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Die verunglückte Besitzerin eines Wurstimperiums, ein herumlungernder Privatdetektiv und beunruhigende Vorgänge um ihre Jugendliebe - Wilhelmines beschauliches Leben in Bad Kissingen wird auf den Kopf gestellt. Alles beginnt mit der Beisetzung ihrer Freundin Greta, die durch einen mysteriösen Sturz ums Leben kam. Als es einen weiteren Todesfall in Wilhelmines Umfeld gibt, befürchtet sie Gefahr für Gretas Witwer und stellt Nachforschungen an. Gut, dass sie Mitstreiter an ihrer Seite hat, denn die Lage wird schnell gefährlich.
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Elizabeth Horn
Verliebt, verlobt, verblichen
Kriminalroman
Liebe und Leichen Wie alt muss man werden, ehe man sich von seinen Illusionen verabschiedet? Wilhelmine Groß ist offenbar noch nicht alt genug. Nach dem Tod ihrer Freundin Greta erwacht in ihr die Hoffnung, womöglich eine Zukunft mit deren Witwer Hubertus, ihrer großen Liebe, zu haben. Doch auch wenn Wilhelmine es nicht wahrhaben will, tun sich merkwürdige Dinge rund um den wohlhabenden Witwer. Bald schon gibt es einen weiteren Todesfall in Wilhelmines und Hubertus’ Umfeld. Dessen Studienfreund Bruno überzeugt Wilhelmine, dass sie im Interesse des Freundes aktiv werden müssen. Die beiden beschließen, Nachforschungen anzustellen. Mit der Hilfe von Lenka, einer jungen Tschechin, die Wilhelmine ab und zu im Haushalt hilft, und Lukas, einem IT-Studenten und Wilhelmines Nachbarn, der sehr an Lenka interessiert ist, stoßen sie auf Dinge, die sie besser nicht gewusst hätten. Aber auch ein Privatdetektiv ist an der Sache dran. Als sie ihre Bemühungen vereinigen, nimmt der Fall richtig Fahrt auf und wird für die Gruppe sehr schnell sehr brenzlig.
In den USA geboren, kam Elizabeth Horn mit ihrer Familie vor der Einschulung nach Deutschland. Nach dem Abitur in Darmstadt machte sie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz ihr Staatsexamen in Germanistik, Anglistik/Amerikanistik und unterrichtete dann überwiegend Englisch. Geschichten zu erfinden war von Kindesbeinen an ihre Leidenschaft. 2016 erschien ihr erster Roman. Nach einigen weiteren Wohlfühlromanen wurde 2022 der erste Band ihrer erfolgreichen Gardasee-Krimiserie veröffentlicht. Ihre Begeisterung für den Jugendstil und die wunderschönen Parks führt Elizabeth Horn immer wieder nach Bad Kissingen, wo sie seit Jahren ihren Geburtstag feiert. Also gibt es für sie keinen besseren Ort, an dem Wilhelmine und Bruno Verbrechen aufklären könnten.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Fotolyse / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3182-6
Für Wolfgang, Julia und Thomas
Familientreffen
Das gedämpfte Licht warf durch den schweren Wein blutrote Reflexe in den Raum.
Eine Frau tippte Zahlen von einem Stapel Zettel, der in der Mitte des Tisches lag, in ihr Handy. Die anderen drei beobachteten sie gebannt. Ihre großflächigen hübschen Gesichter strahlten rosig im Kerzenschein, und ihre hellen Augen glühten fast fiebrig und raubtierhaft.
Als sie endlich fertig war, lächelte die Frau mit dem Handy zufrieden. »Ausgezeichnet, Mädels! Letztes Jahr war unser Rekordjahr. Wenn es wieder so gut läuft, dann können wir uns nach zwei, maximal drei Einsätzen pro Kopf zur Ruhe setzen.«
Diese Mitteilung löste Jubelschreie aus.
»Wie sehen die Pläne für die nächste Runde aus?«, fragte eine der anderen.
»Also ich komme zwar gut voran, aber das Objekt ist extrem misstrauisch. Das erfordert viel Einfühlungsvermögen.«
»Na, da bist du ja genau die Richtige«, wandte die Größte in der Runde schnippisch ein. »Ich habe gleich gesagt, dafür wäre ich besser geeignet. Aber unser großer Strippenzieher nimmt von mir ja keinen Rat an.«
»Mach dich mal nicht wichtig. Ich bekomme das schon hin. Beim nächsten Date erzähle ich, dass ich aus meiner Wohnung rausmuss und aufgrund der Mietpreise wegwill. Dann heißt es: Entweder ich ziehe bei ihm ein, oder ich gebe ihn ganz auf. Er hat eine Schraube locker. Aber das passt ja irgendwie.«
Das folgende Gelächter war alles andere als damenhaft.
»Was wird denn nun mit dir? Es wird Zeit, dass du mal wieder punktest!«
»Der große Meister meint, er hat ein attraktives Objekt für mich. Wenn die Voraussetzungen stimmen, werde ich in ein paar Tagen einsteigen. Was macht denn deiner?«
Die Angesprochene schüttelte unwillig den Kopf. »Mühsam, wirklich sehr mühsam. Lange halte ich das nicht mehr durch. Ich muss mir was einfallen lassen.«
»Pass nur auf, du mit deinem Hitzkopf. Denk dran! Wenn eine etwas versaut, gefährdet das uns alle.«
»Weiß ich doch. Keine Angst! Ich habe die Lage im Griff. Kommt, lasst uns anstoßen! Auf uns! Auf eine Zukunft in Saus und Braus!«
Die vier Frauen hoben ihre Gläser und prosteten sich zu.
»Auf uns und auf die edlen Spender! Mögen sie in Frieden ruhen!«
Sie sahen aus wie Aasgeier.
Ganz in Schwarz mit geneigten Köpfen.
Aufgereiht um ein großes Loch.
Der Nieselregen rann in den Kragen ihres Regenmantels. Sehr stimmungsvoll für eine Beerdigung.
Ein Glück, dass sie einen wasserdichten schwarzen Mantel hatte. Nun ja, in ihrem Alter war man eben gut ausgestattet für jedes erdenkliche Beisetzungswetter.
Wilhelmine ließ die Worte von Pfarrer Anselm an sich vorbeirauschen wie das Geräusch des Regens.
Sie wusste ohnehin, was er sagte. Sollte es einmal einen Engpass an Pfarrern geben, würde sie inzwischen einen recht ordentlichen Trauergottesdienst hinbekommen.
Trotzdem!
Gerade mit Greta hatte sie nicht gerechnet, genauso wenig wie die unglückliche Greta selbst. Ausgerechnet sie mit ihrem Fitnesswahn. Na ja, wenn man aus dem Fenster fiel, brachte probiotische Ernährung einfach nicht viel.
Das Wetter war genau wie damals, als Wilhelmines Mann Clemens begraben worden war. Es war eine schreckliche Beerdigung gewesen. Nicht, weil er noch nicht alt gewesen und sehr überraschend verschieden war, eher, weil keiner gewusst hatte, wie er sich verhalten und wo er hinschauen sollte. Clemens war nämlich ausgesprochen glücklich gestorben, und sämtliche Anwesenden hatten das zweifellos gehört. Die Prostituierte, in deren Bett er seinen letzten Atemzug getan hatte, hatte ihn offenbar lange und gut gekannt und sicher genau gewusst, was er so mochte.
Auch Wilhelmine hatte keine Ahnung gehabt, was sie tun sollte. Hätte sie geweint, hätte man sie für eine Heuchlerin gehalten, dabei hätte sie allen Grund zum Weinen gehabt. Nicht nur hatte sie offenbar nicht gewusst, was Clemens so mochte, nein, sie hatte auch nicht gewusst, wohin das Geld, das angeblich benutzt wurde, um die Hypothek auf ihrem Häuschen abzubezahlen, wirklich geflossen war.
Das war alles Schnee von gestern. Nun waren sie hier, um Greta unter die Erde zu bringen. Kaum einen ihrer Freunde kannte Wilhelmine so lange, wie es bei Greta der Fall gewesen war.
Sie waren sich als kleine Mädchen von zehn Jahren begegnet und hatten sich nie aus den Augen verloren. Doch hatte die Tatsache sie wirklich zu Freundinnen gemacht?
Es war eine der merkwürdigen Beziehungen gewesen, bei denen man sich gar nicht so sicher war, ob man sich wirklich mochte, aber trotzdem nicht voneinander loskam. Doch das war nun vorbei. Greta war nicht mehr.
»Ruhe in Frieden, Greta. Hoffentlich sieht dir der liebe Gott deine großen und kleinen Sünden nach. Und hoffentlich siehst du mir nach, dass ich jetzt endlich tun werde, was ich längst hätte tun sollen. Ich werde mir deinen Mann angeln!«
In dieses Café ging man wirklich nur nach einer Beerdigung. Es lag direkt am Eingang zum Friedhof, und das war auch schon alles, was für es sprach. Die künstlichen Freesien in den Vasen auf den Tischen standen schon seit Menschengedenken da. Ursprünglich waren sie orange gewesen und inzwischen zu einem kränklichen hellen Gelb verblasst.
Greta hätte einiges zu der Örtlichkeit anzumerken gehabt … und zu der in der Mitte gefrorenen Käsesahnetorte und dem dünnen Kaffee.
Aber wer konnte von ihrem armen Mann in seiner Trauer erwarten, dass er sich um so etwas ernsthaft Gedanken machte? Wilhelmine blickte zu ihm hinüber. Er sah so gut aus, so edel und sensibel, wie er traurig lächelte, wann immer ihn jemand ansprach.
Hubertus von Stetten, die Liebe ihres Lebens.
Groß und schlank, aufrecht, mit tiefblauen Augen. Nur das wellige dunkle Haar war nun stahlgrau. Er war immer noch ein schöner Mann.
Wie groß war seine Trauer wohl?
Greta war kein einfacher Mensch gewesen, das wusste Wilhelmine nur zu gut.
Bei ihren Treffen hatte sie manchmal das Gefühl gehabt, Hubertus hätte sie mit Wehmut und Bedauern angesehen. Aber sie war alt genug und kannte sich selbst gut genug, um sich einzugestehen, dass das reines Wunschdenken gewesen sein konnte. Außerdem spielte es keine Rolle. Man wusste nie wirklich, was in anderen Ehen so lief.
Ein Schock musste es zumindest sein, wenn die Frau, mit der man Jahrzehnte verbracht hatte, plötzlich nicht mehr da war, selbst wenn die Jahrzehnte kein Zuckerschlecken gewesen waren.
Noch immer fühlte sie Hubertus’ Arme um sich. Am Grab hatte er sie fest und lange im Arm gehalten, als sie ihm ihr Mitgefühl ausgesprochen hatte. Schließlich hatte er »Ach, Minchen« geseufzt und sie geradezu widerwillig losgelassen.
*
Früher hatte es Wilhelmine irritiert, wie schnell die Stimmung beim Leichenschmaus richtig ausgelassen wurde. Heute verstand sie, dass es einfach die Erleichterung war, selbst dem Friedhof noch mal entkommen zu sein und Kuchen essen zu dürfen, statt im kühlen Grab zu liegen, die zu diesem Stimmungsumschwung führte.
Meist war der Verblichene Gegenstand von zahlreichen Anekdoten und Erinnerungen. Nicht so heute.
Wilhelmine schaute und lauschte in die Runde. Die Müllers erzählten von seiner neuen Hüfte, Rita von ihren Enkeln.
Direkt neben Wilhelmine saß ihre alte Schulfreundin Lydia. Die war auf dem ihr zugewandten Ohr seit Jahren taub und zog es deshalb vor, sich mit der Frau auf ihrer anderen Seite zu unterhalten. Wilhelmines Nachbar zur Linken, den ihr Hubertus als einen alten Studienfreund vorgestellt hatte, wirkte in sich gekehrt und hing offenbar seinen Gedanken nach.
*
Wilhelmine wusch sich im moosgrünen Waschraum die Hände und betrachtete sich im Spiegel. Das Neonlicht war nicht gerade schmeichelhaft, und Schwarz stand ihr auch nicht.
Die meisten Trauergäste hatte sie lange nicht gesehen, da sie Gretas letzte Geburtstagsfeier geschwänzt hatte. Nun tat ihr das natürlich leid.
Viele waren richtig alt geworden. Sicher dachten sie das Gleiche über sie. Sie selbst fand eigentlich, dass sie sich nicht mehr so sehr verändert hatte, seit sie beschlossen hatte, die Haare nicht länger zu färben.
Nun war ihr Haar schneeweiß. Sie hatte sich mit dem Schritt schwergetan, doch wenn sie an Lydia mit ihrem unnatürlichen Helm aus lackschwarzem Haar dachte, wusste sie, dass die Entscheidung richtig gewesen war.
Sie sah noch ganz gut aus für ihr Alter. Etwas missmutig stupste sie mit dem Zeigefinger die weiche Haut unter ihrem Kinn an. Nicht so toll. Nun, was konnte man erwarten?
»Mensch, Wilhelmine! Wer hätte das gedacht. Ausgerechnet die Greta! Ich hätte ja auf den Müller getippt als nächsten Abgang, obwohl der ja recht munter scheint, auch wenn er bald nur noch aus Ersatzteilen besteht.« Karin, eine weitere ehemalige Mitschülerin, war hinter sie getreten, ohne dass sie es gehört hatte.
»Tja, vor Unfällen ist keiner von uns gefeit«, seufzte Wilhelmine und hoffte, überzeugend betrübt zu klingen.
»So ist es. Da hat ihr ganzer Sport- und Ernährungsfimmel nichts gebracht! Aber komisch ist es schon, dass jemand wie die Greta einfach so aus dem Fenster fällt – findest du nicht? Die Lydia will ja gehört haben, sie hätte einen Hirntumor gehabt, die Greta.«
»Na ja, Lydia und hören. Das ist an sich schon problematisch. Das weißt du doch!«
»Stimmt, aber es könnte sein. Das würde erklären, warum die Greta so aggressiv war. Das ist wohl oft ein Symptom davon.«
»Dann müsste der Tumor ganz schön alt gewesen sein. Greta war nie ein besonders freundlicher Mensch.«
»Da hast du auch wieder recht, Wilhelmine. Die Greta, die war schon in der Schule ein echtes Rabenaas. Ich gehe jetzt und esse noch ein Stück Torte, obwohl sie nichts taugt. Man sieht sich!«
Die Tatsache, dass die Torte umsonst ist, macht sie durchaus genießbar, nicht wahr, fügte Wilhelmine in Gedanken hinzu.
*
Brunos Erinnerungen hatten ihn fest im Griff. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn die Gefühle so heftig überfallen würden. Er hatte Hubertus’ Frau nur einmal getroffen, nachdem er aus München hergezogen war.
Sie hatte einen denkbar unsympathischen Eindruck auf ihn gemacht. Hubertus hatte sich damals offensichtlich über das Wiedersehen mit Bruno gefreut. Im Arbeitszimmer hatte er ihnen beiden gerade je einen Schwenker Cognac eingeschenkt, als die holde Angetraute hereingerauscht war. Kaum hatte sie die Gläser erblickt, hatte sie eines genommen und dessen Inhalt in die elegante Karaffe zurückgegossen.
»Wann, Hubsi, wirst du anfangen, selbst zu wissen, was gut für dich ist? Wenn Sie das Gefühl haben, es wäre ratsam, trinken Sie ruhig ein Glas. Ich gehe in die Küche und mache uns einen Gemüseteller.«
Damit hatte sie die Karaffe um den Hals gefasst und sich zur Tür gewandt. Bruno hatte einfach nicht widerstehen können, obwohl er gar keinen Cognac mochte.
»Bevor Sie die mitnehmen, können Sie mir vielleicht noch mal nachschenken?«, hatte er Greta gebeten. Sie hatte es wortlos getan, und ihr Gesicht hatte dabei eine beunruhigende dunkelrote Farbe angenommen. Wäre die Frau nicht aus dem Fenster gefallen, hätte sie sicher bald der Schlag getroffen, obwohl die Bösartigen oft besonders zäh waren. Der arme Hubertus hatte damals gar nicht gewusst, wie er seine Verlegenheit überspielen sollte.
Bruno war es völlig egal, dass die Frau nicht mehr lebte, und sein alter Freund Hubertus würde garantiert nicht an gebrochenem Herzen sterben.
Es war die Beisetzung an sich gewesen, die ihm zusetzte. Es war nun bald eineinhalb Jahre her, dass seine Eva beerdigt worden war. Er kam im Großen und Ganzen gut zurecht, sosehr er sie auch vermisste.
Der Umzug war eine gute Idee gewesen. Es machte alles leichter, wenn er nicht an jeder Ecke an seine Frau erinnert wurde. Aber die Rituale der Beisetzung hatten ihn doch sehr aufgewühlt.
Um sich nicht widerstandslos seinen trüben Gedanken hinzugeben, beschloss er nun, etwas höfliche Konversation mit seiner Tischnachbarin zu machen, nur um festzustellen, dass sie gar nicht mehr da war.
Also beobachtete er den trauernden Witwer.
Hubertus und er hatten beide in München studiert, er selbst Maschinenbau, Hubertus irgendetwas Schöngeistiges. Er kam einfach nicht mehr darauf, was es gewesen war. Jedenfalls nichts, was direkt zu einer Anstellung in einer Wurstwarenfabrik geführt hätte. Seither hatten sie sich selten gesehen, aber doch immer Kontakt gehalten.
Dass es Bruno nach Bad Kissingen verschlagen hatte, hatte nichts mit Hubertus zu tun. Sein Sohn und dessen Familie lebten hier, so hatte es nahegelegen, sich in der Nähe anzusiedeln. Hubertus war nur eine Art Bonus gewesen. Und nun, da sie beide Witwer waren, würde sich ihre Beziehung sicher wieder vertiefen.
Hubertus lächelte matt und nickte dankbar, jedes Mal, wenn sich jemand an ihn wandte. Er machte das wirklich gut. Hubertus hatte schon immer genau gewusst, wie er sich von seiner besten Seite zeigte. Das war seine eigentliche Stärke. Sicher war das im Geschäftsleben durchaus hilfreich gewesen.
*
Offenbar waren Karin und Lydia nicht die Einzigen, die sich über Gretas Fenstersturz Gedanken machten. Als Wilhelmine zwischen den Trauergästen zurück zu ihrem Platz ging, hörte sie an verschiedenen Tischen Getuschel.
»Wahrscheinlich hat sie sich so weit aus dem Fenster gebeugt, damit ihr ein fescher Paketbote in den Ausschnitt gucken konnte«, meinte ein gesetzter Herr und kicherte.
»Erwin!«, zischte seine Frau vorwurfsvoll.
»Du sagst doch selbst immer, die Greta wäre mannstoll gewesen, sogar in ihrem Alter noch.«
»Aber das sage ich nicht auf ihrer Beerdigung. Ich bitte dich, Erwin!«
»Also wenn jemand von den beiden Grund gehabt hätte, aus dem Fenster zu springen, dann doch sicher eher der Hubertus!«, hörte Wilhelmine aus einer anderen Ecke.
Sehr freundlich klang das alles nicht.
Merkwürdig war die ganze Sache mit dem Fenster tatsächlich.
*
Bruno spürte, wie sich der Stuhl neben ihm bewegte. Seine Tischnachbarin war zurück. Von all den alten Damen, die sich hier tummelten, hatte er eindeutig die attraktivste erwischt. Sie war recht klein und kurvig, mit wachen dunklen Augen. Die Falten um Augen und Mund schienen eher vom Lachen als vom Grübeln zu stammen. Schick war sie auch.
»Ich muss sehr um Entschuldigung bitten! Ich habe Sie schmählich vernachlässigt. Die Beerdigung hat mich ein wenig aus der Spur gebracht«, wandte er sich an Wilhelmine.
Die schaute ihn interessiert an. Da der Mann neben ihr so ruhig gewesen war, hatte sie ihn kaum zur Kenntnis genommen. Er sprach mit einem unüberhörbaren bayrischen Anklang. Dass er statt eines Anzugs einen schwarzen Janker trug, passte ebenfalls ins Bild. Bad Kissingen gehörte zwar selbst zum Bundesland Bayern, aber es lag in Unterfranken und das ist, wie jeder weiß, etwas ganz anderes. Außerdem war hier der Einfluss der nahe gelegenen Rhön sehr stark, sodass der Dialekt, den man überwiegend hörte, nicht ausgeprägt fränkisch, sondern eher rhönisch war. Da fiel ein »echter Bayer« schon auf.
»Sie kannten Greta gut?«, fragte sie und versuchte, möglichst verbindlich zu klingen. Bruno erklärte ihr, dass er ein alter Freund des Witwers sei.
»Es ist schwer für Hubertus, so plötzlich alleine dazustehen«, sagte sie schließlich.
»Er wird drüber wegkommen, der schöne Freiherr!«
»Wie bitte?«, fragte Wilhelmine nach.
»So hat man ihn während des Studiums genannt. Die meisten dachten, er wäre ein aufgeblasener Affe.«
»Das ist er ganz und gar nicht!«, schnauzte sie ihn an, ehe sie sich bremsen konnte.
Ihr Gegenüber grinste aber nur wehmütig.
»Oje! Sind ihm immer noch alle Frauen um ihn herum verfallen, unserem Hubertus? Unfassbar!«
»Absolut nicht!« Wilhelmine fühlte sich wie ein ertapptes Schulmädchen.
»Das muss Ihnen nicht peinlich sein. Sogar meine Eva ist seinem Charme erlegen, doch dann hat Hubertus sie und mich einander vorgestellt, und ein Wunder ist geschehen, und sie hat sich für mich entschieden!«
»Und Sie haben Ihre Frau vorsichtshalber lieber zu Hause gelassen, damit sie nicht rückfällig wird?«, fragte Wilhelmine leicht gehässig.
»Nein, auf dem Friedhof, leider.«
Wilhelmine wünschte, ein Loch würde sich unter ihr auftun und sie verschlingen. »Ich …«
»Bitte, machen Sie sich keine Gedanken. Ich hätte es ja erwähnen können. Und Sie? Ledig, geschieden oder verwitwet?«
»Verwitwet.«
»Das tut mir leid. Schon lange?«
»Ziemlich.«
Offenbar hatte sie keine Lust, darüber zu sprechen. Daher suchte Bruno ein anderes Thema. »Ob der Mann dort in der Ecke weiß, dass ihm ein totes Tier auf den Kopf gefallen ist?«, fragte er unschuldig.
Er sprach von Hubertus’ Cousin Klaus. Das grauenhafte Toupet trug der seit Jahren. Irgendwann hatte er das schlechte mittelbraune durch ein ebenso schlechtes graues ersetzt. Wilhelmine versuchte, vorwurfsvoll zu schauen, konnte jedoch ein Grinsen nicht unterdrücken.
Ihr Gesprächspartner selbst hatte praktisch kein Haar mehr auf dem Kopf. Der war blank wie eine Bowlingkugel. Zum Ausgleich womöglich trug er einen grauen Schnauzbart, dessen Spitzen nach oben gegelt waren.
Absurd irgendwie.
Na ja, alles war besser als ein grässliches Toupet.
Nun war Wilhelmine schon wieder wach.
Da hatte sie in Gedanken über Karin gelästert und dann selbst zu viel von dem miesen Kuchen gegessen. Sie sollte aufstehen und sich ein Natron machen. Aber sie war sich nicht sicher, ob der Druck in der Herzgegend wirklich vom Magen kam.
Gretas Tod erfüllte sie nicht mit großer Trauer. Trotzdem hatte die Beerdigung vieles in ihr aufgewühlt. Gedanken an die eigene Sterblichkeit, an die lange vergangene Jugend, an das, was das Leben ihr und der Weggefährtin gebracht hatte. Gedanken an Hubertus natürlich. Zum Abschied hatte er sie an sich gezogen und ihr zugeflüstert: »Minchen, du wirst mich doch ganz bald besuchen? Du lässt mich nicht im Stich, oder?«
Natürlich würde sie! Natürlich würde sie ihn niemals im Stich lassen.
Seufzend stieg sie aus dem Bett. Zum zweiten Mal an diesem Tag betrachtete sie sich kritisch im Spiegel.
Wo war das junge, sommersprossige, blonde Mädchen hingekommen, mit dem verträumten Blick, das sich eingebildet hatte, nun stünde es an der Tür zu einer aufregenden Welt mit unbegrenzten Möglichkeiten. Das Einzige, das noch an das Mädchen erinnerte, waren die dunklen Augen. Nur schauten die längst nicht mehr ahnungslos.
Sie war immer schmal, fast knabenhaft gewesen. Eher niedlich als schön. Mit zunehmendem Alter hatte sie einiges an Gewicht zugelegt. In ihrem Fall war das nicht mal schlecht. Nun, wo es wirklich keinen mehr interessierte, hatte sie plötzlich so etwas wie Kurven.
Greta hingegen hatte in jungen Jahren bereits üppige Formen gehabt, die die Männer sehr attraktiv gefunden hatten. Als ausgleichende Gerechtigkeit hatte sie später wahnsinnig vorsichtig sein müssen, um nicht dick zu werden.
Greta! Sie hatte immer damit angegeben, dass sie nach Greta Garbo benannt war. Wilhelmine hingegen hatte ihren ungeliebten Namen von einer vermeintlichen Erbtante, die dann doch ihren gesamten Besitz dem Kaninchenzüchterverein vermacht hatte.
Greta war keine kühle, geheimnisvolle Schönheit gewesen wie die Garbo. Eher hatte sie wie Marilyn Monroe ausgesehen, nur ohne diesen Hauch von Zerbrechlichkeit, den die ausgestrahlt hatte. Eine Art Monroe aus Stahl. Mit ihren engen Angorapullis und den Hosen, die aussahen wie aufgemalt, hatte sie immer etwas billig gewirkt.
Aber das musste man ihr lassen. Als Freifrau von Stetten hatte sie sich schnell ein neues, passenderes Profil zugelegt.
Warum nur war das alles so gekommen?
Hubertus und Wilhelmine waren schon ein Paar gewesen, bevor er zum Studium nach München gegangen war, allerdings eher im Geheimen. Hubertus’ Vater hatte sich für seinen Sohn etwas Besseres vorgestellt als die Tochter eines kleinen Buchhalters. Dabei hatte er selbst außer dem klangvollen Namen und einigen enteigneten Ländereien im Osten, die nie jemand gesehen hatte, nicht viel vorzuweisen gehabt. Trotzdem hatte es Hubertus vorgezogen, ihre Beziehung geheim zu halten, bis er auf eigenen Füßen stand.
Wie schon viel zu oft fragte sich Wilhelmine, ob alles anders gekommen wäre, hätte sie damals seinem Drängen nachgegeben. In den Semesterferien hatte er sie mitten in der Nacht in ihrem Zimmer besucht. Er war durch das Fenster hineingeklettert. Wahnsinnig romantisch!
Doch es verlangte ihn nicht nach innigen Umarmungen und trauten Küssen. Leicht angetrunken und regelrecht fiebrig hatte er sie bedrängt, ihm zu gewähren, was er so dringend wollte. Sie waren ein Paar, was spielte der Zeitpunkt da für eine Rolle? Sie gehörten schließlich zusammen! Erst als sie vor Verwirrung und Hilflosigkeit angefangen hatte zu weinen, war er davongestürmt.
Daraufhin hatte sie ihn wochenlang nie mehr allein getroffen. Ein Teil von ihr war recht froh darüber gewesen. Bis eines Tages ein gefalteter Zettel in ihrem Briefkasten gelegen hatte.
Hubertus hatte sich mit Greta verlobt.
Niemals hätte sich Wilhelmine vorstellen können, dass Hubertus sich für ein Mädchen wie Greta interessieren würde. Ausgerechnet Greta mit ihrem aufdringlichen Busen.
Böse Zungen behaupteten schnell, es sei weder der Busen noch Gretas Charakter gewesen, der Hubertus zu seiner Wahl bewegt habe. Zu der Zeit hatte Gretas Vater bereits vier gutgehende Metzgereien besessen und hatte offensichtlich noch große Pläne. Heute gab es in fast jedem Ort eine Filiale. Hubertus hatte sein Studium abgebrochen und eine Stelle in dem Geschäft seines Schwiegervaters übernommen.
Wilhelmine war er lange aus dem Weg gegangen. Als sie sich dann endlich wiedergesehen hatten, hatte er ihr nur einen leidenden Blick zugeworfen. Natürlich hatte ihn Greta, die Schlange, systematisch verführt, obwohl sie als eine von wenigen sehr genau gewusst hatte, wie es um die Gefühle ihrer Freundin für Hubertus stand.
Der Name der Fleischerei wurde schnell von »Metzgerei Schmittke« in »Fleisch- und Wurstwaren von Stetten« geändert. Inhaberin: Greta Freifrau von Stetten.
Was ein abgebrochener Kunsthistoriker in einem Fleischereibetrieb tat, wurde nie ganz klar. Hubertus saß für ein mittelmäßiges Gehalt mit unbestimmten Aufgaben irgendwo an einem Schreibtisch. Nur bei öffentlichen Auftritten durfte er mit seiner Gattin im Rampenlicht eine gute Figur machen. Der bald geläufige Werbeslogan »Von Stetten adelt die Wurst« hatte Wilhelmine jahrelang die Tränen in die Augen getrieben.
Kurz nachdem sich Hubertus für Greta entschieden hatte, hatte Wilhelmine Clemens geheiratet. Er war kein Freiherr, er war Außendienstler bei einem großen Werkzeughersteller. Ihrem Vater war das sehr viel lieber gewesen. Ihre Ehe war gar nicht so schlecht gewesen – vor Clemens’ unrühmlichem Abgang. Hätten sie Kinder gehabt, wäre vielleicht alles anders und besser gelaufen. Dass sie keine hatten, hatte natürlich an Wilhelmine gelegen, auch wenn keine der zahlreichen ärztlichen Untersuchungen einen Grund dafür hatte liefern können. Clemens hatte es absurd gefunden, von ihm – einem Mann, der immer »seinen Mann stand« – zu verlangen, er solle sich untersuchen lassen. Das war nicht ganz unlogisch, denn in der Ehe war grundsätzlich Wilhelmine an allem schuld gewesen, was nicht lief. Das war einfach eine Art Naturgesetz. Nach Clemens’ Tod hatte dessen Mutter sogar die Stirn gehabt, ihr vorzuwerfen, dass der Bub, Clemens, 57 Jahre alt, noch leben könnte, wenn sie, Wilhelmine, sich mehr um seine Bedürfnisse gekümmert hätte.
Das war nun wirklich ungerecht. Wie sollte eine Frau wie sie, die als Jungfrau in die Ehe gegangen war, mit einer erfahrenen Fachkraft mithalten können? Außerdem hatte sie geglaubt, das Schlafzimmer sei der Teil ihrer Ehe, wo es am besten klappte.
So konnte man sich irren.
Nur eines gab es, was sie sich gelegentlich vorwarf: Nie in ihrem Leben hatte es eine Zeit gegeben, in der ein kleiner Wink von Hubertus nicht gereicht hätte, um ihm überallhin zu folgen. Aber sie beruhigte ihr Gewissen mit dem Gedanken, dass Clemens mit seinem gesunden Selbstbewusstsein nie die leiseste Ahnung von diesem Gefühl gehabt hatte. Das hoffte sie zumindest sehr.
Gleich morgen würde sie ihn anrufen und einen Besuch vereinbaren.
Vielleicht war jetzt endlich ihre Zeit gekommen, ihre Zeit mit Hubertus.
Wilhelmine hatte das Gefühl, gerade eben erst eingedöst zu sein, als es an ihrer Wohnungstür klingelte.
Wer war das nur, mitten in der Nacht?
Mit klopfendem Herzen wälzte sie sich aus dem Bett.
Ohne auch nur ihre Pantoffeln anzuziehen, eilte sie in den Flur. Vom schnellen Aufstehen war ihr ganz schwindelig.
Also, hell war es schon. Trotzdem, wer kam denn so früh? Das konnte nichts Gutes bedeuten.
»Lenka! Ist etwas passiert?« Verwirrt schaute sie das junge Mädchen vor ihrer Tür an.
»Wieso? Es ist doch unser Dienstag. Ist Ihnen nicht gut, Frau Groß? Sie sehen ganz blass aus.« Besorgt betrachtete Lenka ihr Gegenüber.
»Ist es schon 9 Uhr? Ich habe total verschlafen. Ich lag die halbe Nacht wach.« Wilhelmine schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen.
»Setzen Sie sich. Ich mache einen Tee. Bitte!«, forderte Lenka und fasste sie am Arm.
Lenka war richtig erschrocken. Natürlich war Frau Groß uralt, zumindest von ihrer Warte mit gerade 21 Jahren aus gesehen. Aber sie war unheimlich fit, geistig und körperlich. Heute Morgen hingegen sah sie plötzlich richtig hinfällig aus, bleich und irgendwie verknitterter als sonst. Hoffentlich war es nichts Ernstes.
»Lassen Sie, Lenka! Sicher haben Sie wieder nicht anständig gefrühstückt. Ich gebe Ihnen Geld, und Sie holen uns schnell frische Brötchen. Wenn Sie zurückkommen, bin ich richtig wach, und wir trinken zusammen Kaffee. Moment, ich suche nur meine Tasche.«
»Schon gut! Wir schreiben nachher alles auf Ihren Verschluss«, sagte Lenka strahlend und war beruhigt, dass Wilhelmine wieder die Initiative ergriff.
»Wieso Verschluss?«, fragte die leicht verwirrt.
»Das sagen sie in der Kneipe immer. Ist eine Redensart. Die habe ich mir gemerkt. Es heißt, man zahlt später.«
»Aha.«
Plötzlich fiel bei Wilhelmine der Groschen.
»Auf meinen Deckel, Lenka, nicht Verschluss!«, rief sie dem Mädchen nach, das schon auf der halben Treppe nach unten war.
»Richtig, Deckel! Bin gleich zurück!«
*
Wilhelmine ging ins Bad und machte sich fertig, so schnell es ging. Kein Wunder, dass Lenka sie so entsetzt angesehen hatte. Sie sah heute wirklich zum Fürchten aus. Nach einer Tasse Kaffee und mit etwas im Magen würde es ihr wieder besser gehen.
In der Küche hörte sie Lenka mit dem Geschirr hantieren. Im Weggehen hatte die sich den Schlüssel für Wilhelmines Wohnung gegriffen.
Kluges Kind.
Schon lange hatte sie ihr angeboten, ihr einen eigenen Schlüssel anfertigen zu lassen, aber sie wollte keinen.
Die junge Tschechin putzte nun seit gut einem Jahr jede zweite Woche für Wilhelmine. Sie hatten sich im Supermarkt in der Innenstadt kennengelernt, als Lenka gerade einen Zettel an das Schwarze Brett gehängt hatte, auf dem sie ihre Dienste anbot. Das hübsche Mädchen mit dem offenen Gesicht und dem spitzbübischen Lächeln hatte Wilhelmine sofort gefallen.
Sie hatte schon seit Längerem überlegt, sich für die schwierigeren Sachen im Haushalt Hilfe zu holen. Die meisten Kandidaten waren jedoch nicht bereit gewesen, nur für wenige Stunden zu kommen. Das meiste schaffte Wilhelmine noch selbst. Aber sie hasste Hausarbeit. Ein positiver Nebeneffekt des Arrangements war, dass sie sich gezwungen fühlte, wenigstens einigermaßen Ordnung zu schaffen, ehe Lenka kam, damit sie sich nicht vor ihr genieren musste. Wenn sie allein war, sah sie oft keinen Grund, aufzuräumen. Und wenn sie ganz ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie es genoss, ab und zu einige Stunden mit einem fröhlichen, klugen jungen Menschen zu verbringen. Lenka war einfach ein Sonnenschein.
Als Wilhelmine in die Küche kam, musterte Lenka sie kritisch.
»Gut! Sie sehen wieder etwas besser aus. Sie haben mir richtig Angst gemacht.«
»Das kam nur von dem schnellen Aufstehen und vom schlechten Schlaf.«
»Zeigen Sie!«, forderte die junge Frau, ergriff Wilhelmines Handgelenk und fühlte ihren Puls. Sie studierte nämlich Medizin.
»Und? Mache ich es noch ein Weilchen?«
»Was wollen Sie denn machen?«
»Na, leben! Lebe ich noch ein Weilchen!«
»Sicher! Supergleichmäßiger, kräftiger Puls. Wie ein junges Kalb.«
Sagte man nicht eher Fohlen? Egal! Hauptsache, gesund.
Lenka stammte aus Tschechien, und ihr Deutsch war ausgezeichnet. Sie sprach praktisch fehlerfrei bis auf kleine Pannen bei Redewendungen. Ihre Worte klangen dunkel und weich, so als wären sie so lange herumgewälzt worden, bis alle Ecken und Kanten glatt geschliffen waren, wie bei einem runden Kieselstein am Strand.
Wilhelmine liebte es, ihr zuzuhören. »Wissen Sie was, Lenka? Wenn wir gefrühstückt haben, gehe ich schnell mal bei meinem Friseur vorbei und schaue, ob er mich drannehmen kann. Könnten Sie mir vielleicht in der Zwischenzeit einen Kuchen backen, den man gut transportieren kann?«
»Gugelhupf vielleicht?«, fragte Lenka.
Gugelhupf, das klang aus ihrem Mund wahnsinnig gemütlich, heimelig und lecker.
»Ja, das wäre toll. Was brauchen Sie denn dafür?«
Lenka zählte alles auf, und tatsächlich gab es das Benötigte selbst in Wilhelmines nicht sehr gut bestücktem Haushalt. Aber Lenka hatte schon öfter für sie gebacken. Seither fanden sich auch Zutaten wie Backpulver bei ihr.
»Für wen ist denn der Kuchen?«, fragte Lenka und dachte: Und für wen geht sie extra zum Frisör?
»Für den Freund, dessen Frau bei einem tragischen Unfall umgekommen ist. Gestern haben wir sie beerdigt. Er kann etwas Trost gebrauchen, der Arme.«
Lenka war nicht sicher, ob »der Arme« wirklich Trost brauchte. Was Nina, die für die Familie mit der adeligen Wurst geputzt hatte, ihr über den Unfall berichtet hatte, hatte mehr als merkwürdig geklungen.
»Kennen Sie den Mann schon lange?«, fragte sie möglichst beiläufig.
»Fast mein ganzes Leben!«
»Gehen Sie allein hin?«
»Wieso fragen Sie, Lenka?«
»Ach, ich bin nur neugierig.«
»Das verstehe ich, das bin ich auch. Ja, ich gehe allein hin. Ich fahre mit dem Bus. Deshalb muss der Kuchen gut zu tragen sein.«
Sicher war Frau Groß nicht in Gefahr, selbst wenn bei dem Unfall etwas nicht gestimmt hatte. Der Kerl war wohl kaum ein gewohnheitsmäßiger Frauenmörder, das wäre sicher irgendwann aufgefallen. Trotzdem, bei nächster Gelegenheit würde sich Lenka von Nina genau erzählen lassen, wie das gewesen war mit dem Fenstersturz. Irgendwie beunruhigte sie die ganze Geschichte.
»Da ist der Gugelhupf perfekt.«
»Na prima. Dann gehe ich mal und versuche mein Glück.«
»Alles klar! Aber lassen Sie es nicht zu kurz schneiden. Sie haben so schönes Haar. Sonst wirkt es schnell sehr … streng.«
Wilhelmine blieb stehen und wandte sich dem jungen Mädchen noch mal zu.
»Ganz ehrlich, Lenka! Sollte ich mir die Haare wieder färben lassen? Ich war früher mittelblond.«
Lenka betrachtete sie eingehend.
»Nein«, befand sie endlich. »Das Weiß wirkt ladylike, und es betont Ihre dunklen Augen. Ich finde es so viel besser. Wissen Sie, manchmal sieht man Frauen von Weitem, die sind so zurechtgemacht, als wären sie 30. Dann guckt man ins Gesicht und … Horror. Bei Ihnen ist das umgekehrt.«
»Wie jetzt? Horror von Weitem?«
Wilhelmine musste lachen über Lenkas Bestürzung. Es war wirklich ein bisschen gemein gewesen, sie absichtlich misszuverstehen.
»Nein, ich will sagen, mit dem weißen Haar sieht man gleich, Sie sind … nicht jung, nicht so richtig. Dann sieht man das Gesicht und denkt: aber gutes Gesicht! So rum ist besser, oder?«
»So rum ist viel besser.« Wilhelmine lachte und machte sich auf den Weg.
Bruno saß auf seinem Balkon mit Blick auf den weitläufigen Luitpoldpark und ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen. Der Dauerregen von gestern hatte sich verzogen und hatte zum Glück die trübe Stimmung, die ihn nach der Beerdigung überfallen hatte, mit sich genommen.
Trotzdem waren seine Gedanken auch heute noch sehr oft bei seiner Eva.
Nie im Leben hätte sie ihr geliebtes München aufgegeben, nicht einmal für ihren einzigen Sohn, Hardi.
Aber für ihn war es richtig gewesen, die vertraute Umgebung zu verlassen. Er war nun seit fast einem halben Jahr hier, und es ging ihm von Tag zu Tag besser.
Hardi hatte ihn gebeten, in seine Nähe zu ziehen: Es war angeblich immer schwerer, zuverlässiges Personal für die Firma zu finden, und sein Vater könnte ihm so ab und zu als Feuerwehr zur Seite stehen. Auch die Enkel würden sich darüber freuen, wenn sie ihren Opa in der Nähe hätten.
Die Eltern seiner Schwiegertochter lebten an der Küste und waren damit weit weg. Hardi hatte ihn erst recht spät zum Großvater gemacht, daher waren die beiden Enkelchen mit fünf und sieben Jahren in einem Alter, wo sie sich noch für ihren Opa interessierten.
Trotzdem waren das alles Vorwände gewesen. Er wusste sehr wohl, dass sich sein Sohn Sorgen um ihn gemacht hatte, als er allein in München gesessen hatte in seiner Verzweiflung. Nicht zu Unrecht, musste er heute zugeben. An manchen Tagen hatte er einfach nicht mehr weitermachen wollen. Doch ihm war klar, dass seine Frau Eva stinksauer auf ihn gewesen wäre, wäre er vor seiner Zeit aufgetaucht, wo auch immer sie sein mochte.
Sie erwartete von ihm, dass er den Rest seines Lebens so gut lebte wie irgend möglich. Das hatte sie ausdrücklich von ihm verlangt.
»Und bleib nicht allein, Bruno. Da kommst du nur auf dumme Ideen. Alleinstehende ältere Herren haben Chancen, glaub mir, da geht sicher noch was.«
Bad Kissingen war nicht nur wegen des Familienanschlusses eine gute Wahl gewesen. Der schmucke Kurort erinnerte ihn in vielem an München. Beide Orte wurden von wunderschönen historischen Bauten geprägt, durchzogen von Grün und einem idyllischen Fluss. Und da für beide Orte der Tourismus eine große Rolle spielte, versuchten sie immer, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Bad Kissingen erweckte bei Bruno den Eindruck, es hätte sich für seine Gäste in seinen Sonntagsstaat geworfen. Er konnte es kaum erwarten, dass der Kurgarten mit seinen herrlichen Anpflanzungen in voller Blüte stand. Zu Hause in München hatte er sich jedes Jahr darauf gefreut, wenn der Gärtnerplatz sich im Frühsommer in voller Pracht präsentierte. Schon jetzt, im Frühjahr, konnte man erahnen, dass sich Bad Kissingen durchaus damit messen konnte. So schaute er dem ersten Sommer in seiner neuen Heimat voller Vorfreude entgegen. Schön war es hier. Und der Ort war auf seine Art ebenso behaglich wie sein München.
Bruno ging ins Wohnzimmer und nahm den Rahmen mit Evas Bild von der Kommode. Mit ihrem frechen Grinsen schaute sie ihm entgegen.
»Ach, Eva! Platz für eine andere Frau gibt es in meinem Herzen noch lange nicht. Und so wie mit dir, mein Katzerl, wird es eh nie mehr sein!«
Natürlich nicht. Keine ist so wunderbar wie ich! Nett kann eine ja trotzdem sein, hörte Bruno seine Eva in Gedanken sagen.
»Nein, eine Frau suche ich nicht, aber ich habe wieder Lust darauf, unter Menschen zu gehen. Ich rufe mal den armen Hubertus an. Wobei dem sein Hausdrache niemals so fehlen kann wie du mir.«
Seufzend stellte er das Bild zurück und setzte sich mit dem Telefon aufs Sofa.
*
»Von Stetten?«
Die Stimme war melancholisch und wohlklingend. Genau so sollte sich ein trauernder Witwer anhören, befand Bruno leicht gehässig. Er selbst hatte in der ersten Zeit eher geklungen wie ein bissiger Hofhund. Er hatte viele Bekannte vor den Kopf gestoßen damals, das wusste er sehr wohl. Aber er hatte einfach nicht mit der Anteilnahme umgehen können.
»Hallo? Wer ist denn da?«
»Ja, hallo, Hubertus, ich bin’s, der Bruno. Ich wollte mal hören, wie es dir heute so geht. Hast du die Beisetzung einigermaßen verkraftet? Wenn du deine Ruhe willst, sag es nur. Ich würd’s verstehen.«
»Ah, Bruno, mein Lieber! Nein, nein, ich bin froh, dass du anrufst. Wenn ich mit meinen Gedanken alleine bin, ist es am schlimmsten. Ich danke dir, dass du gekommen bist, obwohl du Greta ja kaum gekannt hast. Ich weiß es zu schätzen. In so einer Situation wird einem erst schmerzlich bewusst, wie wichtig gute Freude sind.«
»Das war doch selbstverständlich. Es war eine sehr stimmungsvolle Feier.«
»Ja, das hat Wilhelmine auch gesagt, die Gute! An mir ist das alles irgendwie vorbeigezogen wie ein böser Traum.« Dem folgte ein tiefes Seufzen.
»Ist das die nette Dame, neben der ich gesessen habe? Klein, kurzes weißes Haar, fesch noch?«
»Genau. Auch sie hat heute schon angerufen. Sie war mir immer eine gute Freundin. Das macht mich einfach richtig dankbar!«
Der nächste tiefe Seufzer.
»Kennst du sie denn länger? Ich dachte eigentlich, sie wäre eine Freundin von Greta gewesen.«
»O ja! Wilhelmine und ich kennen uns seit unserer Jugend. Sie und ich … Wir waren schon … gute Freunde, ehe ich mich mit Greta verlobt habe.«
Schön bist du wirklich, mein lieber Freiherr! Schön blöd, dachte Bruno. Wie konnte man, wenn man mit so einer Frau »befreundet« war, einen Besen wie Greta heiraten? Diese Wilhelmine war wahrscheinlich nicht gerade ein scheues Reh. Die wirkte, als hätte sie ihren eigenen Kopf. Doch das mochte Bruno bei Frauen ausgesprochen gern. Auch seine Eva hatte ihren Kopf nicht nur gehabt, damit es nicht in den Hals reinregnete. Aber diese Greta! Die war einfach boshaft gewesen. Das hatte man auf den ersten Blick gesehen. Nun ja, jeder ist seines Glückes Schmied.
»Bruno? Bist du noch dran?«
»Ja, entschuldige. Ich war nur … Das passiert mir manchmal, dass ich in Gedanken abschweife. Die Beerdigung hat mich doch stark aufgewühlt.«
»Richtig! Du weißt ja, was ich durchmache. Wilhelmine hat mir versprochen, mich morgen zu besuchen. Sie war immer für mich da. Du kommst doch hoffentlich auch mal vorbei? Das leere Haus bedrückt mich schon sehr.«
»Natürlich mache ich das. Wie kommt man denn zu dem Namen Wilhelmine? Selbst für eine Frau unserer Generation klingt das schrecklich altbacken.«
»Das stimmt. Als junges Mädchen hat sie richtig darunter gelitten. Ich nenne sie Minchen. Seit Jahrzehnten jetzt.«
Na, das passt ja nun irgendwie gar nicht, dachte Bruno.
Da kam ihm eine ganz großartige Idee!