Mord in Moordevitz - Wiebke Salzmann - E-Book

Mord in Moordevitz E-Book

Wiebke Salzmann

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Johanna reist in den kleinen Ort Moordevitz an der Boddenküste in Mecklenburg-Vorpommern. Sie spielt mit dem Gedanken, Schloss Moordevitz, den früheren Sitz ihrer Familie, zu kaufen. Doch nicht nur der schlechte Zustand des Schlosses verspricht Probleme - im Seitenflügel trifft Johanna auf die Leiche eines Erhängten. Im Dorf Moordevitz geht es derweil hoch her - eine Immobilienfirma versucht, das Land im Ort aufzukaufen. Auch Hauptkommissarin Katharina Lütten verliert ihre Wohnung. Für Katharina ist klar, dass die schlosskaufende Freifrau Johanna von Musing-Dotenow zu Moordevitz hinter den Machenschaften der Immobilienhaie steckt. Doch dann häufen sich die Unfälle um Johanna, sie gerät in Lebensgefahr und Katharina muss einsehen, dass Johanna nicht die Täterin, sondern das Ziel ist - und sie begreifen, dass der Schlüssel zu den Geschehnissen in der Vergangenheit von Johannas Familie liegt. Wer die Geschichten um Johanna und Katharina aus den Krimikarten der text-wirkerei.de kennt, erfährt hier, wie die beiden sich kennenlernten und zusammenrauften.

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Mord in Moordevitz

Über das Buch

Johanna reist in den kleinen Ort Moordevitz an der Boddenküste in Mecklenburg-Vorpommern. Sie spielt mit dem Gedanken, Schloss Moordevitz, den früheren Sitz ihrer Familie, zu kaufen. Doch nicht nur der schlechte Zustand des Schlosses verspricht Probleme – im Seitenflügel trifft Johanna auf die Leiche eines Erhängten.

Im Dorf Moordevitz geht es derweil hoch her – eine Immobilienfirma versucht, das Land im Ort aufzukaufen. Auch Hauptkommissarin Katharina Lütten verliert ihre Wohnung. Für Katharina ist klar, dass die schlosskaufende Freifrau Johanna von Musing-Dotenow zu Moordevitz hinter den Machenschaften der Immobilienhaie steckt.

Doch dann häufen sich die Unfälle um Johanna, sie gerät in Lebensgefahr und Katharina muss einsehen, dass Johanna nicht die Täterin, sondern das Ziel ist – und sie begreifen, dass der Schlüssel zu den Geschehnissen in der Vergangenheit von Johannas Familie liegt.

Wer die Geschichten um Johanna und Katharina aus den Krimikarten der text-wirkerei.de kennt, erfährt hier, wie die beiden sich kennenlernten und zusammenrauften.

Über die Autorin

1964 in Mönchengladbach geboren und aufgewachsen driftete Wiebke Salzmann immer weiter nach Osten: Nach einer Zwischenstation zum Studium der Physik in Braunschweig fand sie 1998 in Mönchhagen bei Rostock ihre zweite Heimat. Die Rostocker Heide war dann auch der Ort, an dem sie die Idee zu ihrer ersten Geschichte hatte. Seit mehreren Jahren liegt ihr Schwerpunkt auf komischen Krimis mit regionalem Bezug.

Wiebke Salzmann ist selbstständige Lektorin für Physik und Mathematik. Ihre Freizeit verbringt sie mit der Ortschronik von Mönchhagen und als Schriftwartin und Öffentlichkeitsarbeiterin der Freiwilligen Feuerwehr Mönchhagen. Wenn sie tatsächlich mal nichts schreibt, findet man sie im Garten oder auf dem Fahrrad irgendwo zwischen den umliegenden Dörfern.

Mord in Moordevitz

Wiebke Salzmann

Text-Wirkerei

© 2022 Wiebke Salzmann, Mönchhagen

Lektorat: Yvonne Schlatter (spannungs-lektorat.de)

Coverdesign: © 2022 Wiebke Salzmann

Satz & Layout: Wiebke Salzmann

Verlagslabel: Text-Wirkerei (text-wirkerei.de)

ISBN E-Book: 978-3-347-55372-9

Weitere Ausgaben:

ISBN Softcover: 978-3-347-55371-2

ISBN Hardcover: 978-3-347-56640-8

ISBN Großschrift: 978-3-347-55373-6

1. Auflage 2022

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Sämtliche Personen und Orte in diesem Buch sind frei erfunden und Ähnlichkeiten zu existierenden Personen und Orten zufällig und nicht beabsichtigt. Dies gilt auch für die Illustrationen: Abbildungen von Orten und Dingen haben lediglich Schmuckfunktion, die abgebildeten Orte und Dinge kommen nicht selbst in der Geschichte vor.

Inhalt

1

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Landkarte

Hintergrundwissen

Glossar

Danksagungen

Zum Weiterlesen

1

„So, Leute, jetzt raus hier! Die Einwohnerversammlung ist beendet und der Gemeindesaal ist keine Kneipe!“

Bürgermeister Carsten Brandt scheuchte die Moordevitzer aus dem Saal. Katharina Lütten schob ihren Stuhl zurück, stand auf und folgte der nach draußen strömenden Menge. Mit einhundertsechsundneunzig Teilnehmern war immerhin ein Viertel der Dorfeinwohner zur Versammlung erschienen.

Im Ausgang prallte sie gegen Kevin Hansen, der mitten in der Tür stehen geblieben war und Brandt mit finsteren Blicken musterte. „’ne Kneipe haben wir schon seit Jahren nicht mehr“, murrte er. „Wo sollen wir denn hin, um was zu beschnacken? Und wenn die das so umsetzen, wie angedroht, gibt es hier bald gar nichts mehr!“

„Ja, nun komm, da kann Carsten auch nichts für.“ Katharina schob sich neben Kevin, den sie mit ihren ein Meter fünfundachtzig locker um fünf Zentimeter überragte, und zog ihn am Arm durch die Tür. Nach dem dämmrigen Licht im Saal ließ das Sonnenlicht sie blinzeln.

Neben Kevin erschien Katharinas junge Kollegin Levke Sörensen. „Lass uns nach hinten auf den Grillplatz gehen, da sind noch ein paar andere hängen geblieben“, schlug sie vor und zog an Kevins anderem Arm.

Auf der Rückseite des weiß gestrichenen Flachbaus, in dem Bürgermeisterbüro und Gemeindesaal untergebracht waren, erstreckte sich eine zum Bodden sanft abfallende Rasenfläche, von diesem durch einen Schilfgürtel getrennt. Ein dumpf hallender Ton zeugte von einer Rohrdommel, versteckt zwischen den Halmen. Hinter dem Schilf lag das Wasser des Doodewischer Boddens in der Abendsonne. Zwei windschiefe Fußballtore standen sich weiter unten auf dem Rasen gegenüber, in der Nähe des Gemeindegebäudes befand sich ein überdachter Grillplatz mit einer Handvoll feststehender Bänke, die sich um einen massiven Holztisch gruppierten. Irgendjemand hatte eine Kiste Bier auf diesen Tisch gestellt, was Kevins Laune etwas hob. Er zog eine Flasche aus dem Kasten und prompt hielt ihm der lange Meier den Spendenhelm der Freiwilligen Feuerwehr Moordevitz vors Gesicht. Womit dann klar war, wer den Kasten organisiert hatte und woher. Nach Kevin steckte auch Katharina ihren Obolus für ihr Bier in den Schlitz im Helm und setzte sich neben den langen Meier auf die Holzbank.

„Ich bin mir da gar nicht so sicher.“ Levke erntete verwirrte Blicke, als sie das Gespräch mit Kevin da wieder aufnahm, wo es abgebrochen war. „Dass es hier bald nichts mehr gibt, mein ich. Die wollen hier doch bauen“, fügte sie erklärend hinzu.

„Dor büst ja man ’n büschen blauäugig, mien Diern.“ Der lange Meier schob das ausgeblichene Base-Cap mit dem Aufdruck „Freiwillige Feuerwehr Moordevitz“ auf seinen graumelierten, in alle Himmelsrichtungen strebenden Haaren zurecht, weil ihn die tief stehende Sonne blendete. „Hest nich tauhürt?“

„Klar hab ich zugehört. Die wollen Hotels bauen. Hotels bedeuten Arbeitsplätze. Arbeitsplätze bedeuten mehr Einwohner. Mehr Einwohner bedeuten dann auch, dass sich ein Supermarkt oder eine Kneipe hier wieder lohnen.“

Katharina nahm die Haarspange aus dem Mund und bändigte ihre rote Mähne neu. „Wenn du dich da man nicht irrst. Wenn ich das schon höre – ein Quantensprung an Mehrwert für die Gegend. Dumm Tüüch.“ Dann stützte sie den Kopf auf die eine Hand, während sie mit der anderen am Etikett der Flasche herumknibbelte. „Erst mal bedeuten die Hotels, dass die uns den Strand und die Badestellen sperren. So wie das in Drögenhagen passiert ist, mit dem Nobelhotel.“

„Den Strand sperren? Das können die nicht, der gehört doch allen!“, protestierte Levke, ihr blonder Pferdeschwanz wippte empört.

„Glaub mir, die können“, stellte Katharina fest.

„Die können noch ganz andere Sachen“, rief Kevin. „Warum wohnt Katharina denn plötzlich ganz allein in ihrem Haus! Weil die alle anderen vergrault haben!“

„Es ist nicht mein Haus, das ist ja das Problem.“ Katharina seufzte. „Der Vermieter hat mir auch schon Angebote gemacht, damit ich ausziehe. Er möchte den alten Kasten und vor allem das Land nur zu gern an Golfotel verkaufen. Aber wohin soll ich denn um alles in der Welt? In Moordevitz gibt es gar nichts, in Musing-Dotenow nichts Bezahlbares und Spökenitz ist mir zu weit zum Pendeln.“

„Moment mal, ihr wollt doch nicht behaupten, dass die meine Großtanten rausgeekelt haben, mit so Mafiamethoden!“ Levke blies sich eine unbotmäßige blonde Strähne aus der Stirn.

„Nee.“ Katharina schüttelte den Kopf, woraufhin sich die Spange wieder löste und die Mähne ihr ins Gesicht fiel. Achselzuckend steckte sie die Spange in die Tasche ihrer Jeans. „Das haben sie natürlich nicht getan. Der Vermieter hat den drei alten Damen im Gegenteil eine ordentliche Entschädigung gezahlt. Die er mit Sicherheit auf den Kaufpreis für Haus und Grundstück wieder draufschlägt.“

„Eben. Und da die drei schon länger mit der Villa in Mu-Dot geliebäugelt haben, kam denen das Extra-Geld gar nicht so ungelegen. Mit der Tanten-WG läuft es auch ganz gut, ich war neulich zum monatlichen Großnichten-Kaffee eingeladen. Die hätten für dich bestimmt auch noch ein Zimmer.“

„Ich bin noch nicht mal fünfunddreißig, ich will nicht in eine Großtanten-WG. Außerdem müsste ich Isolde dreimal wöchentlich verhaften wegen ihrer Hanfkekse.“ Katharina grinste. „Nee, ich bleib in der Barkenstraße. Bis mein Vermieter mit einem Angebot um die Ecke kommt, für dass es sich lohnt, auszuziehen und ein paar Monate in der Graadewitzer Heide zu campen.“

Eine Weile herrschte Schweigen. Levke zog ihr Handy hervor und begann zu tippen, zu wischen und zu zoomen.

Katharina warf einen Blick auf ihr Display. „Was hast du denn da Spannendes? Die Pläne von Golfotel? Wie hast du denn das geschafft, dass die dich das Foto von ihren Plänen haben machen lassen?“

Levke zuckte grinsend die Schultern. „Manchmal hat es auch Vorteile, zu den Uniformierten zu gehören, Frau Hauptkommissarin! Die haben sich nicht getraut, mir das zu verbieten.“ Sie klopfte auf ihre Polizeimütze, die neben ihr auf der Bank lag, und kicherte.

Katharina lachte. „Ich muss schon sagen, Frau Polizeimeisterin! Und mir mit treuem Augenaufschlag erzählen, du hättest nur keine Zeit gehabt, dich umzuziehen!“

„Ich glaub, du hast recht, Meier. Ich bin wirklich zu blauäugig.“ Stirnrunzelnd schob Levke das Foto des Lageplans auf ihrem Handy hin und her, zoomte rein und raus. „Wenn die das alles kaufen und dann absperren, das ganze Land …“

„Levke, die heißen Golfotel, weil die Golf-Hotels bauen. Und da gehören nun mal Golfplätze zu“, erklärte Katharina. „Und sie werden kaum dulden, dass du mit deinem Fahrrad über den englischen Rasen hoppelst oder der kurze Meier seine Jack-Russell-Terrier da ausführt.“

„Un dat dat egentlich Naturschutzgebiet warden sall – dat intressiert hier keinein?“ Der lange Meier sah in die Runde.

„Naturschutzgebiet?“, fragte Katharina. „Das wäre auf jeden Fall besser als Golfrasen. Aber der Wald sieht da doch auch nicht anders aus als anderswo. Und die Wiesen – du lieber Himmel, Wiesen gibt es ja wohl genug hier.“

„Aber keine, auf denen das fleischfarbene Knabenkraut wächst.“ Eine etwa sechzigjährige Frau mit grauem Kurzhaarschnitt und praktischer Bluse über grauer Jeans war an den Tisch getreten. „Und bevor Sie fragen, Frau Lütten, das fleischfarbene Knabenkraut steht auf der Roten Liste in Kategorie 2, das heißt, es ist stark gefährdet. Und deswegen wäre es in der Tat nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, die Feuchtwiesen unter Schutz zu stellen. Statt dort reiche Schnösel Golf spielen zu lassen. Danke, Meier, aber ich trinke Bier nur aus dem Glas.“

Der lange Meier pulte einen Plastikbecher aus der Verpackung und stellte ihn vor die Frau. Die zog leicht die Brauen hoch, akzeptierte den Becher jedoch als hinreichende Notlösung und goss sich ein Bier ein.

„Na, Frau Böhmer“, meldete sich Kevin wieder zu Wort, „das klang ja alles superschlau, aber Ihnen müsste das doch ganz gelegen kommen, dass die hier alles aufkaufen wollen. Jetzt, wo die Bank Ihnen kein Geld mehr gibt und Sie das Schloss nicht halten können.“

„Es beruhigt mich zu wissen, dass ganz Moordevitz offenbar über meine finanziellen Verhältnisse Bescheid weiß, Herr Hansen. Aber ich habe ganz sicher nicht vor, Golfotel Schloss Moordevitz in den Rachen zu werfen. Auch nicht, wenn es dann hier fünf Kaufhallen geben sollte.“

Levke scrollte und zoomte schon wieder auf ihrem Handybildschirm herum. „Aber – aber wenn Sie denen das Schloss nicht verkaufen, dann haben die eine Riesenlücke in ihrem Bauland. Das wird denen nicht gefallen.“

„Wo steht, dass es mich interessieren muss, was denen gefällt?“ Frau Böhmer zog die Brauen hoch.

„Die Bank gibt Ihnen für den Ausbau kein Geld mehr?“ Katharina sah Frau Böhmer stirnrunzelnd an. „Die Bank in Musing-Dotenow?“

„Ich glaube nicht, dass es Sie etwas angeht …“

„Heißt das, die stecken mit Golfotel unter einer Decke? Indem sie Leute wie Sie ausbremsen und zum Verkauf zwingen?“, fuhr Katharina fort, ohne sich um den Einwand zu kümmern.

Frau Böhmer sah einen Moment nachdenklich über den Platz. „Bislang dachte ich, das sei eine rein wirtschaftliche Entscheidung der Bank gewesen. Aber was Sie da sagen, klingt nicht unlogisch. Geschäfte mit einem Unternehmen wie Golfotel sind sicher wirtschaftlicher als welche mit einer Privatperson. Ich sollte mich wohl mal mit einem der Verantwortlichen der Bank unterhalten.“

„Prost, Hertha! Dat krichst du fardig un lääst de Bœwersten von dei Bank de Leviten!“ Der lange Meier hob seine Flasche.

Verständnislos sah Hertha Böhmer ihn an. „Ja, warum denn nicht?“

„Weil Sie die Verantwortlichen überhaupt nicht zu fassen kriegen, Frau Böhmer!“ Kevin Hansen klammerte sich an der Tischplatte fest, er war schon beim vierten Bier angekommen und benötigte eine Stehhilfe. Levke zog ihn auf die Bank herunter.

„Die sitzen trocken in Niedersachsen und fressen unser Geld auf!“, fuhr Hansen wutentbrannt fort. „Die kommen doch nicht her und gucken sich wenigstens mal an, was sie uns hier wegnehmen!“

„Also eigentlich nehmen die nicht unser Geld, sondern wollen uns ihres geben für unser …“, begann Katharina, aber Kevin Hansen hörte gar nicht zu. „An die kommst nicht ran! Aber wenn ich an die ran käme, dann würde ich mir einen Knüppel …“

„Schluss!“, fuhr Katharina auf. „Niemand wird hier irgendwas mit Knüppeln! Und du gehst jetzt nach Hause und ins Bett!“

„Du bist nicht im Dien…“

„Ich bin immer im Dienst!“ Katharina zerrte Kevin von der Bank hoch und gemeinsam mit Levke und dem langen Meier bugsierte sie ihn über den Platz und die Dorfstraße zu seinem Haus.

Frau Böhmer sah ihnen nach, war aber offensichtlich in ihre eigenen Gedanken versunken.

2

„Sie möchten zu Frau von Musing-Dotenow zu Moordevitz? Und wen darf ich melden?“ Die junge Frau hinter dem Empfangstresen der Seniorenresidenz Abendglück lächelte ihr professionelles Lächeln.

„Hertha Böhmer aus Moordevitz.“

„Ach, Frau Böhmer von Moordevitz! Eine Verwandte, nehme ich an? Da wird sich die Freifrau aber freuen. Appartment 521, am besten nehmen Sie den Fahrstuhl, soll ich Sie hinführen?“

„Nein danke, das schaffe ich schon noch.“

Fünf Minuten später trat Hertha Böhmer im obersten Stockwerk aus dem Fahrstuhl und genoss erst einmal die Aussicht über die niedersächsische Feld- und Wiesenlandschaft, die kleinteiliger war als die in Mecklenburg-Vorpommern. Hier oben gab es nur zwei Appartements, sodass Hertha die richtige Tür bald gefunden hatte. Auf ihr Klopfen erklang ein „Herein“, das zwar nicht laut, aber klar und deutlich war. Hertha betrat die kleine Wohnung und stand in einem kurzen Flur, der zur Wohnstube hin offen war. Sie ging die wenigen Schritte bis zum Wohnzimmer und sah sich einer zierlichen alten Dame im Rollstuhl gegenüber. Die weißen Haare hatte sie zu einem Knoten am Hinterkopf frisiert, zum dunkelblauen Kleid trug sie dezenten Goldschmuck. Der Schnitt des Kleides war schlicht, aber diesen speziellen Schimmer hatte nur Seide. Dass Hertha selbst robustere Materialien bevorzugte, hieß nicht, dass sie einen edlen Stoff nicht erkannte, wenn sie ihn sah.

Die alte Dame lächelte Hertha freundlich an, dann öffnete sich ihr Mund. Nach einem Augenblick der Überraschung rief sie: „Nein, Hertha! Das gibt es nicht! Wie schön …“ Sie stutzte, schloss kurz die Augen, schüttelte den Kopf und sah sie entschuldigend an. „Sie müssen mir verzeihen, ich habe Sie verwechselt. Mit jemandem, der schon lange, lange tot ist. Oje, jetzt halten Sie mich für eine alte, senile Person. Aber bitte, nehmen Sie Platz.“

Hertha hielt die siebenundachtzigjährige Freifrau zwar für alt, aber nicht für senil. Sie setzte sich in einen Ohrensessel, über dem ein altes Foto eines Schlosses hing. Die Aufnahme war etwa hundert Jahre alt, wie Hertha wusste. Sie hatte das gleiche Foto. „Oh, bitte, das macht überhaupt nichts. Und ich vermute, Sie verwechseln mich mit meiner Großtante. Den Frauen in meiner Familie wird eine große Familienähnlichkeit nachgesagt.“

„Ihre Großtante war Hertha Böhmer? Dann ist es kein Zufall, dass Sie ebenfalls so heißen?“

Hertha schüttelte den Kopf. „Nein, das ist kein Zufall. Meine Tante hieß ebenfalls so. Und da sie selbst nie geheiratet hat und keine Familie gründete, wurde es meine Rolle, die Familientradition der Herthas fortzusetzen.“

„Und Sie kommen jetzt direkt aus Moordevitz? Sie leben noch dort? Sie müssen mir alles über den Ort erzählen! Mein Besuch dort ist über dreißig Jahre her. Aber wie unhöflich von mir. Sie haben sicher einen anderen Grund, mich aufzusuchen. Was führt Sie zu mir?“

„Ich habe ein Schloss zu verkaufen.“

3

Katharina war schlagartig wach, jemand hatte ihr auf die Nase getippt. Nach Waffe und Taschenlampe greifen und die Lampe anschalten, war eine Bewegung. Sie streckte ihre Dienstpistole vor sich und blinzelte in das Licht. Pistole und Lichtkegel zielten auf das Regal gegenüber ihrem Bett, genauer gesagt, auf den Stapel Jeans im zweitobersten Regalfach. Hastig sah Katharina nach rechts und links. Zögernd ließ sie die Waffe sinken. Hier war niemand außer ihr. Hatte sie neuerdings so lebhafte Träume? Dann sollte sie die Waffe doch besser jedes Mal vorschriftsmäßig wegschließen, sonst erschoss sie im Traum noch mal ihren Lieblingspulli. Sie wollte sich aufraffen, um die Waffe dahin zu bringen, wo sie eigentlich hingehörte, da tippte etwas von oben auf ihren Kopf. Und lief ihr dann kalt den Nacken hinunter. Jetzt bemerkte sie den Fleck auf ihrer Bettdecke. Einen nassen Fleck von mehr als zwanzig Zentimeter Ausdehnung, in den zwei weitere Tropfen platschten. Und noch einer. Langsam wandte sie den Blick zur Zimmerdecke. Und bereute das sofort, denn der nächste Tropfen fiel ihr ins Auge. Fluchend wühlte sie sich aus der Bettdecke und sprang aus dem Bett. Und fluchte wieder, denn auch der Teppich war klitschnass. Von den paar Tropfen? Katharina sah sich um und bemerkte die dunklen Stellen auf der Tapete. Die Wand war nass, das Wasser rann die Mauer hinab, tränkte den Teppich und floss dann unter der Tür hindurch in den Flur. Sie tappte über den nassen Läufer, riss die Schlafzimmertür auf, griff nach dem Lichtschalter und überlegte es sich im letzten Augenblick anders. Wenn derart viel Wasser von oben in ihre Wohnung strömte, waren möglicherweise die Stromleitungen betroffen. Also weiter mit Taschenlampe. Sie folgte dem rinnenden Wasser in den Hausflur, wo es sich mit dem Wasser vereinigte, was von oben die Holztreppe herunterplätscherte. Sie war die einzige übrig gebliebene Mieterin in dem Vierparteienhaus, in den anderen Wohnungen zu klingeln, konnte sie sich daher sparen. Was tun? Hauptwasserhahn! Sie musste den Hauptwasserhahn zudrehen. Okay, erst einmal musste sie ihn finden. Hauptwasserhähne waren im Allgemeinen im Keller. So schnell wie auf den nassen Stufen möglich, hastete Katharina barfuß nach unten, rutschte in der Nässe aus und griff hastig nach dem hölzernen Geländer. Es wackelte bedrohlich, was allerdings nichts mit dem Wasser zu tun hatte. Es wackelte, seit Katharina hier eingezogen war. Sie fluchte leise, als sie die Kellertreppe erreichte, denn deren Steinstufen waren deutlich kälter als die Holzstufen. Sie bückte sich und wanderte suchend durch den niedrigen Gang, dessen Ziegelwände schon ohne Wasserschaden feucht rochen. Neben Katharinas eigenem Verschlag lagen die drei anderen, die grob gezimmerten Holztüren standen alle offen. Sie tappte weiter durch das Wasser und leuchtete jeden Raum ab, aber keiner der Abstellräume enthielt den Hauptwasserhahn. Wo war das verdammte Ding? Sie hörte schon ihren Bruder, wie der sich aufregte, dass man so etwas zu wissen hatte!

Schließlich stand sie vor einer Lattentür, die als einzige verschlossen war. Mit einem nagelneuen, glänzenden Vorhängeschloss. Katharina leuchtete zwischen den Brettern hindurch in den Raum hinein. Tatsächlich. Da war der Haupthahn. Sie rüttelte an den Latten, aber die rührten und regten sich nicht. Der Riegel war von innen befestigt, sie konnte ihn nicht abschrauben, um das Schloss zu umgehen. Das durfte doch jetzt nicht wahr sein! Fluchend patschte sie wieder nach oben in ihre Wohnung, griff sich ihr Handy und rief den langen Meier an.

„Meier, das ist ein Einsatz! Ich brauch euer Hooligan-Dings! Und zwar schnell!“

„Einsatz? Denn möötst 112 anropen.“

„Meier! Hier steht alles unter Wasser und ich komm nicht an den Haupthahn! Also schwingt euch in Gummistiefel und auf den Barkas und kommt her!“

Eine Viertelstunde später stand der lange Meier mit einer Brechstange im Keller, knöcheltief im Wasser, und hebelte die Brettertür auf, während die übrigen Feuerwehrleute die Pumpe aufbauten. Kaum war die Tür offen, stürzte Katharina hindurch und drehte den Hahn zu.

„Dat Dings heit uterdem Halligan-Tool.“

Aber Katharina hatte gerade keinen Sinn für feuerwehrtechnische Fachbegriffe zum Thema Brecheisen. Fassungslos stand sie vor ihrem Kellerverschlag. Sie hatte Küche und Wohnzimmer neu streichen wollen und deshalb ihre Möbel und ihr Zeug in den Keller geschafft.

„Oh Schiet.“ Der lange Meier trat neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Allens hin.“

Wortlos drehte Katharina sich um und rannte die Treppe hinauf.

„Wur wist denn hin?“ Der lange Meier lief ihr hinterher. „In dien vier Wänn kannst nich bliewen hüt Nacht!“

Katharina lief an ihrer Wohnungstür im ersten Stock vorbei, weiter nach oben und stieß die Tür zum Dachboden auf. Der lange Meier folgte ihr in den Bodenraum.

„Hier kommt das Wasser her.“ Katharina deutete auf die Rohre, die unter der Decke entlangliefen. „Genau hier.“ Ein Riss klaffte in dem Rohr. Sie leuchtete mit der Taschenlampe hinauf.

„Dat is nich bråken“, stellte der lange Meier fest. „Dat hett en dörchsågt.“

4

„Rein mit euch!“ Johanna scheuchte David und Goliath in den gelb-weißen 70er-Jahre-VW-Bus und schloss die Seitentür. Hinter ihr erklang das Geräusch eines gequälten Motors. Lächelnd drehte sie sich um. Frau Weber würde nie lernen, rechtzeitig hochzuschalten.

Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich geräuschlos, der rote Kleinwagen tauchte zwischen den steinernen Löwen auf, kroch die weiß gepflasterte Auffahrt herauf und steuerte auf den in Kugelform geschnittenen Buchsbaum zu. Johanna legte in banger Erwartung die Hände vors Gesicht. Sie mochte die in Form gezwungenen Bäume nicht sonderlich (die zusammen mit den gruselig kitschigen Steinlöwen der ganze Stolz ihres Onkels waren), aber von Frau Weber umgefahren zu werden, hatten sie trotzdem nicht verdient. Wie immer schaffte Frau Weber es, gerade noch rechtzeitig anzuhalten. Elegant wie gewohnt stieg sie aus ihrem Kleinwagen und griff sich eine Schachtel vom Beifahrersitz. Mit der anderen Hand ordnete sie ihre trotz der über fünfzig Jahre immer noch strahlend blonde (wenn auch nicht mehr naturblonde) Frisur.

„Hier, Hannilein, ich habe dir was gebacken. Für unterwegs.“ Sie drückte Johanna die Schachtel in die Hand.

„Dein legendärer Rhabarberkuchen?“

„Na ja, ich dachte, da du doch so weit weg fährst, ob du so etwas da drüben auch bekommst?“

Johanna legte die Schachtel auf den Beifahrersitz im Bus. Dann umarmte sie Frau Weber. „Ach, Tante Weber! Wie lieb! Aber bis nach Mecklenburg-Vorpommern sind es nur dreihundertfünfzig Kilometer, es steht nicht zu befürchten, dass die Grenze zu Niedersachsen wieder geschlossen wird und – doch – ich glaube, in der DDR hat es auch Rhabarber gegeben. Und wenn nicht, haben sie ihn in den dreißig Jahren seit der Wende bestimmt eingeführt.“

Frau Weber befreite sich aus der Umarmung und gab Johanna einen Knuff. „Nimm mich nicht auf den Arm. Es ist weit weg und du bist ganz allein da. Und du willst für immer da bleiben!“

„Naja, ‚für immer‘ ist ganz schön lang, aber die nächsten Jahre bestimmt.“ Mit fast fünfunddreißig fand Johanna es an der Zeit, endlich aus der elterlichen Villa auszuziehen. Auch wenn sie dort eine separate Wohnung besaß. Die Chance, in der Musing-Dotenower Filiale der kleinen, aber feinen Familienbank eine Stelle antreten zu können, kam ihr deshalb sehr gelegen.

„Wenn du Hilfe brauchst, Hannilein, rufst du einfach an, ja? Wobei …“ Frau Weber kramte in ihrer Handtasche und zog einen Zettel hervor. „Wenn du in Moordevitz bist, kannst du dich vielleicht nach diesem Herrn Burmester erkundigen? Er hat in der hiesigen Filiale einen Kredit bewilligt bekommen, obwohl seine Auskünfte zu seinen finanziellen Umständen nicht befriedigend sind. Ganz und gar nicht befriedigend.“

„Echt? Unsere kleine, aber feine Familien-Bank hat einen Kunden in Moordevitz? In dem Dörfchen gibt es also immerhin Unternehmen.“

„Das ist es ja. Es scheint ein Privatkunde zu sein, die wir nur in absoluten Ausnahmefällen betreuen. In Ausnahmefällen mit entsprechendem Vermögen. Und dieser Herr Burmester hat nicht nur kein entsprechendes Vermögen, sondern auch äußerst unzureichende Sicherheiten. Ich konnte bislang aber auch nicht herausbekommen, wer den Kredit eigentlich genehmigt hat. Das ist alles sehr seltsam.“

Ein älterer Mann in anthrazitfarbenem Jackett und Kaschmirpullover tauchte von der Seite in Johannas Blickfeld auf. Mit den Worten „Ja, Frau Growe, wir werden zeitnah ein Meeting ansetzen. Wenn Sie schon mal die Teilnehmer briefen würden. Auf Wiederhören“ beendete er ein Telefonat und wandte sich Frau Weber zu. „Aber meine liebe Frau Weber, Sie werden doch Johanna nicht mit geschäftlichen Dingen belasten. Sie soll in Moordevitz und Musing-Dotenow Fuß fassen und das Vertrauen der Menschen gewinnen. Das kann sie doch nicht, wenn sie gleich mit Erkundigungen über die Leute anfängt. Nein, das lassen wir mal schön bleiben!“ Er hob die Hand, als wollte er den Zettel an sich nehmen, aber Johanna hatte ihn schon in die Hosentasche geschoben. Das Handy des Herrn klingelte wieder. Er warf Johanna einen entschuldigenden Blick zu, den diese lächelnd erwiderte. Ihr Onkel Horst war als Geschäftsführer der Familienbank ein vielbeschäftigter Mann. Gemeinsame Abendessen ohne störenden Anruf kamen praktisch nicht vor.

„Ja, da bin ich ganz bei Ihnen, wenn wir im Vorfeld unsere Corporate Social Responsibility kommunizieren, dass es hier um Nachhaltigkeit … Nein, ich möchte nicht, dass Sie …“ Onkel Horsts Brauen zogen sich zusammen. Er wandte sich ab und entfernte sich ein paar Schritte. „Herrgott, dann sagen Sie einfach gar nichts, wenn Sie nicht wissen, was Sie sagen sollen, Herr Klein… Wie? Auf gar keinen Fall! Sie tun, was ich anordne. Noch habe ich hier das Sagen.“

Johanna verdrehte innerlich die Augen. Auch wenn sie selbst in Onkel Horst immer einen liebevollen Vormund gehabt hatte, mit seinen Mitarbeitern könnte er mitunter etwas netter umspringen. Kritik vertrug er manchmal erstaunlich schlecht. Horst steckte sein Handy in die Jackentasche und kam zurück zu Johanna und Frau Weber.

Frau Weber sah Horst missbilligend an. „Sie wissen, Herr von Musing-Dotenow, was ich von Ihrer Idee halte, das Kind so weit weg zu schicken. Und gleich mit so viel Verantwortung!“

„Meine liebe Frau Weber, ich schätze Ihre Arbeit als Assistentin außerordentlich. Aber geschäftliche Entscheidungen überlassen Sie bitte mir. Die Filiale in Musing-Dotenow ist bestens geeignet, um sich auf eine Führungsposition vorzubereiten. Wozu unsere Johanna im Übrigen hervorragend qualifiziert ist. Ihre Performance war bislang exzellent – am Standort Moordevitz wird dies nicht anders sein.“

Frau Weber sah aus, als könne sie nur mit Mühe ein zorniges Schnauben unterdrücken.

„Das schaffe ich schon, Tante Weber!“, schaltete Johanna sich ein, um Horst zu hindern, in seinem Monolog fortzufahren. Sie hatten das alles mehrfach diskutiert. Immerhin würde ihr in wenigen Wochen die Familienbank gehören, da wurde es Zeit, dass sie mehr Verantwortung übernahm. „Außerdem kann ich Onkel Horst jederzeit fragen, wenn ich nicht weiter weiß.“

„Natürlich kannst du das. Und nun musst du dich langsam mal auf den Weg machen.“ Onkel Horst zog Johanna in seine Arme. „Fahr vorsichtig! Deine Großmutter hat dich da wirklich auf eine verrückte Idee gebracht. Aber wenn du Erfolg hast, ist das für uns alle nur positiv. Und wie gesagt – wenn es irgendwo Probleme gibt, ich bin immer für dich da!“

„Das weiß ich doch, Onkel Horst. Aber alles nacheinander. Erst mal sehe ich mir das Schloss an. Und prüfe, ob man das überhaupt wieder in Schuss bringen kann. Es wird schon seine Gründe haben, dass die Besitzerin es für den berühmten Appel und ein Ei loswerden will. Und dann arbeite ich mich in der Musinger-Dotenower Filiale ein. Aber jetzt geht es erst mal los!“

Johanna band die schulterlangen dunkelbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, dann umarmte sie Frau Weber und ihren Onkel noch einmal. Dabei fiel ihr Blick auf die Villa, die im Sonnenlicht weiß strahlte, wie frisch geputzt. Für fast dreieinhalb Jahrzehnte war sie ihr Zuhause gewesen. An den Rändern des Gebäudes hatte irgendein Vorbesitzer je einen Turm anbringen lassen. Der linke überragte das Hauptgebäude um ein Stockwerk, während dem rechten Turm dieses oberste Geschoss fehlte. Stattdessen saß dort ein Ziegeldach, das nicht ganz die gleichen Ziegel trug wie die anderen Dächer.

Beim Anblick des Turmdaches verloren Johannas Mundwinkel das Lächeln. Sie zwang sie wieder nach oben.

„Ja, es geht los. Weg von … hinein ins Abenteuer!“

5

Gelb. Ein unglaubliches Gelb erstreckte sich beidseits der Straße, wölbte sich über Hügel und Senken, hier und da unterbrochen durch Baumreihen oder Hecken. Auf der rechten Seite erhob sich eine Schar Windräder in den perfekt blauen Himmel. Natürlich kannte Johanna Rapsfelder aus ihrer niedersächsischen Heimat, aber dort waren die Schläge kleiner. Hier in Mecklenburg-Vorpommern erstreckten sich die Felder gefühlt bis an den Horizont. Die Luft war klar, es musste gestern geregnet haben, einige letzte Pfützen standen auf der Straße. Sie hatte das Fenster auf der Beifahrerseite halb offen, der Fahrtwind trug den Duft nach Raps und frisch gemähtem Gras ins Wageninnere und vervollständigte so den Eindruck einer absoluten Postkarten-Idylle.

Sie ließ die Schultern kreisen – langsam merkte sie die Stunden am Steuer. Der geerbte Kleinbus hatte mit seinen aufgeklebten Hippie-Blumen einen gewissen Charme, aber mehr als neunzig Kilometer pro Stunde schaffte er nicht mehr. Jetzt noch eine Pause zu machen, lohnte sich aber auch nicht. Die Landstraße tauchte in den Wald der Graadewitzer Heide ein und nach einigen Kilometern erreichte Johanna Musing-Dotenow. Sie durchquerte die Kleinstadt und verließ sie durch das östliche Stadttor wieder. Eine lockere Reihe weiß- und rosa blühender Weißdornbüsche säumte die schmale Straße auf beiden Seiten. Zwischen ihnen war der Blick frei über Wiesen und Weiden. Links sah Johanna in der Ferne das Wasser des Boddens, rechts erhoben sich hinter den Wiesen die Ausläufer des Waldes.

Ihre Navi-App behauptete, das Ziel sei nur noch fünf Kilometer entfernt. Am Anfang war Johanna etwas nervös gewesen, weil praktisch kein Platz zum Ausweichen bei Gegenverkehr vorhanden war – aber es gab keinen Gegenverkehr. Es gab überhaupt keinen Verkehr.

Vor ihr tauchte in einigen hundert Metern Entfernung rechts der Straße eine Ansammlung großer Bäume auf. Die Kronen der Buchen, Platanen, Eichen, Kastanien und Ahornbäume schimmerten in den unterschiedlichsten Grüntönen und in dunklem Rot. Das sah eher nach einem Park als einem Wald aus. Und, richtig, bald fuhr sie an einem hölzernen Wegweiser vorbei, von dem noch der Teil erhalten war, auf dem „Schloss Moord“ stand.

Johanna bremste und setzte zurück, bis sie den Wegweiser-Stummel im Blick hatte. Zweifelnd musterte sie den nach rechts führenden Feldweg, der aussah, als wäre hier ein Wettbewerb im Buddeln von Schlaglöchern ausgetragen worden. In etlichen stand noch Regenwasser. Auf dem Boden neben dem Pfosten lag der andere Teil des Schildes, auf dem „evitz“ zu lesen war. Die Dächer des Dorfes sah sie wenige Kilometer entfernt vor sich, die Straße führte direkt darauf zu. Aber ihr Ziel war das Schloss, also bog Johanna ab und holperte den Weg entlang. Das Geruckel weckte ihre beiden Mitfahrer. Goliath bellte, David gab ein kurzes Wuff von sich.