Mord nach Nürnberger Art - Ilona Schmidt - E-Book

Mord nach Nürnberger Art E-Book

Ilona Schmidt

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Beschreibung

Als der Besitzer eines Foodtrucks bei einem Unfall tödlich verletzt wird, beschuldigt ein Zeuge Toni Meisenbach, der als Bratwurstbrater »Drei in am Weggla« verkauft. Doch der schwört, unschuldig zu sein. In seiner Not wendet er sich an seinen Freund, Kommissar Levin. Als kurz darauf ein weiterer Foodtruck-Besitzer einen unnatürlichen Tod stirbt, ist Levins Spürsinn geweckt. Wenn’s um die Wurst geht, dann greift man schon mal zu unfairen Mitteln. Schließlich steht der lukrativste Platz für den Verkauf von Bratwürsten auf dem Spiel …

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Ilona Schmidt

Mord nach Nürnberger Art

Kriminalroman

Zum Buch

Bratwurstkrieg Der Besitzer eines Foodtrucks bietet fränkische Spezialitäten auf einem der begehrtesten Standplätze Nürnbergs an. Als er auf der Heimfahrt bei einem Unfall tödlich verletzt wird, flüchtet der Verursacher vom Tatort. Ein Zeuge beschuldigt Toni Meisenbach, der als Bratwurstbrater »Drei im Weggla« verkauft. Doch der schwört Stein und Bein, unschuldig zu sein. In seiner Not wendet er sich an seinen Freund, den Coburger Kommissar Levin. Der ist anfangs nicht begeistert, in die Sache hineingezogen zu werden. Die Nürnberger Kollegen haben sicher nicht auf seine Einmischung gewartet. Außerdem denkt er über eine Rückversetzung dorthin nach und will es sich mit den Kollegen nicht verscherzen. Aber als kurz darauf in Fürth ein weiterer Foodtruck-Besitzer einen unnatürlichen Tod stirbt, fällt der Verdacht wieder auf Meisenbach. Jetzt ist Levins Spürsinn geweckt. Dabei erfährt er, dass nicht jede Nürnberger Bratwurst das Label »original« verdient und nicht jedes Schwein tatsächlich ein Tier ist.

In München geboren, lebte Ilona Schmidt viele Jahre in Nürnberg. Nach dem Studium der Chemie in Erlangen zog sie beruflich bedingt nach Coburg. Heute arbeitet sie für einen amerikanischen Konzern und bereist die Welt. Ihre Liebe zum Krimi und für das Abenteuer lebt sie in ihren Romanen aus.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © koi88 / AdobeStock

ISBN 978-3-8392-7420-0

Kapitel 1

Der richtige Standort lässt die Kasse klingeln.

Zufrieden mit dem Umsatz des Tages räumte Norbert Haupt seinen Foodtruck auf. Ihm gegenüber erhob sich der golden strahlende »Schöne Brunnen«, einer Kirchturmspitze gleich, in den abendlichen Himmel. Touristen umringten ihn, bestaunten die farbenprächtigen Figuren und fragten sich, welcher der beiden drehbaren Ringe in der schmiedeeisernen Umzäunung wohl den Kindersegen verspräche, der aus Messing oder der eiserne. Diese waren schon mehrfach ersetzt worden, ebenso wie der »Schöne Brunnen« selbst. Kein Wunder, denn das Original war vor mehr als 600 Jahren erbaut worden.

Dahinter erhob sich majestätisch die noch ältere gotische Frauenkirche, von deren Empore in drei Monaten das Nürnberger Christkind den Weihnachtsmarkt eröffnen und damit den Ansturm auf die Budengassen freigeben würde. Norbert Haupt liebte diesen Standplatz, nicht nur wegen der in ihrer Schönheit bewahrten Bauten und der Atmosphäre, sondern auch wegen des Umsatzes, den er erzielen konnte. Heute war auf dem Hauptmarkt viel los, und der sonnige Herbsttag tat ein Übriges, um den Besuchern einen angenehmen Marktbesuch zu bescheren. Zwar bewölkte sich jetzt der Himmel, und es sollte gegen Abend regnen, doch das störte Norbert nicht, denn für heute war Feierabend.

Die Stadt Nürnberg erlaubte das Aufstellen von Foodtrucks auf ausgesuchten öffentlichen Plätzen mit den passenden Genehmigungen und wachte mit Argusaugen darüber, dass es nicht zu viele wurden. Einen dieser Stellplätze zu ergattern war lukrativ.

Morgen würde Norbert mit seinem Wagen im Süden Nürnbergs stehen, wo vor allem das Mittagspausengeschäft einigermaßen gut lief, denn der Schein einer gerechten Vergabe der Standplätze musste gewahrt werden. Dass dabei Schmu betrieben wurde, glaubte natürlich nur die neidische Konkurrenz.

Norbert löffelte den Rest des Ochsenmaulsalats in einen Plastikbehälter. Viel war nicht übriggeblieben, denn an einem Tag wie diesem gab es eine Menge Laufkundschaft. Die rohen Bratwürste und andere Reste wanderten in den Kühlschrank. Geschicktes Planen reduzierte den Abfall, und eine ausgewogene Kalkulation sicherte das Einkommen. Norbert hatte alles im Griff.

Seine Tochter Heidi ging ihm zur Hand, wenn es ihr Halbtagsjob als Büroangestellte zuließ. Seit einigen Monaten zeigte ihr Freund Toni Meisenbach Interesse an Norberts Geschäft, was er wahrscheinlich nicht uneigennützig tat. Er war angestellter Würstlebrater in einem Stand unterhalb der Kaiserburg, und für ihn würde der Besitz eines Foodtrucks Selbstständigkeit und Freiheit bedeuten.

»Fährst du den Wagen weg?«, fragte Norbert sie wie nach jedem Feierabend, wenn es ans Abrechnen der Tageseinnahmen ging.

»Freili«, antwortete sie, wobei ihr Gesicht von der Hitze des Grills glühte.

Er fühlte einen Stich in der Brust und legte eine Hand darauf, was Heidi bemerkte. »Wird Zeit, dass du aufhörst.«

»Das hättest du gern, gell?« Darüber hatten sie oft gesprochen. Mit Mitte 50 fühlte sich Norbert zu jung fürs Rentnerdasein. Im Gegenteil, jetzt, wo alles bestens lief, kam er erst richtig in Fahrt. »Erst wenn ich auf allen vieren krieche.«

»Dann könnte ich meinen Job an den Nagel hängen.«

»Wegen dem Toni? Der Kerl kriegt weder meinen Foodtruck noch dich. Ich hab ihm auf den Kopf zug’sagt, dass er sich des abschminken kann.« Mit Schwung schob Norbert die Lade der Kasse zu. »Ich geh jetzt.«

Heidi brach in Tränen aus. »Hätt’st dich gar ned aufregen brauchen. Ich hab mit Toni Schluss g’macht.«

Das überraschte Norbert. »Das haste gut gemacht. Jetzt hab dich fei ned so. Der is nix, hat nix und kann nix. Du hast was Bessers verdient.«

Heidi tat ihm leid. Seitdem der Krebs ihm die Frau und ihr die Mutti genommen hatte, fühlte er die Verantwortung für die Tochter doppelt schwer auf seinen Schultern lasten. Sie war Mitte 20 und fand keinen Mann, vor allem keinen, der ihm passte. Er legte den Arm um sie und drückte sie leicht. »Is scho’ gut. Bleibst halt noch a wengerla bei mir. Und ’etz sei so nett und fahr den Wagen ham, ich gönn mir solang a Seidla.«

Sie schniefte und wischte sich mit dem Ärmel über die rote Nase. »Ich will den Toni und kan’ andern.«

»Nur über meine Leich’«, erwiderte Norbert. »Du wirst scho’ den Richtigen finden.«

Nach einem tiefen Seufzer nickte Heidi. »Pass gut auf dich auf. Es regnet bald.«

»Ich bin doch ned aus Babbe.« Er packte die Einnahmen in die metallene Geldbombe und trat hinaus ins Freie.

»Gib mir des Geld«, sagte Heidi. »Ich bring’s zur Bank.«

»Des wär ja noch schöner. Am End’ überfällt dich einer.« Norbert hievte sein altes Fahrrad aus dem Truck, den er wegen seiner Größe ungern fuhr, im Gegensatz zu Heidi, der es Spaß machte. Kaum draußen aus dem Truck, stolzierte Toni Meisenbach vorbei. Norbert starrte ihn grimmig an. Mit zusammengepressten Lippen eilte Toni davon, wobei er den Geruch von Rauch hinter sich herzog.

Norbert schwang sich auf sein Fahrrad und trat kräftig in die Pedale, denn er hatte ein gutes Stück Weg vor sich. Morgen wollte er aufs Ordnungsamt, um den wöchentlichen Antrag für die Standortvergabe abzuliefern. Er war sich sicher, dass ihm das Glück weiterhin hold sein würde. Wenn das sein größter Neider Fred Schaller wüsste, würde der vor Wut an die Decke gehen. Norbert kicherte in sich hinein. Wie er selbst war auch Schaller Metzgermeister und liebäugelte mit einem Foodtruck. Diesem Möchtegern aus Fürth würde er einen Strich durch die Rechnung machen. Wo kämen wir hin, wenn sich die Fürther auf dem Nürnberger Hauptmarkt breitmachten? Die Anzahl der erlaubten Imbisswagen war limitiert, und solange keiner aufgab, waren alle Plätze vergeben – und damit basta. Außerdem verkaufte Fred seine Würste als Original Nürnberger, und das waren sie mit Sicherheit nicht. Eine Anzeige sollte diesem Betrug ein Ende setzen.

Um sich zu erfrischen, hielt er wie geplant bei seiner Lieblingskneipe an und trank eine Halbe. Früher waren es einige mehr gewesen, aber inzwischen musste er auf sein Gewicht und vor allem auf seine Leber achten. Die sei zu fett und sein Blutdruck zu hoch, hatte der Arzt gesagt. Klugscheißer.

Als er weiterfuhr, nieselte es, und die Nässe drang durch die Jacke bis auf seine Haut. Er hasste diesen Teil der Fahrstrecke, denn wegen des Kopfsteinpflasters wurde er wie auf einer Rüttelplatte durchgeschüttelt. Das Licht eines Autoscheinwerfers spiegelte sich auf der nassen Straße wider. Anstatt ihn zu überholen, fuhr der Pkw dicht an ihn heran.

So a Hias. Norbert winkte, das Fahrzeug blieb stur hinter ihm. Verärgert trat er fester in die Pedale, um seine Geschwindigkeit zu erhöhen. Ab der nächsten Kreuzung war die Fahrbahn asphaltiert. Der Doldi bog rechts ab und beschleunigte.

Da die Ampel Rot zeigte, ließ Norbert das Fahrrad ausrollen. Das Auto hinter ihm war verschwunden. Wenig Verkehr heut. Von rechts näherte sich ein Wagen und wurde langsamer, bestimmt war die Ampel in dessen Fahrrichtung auf Gelb gesprungen.

Für Norbert zeigte sie jetzt Grün, und er setzte seinen Weg fort.

Ein Motor heulte auf, das Geräusch näherte sich ihm von rechts rasend schnell. Der wird doch ned bei Rot über die Kreuzung fahr’n?

Sieht der Aff’ mich denn ned?

Kapitel 2

»Wie geht’s denn mit deiner Maxi voran?«, fragte Dominik Vorndran mit einem vieldeutigen Grinsen im Gesicht. Er war seit einigen Jahren verheiratet und nahm seinen Freund wegen dessen Ehelosigkeit gern auf die Schippe.

»Tja«, machte Richard Levin und hoffte, das Thema in eine andere Richtung lenken zu können. Die bot sich ihm einige Meter entfernt, denn dort standen ein Grill und Tische mit Broten und Salaten. »Schau, der Toni ist mit den Bratwürsten fertig.«

Dom und Richard saßen auf Bierbänken am Rand eines Fußballfeldes, auf dem sie zum Saisonende an einer Veranstaltung ihres Mittelaltervereins teilgenommen hatten. Rauchschwaden hüllten ihren Grillmeister Toni Meisenbach ein. Als gelernter Koch kümmerte er sich wie selbstverständlich um das leibliche Wohl der Vereinskameraden. Außer den Würsten brutzelten Schweinesteaks, die er zuvor mariniert hatte, auf dem Rost. Andere hatten Kartoffelsalat sowie Gewürzgurken mitgebracht, und ein Bäcker hatte Brot und Brötchen spendiert. Zum Glück gab es keine Backwaren nach mittelalterlichen Rezepten, was einige Übereifrige bedauerten. Die fühlten sich bei neuzeitlichem Brot ähnlich wie ein Veganer, dem man Fisch und Eier vorsetzte.

Die Bänke waren gut besetzt und die Gäste steckten teilweise noch in ihren Kostümen. Richard trug Straßenkleidung, denn er war erst spät aus Coburg angereist, was dazu geführt hatte, dass er und Dom etwas abseits saßen, da die begehrten Plätze um den Grill und das Bierfass bereits belegt gewesen waren. Richard störte das nicht. Er bevorzugte es, nicht im Zentrum des Geschehens zu sein, bot dies doch die Möglichkeit, sich mit seinem Freund ohne Zuhörer über Dienstliches austauschen zu können. Sie waren beide Kriminalbeamte, wenn auch in verschiedenen Fachbereichen und Dienststellen. Gerade erzählte Dom von dem Kind, das er und seine Frau Lena erwarteten. Ihr Bauch sei inzwischen kugelrund und bis zum Entbindungstermin sei es nicht mehr weit hin. Kinderzimmer einrichten, Windeln und Kinderwagen kaufen stünden an. »Wir nehmen an einem Geburtsvorbereitungskurs teil«, sagte Dom.

»Und klappt’s mit der Atmung schon? Mach mal vor.«

Dom rollte mit den Augen und lachte. »Ach Depp, der Witz ist alt.«

Richard beobachtete die Veränderung seines Freundes während Lenas Schwangerschaft mit Vergnügen. Dom war auf dem Weg von einem unbeschwerten Draufgänger zu einem beschwerten Vater. Die Verantwortung für Mutter und Kind ließ ihn wachsen, fand Richard. Alles veränderte sich, alles war im Fluss, bloß bei ihm herrschte absoluter Stillstand.

Er schaute hoch zum Himmel. Über den Wolken würde einen grenzenlose Freiheit erwarten, hatte Reinhard May einst gesungen. Das stimmte, solange man Flügel besaß. Doch irgendwann kam jeder wieder runter.

Der Abend drohte kalt zu werden, aber wenigstens regnete es nicht. Seine Jacke hatte er auf die Sitzfläche gelegt. Einige erhoben sich, um Toni bei der Essensausgabe behilflich zu sein oder um als Erster eine Wurst oder ein Steak zu ergattern.

»Was ist nun mit euch beiden?«, hakte Dom nach. »Hörst du mir überhaupt zu? Ich habe nach Maxi gefragt.«

Als Kriminaloberkommissar gehörte Hartnäckigkeit zu Doms Job. Deshalb würde er weiterbohren, bis er eine befriedigende Antwort erhalten hatte.

»Ist ziemlich kompliziert das Ganze«, erwiderte Richard.

»Du traust dich nicht, auf sie zuzugehen? Gib’s zu.«

»Gut Ding will Weile haben.«

»Mensch, die mag dich. Das war unübersehbar, als ich dich in Coburg besucht habe. Wenn keiner den ersten Schritt wagt, landet ihr nie im Bett.«

Sie hatten sich in der Residenzstadt an einem Sonntag getroffen, und Maximilia Frohn, seine Vorgesetzte, war dabei gewesen, als sie durch den Hofgarten hoch zur Veste Coburg spaziert waren. Es war ein schöner Tag und er so verliebt gewesen. »Immerhin ist sie meine Chefin.«

»Na und? Wenn’s sein muss, lässt sich halt einer von euch versetzen.«

»Das sagst du so einfach.«

»Versuch, zu uns nach Nürnberg zurückzukommen.«

Das war ein verlockender Gedanke, sofern eine Planstelle im Morddezernat frei wäre. Richard wäre in der alten Heimat und hätte sogar eine Wohnmöglichkeit bei Oma Elke in Fischbach für die Übergangszeit. Außerdem böte eine Versetzung einen Ausweg aus dem Dilemma mit Maxi. In Wahrheit ging es ihm weniger darum, dass der Personalkodex der Polizei ein Verhältnis mit ihr verbot, sondern er scheute sich, ihrem Vater zu begegnen, mit dem er mit einem Sonderkommando der Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz gewesen war. Leider waren keine angenehmen Erinnerungen damit verknüpft. Eine Versetzung nach Nürnberg würde viele seiner Probleme lösen. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Aber Gefühle konnte man nicht abschalten.

Inzwischen hatte sich vor dem Tisch mit dem Essen eine Schlange Hungriger gebildet. Er entschloss sich zu warten, und Dom schien es ebenfalls nicht eilig zu haben. Zu Richards Leidwesen hackte sein Freund weiter auf den Themen Maxi und Versetzung herum. Zum Glück nahte Rettung in Form von Toni.

Der zog ein Gesicht, als wäre ihm sein Steak in den Schmutz gefallen. »Darf ich mich zu euch setzen?«

»Freilich«, sagte Dom. »Was gibt’s? Hat man dir die Butter vom Weggla geklaut?«

»Könnte man sagen.« Toni schob seine langen Beine unter den Tisch und starrte seine rußgeschwärzten Finger an.

»Hast du das Essen etwa mit diesen Dreckpratzen angefasst?«, fragte Dom.

»Wo denkst du hin?« Toni zerrte ein weiß-blau kariertes Taschentuch aus der Hosentasche und rieb seine Hände damit ab. Viel Erfolg hatte er nicht.

»In der Vereinsgaststätte gibt’s Wasser und Seife«, sagte Richard. Der örtliche Fußballverein war Eigentümer der Sportanlage, die der Mittelalterverein mitbenutzen durfte – gegen Entgelt natürlich.

»Ich weiß«, antwortete Toni und studierte seine schwarzen Finger. Ihm musste etwas auf der Seele liegen, sonst hätte er sich gegen die Kommentare zur Wehr gesetzt.

»Spuck’s aus. Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?« Dom beugte sich vor. »Moment. Ich hab da was auf der Dienststelle läuten hören. Sag mal, bist du derjenige, der einen Radler überfahren haben soll?«

»Ich war’s nicht.«

»Das sagen alle.«

»Himmel, Arsch und Zwirn, ich hab ein reines Gewissen!« Tonis Stimme überschlug sich, und er machte Anstalten aufzustehen.

Doms Hand schnellte vor und packte Tonis Handgelenk. »Bleib sitzen. Erzähl uns die Details. Deshalb hast du uns angesprochen, oder?«

»Mir glaubt eh keiner. Ich hab damit nichts zu tun.« Toni klang verzweifelt. Er verschränkte die Arme vor der Brust und stierte auf die Oberfläche des Tischs.

»Ich habe keine Ahnung, worum es geht, Toni«, sagte Richard sanft. »Hast du einen Unfall verursacht?«

Ein Ruck ging durch Tonis Körper. »Nein.« Er öffnete seine Arme und zeigte Richard die Handflächen. »Ich war nicht mal in der Nähe, geschweige denn im Auto. Ich bin nach der Arbeit oben an der Burg mit der U-Bahn nach Hause nach Langwasser gefahren. Wie soll ich da so schnell zum Westfriedhof gekommen sein?«

»Ist dort der Unfall passiert?«

»Ja, genau.«

»Wann hast du deine Bude dichtgemacht?«

»Wie immer. So um sechs.«

Dom kratzte sich am Kopf. »Wenn ich mich recht erinnere, ist der Unfall später passiert.«

»Etwa um acht«, bestätigte Toni.

Richard rechnete nach. Von der Stadtmitte nach Langwasser und zurück in zwei Stunden, das könnte zeitlich hinhauen, selbst im Berufsverkehr. Er wechselte einen Blick mit Dom, der fast unmerklich nickte. »Hast du Zeugen?«, fragte Dom.

»Tausende und keinen. Die glotzen alle auf ihre Handys und kriegen nichts mit. Außerdem leb ich allein. Wer soll mir da ein Alibi geben – meine Topfpflanzen?«

»Bewegungsdaten vom Handy?«

»Gab’s keine. Der Akku war leer. Ich hab’s erst später aufgeladen.«

»Schade. Wie sind die Kollegen ausgerechnet auf dich als Täter gekommen?«

»Weil … Weil ich angeblich einen Grund hätte, um den Mann aus dem Weg zu räumen. Und weil einer behauptet hat, mich beobachtet zu haben.«

»Oha«, mischte Richard sich ein. »Was für ein Motiv?«

»Na, wegen dem Norbert Haupt. Der ist das Unfallopfer.«

»Sagt mir nichts. Wer ist das?«

»Wie sollen wir dir helfen, wenn wir dir jedes Detail aus der Nase ziehen müssen?«, fragte Dom.

Toni zupfte an seiner Nasenspitze, als fände er dort eine Antwort. »Also, der Norbert Haupt hat einen Foodtruck, der oft am Hauptmarkt steht. Nach Feierabend gehe ich jedes Mal dort vorbei. So einen zu besitzen, war schon immer mein Traum.« Toni seufzte leise. »Die Dinger sind verdammt teuer.«

»Und wie kann der Tod vom Herrn Haupt dir zu einem verhelfen? Das verstehe ich nicht.«

»Na ja, seine Tochter Heidi erbt ihn jetzt. Wir hatten was miteinander, aber wir haben einfach nicht zusammengepasst. Und dann die ewigen Vorwürfe, dass ich nur auf den Scheißimbisswagen scharf wäre. Und nun soll ich ihren Alten umgebracht haben.«

Doms Augenbrauen erreichten beinahe den Haaransatz. »Wieso sollten die Kollegen dir das anhängen wollen, wenn da nichts dran ist? Es müssten Spuren am Auto oder Lackspuren am Fahrrad sein.«

»Das ist es ja. Jemand muss mich bei den Bullen – sorry – bei der Polizei angeschwärzt haben.« Er betrachtete wieder seine schmutzigen Hände. »Ihr seid bei dem Verein. Könnt ihr rausfinden, wer das war?«

»Das schon, aber sagen dürfen wir es dir nicht«, erwiderte Dom.

»Wenn ich den zu fassen krieg, stopf ich ihm seine Lügen in den Hals, bis er dran erstickt!«

Dom zuckte zusammen. »Wow! Sei vorsichtig mit dem, was du sagst. Das war eine unmissverständliche Drohung.«

In der Wut sagte man manches, das nicht so gemeint war, dachte Richard. Er hatte die Zusammenhänge noch nicht durchschaut, da musste es mehr geben, denn eine Zeugenaussage allein ließ einen nicht zum Hauptverdächtigen werden. »Mal langsam. Was genau will der Zeuge beobachtet haben?«

»Er hätte mich in meinem Auto in der Nähe des Unfallorts gesehen. Daraufhin sind eure Kollegen bei mir aufgetaucht und haben mich vernommen und mein Auto für eine kriminaltechnische Untersuchung konfisziert. So haben sie sich jedenfalls ausgedrückt.«

»Und?«

»Vorn ist ’ne Delle drin und an der Stoßstange sind ein paar Kratzer – allerdings kein Blut oder Lackspuren vom Fahrrad. Die Delle hab ich mir beim Einparken oben an der Burg geholt. Die glauben mir nicht, sagen, ich hätte die Unfallspuren beseitigt.«

»Dann hast du ja nichts zu befürchten«, sagte Dom. »Selbst geringste Mengen von Blut oder Lack kann man nachweisen. Wenn da keine waren, brauchst du dich nicht zu sorgen.«

»Ich sorge mich aber. Ich möchte dich sehen, wenn dir einer was anhängen will! Wer tut denn so was?«

»Gute Frage. Hast du einen Feind?«

Toni zog den Kopf ein. »Jetzt nimmer.«

Kapitel 3

Auf dem weitläufigen Parkplatz eines Industriekomplexes im Westen Nürnbergs stand die 40-jährige Karin Schaller ein wenig abseits, während ihr gut zehn Jahre älterer Mann Fred den Foodtruck des verunglückten Norbert Haupt in Augenschein nahm. Der etwa sechs Meter lange, umgebaute Kleintransporter in Giftgrün stach einem sofort ins Auge. Karin hasste diese Farbe, sie bevorzugte Pastelltöne, am liebsten mochte sie Rosa.

Die Klappe des Imbisswagens war geöffnet und gab den Blick ins Innere frei, wo Fred hantierte. Mittelgroß und untersetzt, mit braunen Haaren und Geheimratsecken. Er setzte das Gebläse des Dunstabzugs in Gang, das geräuschvoll zu arbeiten begann.

Norberts Tochter und einzige Erbin Heidi verfolgte mit verschränkten Armen Freds Inspektion des Gefährts.

»Das funktioniert alles bestens«, sagte sie.

»Mal sehen.« Fred rumorte weiter, schaltete verschiedenste Geräte ein und legte seine Hand auf die Herdplatte, um deren Heizvermögen zu testen. »Davon möchte ich mich schon selbst überzeugen.«

»Ich habe gestern noch damit gearbeitet.«

»Und viel verkauft?«

»An dem Standort war nix los, war halt nicht der Hauptmarkt.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist mir wurscht. Ich möcht damit nichts mehr zu tun haben.«

»Gut für mich.« Fred beendete seine Prüfung auf Funktionstüchtigkeit und wischte sich die Hände an einem mitgebrachten Handtuch ab. »Scheint in Ordnung zu sein. Den nehm ich. Wie viel willst du dafür?«

»50.000.«

»Was? Dich ham se wohl als Kind zu heiß gebadet?«

»Der ist fast neu.«

»Das kannst du deiner Katz erzählen. Die Klapperkiste pfeift aus dem letzten Loch. Wie viel Kilometer hat der drauf?«

Heidi zuckte mit den Achseln. »Ned viel.«

»Was bei dir heißt, zu viel. 20.000 und kan’ Euro mehr.«

»Dann verkauf ich ihn an einen andern.«

»Da muss einiges umgebaut und erneuert werden. Und wer auf dieses Giftgrün gekommen ist, leidet an Geschmacksverirrung. Da wundert’s mich, dass sich überhaupt jemand an die Karre rangetraut hat.«

»Werd fei bloß ned frech!«

Mit einer Handbewegung wischte er Heidis Einwand beiseite. »Euer Logo muss übermalt werden. Das kostet.«

Karin hatte genug von dem Drama und wandte sich ab. Fred würde nicht lockerlassen und alles schlecht reden, bis er der Frau den Foodtruck weit unter Wert abgeschwatzt hatte, obwohl sich Heidi wacker hielt. Dass sie ihrem Fred so standhaft Paroli bot, hätte Karin ihr nicht zugetraut.

Heidi war hinter dem Toni Meisenbach her, wie die Gerüchteküche ihr ins Ohr geflüstert hatte. Karin seufzte. Sie hatte Toni während eines Kochkurses kennengelernt, den dieser abgehalten hatte. Den hatte sie belegt, weil mediterrane Rezepte auf dem Plan gestanden hatten. Dass Toni mit seiner geduldigen Art eine gewisse Anziehungskraft auf sie ausübte, konnte sie nicht leugnen.

Der Septembernachmittag war trübe, und das Laub auf der Erde hatte sich schmutzig braun verfärbt. Das Grenzgebiet zwischen Nürnberg und Fürth bot wenig Attraktives.

Sollte sie sich freuen, wenn Fred den Truck erwerben würde? Dann würde sein langgehegter Traum endlich in Erfüllung gehen. Seit Jahren sprach er von nichts anderem, als seine Würste in einem eigenen Foodtruck anbieten zu wollen. Obwohl ihre Metzgerei gut lief, war Fred nicht zufrieden. Er war einer, der Ärger und Widerspruch zum Leben brauchte wie andere Liebe und Zuneigung. Zur letzten Gruppe zählte sie sich.

Nachdenklich ging Karin weiter, bis die Stimmen leiser wurden. Ihr eigener Lebenstraum würde nie in Erfüllung gehen. Statt eines Restaurants auf Mallorca kaufte ihr Mann einen Foodtruck. Was für ein miserabler Tausch, wenn sie daran dachte, dass sie jetzt am Strand sitzen könnte.

Ihre beiden Kinder waren aus dem Haus und lebten nicht in der Gegend. Von denen wollte keiner den Metzgerladen übernehmen. Die Tochter ließ kaum etwas von sich hören, Neuigkeiten über sie erfuhr Karin durch den Sohn, der in München an der TU studierte. Mit großer Mühe hatte sie dessen Berufswunsch gegen Freds Erwartung, dass er den Laden weiterführen würde, verteidigen können. Das war möglich gewesen, weil sie Fred versprochen hatte, keinen Cent für den Sohn auszugeben. Letztlich finanzierte sie ihm das Studium aus ihrer eigenen Tasche, was Fred nicht wissen durfte.

Das Leben musste mehr als Fürth für sie bereithalten, und wenn sich nichts anderes anböte, würde sie sogar Nürnberg akzeptieren. Sie musste lachen, obwohl es eigentlich traurig war. In Wahrheit war es ihr egal, wo und womit sie ihr Geld verdiente. Hauptsache, es kam etwas in die Kasse. Fred hatte ihr zugesagt, sie würden nach Mallorca auswandern, wenn er genügend beisammenhätte.

Aber ob das jemals eintreten würde, wagte sie zu bezweifeln. Vermutlich würde auf den ersten Foodtruck der zweite folgen und dann der dritte und so weiter. Fred Schaller und sein Imbissimperium. Außerdem würde er seine Mutter niemals alleine zurücklassen. Die Vorstellung, dass er sie mitnehmen könnte, bereitete Karin Magenschmerzen.

Hinter ihr waren die Stimmen verstummt. Sie drehte sich um und sah, wie Fred der Heidi beim Weggehen auf den wackelnden Hintern starrte.

»Glotz du nur auf ihren Karussöllarsch«, sagte Karin leise.

Fred winkte sie zu sich. Sie löste sich aus ihrer selbstgewählten Einsamkeit und eilte zu ihm.

»Fei ned so schnell. Dir kann man ja beim Laufen die Schuhe besohlen«, brummte er. »Du nimmst unseren Wagen, und ich bring den Truck zum Stellplatz.«

»Kannst du so ein Riesending überhaupt fahren?«

»Viel größer als unser Transit ist der auch ned.«

Seine Unbekümmertheit konnte Karin nicht nachvollziehen, denn der Wagen war deutlich länger als ihr Lieferwagen, aber in den vielen Jahren ihrer Ehe hatte sie gelernt, dass Fred bei Widerspruch schnell aus der Haut fuhr. Heidi hatte ihm offenbar mehr Geld aus der Tasche gezogen, als er ursprünglich hatte investieren wollen.

»Wie viel hast du hingelegt?«, fragte sie.

»Zu viel.« Er drehte sich weg von ihr, ein Zeichen, dass er es ihr nicht verraten wollte.

»Kannst mir’s ruhig sagen. Ich krieg’s eh raus«, erwiderte sie, da sie die Buchhaltung führte.

»35 Lappen. Um den ordentlich herzurichten, müssen wir einiges reinstecken. Davon dürfen meine Vereinskumpels nichts erfahren«, brummelte er vor sich hin, als spräche er zu sich selbst.

»Von mir erfahren sie nix.«

Er fuhr herum. »Dir Drudschn täten sie’s eh ned glauben.«

Sie ging nie zu den Spielen des Fußballvereins, in dem Fred zuerst erfolglos mitgestürmt war und sich dann als Schiedsrichter hatte verprügeln lassen, weil er ein Foul gepfiffen hatte, das keines gewesen war. Seitdem beschränkten sich seine Aktivitäten aufs Besserwissen.

Er drückte ihr die Schlüssel für ihre alte Kiste in die Hand. Seinen Mercedes hatte er bewusst zu Hause stehen lassen, um Heidi nicht auf die Idee zu bringen, er hätte Kohle genug, um ihr die geforderten 50 Riesen in bar bezahlen zu können. Außerdem hätte Karin dann den Mercedes zurückfahren müssen, und das hätte Fred nicht verkraftet. Ihr alter Kombi mit seinen Dellen, Kratzern und Roststellen war seiner Meinung nach für sie gerade recht. Letzthin hatte der Mercedes jedoch einige Beulen und Kratzer abgekriegt, die Fred sofort hatte reparieren lassen. Ausgerechnet in Zirndorf bei einer Werkstatt, bei der er noch nie gewesen war. Weil’s eilig ist, hatte er gebrummt. Die darauffolgenden Tage war er äußerst gereizt gewesen, sodass sie vermutete, er hatte ein Straßenschild umgefahren und wollte keine Strafe zahlen.

Sie hätte gern ein neues Auto gehabt, doch so reich waren sie nicht. Die Summe für den Imbisswagen hatte sie durch den Verkauf des Grundstücks bei Herzogenaurach aufgebracht, das sie von ihrer Oma geerbt hatte. Das wäre ein gutes Startkapital für den Kauf eines Restaurants auf Mallorca gewesen. Aber jetzt – nix mit Malle.

Es dauerte eine Weile, bis sich Freds neuerworbenes Gefährt starten ließ. Der Motor leierte müde, bevor er endlich ansprang. Karin wartete geduldig, bis sich der Truck in Bewegung setzte. Als Fred die Kurve an der Ausfahrt des Parkplatzes schnitt und über den Bordstein holperte, klapperte und schepperte es laut. Hoffentlich war nichts kaputt gegangen.

Sie fuhr hinter ihm her, bis zu dem Abstellplatz bei ihrem Wohnhaus mit der angeschlossenen Metzgerei ankam, wo er neben dem Lieferwagen parkte. Jetzt konnte man sehen, dass das neue Gefährt über einen Meter länger war. Sie hielt ihr Auto an, stieg aus und stellte sich zum herausragenden Ende des Trucks, sodass Fred bemerken musste, dass sie mit ihrer Längeneinschätzung recht gehabt hatte. Sein Gesicht verfinsterte sich, aber er schwieg eisern. War auch nicht nötig, dass er etwas sagte.

»Was wird Heidi mit dem Geld tun?«, fragte sie ihn.

»Nach einem Mann Ausschau halten. Vielleicht kriegt sie den Toni ja noch mal rum.«

Hoffentlich nicht, denn den hätte sie selbst gern gehabt. Er war immer gut aufgelegt und freundlich. Er und sie auf Malle – das wär was.

»Geh rein und schau, ob der G’sell alles sauber gemacht hat«, sagte Fred. »Ich fahr zum Verein und heb einen auf meinen ersten eigenen Foodtruck. Hab lange genug drauf gewartet.«

»Darfst du den überhaupt in Fürth aufstellen? Ich dachte, die Zahl der Stellplätze ist begrenzt?«

»Blöde Kuh. Wieso Fürth? In Nürnberg hat sich die Anzahl der Trucks ned verändert, bloß der Name des Besitzers ist jetzt ein anderer. Apropos. Morgen werd ich des alte Firmenschild abmachen lassen. Da muss a neues ran: ›Fred Schallers Fränkische Spezialitäten‹. Und drunter soll stehen: Selbstgemachte Nürnberger Bratwürste. Ha!«

Damit verschwand er in Richtung Ausfahrt, wo er seinen silbernen Mercedes geparkt hatte. Mann und Auto würde sie heute nicht mehr zu Gesicht bekommen, das wusste Karin. Traurig darüber war sie nicht. Heute stand Ladys Out auf dem Programm, wie ihre Freundinnen den gemeinsamen Kochkurs unter der Leitung von Toni auf Neudeutsch nannten. Zuerst würde sie die Metzgerei checken und sich anschließend hübsch machen.

Wenn das die Heidi oder gar der Fred wüsste!

Kapitel 4

Oma Elke stellte einen Topf mit Kartoffelklößen sowie eine Platte mit Schweinebraten auf den Tisch und sah Richard erwartungsvoll an. Es roch lecker, keine Frage. Reichlich Kümmel schwamm in der braunen Soße um die perfekt runden Knödel, die um die Wette glänzten.

»Erwartest du Gäste? Damit kriegt man eine ganze Kompanie satt«, sagte er lachend.

»Nein, du bist mein einziger Gast. Ein ausgewachsener Mann muss essen.«

»Na ja, aber gleich so viel?« Er sah hinunter zu Omas beiden Hunden, die bereits in Lauerstellung saßen. Den Überschuss des Angebots würde er bei ihnen loswerden, allerdings suchte der Hängebauch des Dackels schon die Nähe des Bodens. Ein Zeichen dafür, dass Oma Elke nicht mit Leckerchen geizte, obwohl sie das nie zugeben würde. Dagegen vermittelte der Border-Collie-Mischling Sammy den Eindruck, als könnte er ein Häppchen vertragen. Als Oma sich umdrehte, schob Richard schnell ein Stück Fleisch in Sammys Maul. Prompt jammerte die Dackeldame und verriet ihn damit.

Oma fuhr herum. »Hab ich mir’s gedacht, du Schlawiner. Du solltest wissen, dass ich hinten Augen habe.«

»Und Ohren.«

»Schmecken dir meine Klöße nicht?«

»Doch, doch.«

»Oder bevorzugst du jetzt diese weichen Dinger aus Thüringen, die auf dem Teller ihre Form verlieren?«

»Coburg liegt nicht in Thüringen, sondern in Oberfranken, und die Dinger heißen bei denen Rutscher, weil sie einem prima runterrutschen.«

»Das ist mir wurst.«

»Gute Würste gibt’s dort, vor allem Bratwürste.« Nun hatte er sich genug um Kopf und Kragen geredet. Als Mutti gestorben war, hatte sich sein Vater aus der Erziehung seiner beiden Buben herausdividiert und Oma Elke damit betraut. Und diese ignorierte hartnäckig die Tatsache, dass ihre Enkel inzwischen erwachsene Männer waren. Wobei sie Richards älteren Bruder Joachim mit seinen zwei Kindern mehr Selbstständigkeit zutraute als ihm, dem ewigen Junggesellen, dem ihrer Meinung nach vor allem eins fehlte: eine Frau, die ihm zeigte, wo’s langging.

Oma drohte ihm mit dem Kochlöffel, was nicht ernst gemeint war. Ihre Erziehungsmethoden waren strikt, doch nie mit Züchtigung verbunden gewesen. Ihr Kommandoton erinnerte ihn mitunter an einen Feldwebel. Omas Strafen für mittlere bis schwere Vergehen ähnelten denen bei der Bundeswehr: Fensterputzen, Ausgangssperre oder Stube reinigen. Richard lachte in sich hinein.

»Wann soll Dominiks Nachwuchs das Licht der Welt erblicken?«, fragte sie und setzte sich ihm gegenüber.

Das nächste unangenehme Thema drohte. Er seufzte innerlich. »Bald. Sie nehmen bereits an einen Geburtsvorbereitungskurs teil.«

»Was? Zu meiner Zeit gab’s das nicht. Wir haben unsere Kinder ohne den ganzen Schnickschnack zur Welt gebracht.«

»Die Zeiten ändern sich eben.« Gedankenverloren schnitt er ein Stück Fleisch ab und stellte sich dabei auf das ein, was unweigerlich folgen würde.

»Und was ist mit dir?«, fragte sie prompt. »Ich dachte, da gibt’s eine, die dich interessiert.«

»Was soll mit mir sein?«

»Ich meine nicht deine Abenteuer, ich meine was Festes. Alt genug bist du. Du kannst nicht ewig Junggeselle bleiben.«

»Wieso fragt jeder, wie lange ich noch ledig bleiben will? Erst Dom und jetzt du?«

Sie sah ihn lange aus ihren klaren blauen Augen an. »Ich hätt gern noch a Enggala. Der Joachim hat zwar schon zwei geliefert, doch der lebt in München, davon habe ich nix. Heirate und zieh bei mir deine Kinder groß. Mich tät’s freuen, wenn du wieder einziehen würdest.«

»Wie soll das gehen, alle unter einem Dach? Ich komme gerne zum Übernachten, aber permanent mit einer ganzen Familie hier wohnen …?«

»Platz genug wäre.«

Eigentlich sprach sie das an, was ihn seit einiger Zeit bewegte. Sie würde nicht ewig allein leben können und ein Pflegedienst wäre nur begrenzt eine Hilfe. Ein Heim käme nur infrage, wenn sie das wollte. »Was, wenn du nicht mehr kannst? Ich muss arbeiten, und der Dienst ist leider nicht von 9 bis 17 Uhr und dann den Bleistift fallen lassen.«

»Dann würde ich in ein Altenheim gehen. Meine Freundin Helga möchte in das in Erlenstegen. Das würde mir gefallen. Ich mach das aber erst, wenn die Helga geht. Allein mag ich da nicht hin. Das Haus vermache ich dir, allerdings müsstest du dich um meine Hunde kümmern.«

Er ließ die Gabel sinken. »Ich arbeite in Coburg, manchmal im Schichtdienst. Jeden Tag zu pendeln würde nicht funktionieren, zumal keine Zeit für die Hunde bliebe. Die brauchen ihre Bezugsperson in der Nähe. Und sie draußen im Garten zu halten wäre keine gute Idee.«

Ein spitzbübisches Lächeln legte ihr Gesicht in Falten. »Nimm sie mit. Oder lass dich her versetzen und bring deine Frau mit.«

»Oma … Da ist keine Frau.« Die Hitze in seinen Wangen verriet ihm, dass er knallrot angelaufen war. »Wir reden darüber, wenn es so weit ist. Im Moment bist du noch fit wie ein Turnschuh.«

»Ein alter, ausgelatschter Turnschuh. Ess noch einen Kloß, damit du a wengla Speck auf die Rippen kriegst.«

Was konnte er tun, als ihr nachzugeben? Nach dem Abendessen schnappte er sich die Hunde für einen Gassigang im Forsthof, der zum Lorenzer Reichswald gehörte. Wenn er weiterginge, käme er beim Zabo oder gar beim Tiergarten raus, der ihn schon von jeher faszinierte. Manchmal büxten Tiere aus und liefen im angrenzenden Forst herum. Einst war ein Känguru entflohen, doch Doms, Joachims und seine kindlichen Bemühungen, es aufzuspüren, waren kläglich gescheitert.

Der Forsthof barg einige Überreste aus dem Zweiten Weltkrieg. So war zum Beispiel die Trassenführung der Trümmerbahn bis heute gut erkennbar, doch der Wald sorgte dafür, die Vergangenheit langsam und stetig unsichtbar werden zu lassen. Von der Russenwiese, einem ehemaligen Zwangsarbeiterlager, war nichts übriggeblieben. Am liebsten hätte er seine eigene Vergangenheit ebenso im Strom der Zeit verblassen lassen. Sollten Maxi und er jemals ein Paar werden, würde er Farbe bekennen müssen, was er mit ihrem Vater in Afghanistan erlebt hatte.

Als die Dämmerung hereinbrach, war er fast wieder am Haus von Oma Elke angelangt. Er und die Hunde waren müde. Morgen würde er wieder nach Coburg fahren, worauf er sich einerseits freute, denn dort fühlte er sich ebenfalls heimisch, andererseits war da das Problem mit Oma. Früher oder später würde er sich dem stellen müssen, denn dass Joachim seine lukrative Arbeitsstelle in München aufgeben würde, stand nicht zu erwarten. Und Vater hatte sich neu orientiert, der würde garantiert nicht nach Nürnberg zurückkehren.

Also blieb die Lösung des Problems an ihm hängen. Er sah auf die Hunde runter. »Irgendwie wird’s weitergehen, zum Glück muss jetzt aber noch keine Entscheidung getroffen werden.«

Er erntete ein schwaches Wedeln von Sammy, während die Dackeline seinen Worten wenig Aufmerksamkeit schenkte. Sie lauschte gebannt in ein Gebüsch, rannte los, und fort war sie.

Verflucht! So kurz vor dem Ziel. Er wusste aus Erfahrung, dass das dauern konnte. Weit hatte sie sich bislang nie entfernt, wenn sie jedoch einer interessanten Spur folgte, standen ihre Ohren auf Durchzug. Zu allem Unglück kam ihm der hiesige Förster entgegen, der laut Oma ein ganz Eifriger sein sollte.

»Ist dös Ihr Hund, der da nei is?«, fragte er mit einem bayerischen Zungenschlag. Den hatten sie wahrscheinlich ins Frankenland strafversetzt.

»Nein. Der gehört meiner Oma.«

»Schon mal was von Leinenpflicht g’hört?«

Eine generelle gab es in Bayern nicht, die Erhebung einer selbigen wurde den Städten und Gemeinden überlassen. Der Forsthof war gemeindefrei. »Bei einem Dackel?«

»Grad die san die wuidesten.«

»Noch dazu ein alter.«

»Auch alte Hund’ können das Wild stören. Was is mit dem andern? Wolln S’ den net anleinen?«

Sammy wedelte freundlich und sah Richard fragend an. »Nicht wirklich, der hört aufs Wort. Aber wenn Sie darauf bestehen …«

»Hören S’, ich kann Ihre Personalien feststellen und a Bußgeld gegen Sie verhängen lassen.«

Hatte der Mann nichts Besseres zu tun? Dass er Kriminalbeamter war und sich sehr wohl mit dem Thema Leinenpflicht auskannte, wollte Richard ihm nicht auf die Nase binden. Ein solches Kräftemessen ging meistens schlecht aus und würde zudem nichts ändern. Richard nickte. »Verstehe, Sie machen nur Ihren Job.«

»Dös is kei’ Job, dös is a Berufung. Bei Ihnen mag dös anders sein, aber ich hab die Verantwortung für Wild und Wald.«

»Und vor allem dafür, dass der Staat ordentlich am Forst verdient«, rutschte es Richard raus. Er bückte sich, um Sammy anzuleinen.

»Was ham S’ g’sagt?«

»Schon gut. Mein Job ist auch nicht unwichtig, trotzdem bezeichne ich ihn so.«

Das Gesicht des Forstmanns verfinsterte sich. Ohne Vorwarnung schoss Dackel Hexi aus dem Gebüsch und kläffte ihn heftig an. Das hatte Richard noch gefehlt. Die Kleine konnte bei Fremden zu einer richtigen Wadlbeißerin werden. So schnell wie jetzt hatte Richard sie noch nie an die Leine genommen. Sie legte sich mächtig ins Zeug, um das grüne Hosenbein zu erwischen.

»So an Hund dürf’n S’ net frei rumlaufen lassen. Der is ja gemeingefährlich.«

»Nur bei Beamtenbeinen und Hosen von Prinzipienreitern«, erwiderte Richard grinsend. »Guten Tag.«

Kapitel 5

»Schau ihn dir an. Ist er nicht prächtig geworden?«, fragte Fred und deutete auf seinen umgespritzten Foodtruck. Der leuchtete jetzt knallrot, und über der Ladenklappe stand »Schallers Metzgerei« in großen Lettern geschrieben. Daneben eine cartoonhafte Darstellung eines Jungen und eines Mädchens, die freudestrahlend, als hätten sie einen Goldschatz entdeckt, einen Burger in der Hand hielten.

»Was soll der Burger?«, fragte Karin.

»Das ist kein Burger.«

»Freilich.« Sie deutete darauf. Ein grünes Salatblatt steckte zwischen den Brötchenhälften, außerdem Zwiebelringe, Tomatenscheibe sowie ein Fleischpflanzerl.

Fred wurde rot wie die abgebildete Tomate, die Schlagadern an seinen Schläfen schwollen an. Dennoch sagte er nichts, weil Fehler nur die anderen machten.

Über die Frage, ob sie nicht das Fürther Wappen, das die Form eines Kleeblatts aufwies, anbringen sollten, hatte es einen kurzen Streit gegeben. Das käme in Nürnberg nicht gut an, hatte Freds Mutter gemeint, und damit war die Sache erledigt gewesen. Eher noch das Kleine Nürnberger Stadtwappen, das ein gespaltenes Schild mit einem halben Reichsadler und schräggestellten rot-silbernen Streifen zeigte, aber das war von vorneherein ausgeschieden, weil dessen Verwendung genehmigungspflichtig war. So war es bei einem weiteren Schriftzug geblieben, der fränkische Spezialitäten und Original Nürnberger Bratwürste anpries, obwohl die Werbung einen Burger zeigte.

Originale. Laut einer EU-Verordnung durften ausschließlich Bratwürste, die innerhalb der Stadtgrenze hergestellt worden waren, so bezeichnet werden. Alle anderen mussten als »Bratwürste Nürnberger Art« deklariert werden. Woraufhin die Kundschaft sofort vermutete, zweitklassige Ware zu erhalten, obwohl die Kennzeichnung nichts über die verwendeten Zutaten aussagte.

Karin seufzte, denn sie nahmen es bei ihren Würsten nicht so genau. Hinein kam, was billig war. Darüber bewahrten sie Stillschweigen, denn das sah man dem Endprodukt nicht an. Eines musste sie Fred lassen: Er wusste, wie er den größtmöglichen Profit erzielte.

Noch immer seinen Truck bewundernd stemmte Fred seine Hände in die Hüften. »Mir g’fällt er«, sagte er mit einer Begeisterung, als spräche er über einen Sportwagen. »Schön. Fei richtig schön, gell?«

»Besser als vorher«, sagte sie.

»Davon verstehst du nichts. Du hast keine Ahnung, wie ein Foodtruck auszuschauen hat.«

»Das weiß ich sehr wohl.«