den Namen des Paares erwähnen, das hier gerade geheiratet hat. Wo warst du, als der Schuss fiel?«

Eva wrang die Hände. »Ich war hinten, in der Küche, und habe dort aufgeräumt. Den ersten Schuss habe ich noch nicht einmal gehört. Sie sagten, es seien zwei gewesen, richtig? Ich hörte einen lauten Knall, und als ich hinauslief, um zu sehen, was los war, lag der Kronleuchter mitten auf dem Tanzboden, und die Leute rannten in alle Himmelsrichtungen.«

»Kannst du dich erinnern, wer wo stand?«

Eva runzelte die Stirn. »Die Frau mit dem Rollstuhl befand sich neben dem Klavier, zusammen mit ihrem Sohn und seiner Freundin. Ich erinnere mich, dass ich überrascht war, weil sie stand und nicht saß. Ich wusste gar nicht, dass sie stehen kann.«

»Sie kann gehen, wenn sie will«, sagte Carina. »Aber normalerweise findet sie es bequemer, wenn sie herumgefahren wird.«

Eva blinzelte. »Verstehe. Ich sah, wie du durch den Raum gerannt bist. Da wusste ich noch nicht, dass jemand umgebracht worden war. Ich dachte, es sei ein Unfall und dass der Kronleuchter von alleine heruntergefallen sei. Ich war in Panik, aber als ich gesehen habe, dass niemand verletzt ist, habe ich vor allen Dingen auf die Schäden geachtet.«

»Hast du die Leiche nicht gesehen?«, fragte Stefano.

»Nein. Sie war von Leuten umgeben, und sie war nicht in der unmittelbaren Nähe des Kronleuchters, darum habe ich gar nicht genauer hingeschaut.«

»Hast du gesehen, wo die anderen standen?«

»Nein.«

»War noch jemand mit dir in der Küche?«

»Ja, der Hauptkellner war da. Er hatte gerade einige Gläser hereingetragen.«

»Gut. Wenn du dich später noch daran erinnern solltest, dass du jemand anderen im Raum gesehen hast, lass es mich bitte wissen.«

»Aber du wirst trotzdem nicht wissen, wer geschossen hat, selbst wenn du weißt, wer im Gebäude war, als es geschah, oder? Der Schuss kam doch von draußen, richtig? Deshalb ist meine Glaswand völlig zerschossen.«

Stefano schaute sie prüfend an. »Es ist ein Eliminierungsprozess. Wer im Gebäude war, kann nicht gleichzeitig draußen gewesen sein und geschossen haben.«

Evas Augen weiteten sich. »Heißt das, sie wurde von einem der Hochzeitsgäste erschossen und nicht von jemandem, der draußen herumlief? Ist das deine Theorie?«

»Ich habe noch gar keine Theorie. Doch je mehr Fakten ich habe, umso einfacher wird es, die Verdächtigen herauszufiltern.«

»Verstehe.« Eva nickte. »Nun, wenn ich mich an irgendetwas anderes erinnere, melde ich mich. Kann ich weiter aufräumen?«

»Ich fürchte nicht«, sagte Stefano. »Du musst erst einmal alles so lassen, wie es ist.«

Evas Augen weiteten sich. »Für wie lange?«

»Nicht mehr als zwei oder drei Tage«, sagte Stefano. »Giorgio macht schon die Fotos.«

»Wirst du diesen Fall untersuchen?«

»Nein.« Stefano zog Carlina noch näher an seine Seite. »Ich werde auf Hochzeitsreise sein, auf einer kleinen windigen Insel ohne Autos.«

Eva starrte ihn an. »Wunderbar.« Ihr Ton klang, als ob sie das Gegenteil sagen wolle. Sie drehte sich zur Seite, dann nickte sie einem Mann zu, der mit energischen Schritten auf sie zukam. Er trug einen blauen Anzug. Sein tiefschwarzes Haar war in wohlsortierte Wellen gelegt. »Wer ist das?«

»Das ist mein Chef, commissario capo Cervi.«

»Na, dann lasse ich euch mal alleine.« Sie verschwand.

Cervi nahm den eleganten grauen Anzug von Stefano und das weiße Kleid von Carlina mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis. »Was ist das? Soll das ein Witz sein? Sie rufen mich mitten in der Nacht an, weil ein Prominenter bei einer Hochzeit getötet wird, und jetzt sind Sie als Brautpaar verkleidet?«

Stefano legte seinen Arm um Carlinas Schultern. »Das ist kein Witz. Es gab tatsächlich einen Mord auf einer Hochzeit. Unserer Hochzeit.«

Cervi starrte ihn an. »Aber … Sie haben kein einziges Wort gesagt.«

»Wir wollten es klein halten, also luden wir nur die Familie und einige enge Freunde ein.« Aus den Augenwinkeln sah Stefano, wie Carlinas Lippen zuckten. Er kannte dieses Zucken – sie war amüsiert und versuchte, es nicht zu zeigen. Ihr Sinn für Humor hatte ihn in der Vergangenheit oft verwundert, aber dieses Mal war er dankbar, dass sie es schaffte, selbst in den seltsamsten Situationen etwas Lustiges zu sehen.

Cervi sah sich in dem großen Raum um. Er betrachtete die dekorierten Tische, das Klavier, die Tanzfläche mit dem zertrümmerten Kronleuchter, den beleuchteten Garten im Freien. »Eine kleine Hochzeit?« Seine Stimme war ungläubig.