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Humorvoll und spannend spielt dieser Regio-Krimi aus M-V auf zwei Zeitebenen - Gegenwart und 19. Jh. Der Neffe von Hauptkommissarin Katharina Lütten stößt nach einem Sturmhochwasser am Strand auf freigespülte Knochen und ein Medaillon mit dem Wappen derer von Musing-Dotenows, der Familie von Katharinas Freundin Johanna. Johannas Cousine Ilka verschwindet und wird tot in der Ostsee aufgefunden. Der unheimliche Nachbar von gegenüber benimmt sich merkwürdig – ist er der Mörder? Dann verschwindet Johannas Großmutter und Johanna gerät in Lebensgefahr. Hat Katharina es mit zwei Fällen zu tun? Oder doch nur mit einem? Die Lösung liegt in der Vergangenheit – Johanna und Katharina stellen überrascht fest, dass ihre Familiengeschichten sich im 19. Jahrhundert schon einmal gekreuzt haben. Was geschah wirklich mit Ludwig Lüttin und Hedwig von Musing-Dotenow in dem tobenden Unwetter am 13. November 1872, als Küstenstädte und Dörfer vom Ostseewasser verschlungen wurden?
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Seitenzahl: 353
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SturminMoordevitz
Über das Buch:
Der Neffe von Hauptkommissarin Katharina Lütten stößt nach einem Sturmhochwasser am Strand auf freigespülte Knochen und ein Medaillon mit dem Wappen derer von Musing-Dotenows, der Familie von Katharinas Freundin Johanna. Johannas Cousine Ilka verschwindet und wird tot in der Ostsee aufgefunden. Der unheimliche Nachbar von gegenüber benimmt sich merkwürdig – ist er der Mörder? Dann verschwindet Johannas Großmutter und Johanna gerät in Lebensgefahr. Hat Katharina es mit zwei Fällen zu tun? Oder doch nur mit einem?
Die Lösung liegt in der Vergangenheit – Johanna und Katharina stellen überrascht fest, dass ihre Familiengeschichten sich im 19. Jahrhundert schon einmal gekreuzt haben. Was geschah wirklich mit Ludwig Lüttin und Hedwig von Musing-Dotenow in dem tobenden Unwetter am 13. November 1872, als Küstenstädte und Dörfer vom Ostseewasser verschlungen wurden?
Über die Autorin:
1964 in Mönchengladbach geboren und aufgewachsen driftete Wiebke Salzmann immer weiter nach Osten: Nach einer Zwischenstation zum Studium der Physik in Braunschweig fand sie 1998 in Mönchhagen bei Rostock ihre zweite Heimat. Die Rostocker Heide war dann auch der Ort, an dem sie die Idee zu ihrer ersten Geschichte hatte. Seit mehreren Jahren liegt ihr Schwerpunkt auf komischen Krimis mit regionalem Bezug.
Wiebke Salzmann ist selbstständige Lektorin für Physik und Mathematik. Ihre Freizeit verbringt sie mit der Ortschronik von Mönchhagen und als Schriftwartin und Öffentlichkeitsarbeiterin der Freiwilligen Feuerwehr Mönchhagen. Wenn sie tatsächlich mal nichts schreibt, findet man sie im Garten oder auf dem Fahrrad irgendwo zwischen den umliegenden Dörfern.
Sturm in Moordevitz
Sturm in Moordevitz
Wiebke Salzmann
Text-Wirkerei
© 2023 Wiebke Salzmann, Mönchhagen
Lektorat: Yvonne Schlatter (spannungs-lektorat.de)
Coverdesign: © 2023 Wiebke Salzmann
Satz & Layout: Wiebke Salzmann
Illustriert von: Wiebke Salzmann (mit Ausnahme der Seiten 264, 286, 308, siehe dort)
Verlagslabel: Text-Wirkerei (text-wirkerei.de)
ISBN E-Book: 978-3-347-92251-8
Weitere Ausgaben:
ISBN Hardcover: 978-3-347-92250-1
ISBN Softcover: 978-3-347-92249-5
ISBN Großschrift: 978-3-347-92252-5
1. Auflage 2023
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Sämtliche Personen und Orte in diesem Buch sind frei erfunden und Ähnlichkeiten zu existierenden Personen und Orten zufällig und nicht beabsichtigt. Dies gilt auch für die Illustrationen: Abbildungen von Orten und Dingen haben lediglich Schmuckfunktion, die abgebildeten Orte und Dinge kommen nicht selbst in der Geschichte vor.
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
17. Juni 1872
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11. Juli 1872
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13. Sept. 1872
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1. Nov. 1872
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1. Nov. 1872
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2. Nov. 1872
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2. Nov. 1872
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4. Nov. 1872
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8. Nov. 1872
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9. Nov. 1872
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9. Nov. 1872
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10. Nov. 1872
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10. Nov. 1872
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12. Nov. 1872
Heute
12. Nov. 1872
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12. Nov. 1872
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12. Nov. 1872
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12. Nov. 1872
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13. Nov. 1872
Heute
13. Nov. 1872
Heute
21. Dez. 1872
Das Sturmhochwasser von 1872
Glossar
Danksagungen
Zum Weiterlesen
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
17. Juni 1872
Danksagungen
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17. Juni 1872
Stralsund, 17. Juni. Der Dampfer „Hertha“ geht von heute bis zum 17. August täglich (Sonntags ausgenommen) um 2 3/4 Uhr Nachmittags von hier nach Rügen ab.
Stralsundische Zeitung, Dienstag, den 18. Juni 1872
Das der Stadt Greifswald gehörige, im Greifswalder Kreise und im Levenhäger Kirchspiel belegene Gut Krauelshorst mit einem Gesammt‐Areal von 404 Morgen 158 Rth. Magdeb. oder 103 Hectar 37 Ar 43,8 Meter neuem Maaß soll von Trinitatis d. Js. ab auf die noch laufende Pachtzeit bis Trinitatis 1891 anderweitig zur Verpachtung aufgeboten werden und ist zu diesem Zwecke ein Termin auf den 6. Juni d. J., Morgens 10 Uhr, auf dem Rathhause angesetzt, wozu Pachtlustige hiermit eingeladen werden mit dem Bemerken, daß die Besichtigung des Guts nach vorgängiger Meldung bei dem jetzigen Pächter jederzeit freisteht und die Verpachtungs‐Bedingungen, sowie die Guts‐Karte und das Flur‐Register schon vor dem Termine in unserer Kanzlei eingesehen werden können.
Stralsundische Zeitung, Mittwoch, den 19. Juni 1872
„Es reicht nicht.“ Bauer Wilhelm Lüttin stützte den Kopf auf die Hände und starrte auf die Papiere, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Seine Frau Maria-Katharina und die beiden erwachsenen Söhne Ludwig und Ludger saßen vor ihm am Tisch. Der erst zwölfjährige Christian stellte die Teller für das Abendbrot vor die Familienmitglieder.
„Und was bedeutet das?“ Im Grunde wusste Maria, was das bedeutete. Nur die verzweifelte Hoffnung, ihr Mann hätte vielleicht doch eine Lösung, trieb sie zu der Frage.
Ludger hieb auf den Tisch. „Dass wir hier weg müssen! Dass wir jahrelang umsonst geschuftet haben für das reiche Freiherrn-Pack!“ Er sprang auf und lief kreuz und quer durch die Küche des Bauernhauses. „Man sollte die …“
„Halt den Mund!“ Maria wurde selten laut, auch jetzt nicht, aber wenn ihre Stimme diese Schärfe bekam, tat man gut daran, zu tun, was sie sagte.
Widerstrebend setzte Ludger sich wieder, lehnte sich zurück und schob die geballten Fäuste in die Hosentaschen.
„Wir müssen uns was überlegen. Wie wir das fehlende Erbstandsgeld aufbringen.“ Ludwig zog die Blätter zu sich herüber. Und zweifelte an seinen eigenen Worten. Der Betrag, der als Ablösesumme für den Hof aufgebracht werden musste, war einfach zu hoch. Auch dann, wenn er berücksichtigte, dass der Eiskeller im Eigentum des Freiherrn bleiben würde. Den Zugriff darauf würde er nicht hergeben wollen.
„Aber klar. Der Herr Bruder hat mal wieder einen Plan. Einen ach so vernünftigen Plan.“ Ludger starrte Ludwig zornig an.
„Dein Bruder macht sich immerhin Gedanken über uns und den Hof!“, fuhr Bauer Wilhelm seinen zweitältesten Sohn an. „Während du dich heute schon wieder den ganzen Tag bei diesem Fischer rumgetrieben hast, statt hier zu helfen! Aber damit ist ja wohl bald Schluss, wie man hört.“
„So? Was hört man denn?“, zischte Ludger seinen Vater an.
„Dass Hinrich Meier seine Jolle bald verliert. Weil ihm die Schulden über den Kopf wachsen. Dann können er und seine Frau bald Sand tragen. Oder willst du ihnen dabei etwa auch noch helfen?“
Ludger öffnete den Mund, schloss ihn unter dem durchbohrenden Blick seines Vaters aber wieder.
„Nun, Ludwig“, wandte Wilhelm sich wieder an seinen Ältesten. „Du hast einen Plan?“
„Nein“, Ludwig seufzte, „habe ich nicht. Aber ich weiß, dass der Freiherr Arbeiter sucht. Wenn ich dort …“
„Du willst zum Dank dafür, dass sie uns den Hof wegnehmen, auch noch für die arbeiten?“, zischte Ludger.
„Wenn sie mir gutes Geld dafür zahlen.“
Wilhelm lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen. „Für den Betrag müsstest du zwei Jahre arbeiten. Wir brauchen das Geld schon Johannis nächstes Jahr.“ Johannis, der 24. Juni 1872, war in einer Woche. Sie hatten also gerade mal ein Jahr und eine Woche, um das Geld zusammenzubekommen. Dann öffnete er die Augen wieder. „Aber eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Es sei denn, wir geben den Hof gleich auf und gehen. Ich werde morgen beim Freiherrn um einen Zahlungsaufschub von einem weiteren Jahr bitten.“
Seufzend erhob Maria sich und machte sich in der Diele am Schwibbogenherd daran, das Abendessen zuzubereiten. Als sie das Feuer auf dem Herd anfachte, zog Rauch durch die Diele und durch die Öffnung in der Decke nach oben über den Heuboden. Sie hatte gehofft, irgendwann auch einen Herd mit Schornstein zu bekommen – so wie ihre Schwester Louise, die im selben Dorf, Moordevitz-Ausbau, zwei Höfe weiter lebte. Louise hatte mit Karl Tarnow finanziell die weitaus bessere Partie gemacht und obendrein auch auf dem elterlichen Hof bleiben können, weil Tarnow und nicht Wilhelm Lüttin vom Freiherrn den Zuschlag für dessen Pacht bekommen hatte. Alle zwölf Jahre lief die Pacht aus und der Hof wurde neu vergeben. In der Regel bekam der alte Pächter den Zuschlag wieder, wenn er nicht zu schlecht gewirtschaftet hatte, aber Marias Eltern hatten sich zu alt gefühlt. Sie lebten jetzt bei Louise auf dem Altenteil. Maria warf einen Blick zum Tisch hinüber, auf ihre drei Söhne. Zumindest in diesem Punkt hatte sie mehr Glück als ihre Schwester, der es versagt geblieben war, Kinder zu bekommen.
Aber unter den gegebenen Umständen würde Maria wohl bis an ihr Lebensende mit einem Rauchhaus zufrieden sein müssen. Es hatte so gut geklungen, als Moordevitz und damit auch Moordevitz-Ausbau auf Erbpacht umgestellt wurde. Die Bauern sollten endlich Herren ihrer Höfe sein, man würde nicht mehr alle zwölf Jahre mit Ablauf der Pachtzeit Angst haben müssen, dass der Grundherr den Hof an einen anderen verpachtete. Aber so nach und nach waren die Schwierigkeiten ans Licht gekommen. Nicht nur, dass weiterhin Pacht zu zahlen war – das Erbstandsgeld drohte nun, ihnen das Genick zu brechen. Und wenn sie es nicht aufbrachten, mussten die den Hof verlassen.
Heute
Jörn sah Ilka hinterher und fragte sich, ob seine Schwärmerei für die neue Mitbewohnerin es wirklich wert war, sich hier den eisigen Nordostwind um die Ohren wehen zu lassen. Ilka beachtete ihn gar nicht, sie war voll und ganz mit dem Rinnsal Ostseewasser beschäftigt, das durch die Dünen ins Graadewitzer Moor lief. Sie rannte über den Strand und machte Fotos und verschwand schließlich mit ihrem Laptop zwischen den Schilfhalmen, auf der Suche nach ihrem Messrohr, das irgendwo da im Moorboden steckte und hoffentlich brauchbare Daten liefern würde.
Jörn ging den Strand entlang, der im Moment nur aus einem knapp meterbreiten Streifen zwischen Wellen und Dünen bestand. Der Nordostorkan der letzten Nacht war abgeflaut zu einer mäßigen Brise, trieb das Wasser aber immer noch auf den Strand. Letztlich war das das, worauf Ilka die ganze Zeit gewartet hatte – einen Sturm, der so stark war, dass er die Ostsee die Dünen durchbrechen ließ und das Meerwasser in das dahinterliegende Überflutungsmoor trieb. Immer wieder stapfte Jörn durch Lachen aus Meerwasser und stieg über Äste oder ganze Bäume. Schließlich stand er vor einem beinah meterdicken Baum, dessen quer liegender Stamm ihm den Weg versperrte. In seiner Krone hing eine Bank fest und wiegte sich träge mit den Ästen in den Wellen.
Über den Baum mit der Bank zu klettern, würde mehr Anstrengung erfordern, als Jörn aufzubringen bereit war. Also machte er kehrt und schlenderte zurück. Ilka war noch nicht wieder aufgetaucht. Hoffentlich fand sie ihr Messrohr unversehrt. Ohne die Daten würde auch Jörn nicht weiterarbeiten können, denn er entwickelte das Simulationsprogramm, mit dessen Hilfe die Daten ausgewertet und die Entwicklung des Überflutungsmoores prognostiziert werden sollte.
Er stocherte mit dem Fuß im Sand. Wenn man sich auskannte, konnte man nach Stürmen Bernstein oder Fossilien am Strand finden. Aber Jörn kannte sich nicht aus. Er würde den Knochen eines T. Rex nicht von einem Bernstein unterscheiden können. Knochen vom T. Rex waren hier allerdings auch nicht zu erwarten.
Eher schon ein Totenschädel.
Jörn verharrte mit erhobenem Fuß mitten im Schritt und starrte auf die bleiche Knochenfratze, die vor ihm im Sand steckte.
Dann fiel er auf die Knie und kratzte vorsichtig um den Schädel herum den Sand weg. Das gab es doch nicht – das war allen Ernstes ein Totenschädel. Jörn ließ sich auf die Fersen nieder, der erste Schreck ließ nach. Er würde wohl die Polizei rufen müssen. Am besten erst mal Tante Katti. Auch wenn er sie, wenn es mal einen ernsten Grund für einen Anruf gab, lieber nicht „Tante“ nennen sollte. Sie war mal gerade acht Jahre älter als er und mochte das überhaupt nicht.
Er zog sein Handy aus der Tasche und tippte auf ihre Nummer. „Katti? Du, ich hab am Strand einen Schädel gefunden.“
„Was soll das jetzt wieder für ein Blödsinn sein?“, grollte Hauptkommissarin Katharina Lütten ihren Neffen an.
„Das ist kein Blödsinn, echt nicht. Diesmal nicht. Da steckt ein Knochenschädel im Sand. Hat der Sturm wohl freigespült. Ich schick dir ’n Foto, dann glaubst du mir.“
„Vielleicht.“
Nachdem er ihr das Foto geschickt hatte, herrschte eine Weile Schweigen. „Okay“, meldete sich Katharina dann wieder. „Mal sehen, wen ich von der KT erreiche. Wir kommen, so schnell es geht. Bist du allein da?“
„Nein, mit Ilka.“
„Johannas Cousine? Aber nicht auf die Idee kommen, da herumzugraben und noch mehr Knochen zu suchen!“ Sie legte auf.
Und Jörn sah sich stirnrunzelnd um. Endlich teilte sich das Schilf und Ilka kam hervor.
„Ich dachte schon, ich muss das Moor nach dir absuchen“, sagte Jörn erleichtert. Zu viel geballte Natur war nicht sein Ding, jedenfalls nicht in echt. Am Computer simuliert auch nur deshalb, weil er so mit Ilka zusammenarbeiten konnte.
Ilka bückte sich, fuhr dann auf wie von der Tarantel gestochen. Sie wich hastig mehrere Schritte zurück, bevor sie zitternd stehen blieb.
Verdutzt sah Jörn zu ihr hinüber. „Was ist denn? So tief, wie das Skelett hier im Sand steckt, liegt das schon länger hier. Sonst wäre es auch nicht schon zum Skelett skelettiert. Der Mörder rennt hier garantiert nicht mehr rum. Und die Knochen tun dir auch nichts, also beruhige dich.“
Ilka kam vorsichtig zwei Schritte näher, blieb dann aber wieder stehen. Sie starrte auf die Knochen.
„Trotzdem. Ich will hier weg.“
Jörn schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Wir müssen auf Katti warten. Also auf die Hauptkommissarin. Katharina Lütten. Ist meine Tante.“
Er wiederholte sich, Ilkas offensichtliche Angst machte ihn nervös. Unwillkürlich musterte er den Strand, sah nach rechts, sah nach links. Wie erwartet war hier nichts und niemand außer ihnen beiden. Noch nicht einmal mehr die Dünen, die hier vor ein paar Tagen noch einen durchgehenden Sandwall gebildet hatten. Auf etlichen Metern hatte die See die Sandhügel in der letzten Nacht abrasiert und die Lücke geschaffen, durch die sie jetzt ins Moor fließen konnte.
Er schüttelte sich, um die Beklemmung loszuwerden. „Alles okay“, beruhigte er Ilka. Und sich selbst. „Das Skelett, also vorausgesetzt, hier liegt noch mehr als nur der Schädel, liegt nicht erst seit Kurzem hier.“
Hoffentlich kam Katti bald, langsam wurde Jörn kalt. Er wollte sich wieder aufrichten, um die Knie aus dem kalten, feuchten Sand herauszubekommen, verlor dabei aber das Gleichgewicht und landete auf dem Hintern. Um sich aufzufangen, stützte er die Hände hinter sich auf, dabei verfing die rechte Hand sich in irgendwas. Er schüttelte sie, um den vermeintlichen Seetang loszuwerden, er hasste das glibberige braune Zeug. Aber der Tang hing fest. Er wandte sich um und betrachtete seine Hand.
Es war kein Tang. Es war eine dünne goldene Kette. Vorsichtig zog er daran und allmählich gab der Sand ein Medaillon frei.
Ilka beugte sich vor, kam aber nicht näher. „Was hast du da? Was ist das?“ Ihr Atem ging keuchend.
„Ein Schmuckdings. Medaillon heißen die, glaube ich. Wo man so Zeug reintun kann. Fotos.“ Er betrachtete das Medaillon von allen Seiten. „Hier ist ein Datum. 2. November 1872. Wow, das ist ja richtig alt. Die Frage ist, ob das Skelett genauso alt ist.“
Er wandte sich wieder dem Schädel zu und betrachtete ihn sinnend. Fasziniert strich er dem Schädel mit einem Finger über die glatte Knochenstirn.
Bei dem Anblick wich Ilka wieder einen Schritt zurück. Sie wandte den Blick ab, sah übers Meer. Dann runzelte sie die Stirn, ihre Augen blickten nachdenklich. Jörn sah erleichtert, wie ihre Panik abzunehmen schien.
„Im November 1872 war die große Sturmflut“, erklärte Ilka. „Vielleicht wurde er damals hier vom Meer angeschwemmt und mit Sand überdeckt. Und hundertfünfzig Jahre später vom Meer wieder freigelegt.“
„An der Ostsee gibt es keine Sturmfluten. Weil es keine Gezeiten gibt, also auch keine Flut. Wenn schon, dann sind es Sturmhochwasser.“
„Hör auf zu klaukschietern, Jörn. Sturmhochwasser ist ein viel zu umständliches Wort.“
Jörn hatte schon wieder anderes im Kopf. Er nahm Ilka das Medaillon ab und drehte es wieder um. „Das Wappen …“ Fasziniert betrachtete er das in die Vorderseite eingravierte Wappen. Diagonal von oben rechts nach unten links verlief ein leicht gewelltes Band, gekreuzt dazu war eine brennende Fackel abgebildet. Über beiden war ein Totenkopf zu sehen, darunter saß eine Maus.
„Ach du … das ist ja unser Wappen!“ Ilka starrte auf das Medaillon, während ihr Mund und Augen vor Verblüffung offen standen.
„Also, nun erzähl mal.“ Katharina zückte Block und Bleistift. Als Jörn die Brauen hochzog, fiel sie ihm ins Wort, noch bevor er das erste aussprechen konnte. „Und kein Kommentar zu meinen analogen Arbeitsmethoden.“
„Tante Katti, als ob ich jemals deine Arbeitsmethoden in Zweifel ziehen würde.“
„Soll ich dich erst zu mir ins Büro einbestellen, oder erzählst du mir endlich, was ihr so früh hier treibt und wie ihr auf die Knochen gestoßen seid?“
„Ist es bei dir im Büro warm? Okay, okay, ich red ja schon.“
Katharina hörte sich an, wie Ilka unbedingt heute am frühen Morgen, nach Abflauen des ersten Herbststurms, an den Strand wollte, um zu sehen, ob die Ostsee durch die Dünen gebrochen war. Hinter den Dünen lag das Graadewitzer Moor, ein Überflutungsmoor. Seit der Küstenschutz an dieser Stelle aufgegeben war, verdiente es diesen Namen auch wieder – bei Orkan aus nördlichen Richtungen konnte die Ostsee die Dünen überwinden und das Moor überfluten.
„Überfluten?“ Mit hochgezogenen Brauen musterte Katharina das kümmerliche Rinnsal, das durch den Sand ins Moor gluckerte. Braun erstreckten sich die Schilffelder des Moores, an zwei Stellen unterbrochen durch dunkle Wasserflächen. Ein paar Baumgerippe waren die Überbleibsel eines Wäldchens, das sich entwickelt hatte, als der Wasserspiegel künstlich abgesenkt gewesen war. Der Wald der Graadewitzer Heide erhob sich hinter dem Moor.
Ihr Neffe zuckte die Schultern. „Na ja, es kommt eben jetzt ab und zu Meerwasser ins Moor. Und die Folgen für den Wasserhaushalt im Moor zu untersuchen, das soll mal Ilkas Masterarbeit werden.“
„Aha.“ Katharina machte sich ein paar Notizen und sah dann wieder Jörn an. „Und was hast du damit zu tun? Hier gibt es doch keine Quanten oder so Zeug? Halt, nein. Es geht dir nicht um die Moorforschung. Dir geht es um die Moorforscherin, stimmt’s?“
Ihr Neffe grinste nur und wechselte dann etwas zu offensichtlich das Thema. „Was macht ihr denn jetzt mit dem Skelett? Ist es alt?“
Die Kriminaltechniker hatten vorsichtig im Sand gegraben und weitere Knochen freigelegt. Es schien sich tatsächlich um ein vollständiges Skelett zu handeln. Katharina sah nach links hinüber zu den weißen Gestalten, die im Sand hockten.
„Wie alt es ist, muss dann wohl Jack the Rüpper feststellen.“ Ihr Blick fiel auf eine Gestalt mit Fotoapparat, die sich von links dem Fundort näherte. Sie verzog den Mund. „Okay, das war es erst mal. Wenn ich noch was wissen will, weiß ich ja, wo ich dich finde.“
„Warte mal, ich habe noch …“
„Nee, lass mal, das klären wir später.“ Katharina winkte ab und entfernte sich hastig nach rechts. Sie kam nur ein paar Schritte weit, bis sie Jörns Schritte hinter sich hörte und dann am Ärmel gepackt wurde.
„Nu warte doch mal. Hinterher machst du mich wieder zur Schnecke, weil ich was Wichtiges vergessen habe. Hier! Nu guck doch mal!“
Widerwillig drehte Katharina sich um und musterte das, was Jörn ihr hinhielt. Ein rotgoldenes Medaillon.
„Und? Jörn, was ist damit?“ Ungeduldig warf sie einen Blick auf die Gestalt mit dem Fotoapparat. Zu spät. Die Gestalt winkte. Er hatte sie gesehen und erkannt.
„Das Wappen!“ Jörn drückte ihr die Rückseite des Medaillons jetzt förmlich ins Gesicht. „Das ist Johannas Wappen auf dem Medaillon!“
„Himmel, Jörn, wenn Johanna das hier verloren hat, dann bring es ihr und lass mich … Moment. Du meinst, das Medaillon gehört zu dem Skelett? Wo hast du es gefunden?“
„Ja, eben! Direkt neben dem Schädel im Sand.“
Gut. Das war tatsächlich wichtiger als der Kerl mit der Kamera. Katharina betrachtete das Medaillon gründlich. Sie hatte es noch nie gesehen. Von daher war es unwahrscheinlich, dass es Johanna gehörte. Immerhin wohnten sie schon seit über einem Jahr zusammen auf Schloss Moordevitz. Sie kramte eine Plastiktüte aus ihrer Jackentasche und hielt sie Jörn hin. Der ließ das Medaillon hineinfallen.
„Ich zeig es Johanna, vielleicht fällt ihr was dazu ein. Oder besser noch, ihrer Großmutter. Und jetzt muss ich dringend hier weg!“ Hastig wandte Katharina sich in Richtung Dünen, oder vielmehr dem, was an dieser Stelle noch davon übrig war. Sie sprang über den Meerwasserbach und versteckte sich hinter dem fast kahlen Sanddorngestrüpp.
„Ach, der Typ von der Ostsee-Presse ist dein Problem?“, hörte sie Jörn noch rufen. „Ha, Presse-Piet übernehme ich.“
Katharina verdrehte nur die Augen, als sie beobachtete, wie Jörn dem Kamera-Menschen den Weg verstellte und ihm dann mit Sicherheit etwa zehnmal so viele Fragen beantwortete, wie selbst Presse-Piet zu stellen in der Lage gewesen wäre. Man durfte gespannt sein, was für Geschichten morgen in der Zeitung zu lesen waren. Immerhin hatte sie selbst jetzt tatsächlich eine Fluchtmöglichkeit. Sie bückte sich und machte sich langsam hinter Sanddorn und Dünen auf den Weg Richtung Parkplatz. Das Letzte, was sie hörte, war Ilkas wütender Protest gegen ein Foto von ihr. Überrascht wandte sie den Kopf. Okay, Protest hatte bei Presse-Piet noch nie was genützt. Aber eine derartige Aggressivität hatte sie Ilka nicht zugetraut. Allerdings kannte sie die Cousine ihrer Freundin und Mitbewohnerin Johanna von Musing-Dotenow zu Moordevitz auch nicht so gut. Nicht einmal die beiden Cousinen hatten engen Kontakt.
*
Ja, da war sie. Zufrieden betrachtete er die Todesanzeige. „Henriette Tarnow, auf immer unvergessen.“ Für einen Moment verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen. Fünfundachtzig Jahre war seine Großmutter alt geworden, ein langes Leben. Und dennoch … Er ballte die Fäuste. Sie hätte noch mindestens neunzig werden können. Sie war kerngesund gewesen, hatte noch all ihre Sinne beisammen gehabt. Lediglich auf ihren Blutzucker hatte sie achten müssen, aber dank der Medikamente das Problem im Griff gehabt.
Er holte tief Luft, sein Blick fiel auf den Heide-Anzeiger, den er, ohne es zu merken, zusammengeknüllt, sogar regelrecht zusammengequetscht hatte. Vorsichtig glättete er die Seiten wieder, blätterte den Rest der Zeitung durch. Lokales aus der niedersächsischen Kleinstadt, in der er lebte, Sport, Wetter. Auf der letzten Seite Kurioses aus aller Welt, Klatsch und Tratsch. Ein Dreijähriger war mit dem Familienhund abgehauen. Am Ostseestrand hatten zwei Studenten ein Skelett gefunden. Nichts, was ihn weiter interessierte … Wie magisch wurde sein Auge plötzlich von dem Bericht aus Musing-Dotenow angezogen. Neben dem Skelett war ein Medaillon aufgetaucht mit dem Wappen der Freiherrnfamilie, die auch hier eine Villa besaßen, weshalb der Heide-Anzeiger diesen großen Bericht mit Foto wohl für nötig hielt. Und da stand der Name der Studentin.
Ihr Name. Niemals würde er diesen Namen vergessen. Und da, auf dem Foto, das war sie. Sie wandte sich ab von der Kamera, hielt den Arm vor das Gesicht, aber das war sie ohne Zweifel.
Er hatte sie gefunden.
*
„Steht da einer?“ Ilka trat seitlich vom Fenster zurück und schielte vorsichtig am Rahmen vorbei nach unten. „Du, Jörn, guck doch mal – steht da einer!?“
Jörn stoppte den Film, den er gerade sah, erhob sich vom Sofa, als wöge er drei Tonnen, damit auch alle merkten, wie unpassend er die Aufforderung, sich zu erheben, gerade fand. Er stellte sich neben Ilka, die sich an die Wand neben dem hohen Altbaufenster drückte, und sah hinaus auf die nächtliche Straße.
Auf dem Fußweg gegenüber, vor dem unverputzten dreistöckigen Backsteinhaus vom Ende des 19. Jahrhunderts stand eine Gestalt. Sie befand sich genau zwischen zwei Straßenlampen, also an der Stelle, wo es am dunkelsten war.
„Ja, meine Güte, da steht einer. Ist wohl eine rauchen oder wartet auf seinen pinkelnden Hund.“
„Siehst du denn einen Hund? Oder Zigarettenglühen?“, flüsterte Ilka und beugte sich vor, schielte durch das Fenster.
Jörn warf ihr einen Blick zu. Sie schien nervös, oder nein – Ilka hatte Angst. Gut, dann sollte er sich blöde Bemerkungen sparen und diese Angst ernst nehmen. Er trat näher ans Fenster und musterte den Typen, denn es schien sich um einen Mann zu handeln, und scannte dann mit Blicken dessen Umgebung. Nichts, kein Hund, kein weiterer Mensch. Und keine glühende Zigarettenspitze.
„Vielleicht hat er so ein E-Dings“, überlegte Jörn laut. Im gleichen Moment war ihm klar, dass er dann die Dampfwolken sehen müsste.
„Der guckt doch zu uns hoch!“ Ilka fuhr zurück und presste sich jetzt mit dem Rücken an die Wand.
Sie hatte recht, der Kerl da unten hatte den Kopf in den Nacken gelegt.
„Ilka, beruhige dich. Wir haben kein Licht an, der kann uns nicht sehen. Und jetzt – geht er weg. Ja, er haut ab.“ Als der Mann die Laterne passierte, konnte Jörn in deren Lichtschein noch erkennen, dass kurze, wohl eher dunkle Haare hatte, dann verschwand der Mann um die nächste Straßenecke.
Jörn wandte sich zu Ilka um. „Was ist denn? Kanntest du den?“
Ilka schüttelte den Kopf. „Nein – ich – keine Ahnung. Ist schon gut.“
Bevor Jörn weitere Fragen stellen konnte, verließ Ilka den Gemeinschaftsraum der Studenten-Wohngemeinschaft und schloss sehr nachdrücklich ihre Zimmertür.
*
Johanna wickelte sich die Wolldecke um die Beine und lehnte sich zurück in ihrem Terrassenstuhl. Nach der ersten Sturmnacht dieses Herbstes zeigte der Oktober sich wieder von seiner goldenen Seite. Sie reckte das Gesicht in die Sonne, die von einem Himmel schien, der so blau war, als hätte er noch nie von Unwettern gehört. Johanna nippte von Herthas sagenhaftem Kakao und stellte die Tasse zurück auf den Gartentisch. Die Sonne sank bereits, in spätestens einer Stunde wäre es zu kalt, um weiter auf der Terrasse zu sitzen. Immerhin war ihr Vorfahr so schlau gewesen, die Terrasse auf die Südwestseite von Schloss Moordevitz zu bauen, so hatte man hier abends recht lange Sonne. Zudem hielt das Schlossgebäude hinter ihr den Wind ab, der immer noch kühl aus Nordost wehte. In den beiden Flügeln des Schlosses befanden sich die drei Wohnungen für Johanna selbst, ihre Mitbewohnerin und Freundin Hauptkommissarin Katharina Lütten und die Haushälterin Hertha. Im Mittelbau war Herthas Reich, die große Schlossküche, die früher ein Wintergarten gewesen war. (Wobei eigentlich das gesamte Schloss Herthas Reich war.) Die großen Glastüren des ehemaligen Wintergartens befanden sich direkt hinter Johanna. Vor ihr dehnte sich der Garten, der links an einen Park und unten an den Wald der Graadewitzer Heide grenzte.
Johanna nahm ihr Handy und tippte auf die Nummer, die ganz oben im Adressbuch angezeigt wurde.
„Adelheid Freifrau von Musing-Dotenow zu Moordevitz, die Ältere“, meldete sich eine ältere Dame, mit einem deutlichen Lächeln in der Stimme.
„Johanna Freifrau von Musing-Dotenow zu Moordevitz, die Jüngere“, erwiderte Johanna, musste dann lachen über dieses Ritual, mit dem beinahe jedes Telefonat mit ihrer Oma begann. Denn natürlich wusste jede dank der modernen Handys und ihrer Display-Anzeigen, wer am anderen Ende war, auch ohne die umständliche Namensnennung.
„Wie geht es dir, mein Kind?“
Auch das gehörte dazu. Johanna schaffte es nie, zuerst nach dem Befinden ihrer Großmutter zu fragen.
„Danke, mir geht es gut, hier läuft alles seinen Gang. Wir haben endlich auch den Keller renoviert und Hertha richtet Vorratsräume ein, als stünde uns ein langer, harter Winter bevor.“
„Ach ja, die gute Frau Böhmer. Sei dankbar, dass du eine so gute Seele für deinen Haushalt gefunden hast.“
„Bin ich, Oma, bin ich.“ Und das stimmte, obwohl Johanna niemals gewagt hätte, ihre Haushälterin Hertha Böhmer als gute Seele zu bezeichnen. Zumindest nicht in deren Anwesenheit. Johanna und Katharina bevorzugten die Bezeichnung „Hausdrachen“. Aus dem heimlichen Lächeln, das sie kürzlich in Herthas Augen gesehen hatte, schloss Johanna, dass Hertha diesen Spitznamen ebenfalls nicht ungern gehört hatte. Und genau genommen hatte nicht sie Hertha gefunden, sondern umgekehrt.
„Aber sag mal, Kind, was ist denn da bei euch los? Am Strand liegen Knochen?“
Einen Moment war Johanna verblüfft. „Woher weißt du denn das, Oma? Genau davon wollte ich dir gerade erzählen.“
„Ach, das stand im Heide-Anzeiger. Irgendein Mitarbeiter der hiesigen lokalen Presse hat mitbekommen, dass unser Familienwappen im Zusammenhang mit den Knochen aufgetaucht ist. Stell dir vor, Kind, die Presse war sogar bei mir und wollte mit mir über das Skelett sprechen. Ich musste einen Schwächeanfall simulieren, um die Dame loszuwerden. Glücklicherweise hat sie offenbar Ilka auf dem Foto nicht erkannt, es wäre nicht schön, wenn das Kind damit auch noch belästigt würde. Dieser Physikstudent, der mit ihr am Strand war, hat sich wohl etwas intensiver mit der Presse unterhalten.“
Etwas intensiver mit der Presse unterhalten. Das war die Untertreibung des Jahres. Jörn hatte es genossen. Weil er kein eigenes Zeitungsabo hatte, war er am nächsten Tag zum Frühstück ins Schloss gekommen und sie hatten sich gefühlt stundenlang seine Beschreibungen des tollen Fotos von ihm anhören müssen. Obwohl das Foto vor ihrer aller Augen gelegen hatte.
„Und was bitte soll ich über irgendein Skelett am Ostseestrand wissen?“, fuhr Adelheid fort.
Johanna meinte förmlich zu hören, wie ihre Oma den Kopf schüttelte. „Das Medaillon, Oma. Das Medaillon zeigt tatsächlich das Wappen derer von Musing-Dotenow. Katharina lässt die Knochen von Frau Dr. Rüpke, also von der Rechtsmedizinerin, untersuchen, sie soll eine Altersbestimmung machen. Das Medaillon trägt das Datum vom 2. November 1872, es ist also recht wahrscheinlich, dass das Skelett aus dem 19. Jahrhundert stammt. Fällt dir dazu was ein?“
Eine Weile schwiegen beide. Dann meldete sich Adelheid wieder zu Wort. „Nein, nicht direkt. Aber war nicht im November 1872 das furchtbare Hochwasser? Es gab damals in Mecklenburg-Vorpommern zum Glück nur wenige Tote – es ist immer schrecklich, so etwas zu sagen, denn natürlich ist jeder Tote einer zu viel. Aber für die entsetzliche Zerstörung, die das Wasser anrichtete, waren um die dreißig Tote dennoch überraschend wenige, denke ich.“
„Dieses Skelett könnte einer von ihnen sein. Oder eine. Hat unsere Familie damals Tote zu beklagen gehabt?“
Johanna hörte ihre Oma seufzen. „Ja. Da gibt es eine mysteriöse Geschichte, die nie ganz aufgeklärt wurde. Und wenn ich ehrlich bin, Kind, habe ich im Moment anderes, was mich beschäftigt.“
Johanna wurde hellhörig. „Oma, der Schwächeanfall war doch nicht …“
„Der war simuliert, mein Kind. Keine Sorge, deiner alten Großmutter geht es gut. Körperlich jedenfalls ist alles in Ordnung.“
Johanna horchte auf. „Und seelisch?“ Denn an der geistigen Gesundheit der fast Neunzigjährigen gab es keinen Zweifel.
„Ach weißt du, Kind, wenn man so alt ist, und im Freundeskreis mehr Leute gehen als kommen, dann kann das schon mal …“
Johanna war erst Mitte dreißig und wusste nicht so recht, was sie darauf sagen sollte. Denn das Sterben von Freunden und Verwandten im Alter war nichts, was man mit ein paar fröhlichen Bemerkungen à la „Das wird schon wieder“ wegwischen konnte. Johanna wusste auch, wessen Tod ihre Oma zurzeit belastete. „Deine Nachbarin fehlt dir.“
„Ja, Henriette Tarnow war eine so liebenswürdige Person. Ihre Gesellschaft fehlt mir wirklich.“
Obwohl Frau Tarnow erst vor einigen Monaten im Seniorenheim das Appartement neben dem von Oma Adelheid bezogen hatte, hatte sich zwischen den beiden alten Damen eine Freundschaft entwickelt, die über eine nachbarschaftliche Beziehung – selbst eine gute – hinaus ging.
„Übermorgen ist ihre Beerdigung. Und das – belastet mich etwas.“
„Das verstehe ich, Oma. Aber ist Frau Tarnow nicht schon vor fast zwei Monaten gestorben?“
„Ja, allerdings. Es ist unglaublich, wie lange sie für die Einäscherung gebraucht haben.“
„Du – soll ich kommen? Und mit dir zusammen dahin gehen?“
„Das würdest du tun, mein Kind? Das wäre mir tatsächlich sehr lieb. Zumal unsere Ilka ja nicht mehr hier arbeitet. Sie wäre sonst sicher gern mitgekommen, sie hat mich immer sehr unterstützt. Zu schade, dass sie gehen musste.“
„Sie musste gehen?“ Johanna war zu verblüfft, um die Frage nicht zu stellen. Alles, was sie bisher gewusst hatte, war, dass ihre entfernte Cousine Ilka nach ihrem Wechsel an die Universität Spökenitz natürlich keinem Nebenjob mehr in einem Seniorenheim in Niedersachsen nachgehen konnte.
„Naja, ich glaube, sie hatte ein Verhältnis mit einem der Pfleger. Und auch, wenn sie es natürlich nicht offiziell verbieten können, sieht die Heimleitung es nicht gern, wenn die Mitarbeiter untereinander Beziehungen eingehen. Und als dann noch dieser heftige Streit zwischen den beiden im wahrsten Sinne durch die Flure hallte, da hat die Heimleiterin beide wohl sehr nachdrücklich verwarnt. Nun, ein derartiges Verhalten hätte ich, wäre ich die Leiterin, auch nicht geduldet. Im Aufenthaltsraum herrschte Totenstille. Die einen waren wie ich erschrocken, die anderen versuchten natürlich, zu verstehen, worum es bei dem Streit ging.“ Adelheid kicherte nun doch kurz. „Der arme Enkel der Frau Tarnow, der genau in diesem Moment aus der Richtung des Geschreis kam, wurde sofort belagert und mit Fragen bombardiert. Aber er hat sich deutlich diskreter verhalten als meine Mitbewohner und nur höflich gegrüßt. Ilka hat nie etwas erzählt und ich fand, es geht mich dann auch nichts an.“
Johanna schwieg ein paar Augenblicke, zuckte dann aber die Schultern. Ilkas Beziehungsprobleme waren nicht ihre Baustelle.
„Gut, Oma, dann machen wir das so. Ich begleite dich auf die Beerdigung.“
„Wenn deine Arbeit das zulässt? Zumal ich dich jetzt auch noch mit meinen Finanzen belästige?“
„Oma, deine Finanzangelegenheiten sind nicht lästig, das erledige ich gern für dich. Und die Bank wird sich schon nicht in den Ruin wirtschaften, wenn ich mal einen Tag nicht da bin. Zumal Tante Weber mein Büro gegen alles verteidigt, was mir zu nahe kommen will.“
11. Juli 1872
Das Dampfschiff „Hertha“ wird Sonntag, den 14. Juli, bei günstiger Witterung eine Extrafahrt nach Hiddensee machen.Abfahrt von Stralsund 8 Uhr Morgens.Rückfahrt von Hiddensee 3 Uhr Nachmittags.Passagiergeld für die Hin‐ und Rückfahrt incl. Fährgeld bei Hiddensee 22 1/2 Sgr. à Person.
Stralsundische Zeitung, Donnerstag, den 11. Juli 1872
Es werden bis auf Weiteres Personen via Hamburg und Bremen pr. Segelschiff nach New-York zu Preisen von 32 Rthl resp. 22 Rthl durch mich befördert.Personen, die das Zwischendeck benutzen und pr. Dampfboot via Stettin gehen wollen, liefere ich, wenn selbige sich durch mich spediren lassen, von hier frei bis Stettin.Richard Diekelmann, Langenstr. N⁰ 9, 1 Treppe, concess. Agent des Baltischen Lloyd, Stettin
Stralsundische Zeitung, Donnerstag, den 11. Juli 1872
Hedwig hob ganz sacht die Spitzengardine und sah hinunter in den Garten. Löwenmäulchen und Rittersporn standen in voller Blüte. Hedwig liebte den Juli mit seinen farbenprächtigen Stauden und Sommerblumen. Die Stimme des Gärtners lenkte ihren Blick zu den sommerblühenden Rosen. Wortreich wie immer erklärte der Gärtner dem neuen Knecht, wie man beim Schneiden der Rosen vorzugehen hatte, damit die Blüte möglichst lange andauerte. Wie sie gehört hatte, kam der Knecht von einem Hof in Moordevitz-Ausbau und verstand vermutlich mehr von Weizen als von Rosen. Vor Hedwigs innerem Auge versank der Schlossgarten, das helle Haar des Gärtnergehilfen wuchs zu einem im Sommerwind wogenden Weizenfeld, seine Augen wandelten sich in Kornblumen, die blau aus dem Weizen leuchteten. Als die kornblumenblauen Augen unvermittelt nach oben zu ihrem Fenster sahen, ließ sie die Gardine erschrocken fallen. Hitze stieg ihr in die Wangen. Hatte er sie gesehen?
„Hedwig, so sag doch auch mal was!“ Ihre Schwester Ottilie würde niemals so etwas Vulgäres tun, wie mit dem Fuß aufzustampfen, schaffte es aber ohne Weiteres, dieses Stampfen in ihre Stimme zu legen.
Hedwig hatte die letzten Sätze des Gespräches über ihren Träumereien verpasst. Sie tat, als müsste sie dringend ihre Nase putzen, sie konnte Vater und Schwester unmöglich mit hochroten Wangen gegenübertreten. Sie selbst brachte der Diskussion mit ihrem Vater, dem Freiherrn Gustav von Musing-Dotenow zu Moordevitz, bei weitem nicht dasselbe Interesse entgegen wie ihre Schwester Ottilie. Tante Charlotte, die mit ihrem Stickzeug auf dem Sofa saß, würde sich in diese Diskussion nicht einmischen, aber Hedwig war sicher, dass ihr kein Wort, keine noch so geringe Nuance in der Stimmung entging. Die Gattin von Gustavs Bruder Friedhelm war seit dem Tod der Mutter die Hedwig am nächsten stehende Verwandte und häufig beim Freiherrn und seinen beiden Töchtern zu Besuch. Die seit beinahe zehn Jahren aus der Mode gekommene Haushaube, die Charlotte immer noch trug – aus grünem Samt mit einem Volant, der ihr über die Schultern fiel – täuschte den Eindruck einer lieben alten Dame nur vor und diente eher dem Schutz vor dem kalten Zug, der in Schloss Moordevitz zu jeder Jahreszeit durch die undichten Fenster den Weg in die Räume fand. Die Weigerung, sich in Kleider mit ausladenden Turnüren zu hüllen, sagte deutlich mehr über ihren Charakter aus.
Endlich fühlte Hedwig sich in der Lage, sich umzudrehen.
Tante Charlotte sah ihrer Nichte aufmerksam ins Gesicht. Dann legte sie ihr Stickzeug beiseite, stand auf und trat ans Fenster.
Hedwig wandte ihre Aufmerksamkeit dem Freiherrn und Ottilie zu. „Entschuldigt, ich fürchte, ich habe den Anfang eurer Unterhaltung nicht …“
„Natürlich nicht.“ Ottilie seufzte. „Aber wenn Mademoiselle sich für fünf Minuten in unsere irdischen Sphären herabbequemen könnten? Hier gibt es echte Probleme zu lösen!“ Ottilie trug im Gegensatz zu ihrer Tante eine äußerst ausladende Turnüre. Hedwig fragte sich manchmal, wie die Schwester sich in dem Gestell aus Stahl und Rosshaar überhaupt noch setzen konnte. Die Schwester legte zudem Wert auf die modische Sanduhrform und trug entsprechende Korsetts, in denen die Hüfte ausgestopft wurde, während die Taille so schmal wie gerade noch möglich geformt war. Hedwig war viel zu oft draußen im Wald und am Strand unterwegs, als dass sie diesen Modeextremen nacheifern wollte. Statt des schweren Seidenmoiré, in den Ottilie sich gern gewandete, bevorzugte Hedwig weichen Baumwollmusselin. Wobei der Kleidungsstil bei weitem nicht der einzige Streitpunkt zwischen den Schwestern war.
„Bitte, Mädchen, bitte!“ Gustav Freiherr von Musing-Dotenow zu Moordevitz hob entnervt die Hände. „Zunächst einmal ist das Ganze auch nicht dein Problem, Ottilie, sondern meines. Und ich sagte dir bereits, dass ich gewillt bin, den Lüttins die Fristverlängerung zu gewähren.“
Jetzt wurde Hedwig hellhörig. Lüttin? Das war der Name des neuen Knechts, Ludwig Lüttin. Sie trat zum Vater, der an seinem Sekretär saß.
„Wir sollen noch zwei Jahre auf das Geld warten, das uns bereits in einem Jahr zusteht?“ Ottilies Stimme stemmte die Arme in die Seiten, während Ottilie selbst untadelige Haltung bewahrte.
„Das mir zusteht, liebe Ottilie. Und ich sehe im Moment nichts, was dagegen spräche. Wir müssen wohl kaum das Schloss verkaufen, wenn wir das Erbstandsgeld von den Lüttins erst in zwei Jahren erhalten, zumal ich mit Wilhelm Lüttin eine Ratenzahlung vereinbart habe. Der Lohn von Ludwig Lüttin wird direkt auf die Summe angerechnet. Zudem will Lüttin auf die fällige Reparatur des Daches verzichten und diese dann selbst übernehmen.“
„Und was würde passieren, wenn diese Familie das Erbstandsgeld nicht zusammenbekommt?“ Hedwig zupfte an dem Spitzendeckchen, das das Buffet zierte. Ihr Herz klopfte ein wenig mehr, als angesichts des Schicksals einer im Grunde wildfremden Familie angemessen gewesen wäre.
Gustav Freiherr von Musing-Dotenow zu Moordevitz lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah seine ältere Tochter kopfschüttelnd an. „Ottilie hat recht, du lebst wirklich zu entrückt. Wenn die Lüttins das Erbstandsgeld nicht zahlen können, müssen sie den Hof verlassen.“
„Damit würde das Land uns gehören. Wir könnten es anderweitig nutzen. Oder vergeben. Gewinnbringender.“ Ottilies Stimme hatte eine Nuance, die Hedwig nicht ganz einordnen konnte. Irgendwo zwischen Unsicherheit und Hoffnung.
„Schluss jetzt.“ Der Freiherr erhob sich. „Der junge Lüttin wird zwei Jahre lang hier arbeiten, bis die Lüttins das Geld aufbringen können. Die Lüttins bleiben. Sie sind eine anständige, ehrbare Bauernfamilie, wie man sie so leicht nicht noch einmal finden würde.“
Er wandte sich zum Gehen. Die Klinke schon in der Hand drehte er sich noch einmal zu Ottilie um. „Und mit Sicherheit wird auf unserem Land keine Industriellenvilla oder gar eine rauchende, laute Fabrik entstehen.“
Ottilie konnte ihre Fäuste diesmal nicht hindern, sich zu ballen.
Hedwig zog die Gardine wieder ein wenig zur Seite. Die Sonne ließ die weizenblonden Haare leuchten, als Ludwig Lüttin sich zu den Rosen bückte.
Zwei Jahre. Das war eine lange Zeit.
Es klopfte an der Tür und Tante Charlotte rief ein „Ja, bitte?“ hinüber. Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein kleiner dunkelhaariger Mann, der die dreißig kaum erreicht haben dürfte, steckte den Kopf durch den Spalt und sah sich kurz im Raum um. „Ich hoffe, die Damen verzeihen die Störung, ich dachte den Freiherrn hier anzutreffen?“
„Oh, mein lieber Herr Bankier Weizmann!“ Charlotte erhob sich freudestrahlend. „So kommen Sie doch bitte ganz herein, damit wir uns nicht nur mit Ihrem Kopf unterhalten müssen.“
Nachdem der junge Mann ihren Worten Folge geleistet hatte, fuhr sie fort: „Aber ich muss Sie enttäuschen, der Freiherr ist vor wenigen Minuten gegangen. Hedwig, wärst du so lieb, den Herrn Bankier in das Arbeitszimmer deines Vaters zu begleiten?“