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Pizza, Pasta und Mord: Wenn die Urlaubsstimmung jäh endet Im malerischen Örtchen Limone ist die Aufregung groß: ein Mord, noch dazu an einem Polizisten! Ein Affront für Commissario Fabio Angelotti. Er setzt alles daran, den Täter dingfest zu machen – Ehrensache. Das Mordopfer war ein deutscher Kriminalbeamter, der seinen Urlaub mit Ehefrau Charlotte am Gardasee verbrachte. Kurzerhand nimmt der Commissario gemeinsam mit der schönen Witwe die Fährte auf. Schnell zeigt sich, dass Charlottes Mann zu einem ungelösten Fall aus der Mussolini-Zeit recherchierte. Welchem Geheimnis war er auf der Spur? - Verbrecherjagd am Gardasee: Auftakt der neuen Krimi-Reihe rund um Commissario Fabio Angelotti - Wie passen Amore und Mordermittlungen zusammen? - Unterhaltsam, charmant und humorvoll: ein tolles Geschenk für alle Krimi-Fans Spannender Italien-Krimi vor malerischer Kulisse Limone sul Garda ist der Inbegriff von »Bella Italia«. Kleine Häuser schmiegen sich an den Fuß eines steilen Berghanges. Verwinkelte Gässchen durchziehen die Altstadt. Olivenhaine und Zitronengärten laden zum Verweilen ein. Doch Commissario Fabio Angelotti hat keine Zeit für das »Dolce Vita«, das viele Touristen hier genießen. Sein untrügliches Gespür bringt ihn auf die Spur längst vergessen geglaubter Klüngeleien. Wurden Charlottes Ehemann wirklich seine neugierigen Ermittlungen zum Verhängnis? Als auch noch die Witwe spurlos verschwindet, muss Angelotti sein ganzes kriminalistisches Können zeigen. Krimiautorin Elizabeth Horn macht ihr liebstes Urlaubsdomizil zum Schauplatz dieses Regionalkrimis. Ein unterhaltsames Lesevergnügen für Italien-Fans!
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Seitenzahl: 360
Elizabeth Horn
Ein Gardasee-Krimi
Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder von der Autorin ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
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1. Auflage 2022
Copyright dieser Ausgabe © 2022 Servus Verlag bei Benevento Publishing
Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Dieses Werk wurde durch die Verlagsagentur Lianne Kolf vermittelt.
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Lektorat: Nina Hübner
Umschlagmotive: © Daniel Reinhardt / dpa / picturedesk.com;
© IgorZh / shutterstock.com
Karte Innenklappen: Nina Andritzky
ISBN: 978-3-7104-0300-2
eISBN: 978-3-7104-5057-0
Für Wolfgang und Thomas
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Dank
Der Blick von der Terrasse war atemberaubend: Das Türkisgrün des Sees, die rostroten Ziegeldächer, die blühenden Sträucher, die magentafarbenen Bougainvilleen – all das breitete sich unter ihm aus wie ein Teppich aus Farben. Der azurblaue Himmel tat sein Möglichstes, um mitzuhalten, und die Sonne tauchte alles in gleißendes Licht.
Er hasste es jetzt schon.
Jens Stutz, Kriminalhauptkommissar, hasste es zu schwitzen, er hasste es, Geld auszugeben für etwas, das er zu Hause umsonst bekam. Er hasste fremde Betten. Und nicht zu vergessen: Am meisten hasste er die Scharen von vergnügten, hirnlosen Touristen.
Seine Frau Charlotte hingegen war ganz in ihrem Element. Glücklich sog sie die Umgebung mit all ihren Sinnen in sich auf. Sie war so sehr in ihrem Element, dass sie in dem knallgelben Sommerkleid selbst aussah wie eine Zitrone. Es hätte nur noch ein kleiner grüner Hut auf dem Kopf gefehlt, dachte Stutz gehässig.
»Limone«, knurrte er. »Stell dir vor, bei uns würden sie einen Ort ›Kohlrabi‹ nennen, nur weil sie den so viel anbauen!«
»Es ist gar nicht so sicher, dass Limone wirklich nach den Zitronen benannt ist«, erklärte Charlotte. »Das könnte auch von ›Limes‹ kommen. Der verlief in römischer Zeit hier.« Seit Jens ihr drei Tage zuvor eröffnet hatte, dass sie nach Limone fahren würden, hatte sie alles über den Ort gelesen.
»Weiß ich!«
Natürlich wusste Jens das. Seine zweite große Leidenschaft neben seinem Beruf war Geschichte. Es gab kaum eine Epoche, über die er nicht Bescheid wusste. Sein größtes Interesse galt in letzter Zeit Europa unter den Nationalsozialisten. Manchmal fragte sich Charlotte unglücklich, ob sie es wenigstens auf den dritten Platz geschafft hatte, was die Prioritäten ihres Mannes anbetraf. Aber in diesem Augenblick war ihr das relativ gleichgültig.
Sie atmete tief ein.
Da Jens keinen Urlaubstag auf die Anreise hatte verschwenden wollen, waren sie spät angekommen und sofort müde ins Bett gefallen. Nun präsentierte sich Limone an einem perfekten Sommertag von seiner schönsten Seite.
»Ist das nicht paradiesisch? Bei dem Anblick geht mir das Herz auf!«
Platz genug hat es ja! Hauptkommissar Stutz musste sich bei dem Gedanken ein Grinsen verbeißen.
»Schatz, ich kann immer noch nicht fassen, dass du mich mit dieser Reise überrascht hast. Du hättest mir keine größere Freude machen können. Es ist noch viel, viel schöner, als ich es mir vorgestellt habe. Und dieses Traumhotel!«
Charlotte strahlte ihn von der Seite an, und einen Moment lang hatte er wieder die junge Frau mit dem kupferroten Haar und den grünen Augen vor sich, die ihn vor mehr als zwanzig Jahren angebettelt hatte, ihr doch keinen Strafzettel zu geben. Natürlich hatte er sich nicht erweichen lassen. Selbst als junger Streifenpolizist hatte er gewusst, was seine Pflicht war. Aber er hatte sie an dem Abend auf ein Eis eingeladen.
»Schön, dass es dich freut, Lotte«, sagte er und tätschelte ihren molligen Arm. Sein schlechtes Gewissen quälte ihn nun doch ein bisschen. Die Geste ermutigte Charlotte dazu, sich an seine Brust zu schmiegen und sein Gesicht mit Küssen zu bedecken. »Lotte, bitte! Ich schmelze sowieso schon!«
»Du bist ja auch viel zu warm angezogen, Jens. Warum trägst du nicht deine neuen Bermudashorts? Die habe ich dir doch extra noch schnell gekauft!«
»Ich trage keine Bermudashorts. Ich bin Kriminalbeamter!«
»Aber doch nicht hier!«
»Kriminalbeamter ist man immer und überall. Das ist kein Job, den man abends im Büro lässt. Das solltest du wissen!«
»Ich wette, Kommissar Maigret hat im Urlaub auch Bermudashorts getragen. Ich glaube sogar, ich kann mich daran erinnern.«
»In welchem Dezernat arbeitet der Kollege Maigret noch mal?«
»Im Morddezernat in Paris.«
»Falsch! Er arbeitet in gar keinem Dezernat, er ist nämlich lediglich eine fiktive Gestalt, wohingegen ich keine Romanfigur bin.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Charlotte schnell, um das nicht wirklich neue Thema zu beenden. »Gehen wir in den Ort?«
»Ich schlage vor, du läufst hinunter und bummelst ein bisschen. Ich habe eine Verabredung mit einem Beamten im Stadtarchiv, der versprochen hat, mir einige interessante Dokumente aus der Repubblica di Salò zu zeigen. Das wäre nur langweilig für dich. Um 14 Uhr 15 treffen wir uns am Haupteingang der Kirche San Benedetto. Den kannst du nicht verfehlen. Aber bitte lass mich nicht warten!«
Charlotte wollte sich beklagen, dass es doch schöner wäre, etwas zusammen zu unternehmen, besann sich aber eines Besseren. Man durfte es nicht übertreiben. Dass sie hier war, an diesem bezaubernden Ort, in diesem Traumhotel, hätte sie sich vor drei Tagen nicht in ihren kühnsten Träumen vorstellen können.
»So machen wir es, Schatz! Ich hole nur schnell meinen Hut. Den Schlüssel lasse ich dann an der Rezeption.«
»Ich nehme den Wagen, dann können wir später wieder hinauffahren. Bis dann, Lotte. Viel Spaß!«
Jens’ Interesse an der Repubblica di Salò war natürlich für ihn ein zusätzlicher Anreiz gewesen. Dass er ihren Aufenthalt mit Recherchen zu seinem Steckenpferd verbinden wollte, wunderte Charlotte nicht. Vielleicht sollte sie versuchen, sein Interesse bei Gelegenheit auf die Französische Revolution zu lenken. Womöglich würde er dann mit ihr nach Paris reisen. Charlotte musste grinsen. Diese Idee barg wirklich Potenzial.
Als Charlotte den Schlüssel an der Rezeption abgab, lächelte die junge Rezeptionistin sie freundlich an. Donatella, was für ein klangvoller Name. Donatella sprach sehr gut Deutsch mit einem charmanten italienischen Akzent.
»Signora Stutz, werden Sie heute Abend hier essen?«
Charlotte hatte ihr bei ihrer Ankunft erzählt, dass sie und ihr Mann hier waren, um ihren zwanzigsten Hochzeitstag nachzufeiern. Das hatte die junge Frau sehr romantisch gefunden. Charlotte hatte allerdings nicht erwähnt, dass Jens den eigentlichen Tag glatt vergessen hatte. Sie hatte ihm einen Bildband gekauft, den er sich schon lange gewünscht hatte. Als sie ihm das Buch bei einem besonders schönen Abendessen überreicht hatte, war er aus allen Wolken gefallen. Umso größer die Überraschung, dass er wenige Tage später die Reise an den Gardasee vorgeschlagen hatte. War das Absicht gewesen? Hatte er nur so getan, als habe er den Tag vergessen, um die Überraschung zu steigern? Eigentlich passte so etwas nicht zu Jens. Aber es spielte auch keine Rolle. Nun war sie hier.
»Ja, wir wollen heute hier im Restaurant essen.«
»Gut, dann reserviere ich Ihnen und Ihrem Mann unseren schönsten Tisch am Fenster, wenn Ihnen das recht ist.« Die junge Frau zwinkerte ihr zu.
»Das wäre ganz wunderbar! Tausend Dank. Grazie mille!«
Beschwingt rückte sich Charlotte den breitkrempigen Strohhut zurecht und machte sich auf, Limone zu erobern.
Durch einen Hohlweg mit altem Kopfsteinpflaster stieg sie in den Ort hinab. Links und rechts säumten blühende Büsche in allen Farben des Regenbogens den Weg. Die warme Sommerluft war erfüllt von betörenden Düften. Und natürlich wuchsen da Zitronen. Überall. An einem alten Baum, der sich regelrecht unter seiner Last bog, hielt Charlotte inne. Es faszinierte sie, dass Zitrusbäume gleichzeitig Blüten und Früchte in verschiedenen Stadien der Reife trugen. Irgendwie fühlte sie sich ihnen verwandt. In ihrem Herzen war sie immer noch ein ganz junges Mädchen, obwohl sie inzwischen doch eher eine reife Frau war. Aber gegen Reife war ja wohl nichts einzuwenden. Charlotte schmunzelte vor sich hin und streckte sich nach einer goldenen Zitrone, um an ihr zu riechen. Dabei trat sie auf eine verfaulte Frucht. Zugegeben, es gab Tage, da fühlte sie sich durchaus auch eher überreif. Sie streifte das matschige Fruchtfleisch an einem Büschel Gras von ihren bequemen Sandalen ab und marschierte weiter.
Dieses Kopfsteinpflaster war eine einzige Katastrophe. Warum man das Zeug nicht einfach durch eine vernünftige Asphaltdecke ersetzte, war Stutz ein Rätsel. Er war ein begeisterter Hobbyhistoriker, aber die Dinge gehörten in die Zeit, aus der sie stammten. Wenn sie überholt waren, war es nur vernünftig, sie durch moderne, zweckmäßigere zu ersetzen. Dieses künstliche, romantisierende Festhalten an früheren Zuständen war absolut unsinnig. Die Einzigen, die etwas davon hatten, waren die verblödeten Touristen, die sich in Horden durch die Altstadt wälzten, glücklich, sich irgendwelchen Chinakitsch zu Mondpreisen andrehen zu lassen. Er mochte gar nicht daran denken, was Charlotte wohl anschleppen würde.
Wenn man vom Teufel spricht!
Da war sie! Unübersehbar mit ihrem Zitronenkleid und dem riesigen Hut. Jetzt schaute sie in seine Richtung. Schnell trat Hauptkommissar Stutz einen Schritt in eine Ladentür. Zum Glück ging seine Frau weiter. Charlotte hätte er bei seiner Mission wirklich nicht brauchen können. Wüsste sie, warum sie wirklich hier waren, wäre sie sicher beleidigt gewesen. Das war das eine. Zum anderen hätte sie zweifellos versucht, sich in seine Pläne einzumischen. Immer wieder hatte sie Anflüge, bei denen sie sich als die Gefährtin eines unerschrockenen Ermittlers sah, der auf ihre Kombinationsgabe und Intuition baute. Pah! Intuition! Akribische Nachforschungen waren der Schlüssel zum Erfolg in der Kriminalistik. Davon war Hauptkommissar Stutz felsenfest überzeugt. Daher störte es ihn auch nicht, dass er den Großteil seiner Dienstzeit am Computer mit Recherche verbrachte. Das war nicht glamourös, aber er war derjenige, der den Kollegen vor Ort die Informationen besorgte, die sie ans Ziel führten.
Es gab noch einen Grund, dass Charlotte nichts von seinem Vorhaben wissen durfte. Charlotte war nicht diskret. Charlotte konnte einfach nichts für sich behalten. Und diesmal war sein Plan wirklich heikel. Seine Dienststelle durfte auf keinen Fall erfahren, was er hier machte. Er hatte schließlich keinerlei Befugnisse in Italien. Wenn er Glück hatte, würde das aber keine Rolle spielen. Er musste einfach sehr vorsichtig sein, nicht erwischt zu werden. Und dabei konnte er Charlotte nun wirklich nicht brauchen.
Als seine Frau endlich um die nächste Ecke verschwunden war, machte Jens Stutz sich wieder auf den Weg. Notgedrungen stürzte er sich in den Strom ausgelassener Besucher. Offensichtlich hatte die Fähre gerade wieder eine Ladung davon ausgespuckt. Erwartungsvoll drängten sie sich durch die malerischen Sträßchen, vorbei an unzähligen Lokalen und kleinen Geschäften, die alles anboten von Kitsch bis Kunst.
Das Haus, das er suchte, war einfach zu finden. Es war eines der prächtigen Stadthäuser, die man hier immer wieder sah. Stutz strich sein Hemd glatt. Er fühlte sich klebrig und ungepflegt. Er wünschte, er hätte ein Sakko und einen Schlips tragen können. Aber das hätte er nicht mal Charlotte plausibel machen können – im vermeintlichen Urlaub.
Zu seinem größten Erstaunen öffnete ihm ein Diener in Livree. Wortlos überreichte Stutz dem Mann seine Visitenkarte und wurde direkt in einen eleganten Salon geführt.
Charlotte hatte ihren ersten Tag in Limone in vollen Zügen genossen. Ihre helle Haut glühte leicht, wo sie der Sonne ausgesetzt gewesen war. Sie hatte das Gefühl, vor Leben zu sprühen. Stutz spürte die viele Sonne auch. Er fühlte sich wie ein lebendig gesottener Hummer. Er hörte Charlotte im Badezimmer singen, also nutzte er die Gelegenheit, schnell in seinen Laptop einzugeben, was seine Besuche bei Leonore Endrici und im Stadtarchiv ergeben hatten. Viel Neues gab es nicht.
Nun war es Zeit, sich zum Abendessen fertig zu machen. Zum Glück war der Schuppen so nobel, dass er sich wenigstens abends anständig anziehen konnte. Als er sich seine dunkelgraue Krawatte umband, fühlte er sich zum ersten Mal an diesem Tag nicht mehr halbnackt.
Charlotte trat strahlend aus dem Bad. Natürlich trug sie das rote Kleid mit den Rüschen am Ausschnitt. Irgendwie wollte sie nicht einsehen, dass gedeckte Farben ihrem Alter und ihrer Figur besser angestanden hätten. Aber sie sah so glücklich aus, dass es ihn wider Willen rührte.
»Na komm, mein Eheweib, lass uns schauen, ob sie in diesem Schuppen etwas servieren, das den Preis rechtfertigt!« Galant reichte er seiner seligen Frau den Arm.
Auf den weiß eingedeckten Tischen des eleganten Hotelrestaurants standen kleine Blumengestecke und jeweils eine Schale mit duftenden Zitronen.
Sowie er wieder zu Hause wäre, schwor sich Stutz, würde er nie wieder Zitronen essen. Er konnte sie jetzt schon nicht mehr sehen. Kaum waren Charlotte und er eingetreten, eilte ein junger Kellner herbei und führte sie an den Tisch im Winkel, wo sich die beiden Fensterfronten trafen. Der Rundumblick über den See und den Ort war spektakulär.
»Hier sitzt man ja schon wieder wie auf dem Grill!«, moserte der Kommissar.
»Die Sonne steht gleich so tief, dass sie dich nicht mehr stört. Schau doch nur, wie traumhaft die Aussicht ist!« Flehend sah Charlotte ihren Mann an.
»Ja, eher atemberaubend«, murmelte der mehrdeutig und lockerte den Knoten seiner Krawatte leicht. Als der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen, stellte er eine Flasche Prosecco in einem Sektkühler auf einen kleinen Beistelltisch. Mit einem dezenten Plop öffnete er die Flasche und füllte die eleganten, langstieligen Gläser, die er mitgebracht hatte. Hauptkommissar Stutz hob die Augenbrauen, aber ehe er protestieren konnte, verkündete der junge Mann geradezu stolz: »Ein Präsent auf die Haus!«
»Wie reizend«, sagte Charlotte und seufzte entzückt.
»Teuer genug ist der Schuppen ja«, grummelte Stutz in seinen nicht vorhandenen Bart. Aber als er in das glückliche Gesicht seiner Frau schaute, gelobte er sich, gute Miene zu allem zu machen. So hob er sein Glas und prostete ihr zu. »Auf uns, Lotte!«
»Auf uns, Jens! Und auf einen unvergesslichen Urlaub!«
Während des Hauptgangs unterhielten sie sich über das, was sie am Tag erlebt hatten. Das hieß, Charlotte erzählte, und Stutz gab vor zuzuhören.
»Sag mal, Jens, du hattest doch vor, ins Stadtarchiv zu gehen! Ich habe dich heute Morgen aber in der entgegengesetzten Richtung gesehen. Oder habe ich mich da getäuscht?«
Kurz überlegte Stutz, wie er darauf antworten sollte.
»Das kann gut sein. Ich habe mich in dem Altstadtgewirr erst mal total verlaufen.«
»Ach so«, antwortete Charlotte.
Nun wusste sie definitiv, dass Jens etwas im Schilde führte. Er war ein wandelndes Navigationsgerät. Egal, wohin sie kamen, Jens wusste immer schon im Voraus genau, was wo war. Das hatte manchmal fast schon etwas Zwanghaftes. Jens sollte sich verlaufen haben? Da konnte sie ja nur lachen. Da wäre es glaubhafter gewesen, hätte er ihr erzählt, er habe eine Bank ausrauben wollen. Sie würde schon noch herausbekommen, was das alles sollte. Unschuldig lächelte sie ihren Mann an.
Das Essen war ausgezeichnet, selbst Jens konnte nichts daran aussetzen. Nachdem die Teller für den secondo piatto, ein exzellentes Ossobucco alla milanese, abgetragen worden waren, trat der junge Kellner in Begleitung eines Kochs und der Rezeptionistin Donatella mit einer kleinen Torte an den Tisch. Zu Stutz’ Entsetzen fingen sie auch noch an zu singen. Irgendetwas mit felicità. Wie er solchen Zirkus hasste! Die Torte zierten eine Kerze und eine Zwanzig aus Zuckerguss. Charlotte hatte also wieder mal gequatscht. Und gleich würde sie auch noch anfangen zu heulen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Da stahl sich auch schon eine Träne über ihre glühenden Wangen. Sie strahlte.
Charlotte sah Jens an. Er machte das Gesicht, das aussehen sollte wie ein Lächeln. Aus langjähriger Erfahrung wusste sie, dass er das alles schrecklich fand. Der Speisesaal war inzwischen bis auf den letzten Tisch besetzt. Als das Lied endete und das ganze Restaurant klatschte, verblüffte Jens sie aber. Er ergriff ihre Hand über den Tisch hinweg und drückte sie geradezu zärtlich.
»Dann lass uns mal die nächsten zwanzig Jahre starten, was, Lottchen?«
Das war ein taktischer Fehler gewesen, denn nun gesellten sich zu der einen Träne noch ein paar mehr. Zum Glück hatte sich seine Frau wieder im Griff, als ein eleganter Herr in einem sicher maßgeschneiderten dreiteiligen Anzug zu ihnen trat und erst Charlotte und dann dem Hauptkommissar die Hand reichte.
»Ich darf Sie im Palazzo Bianchi begrüßen und Ihnen ganz herzlich im Namen der ganzen Belegschaft zum zwanzigsten Hochzeitstag gratulieren. Mein Name ist Gasparo Bianchi. Ich bin der Inhaber des Hotels. Ich hoffe sehr, Sie werden Ihren Aufenthalt genießen. Wann immer Sie etwas benötigen, bitte wenden Sie sich vertrauensvoll an mich!«
Mit einer angedeuteten Verbeugung zog er sich zurück.
Was hatte Charlotte noch alles gemacht? Eine Zeitungsannonce aufgegeben? Die Frau war einfach mitteilungssüchtig. Gut, dass sie nicht wusste, was Sache war! Stutz sah sich im Restaurant um. Der Inhaber ging noch immer von Tisch zu Tisch, und ein Großteil des Personals wimmelte im Saal umher. Das war ideal für sein Vorhaben. So schenkte er Charlotte noch ein Glas Prosecco ein.
»Bin gleich wieder da, Lotte!«
Er rückte seinen Stuhl zurück und ging in Richtung der Toiletten in der Lobby. Hastig schaute er über seine Schulter, ob ihn jemand beobachtete. In der Kürze der Zeit würde er nicht viel in Erfahrung bringen können, aber er könnte sich wenigstens einen Überblick über das Untergeschoss verschaffen. Schnell ging er die Treppe hinab. Die ersten Räume entlang des Flurs beherbergten die Sauna und Kabinen für Wellnessbehandlungen. Die waren für ihn uninteressant. Weiter hinten befanden sich die Wäscherei und Lagerräume. Am Ende des Ganges gab es eine Tür mit der Aufschrift privato. Das verstand sogar er auf Anhieb, und es war ein echter Anreiz für ihn herauszufinden, was sich dahinter befand. Er drückte die Klinke auf gut Glück, aber die Tür war abgeschlossen. Das Schloss war ein einfaches Zimmertürschloss. Stutz rang mit sich. Er verstieß nie gegen Regeln. Aber bis zu einem gewissen Grad war seine Anwesenheit hier an sich schon ein Regelverstoß. Er angelte den Satz Dietriche aus seiner Hosentasche. Die Tür zu öffnen dauerte keine dreißig Sekunden. Das sprach leider dagegen, dass sich dahinter befand, was er zu finden hoffte.
Sowie er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ er den Lichtstrahl der kleinen Taschenlampe, die er vorsorglich mit sich führte, durch den Raum wandern. An der Rückwand standen altmodische Aktenschränke aus grauem Metall. Die Schubladen waren mit Jahreszahlen beschriftet. Sein Fund war womöglich interessanter, als er gehofft hatte. Der Inhalt reichte offenbar zurück bis in die frühen Zwanzigerjahre. Mit klopfendem Herzen zog Stutz am Griff der Schublade mit der Aufschrift 1943–45. Sie war unverschlossen. In dem Hängeregister, das sich darin befand, waren alle Akten mit Reitern markiert. Einer klang vielversprechend. Stutz zog den Aktendeckel heraus und wollte ihn gerade aufschlagen, als er hinter sich eine Bewegung wahrnahm. Er drehte sich um. Eine Taschenlampe blendete ihn.
»Commissario, ich wünschte wirklich, Sie wären nicht hergekommen«, raunte eine beängstigend ruhige Stimme.
Das ist gar nicht gut!, dachte Hauptkommissar Jens Stutz unglücklich.
Charlotte hatte ihren Prosecco ausgetrunken und noch ein kleines Extrastückchen Torte verspeist. Das Restaurant leerte sich langsam. Jens war immer noch nicht zurück. Auf der Terrasse hatten sich einige Gäste in die kleinen Sitzgruppen gesetzt. Sie entschied sich, es ihnen gleichzutun. Jens würde sie sofort durch das Fenster sehen können. Sie nahm ihre Handtasche und Jens’ Jackett, das er notgedrungen hatte ausziehen müssen. Es stimmte schon. Der Platz in der Ecke war wirklich sehr warm gewesen.
Kaum hatte sie sich gesetzt, brachte ihr der beflissene junge Kellner den bestellten Espresso. Die Hitze des Tages war einer angenehmen Wärme gewichen, und ein sanfter Wind vom See herauf schien sie geradezu zu streicheln. Limone und die anderen Orte am Ufer lagen unter ihr wie funkelnde Juwelen. Von hier oben schienen sie ruhig und majestätisch. Alles wirkte gedämpft, nur der allgegenwärtige Duft von Zitronenblüten schien sich in der lauen Nachtluft intensiviert zu haben. Charlotte saß wie verzaubert da und bemühte sich, den perfekten Moment ganz und gar in sich aufzunehmen.
Schließlich fragte sie sich doch, wo ihr Mann so lange blieb, obwohl sie nicht beunruhigt war. So wenig sich Jens je verirrte, so anfällig war er für Ablenkungen aller Art. Wenn etwas seine Aufmerksamkeit fesselte, vergaß er alles andere leicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass er Charlotte irgendwo einfach hatte sitzen lassen.
Das Konzert der Zikaden, die Düfte und der sanfte Wind wirkten geradezu hypnotisch. Charlotte hatte jedes Zeitgefühl verloren. Vielleicht war sie sogar kurz eingenickt, als sie jemand zart an der Hand berührte. Erstaunt sah sie auf in das hübsche Gesicht der jungen Rezeptionistin. Es wirkte unter der goldenen Bräune fahl, und Donatellas Lächeln war verkrampft, eher ein Fletschen der Zähne.
»Signora Stutz, dürfte ich Sie wohl bitten, einen Moment mit mir zu kommen?«
»Ich warte hier auf meinen Mann. Er muss gleich zurück sein. Dann komme ich bei Ihnen vorbei.«
»Bitte, jetzt!«
Als sie der jungen Frau endlich direkt in die geweiteten, großen dunklen Augen sah, erkannte sie schlagartig, warum sie hier war.
Jens würde nicht kommen.
Die samtene Nacht verflüchtigte sich, und um Charlotte herum wurde es eiskalt. Sie begann heftig zu zittern. Donatella hielt ihr Jens’ Jackett hin, um sie hineinschlüpfen zu lassen, dann fasste sie sie an der Hand wie ein kleines Kind und führte sie ins Hotel.
Donatella lotste Charlotte am Rezeptionstresen vorbei, durch eine Tür in eine Art Vorraum und weiter in ein Büro. Dort schob sie Charlotte auf einen Stuhl und stellte ihr den sehr unglücklich aussehenden jungen Polizisten vor. »Signora Stutz, das ist Tenente Grecco. Er ist von den hiesigen Carabinieri.«
Der junge Mann reichte ihr die Hand.
Donatella wandte sich zum Gehen, aber er hielt sie zurück und bat sie zu übersetzen. Sie atmete tief aus und stellte sich neben Charlottes Stuhl.
Die war in Versuchung zu sagen: »Ich weiß schon, was Sie mir sagen wollen.« Aber sie schwieg.
»Es tut mir so furchtbar leid, Signora Stutz. Der Tenente sagt, man habe ihren Mann vor einer halben Stunde tot aufgefunden.«
»Was ist passiert?«, fragte Charlotte.
»Der Tenente sagt, das weiß man noch nicht genau, aber leider ist er wohl nicht eines natürlichen Todes gestorben.«
Jens hatte immer zu hohem Blutdruck geneigt. Den Arzt suchte er viel unregelmäßiger auf, als Charlotte es für angebracht gehalten hätte. Irgendwie hatte sie angenommen, er sei an einem Herzinfarkt gestorben. Sie schüttelte nur stumm den Kopf.
»Sie wollen sagen, Jens ist ermordet worden?«
Charlotte schaute den jungen Beamten fassungslos an.
»Davon muss man leider ausgehen«, sagt der Tenente.
Donatella übersetzte und fragte weiter: »Er möchte wissen, ob er Ihnen ein paar Fragen stellen kann. Er meint, es wäre gut, es würde schnell gehen, aber wenn …« Donatella legte sanft ihre Hand auf Charlottes Schulter.
»Er soll fragen.« Charlotte lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen.
»Haben Sie eine Idee, wer Grund gehabt haben könnte, Ihrem Mann zu schaden?«
Charlotte schüttelte den Kopf.
»Hat er gesagt, warum er Sie im Restaurant alleingelassen hat?«
»Ich dachte, er wollte zur Toilette in der Lobby.« Der Carabiniere notierte, was Donatella für ihn übersetzte.
»Ich habe dem Tenente von Ihrem Hochzeitstag erzählt. Er will wissen, ob Ihr Mann hier im Hotel mit jemandem gesprochen hat.«
»Soweit ich weiß, nur mit Mitarbeitern, wie ich auch.«
Charlotte sah auf ihre Hände in ihrem Schoß hinunter. Plötzlich glaubte sie, wieder zu spüren, wie Jens ihre Hand ergriff. Jens hasste jede Art Aufhebens. Schon mehr als einmal hatte er ihr einen schönen Moment mit seiner Kritik verdorben. Aber an diesem Abend hatte er sie überrascht. Gefallen hatte sie ihm sicher nicht, die Gratulationscour, aber ihr hatte er die Freude gegönnt. Dann lass uns mal die nächsten zwanzig Jahre starten, Lottchen!
Tränen flossen über ihr Gesicht, doch sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen.
Donatella sagte etwas Energisches zu dem Tenente, und der nickte. »Signora, die Polizei will kurz in Ihr Zimmer sehen, dann können Sie nach oben gehen.« Vergeblich versuchte sie, aufmunternd zu lächeln. »Ein Commissario aus Brescia wird kommen und den Fall übernehmen. Wir haben keine Squadra Mobile in Limone. Er wird in etwa eineinhalb Stunden hier sein.« Donatella nahm wieder Charlottes Hand. »Kommen Sie, ich bringe Sie nach nebenan. Soll ich Ihnen einen Arzt rufen?«
»Nein, bitte nicht!«
Als Charlotte auf dem kleinen Sofa im Vorraum Platz genommen hatte, wurde eine sehr junge Kellnerin von dem älteren Chefconcierge in das Büro geführt, das sie selbst gerade verlassen hatte. Die junge Frau war bleich wie ein Gespenst und zitterte haltlos. Der Concierge setzte sich auf den kleinen Sessel neben Charlotte und bat Donatella, die Rezeption für ihn zu übernehmen.
»Es tut mir so furchtbar leid, Signora Stutz«, murmelte er geradezu verlegen. Charlotte nickte nur. Um ihren beängstigenden Gedanken zu entfliehen, sah sie sich um.
Es war ein eher unpersönlich, wenn auch elegant eingerichteter Raum, der offenbar vor allem zweckmäßig sein sollte. Das einzig Auffällige war eine Wand mit zahlreichen Bildern in verschiedenen Techniken. Aquarelle, Kohle- und Rötelzeichnungen. Auch einige kleinere Ölgemälde waren darunter.
So eine Collage hatte sie sich schon lange für das Wohnzimmer gewünscht, aber Jens war immer strikt dagegen. Er mochte einfach nichts, was er als Durcheinander empfand. Er hatte es nicht gemocht.
Charlotte fühlte sich wie in einem Albtraum.
Der Concierge war ihrem Blick gefolgt und sagte: »Signora Gabriella Bianchi, die Großmutter des jetzigen Chefs, war eine sehr begabte Künstlerin. Die Bilder sind alle von ihr.«
»Sehr schön!«, erwiderte Charlotte.
Die Tür öffnete sich einige Minuten später, die junge Kellnerin kam wieder heraus und setzte sich neben den Concierge, der väterlich einen Arm um sie legte.
Der Tenente wandte sich an den älteren Mann und sagte auf Italienisch: »Julia soll bitte hier warten, bis ich von dem Commissario aus Brescia gehört habe, wie es weitergeht. Können Sie bei ihr bleiben, Enzo?«
Charlotte hatte lange in der Schule Französisch und durch eine leidenschaftliche Jugendromanze mit einem Gaststudenten aus Padua recht gut Italienisch gelernt. Aber sie sprach es nicht gern. Sie hörte selbst, dass das, was sie sagte, nie ganz so klang, wie es sollte. Trotzdem verstand sie immer noch das meiste.
Die junge Frau weinte leise vor sich hin. Charlotte hingegen zog sich regelrecht in sich zurück. Sie hatte aufgehört zu zittern. Der erste Schock war einer gewissen Stumpfheit gewichen. Fast kam es ihr vor, als könne sie sich selbst beobachten, wie sie dasaß und einfach nur vor sich hin starrte. Sollte sie nicht schluchzen und toben oder ohnmächtig werden oder irgendetwas, das angemessener war als dieses stumpfe Starren? Aber es war einfach alles so unwirklich. So etwas passierte doch nicht jemandem wie ihr in ihrem ersten Urlaub seit Jahren. Jens und sie waren völlig durchschnittliche, ja eher langweilige Leute, obwohl Jens Kriminalbeamter war. Gewesen war. Solchen Leuten passierte so etwas einfach nicht. So etwas wie Mord. Wenn sie nur ein bisschen schlafen dürfte, dann …
Erst als der Concierge die junge Frau fragte, was denn nun eigentlich genau passiert sei, schaffte Charlotte es, wieder wahrzunehmen, was um sie herum vorging. Offenbar war Julia begierig darauf, es ihm zu erzählen, um das Erlebte irgendwie zu verarbeiten.
Sie sprach so schnell und aufgeregt, dass es Charlotte schwerfiel, alles zu verstehen. Die beiden gingen eindeutig davon aus, dass sie überhaupt nicht verstand, was sie sprachen.
Offenbar hatte es ein Missgeschick mit einer Mokkakanne gegeben, sodass der Stapel von Tischdecken, die immer zum Wechseln im Restaurant bereitlagen, unbrauchbar geworden war. Daraufhin hatte man die unglückliche Julia ins Untergeschoss geschickt, um Nachschub zu holen. Dort hatte sie zu ihrem Entsetzen Hauptkommissar Stutz im Flur liegend vorgefunden – mit einem Loch in der Stirn.
Charlotte strengte sich an, teilnahmslos zu wirken. Armer Jens. Das hat er wirklich nicht verdient. Manchmal hätte Charlotte ihm eine Ladung Schrot in seinen verknöcherten Hintern gewünscht. Aber das! Erschossen! Warum nur? Sollte sie dem Carabiniere von ihrem Verdacht erzählen, dass Jens eigene Gründe gehabt haben musste, hier zu sein? Nein, sie würde auf den zuständigen Kommissar warten. Sie wusste ja nichts Konkretes.
Die junge Frau sprach inzwischen weiter. Als sie sich über den Körper gebeugt und erkannt hatte, dass der Mann ganz offensichtlich tot war, hatte sie hinter sich deutlich Schritte gehört, als jemand die Kellerräume verlassen hatte. Kaum hatte sie das berichtet, fing sie an, heftiger zu zittern und zu weinen.
»Er hätte mich auch töten können!«, stieß sie schließlich hervor. Der Concierge streichelte ihr beruhigend über den Rücken.
»Die Kleine braucht einen Arzt. Sie hat einen Schock!«, forderte Charlotte auf Deutsch. Es hatte etwas für sich, dass keiner wusste, wie viel sie verstand. Denn eines war Charlotte klar: Sie würde nicht weichen, bis sie wusste, wer ihrem Mann das angetan hatte und warum.
Um Charlotte herum war alles dunkel. Nur von oben fiel noch etwas Licht auf sie. Als sie erschrocken aufblickte, schaute sie in ein riesiges Auge unter markanten, dunklen Augenbrauen. Dann schloss sich der Raum um sie herum völlig, und jemand begann offenbar, mit einem Hammer den Deckel ihres Gefängnisses zuzunageln. Sie presste die Augen zusammen. Als sie sie schließlich doch öffnete, war der Raum um sie herum von goldenem Licht erfüllt. Das Hämmern hatte aber nicht aufgehört.
Es kam von ihrer Zimmertür.
»Moment!«, rief sie und zwang sich, von dem Doppelbett aufzustehen und zu öffnen.
Vor der Tür stand ein Hüne von einem Mann, groß und massig gebaut, mit dichtem, welligem, schwarzem Haar, das schon von grauen Fäden durchzogen war.
»Signora Stutz, ich bin Commissario Fabio Angelotti von der Squadra Mobile in Brescia. Ich bin der zuständige Ermittler. Es tut mir leid, dass ich Sie offenbar geweckt habe.«
»Dafür waren Sie aber ganz schön hartnäckig«, murmelte Charlotte.
»Scusi«, antwortete er, dachte aber: Ich musste leider sichergehen, dass Sie nicht auch tot sind oder aber über alle Berge.
»Oje!« Charlotte sah entsetzt an sich herunter. Sie trug immer noch das rote Kleid und Jens’ Jackett. »Bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug. Ich wollte mich gestern nur einen Moment hinlegen und muss in den Klamotten eingeschlafen sein.«
»Das macht doch nichts, Signora. Es ist gut, dass Sie Schlaf gefunden haben. Wollen wir nicht hineingehen?«
Charlotte ließ ihn eintreten. Dabei fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Sie sah genauso schrecklich aus, wie sie sich fühlte.
»Bitte, setzen Sie sich doch!« Der Commissario deutete auf das kleine Sofa am Fußende des Bettes. »Ich hätte folgenden Vorschlag: Ich schaue kurz in Ihr Badezimmer. Dann können Sie sich in Ruhe im Bad fertig machen, und ich sehe mich inzwischen hier im Zimmer um. Wenn Sie so weit sind, gehen wir nach unten und frühstücken. Ich bin gestern spätnachts noch aus Brescia angekommen und habe in einem Mauseloch unterm Dach geschlafen. Ich habe auch noch nichts gegessen. Die Frühstückszeit ist fast vorbei, also können wir ungestört reden.«
Charlotte, die sich gerade auf das Sofa hatte sinken lassen, sah ihn verblüfft an: »Was? Wie spät ist es denn?«
»Viertel vor elf.«
»Unglaublich. Aber ich war schon immer ein Stressschläfer.«
»Seien Sie froh! Schlaflosigkeit wäre in Ihrer Situation nicht hilfreich.«
»Das ist wahr. Übrigens, die Carabinieri haben gestern schon das Zimmer durchsucht«, sagte Charlotte.
»Die Kollegen hier in Limone sind sehr tüchtig. Der junge Tenente Grecco wird einmal ein ganz ausgezeichneter Polizeibeamter werden.«
Das war schön gesagt, dachte Charlotte. Nur dann, wenn man etwas selbst erledigte, wusste man auch, dass es so gemacht wurde, wie man es für richtig hielt. Genau das war auch Jens’ Vorgehensweise gewesen. Also ließ sie den Commissario gewähren. Während er sich im Bad umsah, suchte sie sich saubere Kleidung. Als er wieder herauskam, hielt sie ihm die Teile hin. »Das hier nehme ich mit ins Bad, ist das in Ordnung?«
Commissario Angelotti schmunzelte bei der in vollkommen sachlichem Ton vorgetragenen Frage und nickte nur.
»Habe ich genug Zeit, um mir die Haare zu waschen?«
»Aber sicher, Signora!«
Eine knappe Stunde später saßen sie sich auf der Terrasse gegenüber. Der junge Kellner vom Vorabend hatte ihnen ein üppiges Frühstück aufgetragen. Aber er lächelte nicht und mied geflissentlich Charlottes Blick. Es war ihr schon früher aufgefallen, wie schwer es den Menschen fiel, einem Trauernden zu begegnen.
Der Cappuccino und die frischen Backwaren dufteten verführerisch. »Ich schäme mich, aber ich habe ganz schrecklichen Hunger«, flüsterte Charlotte und spürte, wie sie rot anlief.
»Essen Sie nur vernünftig! Sie werden noch viel Kraft brauchen.« Auch der Commissario zögerte nicht lange und bediente sich.
»Ihr Deutsch ist ganz ausgezeichnet, Commissario Angelotti.«
Nur der Hauch eines weichen italienischen Akzents färbte seine Sprache.
»Meine Mutter ist Südtirolerin. Ich bin praktisch zweisprachig aufgewachsen. Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
Charlotte stellte ihren Cappuccino ab und sah Angelotti fest in die Augen. »Natürlich. Und Sie müssen nicht um den heißen Brei herumreden. Ich weiß, dass ich Ihre Hauptverdächtige bin. Ich habe genug Krimis gelesen.«
Commissario Angelotti musste ein Schmunzeln unterdrücken.
»Ich habe mit den Restaurantbediensteten gesprochen. Sie sind sich ziemlich sicher, dass Sie das Restaurant nicht verlassen haben.«
»Sie sind ziemlich sicher?« Charlotte zog kritisch die Augenbrauen zusammen.
»Ja. Hinzu kommt, dass eine kluge Frau wie Sie eine viel unauffälligere Methode hätte finden können, um ihren unliebsamen Ehemann zu beseitigen, wobei Scheidung ohnehin die sauberere Lösung sein sollte.«
»Das genau könnte aber auch der Trick sein«, gab Charlotte zu bedenken.
»Also, Sie stehen jedenfalls auf meiner Verdächtigenliste ganz unten. Nein, das ist nicht wahr. Ich habe nämlich noch gar keine Liste.« Angelotti lehnte sich zurück und musterte sie eindringlich. »Haben Sie eine Idee, wer Ihren Mann getötet haben könnte?«
In dem Moment trat der junge Kellner schüchtern an den Tisch und erkundigte sich, ob sie noch etwas wünschten. Charlotte war dankbar, einen Moment in Ruhe nachdenken zu können. Doch als er ging, musste sie antworten: »Nein, nicht die geringste.«
»Er war Kriminalbeamter. Bei der Kripo kommt man gelegentlich mit gefährlichen Leuten in Berührung. Könnte sein Tod im Zusammenhang mit einem seiner Fälle in Deutschland stehen? Ich warte noch auf die Rückmeldung von den deutschen Kollegen. Aber Sie als seine Frau wissen vielleicht sogar eher, ob er sich irgendwie bedroht fühlte oder so.«
Charlotte stützte den Kopf in die Hände und seufzte wieder.
»Da kann ich Ihnen nicht helfen. Erstens hat Jens praktisch nie mit mir über seine Arbeit gesprochen. Zweitens hat er überwiegend am Computer recherchiert. Die Kriminellen, hinter denen er her war, wussten nichts von seiner Existenz. Er hatte eigentlich nie direkt mit Verbrechern zu tun.« Sie richtete sich wieder auf und sah ihn an. »Aber ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass hinter unserer Reise hierher etwas anderes steckte als eine Überraschung zum zwanzigsten Hochzeitstag. Gestern Morgen wollte Jens unbedingt alleine los. Und was wollte er überhaupt im Keller?«
»Im Keller?«
»So hatte ich das verstanden«, sagte Charlotte und versuchte, unschuldig dreinzuschauen. Das hatte sie erfahren, als sie das Gespräch auf Italienisch belauscht hatte, und das wollte sie ja eigentlich für sich behalten.
»Ich habe den Laptop Ihres Mannes mitgenommen. Würde er darin festgehalten haben, was er vorhatte?«
»Ganz sicher!«
»Er ist passwortgeschützt. Können Sie uns da weiterhelfen, Signora?«
»Leider nicht. Jens war in solchen Dingen sehr verschlossen.«
»Das bekommen wir schon heraus«, versicherte er. »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, Signora?«
»Das Hotel hier!« Obwohl sie alleine waren, beugte sie sich näher zu ihrem Gesprächspartner hinüber. »Warum sind wir ausgerechnet hier abgestiegen?«
»Das Palazzo Bianchi ist das beste Haus am Platz, Signora!«
»Genau! Und sicher auch das teuerste. Wir haben vor fünf Jahren das letzte Mal Urlaub gemacht – in der Ferienwohnung eines Kollegen in der Lüneburger Heide.« Charlotte seufzte.
»Vielleicht dachte Ihr Mann, zu dem besonderen Anlass sollte es etwas ganz Besonderes sein.«
Traurig schüttelte sie wieder den Kopf. »Wissen Sie, Jens hatte unseren Hochzeitstag komplett vergessen. Als er mit dieser Überraschung ankam, habe ich mich gefreut, aber ein Teil von mir wusste gleich, dass es dafür einen anderen Anlass geben musste. Er wollte natürlich über die Repubblica di Salò recherchieren. Das war sein aktuelles Interessengebiet. Aber da muss es noch etwas gegeben haben, von dem ich nichts wissen sollte. Und, ehrlich gesagt, war Jens einfach schrecklich geizig. Es muss einen Grund geben, warum er hierher wollte, so fantastisch das Haus auch ist.«
»Schön. Ich werde das in meine Überlegungen einbeziehen. Sie haben mich nicht gefragt, was mit Ihrem Mann passiert ist. Das wundert mich.« Er schaute sie kritisch an.
Ich weiß es ja schon, dachte Charlotte. »Ich bin die Frau eines Kriminalbeamten. Ich weiß von meinem Mann, dass man keine Informationen herausgibt.«
»Auch nicht an die eigene Frau?«
»Auch an die nicht!«, erwiderte Charlotte traurig.
»Dann war Ihr Mann aber sehr streng in der Auslegung der Bestimmungen.«
»O ja, das war er.«
»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, das uns weiterhelfen könnte?«
»Im Moment nicht. Wie geht es nun weiter? Muss ich etwas tun? Die … also, Jens identifizieren oder so?«
»Nein, Signora, das müssen Sie nicht. Würden Sie Ihren Mann gerne noch einmal sehen?«, fragte der Commissario sanft.
»Ist es schrecklich, wenn ich sage, das möchte ich lieber nicht? Ich möchte nicht, dass meine letzte Erinnerung an Jens die ist, dass er in der Pathologie liegt.« Sie war ganz blass geworden. Da ihre Tasse inzwischen leer war, umklammerte sie sie nur und starrte hinein.
»Das ist nicht schrecklich, Signora!« In seinem Kopf gab es so viele Bilder, die er nie wieder hatte löschen können. Er konnte die Frau nur zu gut verstehen. »Im Moment weiß ich noch nicht genau, wie lange alles dauern wird. Vorerst müssen Sie hierbleiben.«
»Ich kann ohnehin nicht abreisen, ehe Sie herausgefunden haben, wer das meinem Mann angetan hat. Keiner kennt ihn hier. Nur ich kann Ihnen sagen, was er wohl getan hätte.«
Der Commissario nickte ernst und sah sie kritisch an.
»Sollen wir jemanden kommen lassen, der Ihnen beisteht?«
Charlotte schüttelte nur den Kopf.
»Soll ich in meinem Zimmer bleiben?«
»Nein, natürlich nicht! Sie können sich frei bewegen. Geben Sie mir Ihre Handynummer und versprechen Sie mir, das Telefon anzulassen und auch dranzugehen, wenn ich Sie anrufe!«
»Natürlich!«
Charlotte schrieb ihre Nummer in das Notizbuch, das er ihr hinhielt.
»Ich muss nach Brescia, mich um einiges kümmern. Heute Nachmittag bin ich zurück. Dann unterhalten wir uns noch einmal. Gehen Sie in den Ort, unter Menschen. Das tut Ihnen sicher gut.« Er stand auf, und Charlotte tat es ihm gleich. »Ciao signora Carlotta. Ich habe nicht gesagt, wie leid mir Ihr Verlust tut, weil das immer so hohl klingt. Aber es tut mir sehr leid, glauben Sie mir!« Er nahm ihre Hand zum Abschied und sah ihr ernst in die Augen. Als ihm bewusst wurde, dass er ihre Hand schon deutlich länger hielt als nötig, ließ er sie schnell los, nickte kurz und eilte mit großen Schritten davon.
Charlotte ging auf ihr Zimmer zurück. Die Hotelangestellten nickten ihr zu, senkten aber dann schnell den Blick.
Was sollte sie nur tun?
Im Zimmer nahm sie das rote Kleid und Jens’ Jackett vom Sessel, auf den sie beides gelegt hatte. War da etwas in der Jackentasche? Tatsächlich! Jens’ unvermeidliches Notizbuch. Charlotte setzte sich aufs Sofa und blätterte die Seiten durch. Da war ein Eintrag für den vergangenen Tag. Leonore Endrici, 10 Uhr 45, und eine Adresse. In Limone! Und dann 11 Uhr 30, Franco Alberti, Raum 22, darunter die Adresse des Stadtarchivs. Daran war Charlotte gestern vorbeigelaufen. Jens hatte nur die Termine notiert.
Nun wusste sie, was sie tun würde. Sie würde Frau Endrici und Herrn Alberti einen Besuch abstatten und sie fragen, was ihr Mann von ihnen gewollt hatte.
Der Tag war so warm und sonnig wie der vorherige. Die Zimmermädchen hatten beim Aufräumen die Jalousien halb heruntergelassen, da die Sonne schon ihre ganze Kraft entwickelte. Charlotte schaute in den Spiegel. Sie trug weiße Caprihosen und eine weiße Bluse mit roten kleinen Hibiskusblüten darauf.
Sie hatte die Kleider relativ wahllos gegriffen, als der Commissario ihr Bad durchsucht hatte. Sie sah aus wie eine Touristin, die sich auf dem Weg zu einer Besichtigungstour befand. Das war sie aber nicht.
Sie war keine Touristin mehr.
Sie war Witwe. Die Witwe von Kriminalhauptkommissar Jens Stutz.
Witwe war ein grässliches Wort. Charlotte fand immer, Dinge wurden etwas besser, wenn man eine schönere Bezeichnung dafür fand. Darüber diskutierte sie oft mit Jens. Darüber hatte sie diskutiert. Er war der Meinung gewesen: »Schrott bleibt Schrott, egal wie man ihn nennt.«
Sie war seine Hinterbliebene.
War das besser? Nicht wirklich.
Jedenfalls konnte sie so nicht mehr herumlaufen. Alles in ihrem Schrank sah bunt und fröhlich aus. Eine dünne schwarze Leinenhose hatte sie für abends dabei. Aber unter ihren Oberteilen war die Hibiskusbluse noch das dezenteste. Also schlüpfte sie in die Hose und ließ die Bluse an. Das Notizbuch steckte sie in ihre Handtasche, nahm den Strohhut und brach auf in den Ort.
Der romantische Hohlweg war auch an diesem Tag erfüllt von Farbe und Duft, aber plötzlich erinnerten die steilen Mauern links und rechts Charlotte an die Wände des Gefängnisses, in das sie ihr Traum geführt hatte. Sie spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Das Atmen fiel ihr schwer. Vorsichtig sah sie nach oben. Aber natürlich war da kein bedrohliches Auge. Über ihr wölbte sich der tiefblaue Himmel. Also zwang sie sich, tief Luft zu holen und weiterzugehen. Erleichtert atmete sie auf, als der Weg sich endlich öffnete. Wie am Vortag wimmelte es in den malerischen, verwinkelten Gassen von erwartungsvollen, ausgelassenen Touristen. Offenbar war gerade eine der Fähren eingelaufen und hatte ihre Passagiere in ein neues Abenteuer entlassen.
Alles war wie am Tag zuvor, und doch war nichts mehr, wie es gewesen war. Das fröhliche Treiben, das ihr gestern Spaß gemacht hatte, schien ihr heute hysterisch und aufgesetzt. Die steilen Felswände, an die sich der kleine Ort schmiegte, kamen ihr nicht mehr vor wie natürliche Schutzwälle, sondern wie eine schreckliche Bedrohung, die außer ihr keiner zur Kenntnis nahm.
Sie musste wirklich aufpassen, nicht durchzudrehen. Was würde Jens dazu sagen? Er hasste Spinnereien. Er hatte Spinnereien gehasst. Charlotte musste schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie musste sich zusammenreißen. Sie hatte etwas zu erledigen.
In der Nähe eines winzigen Hafens entdeckte sie eine Boutique, die den Eindruck machte, als böte sie Kleidung in Charlottes Größe. Bevor sie ihre Besuche machte, brauchte sie etwas Passenderes zum Anziehen. Als sie eintrat, schien ihr der Raum wie eine Oase der Ruhe. Das Geschäft war nicht sehr groß. Eine zierliche Frau um die fünfzig sprach mit einer Kundin, die gerade ein knöchellanges Kleid probierte. Die Verkäuferin war eine der Frauen, die es schafften, in einem Sommerkleid auszusehen, als kämen sie direkt vom Catwalk.
»Guten Tag«, flüsterte Charlotte fast. Sofort ärgerte sie sich. Das hätte sie auch auf Italienisch hinbekommen. Aber sie war mit ihren Gedanken nicht wirklich bei der Sache.