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Von Liebeschaos, Familientrubel und einem Weihnachtsmann wider Willen. Für Fans von Maike Werkmeister und Heike Wanner »Wie kam ein Mann, dessen Lebensmotto sein könnte ›Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste‹ in eine Situation, die nicht nur seinen guten Ruf sondern durchaus auch Leib und Leben gefährdete? Der Franzose würde antworten: Cherchez la Femme!« O du fröhliche, o du selige ... Das ist leichter gesagt als getan. In der stressigen Vorweihnachtszeit hat Versicherungsfachmann Tim nur Augen für seine Kollegin Mia, die jedoch noch ihrem untreuen Exfreund hinterhertrauert. Währenddessen versucht Tims bester Freund Gabriel, seiner Nachbarin Emilia näherzukommen, und gerät dabei immer wieder in skurrile Situationen – inklusive geliehener Katze. Noch etwas Familientrubel und perfekt ist das Chaos. Denn gegen Herzschmerz, Familienstress und andere weihnachtliche Pannen gibt es keine Versicherung ... Neuauflage: Erschien bereits 2020 unter dem Titel »Schadensfall Weihnachten«
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Bei »Vier Herzen unterm Weihnachtsbaum« handelt es sich um eine Neuausgabe des 2020 im Piper Verlag erschienenen Titels »Schadensfall Weihnachten« von Elizabeth Horn.
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Cover & Impressum
Widmung
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Epilog – Der erste Weihnachtsfeiertag
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Wolfgang und Thomas
Schwarz.
Absolute Dunkelheit!
Tims rechter Arm tat höllisch weh, und er konnte ihn keinen Millimeter bewegen, so verkeilt war er. Der linke hingegen hatte zumindest etwas Spiel. Tim war sich im Moment aber gar nicht sicher, ob es eine gute Idee gewesen wäre, sich zu rühren. Seine Beine schwebten über dem Abgrund, und diese undurchdringliche Schwärze um ihn herum machte ihm eine Heidenangst. Es war so dunkel, dass er bewusst blinzeln musste, um sich zu überzeugen, ob seine Augen offen oder geschlossen waren. Wenn er den Kopf ganz behutsam in dem Nacken legte, sah er über sich einen quadratischen Ausschnitt von etwas weniger schwarzem Schwarz und einen einzelnen kleinen Stern. Diese Position konnte er aber nur sekundenlang durchhalten.
Als er sich das nächste Mal in diese unbequeme Haltung begab, sah er fedrige weiße Flocken aus der Schwärze rieseln. Eine setzte sich auf seinen Wimpern fest. Er war nicht einmal in der Lage, sie wegzuwischen.
Was nun?
Wenn es ihm gelänge, sein Handy herauszuholen, könnte er vielleicht um Hilfe rufen. Vorausgesetzt natürlich, es gab an diesem Schreckensort ein Netz. Die Frage erübrigte sich allerdings. Sein Handy befand sich in seinem blauen Jackett, das zu Hause über dem Küchenstuhl hing.
Wie, zum Teufel, war er nur in diese ausweglose Situation geraten?
Eine sehr berechtigte Frage.
Wie kam ein Mann mit dem Lebensmotto »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste« in eine Situation, die nicht nur seinen guten Ruf, sondern durchaus auch Leib und Leben gefährdete? Der Franzose würde antworten: Cherchez la femme! Frei übersetzt: Wenn ein überdurchschnittlich intelligenter Mitteleuropäer, der einen vernünftigen, eher risikoarmen und recht gut bezahlten Job hatte, etwas absolut Hirnrissiges tat, dann steckte in der Regel eine Frau dahinter.
Da Tim und damit auch die Geschichte im Moment feststecken, ist das eine gute Gelegenheit zurückzublicken, wie es zu diesem Schlamassel kommen konnte.
Also, ganz von vorn:
Als Tim die Ergebnisse seiner Abiturprüfung in Händen hielt und tatsächlich den Notenschnitt geschafft hatte, den er brauchte, um Jura zu studieren, war er … Nein, das würde zu weit führen!
An dem Tag, als Tim zum zweiten und damit zum letztmöglichen Mal durch das zweite Staatsexamen fiel, schien ihm die Welt … Nein, das war auch nicht der eigentliche Ausgangspunkt.
Also gut – zurück zum Freitagmorgen vor zwei Wochen:
Die Weihnachtsdekorationen in der ganzen Stadt waren in Position, das Radio spielte jede Stunde mindestens einmal »Last Christmas«, und jedes Geschäft lockte mit X-mas-Specials und Ähnlichem. Aus dem Himmel fiel etwas, das sich nicht entscheiden konnte, ob es Schnee oder Regen sein wollte, und alle wirkten gehetzt, wie es sich für die Vorweihnachtszeit gehörte.
Als Tim seine Nische im Großraumbüro der Superior-Versicherung erreichte, saß sein Kollege Gabriel schon am Platz und war in den Anblick seines Bildschirms vertieft. Auf der Stirnseite des Schreibtischs blinkte der Weihnachtsstern aus Leuchtdioden unverdrossen vor sich hin.
Gabriel hatte das Ding vor einer Woche mitgebracht. Seitdem leuchtete es von der ersten bis zur letzten Büro-Minute im rhythmischen Wechsel: grün, gelb, rot, rot, gelb, grün. Der Stern war ziemlich schrill und kitschig und ganz und gar nicht Gabriels Stil, und das Geblinke konnte wirklich nerven. Tim spürte aber, dass dieses Teil eine besondere Bedeutung für seinen Kollegen hatte und dass Gabriel es ihm vielleicht irgendwann erklären würde … oder auch nicht. Jedenfalls betrachtete Gabriel den Stern in unbeobachteten Momenten mit geradezu verklärtem Blick. Tim und seinen Kollegen – oder eher Freund – verband eine Beziehung, die nicht vieler Worte bedurfte. Man wusste, der andere war da, wenn man über etwas sprechen wollte, was aber nicht bedeutete, dass man es auch tun musste.
Wenn also Gabriel seinen Stern liebte, sollte er ihn haben. Er war so ein anspruchsloser Kerl, dass Tim gern bereit war, diese Neuerung klaglos zu ertragen.
Wie so oft lag Tim mit seiner Einschätzung ganz richtig. Was Tim nicht wusste, war, dass Gabriels Nachbarin Emilia, die vor drei Monaten neben ihm eingezogen war, ihm diesen Stern geschenkt hatte – als kleines Dankeschön dafür, dass er während ihrer Abwesenheit ihre Katze drei Tage lang gefüttert hatte.
Diese Aufgabe übernahm Gabriel nur zu gern, da Emilia vom ersten Moment an sein Herz ein bisschen schneller hatte schlagen lassen, jedes Mal, wenn er ihr im Haus begegnet war. Gabriel plante, Emilia auf einen Kaffee einzuladen, wenn sie ihre Katze wieder übernahm. Er stellte sich vor, über das lange Wochenende Freundschaft mit dem Tier zu schließen, in der Hoffnung, dass Emilia sich auf den Instinkt ihres Kätzchens verlassen und sich auch für ihn interessieren würde.
Das klappte nicht. Kein einziges Mal kam die Mieze unter dem Sofa hervor, solange er in der Nähe war. Zum Glück war wenigstens das Futter immer gefressen, wenn er das nächste Mal die Wohnung betrat. Selbst als Emilia zurückkehrte, blieb die Katze unter der Couch hocken. Zu seiner großen Erleichterung irritierte das seine Angebetete aber nicht übermäßig. Er fürchtete schon, sie würde ihm vorwerfen, er hätte ihr Haustier traumatisiert.
Was Gabriel nicht ahnen konnte – was aber das merkwürdige Verhalten des Stubentigers völlig einleuchtend erklärte –, war, dass die Katze gar nicht Emilia gehörte. Sie hatte sie sich vielmehr für das Wochenende geliehen, um Gabriel bitten zu können, sich um sie zu kümmern, in der Hoffnung, dass das zu einer unkomplizierten Kontaktaufnahme führen würde.
Daraus, dass Gabriels Briefkastenschild eine dicke rot getigerte Comic-Katze zierte, hatte sie messerscharf geschlossen, dass er Katzen liebte, und sich eine besorgt, die er für sie hüten konnte. Emilia, die in vielem etwas weltfremd war, hatte nicht gewusst, dass es sich bei der Briefkastenkatze um Garfield handelte. Gabriel war kein Katzen-, sondern eher ein Lasagne-Fan, was erklärte, dass er figurmäßig durchaus etwas an den dicken Kater erinnerte.
Diese Informationen wären natürlich ungemein hilfreich für die weitere Entwicklung ihrer Beziehung gewesen, aber wie so oft im Leben hatten sie beide nicht die leiseste Ahnung gehabt, was der andere dachte.
Schade eigentlich!
Hätte Emilia gewusst, was Gabriel dachte oder fühlte, hätte sie auch die qualvollen Bemühungen, sich an Kontaktlinsen zu gewöhnen, einstellen können. Aber sie hatte ja nicht wissen können, dass der Anblick der Brille, die sie trug, bei Gabriel wunderbare Fantasien auslöste – davon, wie er sie ihr behutsam absetzte, um ihr ganz exklusiv direkt in die Augen sehen und sie dann hingebungsvoll und leidenschaftlich küssen zu können.
Gerade eben gab er sich wieder dieser wunderbaren Vorstellung hin, als er aufs Grausamste in die Realität der Arbeitswelt zurückgerissen wurde: Merlin Großkreuz stand neben seinem Schreibtisch.
»Na, Gabi! Hat der Weihnachtspuff schon wieder geöffnet. Wie läuft es für euch Mädels denn so?«
Sein dreckiges Grinsen schloss Tim in das charmante Geplänkel mit ein. Wie so oft dankte der seinem Schicksal, dass er seine Nische mit Gabriel und nicht mit dem »Kreuz« teilen musste. Wenn Gabriel wollte, durfte er noch beliebig viele blinkende Sterne, singende Weihnachtsmänner, Rentiere und was sonst noch anschleppen. Nichts konnte nur annähernd so schlimm sein wie Merlin Großkreuz.
Der von dem Kerl selbst propagierte Spitzname »der Magier« hatte sich nicht so recht durchgesetzt. Mit dem gängigen Spitznamen das »Kreuz« konnte Merlin Großkreuz aber offensichtlich leben, zumal er ihn völlig falsch interpretierte. Natürlich war der Ursprung der Nachname, aber der Träger vermutete einen Bezug zu seinem breiten, durch Bodybuilding gestählten Rücken. Eigentlich meinten die Kollegen aber, er sei das Kreuz, das eben jeder, der mit ihm arbeiten musste, zu tragen hatte. Eine weitere beliebte Bezeichnung, die auch mit einem Körperteil zu tun hatte, nämlich mit dem, das sich direkt unterhalb des Rückens anschloss, kam ihm so nie direkt zu Ohren.
»Ich hab einen Termin bei der Neuen! Wart ihr schon mal eingeladen?«
Er sprach von der neuen Chefin, die seit zwei Wochen im Zimmer an der Stirnseite des Großraumbüros residierte. Abgesehen von einigen Worten zur Begrüßung hatte man noch nicht viel von ihr gehört. Sie war eine recht gut aussehende Frau Mitte vierzig, kühl und professionell, wie man sich jemanden vorstellte, der einen Haufen Individuen unter Kontrolle halten sollte.
Das »Kreuz« war am frühen Morgen schon in Hochform: »Habt ihr Süßen am Wochenende was Nettes vor? Vielleicht ein Treffen im Häkelkreis oder so? Also ich habe ein heißes Date mit einer …«
Gerade als er seine Pläne noch weiter ausführen wollte, öffnete sich die Tür zum Allerheiligsten, und die Chefin rief knapp und offensichtlich ungeduldig: »Herr Großkreuz! Hätten Sie jetzt wohl Zeit für mich?«
So verpassten die Freunde den Bericht über die neueste Eroberung.
Tim stellte sich ans Fenster und blickte auf die noch dämmrige Straße. Wie so oft hatte er mal wieder genau den richtigen Moment erwischt, um den Auftritt mitzuerleben. Woher er instinktiv wusste, wann er runter sehen musste, konnte er sich selbst nicht erklären. Warum er nicht einfach wegschauen konnte, wusste er auch nicht.
Die glänzende schwarze Luxuslimousine parkte direkt vor dem Haupteingang. Die Fahrertür öffnete sich, und ein knapp zwei Meter großer, schlanker Mann in einem dunklen Maßanzug stieg aus. Sein relativ langes schwarzes Haar war aus der Stirn gegelt, und sein Gesicht war selbst jetzt leicht gebräunt. Tim fand, der Typ sah total albern aus. Die meisten weiblichen Mitarbeiterinnen, von denen mehr als eine ebenfalls aus dem Fenster schaute, fanden, er sähe zum Niederknien aus. Nun ging besagter Typ um den Wagen und öffnete die Beifahrertür.
Und da war sie: Mia! In Tims Augen die schönste Frau im Haus … im Haus? In der ganzen Stadt … auf der ganzen Welt. Hätte man die anderen männlichen Mitarbeiter gefragt, hätte wohl Frau Seger vom Empfang mit der Körbchengröße D ganz vorn gelegen.
Also in Sachen Körbchengröße konnte Mia nicht mithalten, aber sonst …
Tim konnte die Augen nicht von ihr lassen, obwohl er wusste, was gleich wieder kommen würde. In seinen Augen war sie vollkommen. Eher klein und zierlich, mit kurzem dunklem Haar, wunderschönen großen Augen und einem unwiderstehlichen Mund erinnerte sie ihn an eine Mischung aus Emma Watson und Audrey Hepburn. Ein bisschen Bambi war eindeutig auch dabei.
Und Tim? Wie hätte er bei einer Befragung abgeschnitten?
Die meisten Kolleginnen hätten wohl gesagt, er sei »irgendwie total süß«. Nicht die bevorzugte Beschreibung, die Männer sich wünschten. Aber ehrlich gesagt wäre Tim davon durchaus positiv überrascht und völlig zufrieden gewesen.
Tim konnte sich nicht dazu überwinden, vom Fenster wegzugehen. Der schmierige Typ stellte sich vor Mia, nahm ihre beiden Hände in seine und sülzte ihr irgendetwas ins Ohr. Dann zog er ein Päckchen aus der Tasche seines Mantels – garantiert Kaschmir oder so was – und reichte es ihr. Dann schmalzte er noch ein bisschen rum, wobei ihre Augen keinen Moment von seinem Gesicht abließen. Schließlich legte er seine Arme um sie, küsste sie filmreif und ging zurück zum Wagen. Die Zuschauerinnen in den anderen Fenstern seufzten tief, Tim knurrte angewidert und Mia ging, wie in Trance, das bunte Kästchen in der Hand, ins Gebäude.
Der Typ ist laut Büroklatsch auch noch Franzose! Das ist unlauterer Wettbewerb, dachte Tim frustriert.
Als er wieder an seinem Computer saß, bemerkte er die Uhrzeit. Warum waren die heute so spät gekommen? Was hatten sie gemacht, bevor er sie ins Büro gefahren hatte? Tim konnte diese Gedanken einfach nicht in Schach halten.
Während Tim versuchte, nicht an Mias Morgengestaltung zu denken, und Gabriel sich zwang, den Stern nicht anzuschmachten, sondern sich auf die zu bearbeitenden Anträge zu konzentrieren, befand sich Merlin Großkreuz im Allerheiligsten von Charlotte Levinsky-Steinburger, die dabei war, sich einen Überblick über ihre neue Aufgabe zu verschaffen. Es war ihr am effizientesten erschienen, die Statistiken durchzusehen und sich zuerst mit den Fällen zu befassen, die aus dem Raster fielen.
Aus diesem Grund saß nun »Großkreuz, Merlin, Schadensregulierung K–P« vor ihr. Er hatte sich schon hingesetzt, bevor sie ihn hatte bitten können, Platz zu nehmen. Breitbeinig hockte er in dem burgunderroten Ledersessel von Rolf Benz, den sie sich zu ihrer Beförderung zugelegt hatte. Dankenswerterweise auf Kosten der Firma. Gut, dass das eher filigrane Möbel ihrem Gegenüber nur knapp bis über die Taille reichte, die breiten Schultern hätten definitiv nicht hineingepasst. Der massige Nacken ließ den Kopf geradezu absurd klein erscheinen, was den nicht sehr intelligenten Gesichtsausdruck unterstrich.
»Herr Großkreuz! Um mir einen Überblick zu verschaffen, plane ich, alle Mitarbeiter nach und nach persönlich kennenzulernen. Ich habe mich entschieden, mit denjenigen zu beginnen, deren Fallzahlen aus dem Schema rutschen.«
»Guter Plan!«, erwiderte das »Kreuz« huldvoll und grinste seine Chefin weiter an.
»Herr Großkreuz …«
»Merlin, bitte … so nennen mich hier alle.«
»Herr Großkreuz! Ich bin nicht alle. Es ist Ihnen sicher bewusst, dass die Anzahl der von Ihnen abgeschlossenen Vorgänge pro Quartal deutlich unter dem Durchschnitt liegt. Besser gesagt, es gibt im ganzen Haus keinen Mitarbeiter, der weniger produktiv ist. Wie erklären Sie sich das?«
»Ich bin Spezialist für haarige Fälle! So was dauert. Wenn Sie ein Weilchen hier sind, sehen Sie, wie so was läuft.«
»Herr Großkreuz! Ich arbeite seit fünfundzwanzig Jahren in der Versicherungsbranche! Ich weiß jetzt schon, wie ›so was‹ läuft.« Mit Mühe schaffte es Charlotte, ihre Stimme nicht zu erheben.
»Jetzt verkohlen Sie mich aber! In Deutschland ist Kinderarbeit doch verboten«, strahlte sie das »Kreuz« an und fühlte sich dabei eindeutig ganz als Magier.
»Herr Großkreuz! Ich kann selbst bei eingehender Betrachtung ihrer Einzelfälle keinen Grund erkennen, warum Sie so wenige Vorgänge bearbeiten. Daher sage ich Ihnen, das muss sich ändern. Sie sind ein junger Mann im besten Alter, was Produktivität anbelangt. Es ist ein Jammer, dass Sie Ihr Potenzial nicht nutzen. Sehen Sie zu, dass sich das schnellstmöglich verbessert. Eine meiner Aufgaben hier wird es sein, die Abteilungen, wo es möglich ist, zu verschlanken. Produktivität wird der Schlüssel dazu sein, wer bleibt und wer nicht. In vierzehn Tagen sehen wir uns wieder. Dann prüfen wir, inwieweit sich bei Ihnen etwas tut. Ich würde es bedauern, Sie als Mitarbeiter zu verlieren. Also hängen Sie sich rein!«
»Das kann ich!«, freute sich das »Kreuz«.
»Gut, dann gehen Sie und fangen Sie umgehend damit an. Für Sie ist es fünf vor zwölf, mein lieber Herr Großkreuz! Auf Wiedersehen.«
Der Klotz erhob sich und verließ guter Dinge das Büro. Im Vorzimmer grinste er die Sekretärin an. »Nett, die Neue, was?«, sagte er und schlenderte megalässig ins Großraumbüro.
»Was für ein Ochse!«, seufzte Charlotte und blätterte noch mal in der Akte Großkreuz. Das war kein sehr gängiger Name. Ihre Intimfeindin auf dem Gymnasium hatte so geheißen. Cornelia, nein … Christiane … ach ja, Constanze Großkreuz. Im Lebenslauf waren die Eltern des jungen Helden genannt. Prima! Und tatsächlich – Mutter: Constanze Großkreuz, Vater: Frieder Großkreuz-Dickmann. Na ja. Der Nachname des Erzeugers erklärte die Wahl des Familiennamens hinlänglich. Wie kam die Superstreberin Constanze zu einem so hirnfreien Sohn? Sie hatte »Constanze-diesmal-habe-ich-1,2-Punkte-mehr-als-du« nie leiden können. Aber blöd war die nicht gewesen. Er kam wohl nach dem Papa. Vielleicht konnte ihr dieser Zufall in einer recht peinlichen Situation weiterhelfen.
🎄
Geradezu tiefenentspannt schlenderte Merlin durch das Großraumbüro in Richtung seiner eigenen Wirkungsstätte. Am Tisch seiner Lieblingsopfer machte er Halt.
»Wie war es?«, fragte Tim eher aus Höflichkeit als aus Interesse.
»Super! Was erwartest du denn? Sie ist ’ne Frau, oder? Sie war begeistert. Ich brauchte nicht mal meinen Zauberstab rauszuholen!«
Gabriel beugte sich unter seinen Schreibtisch über den Papierkorb und gab vernehmliche Würgegeräusche von sich.
»O je, Gabi! Bist du unpässlich? Dachte gleich, du siehst heute etwas aufgeschwemmt aus.«
»Wie ist die Chefin denn so?« Tim fürchtete, die Beherrschung zu verlieren und dem Blödmann eine aufs Maul zu hauen, wenn er nicht sofort das Thema wechselte. Wenn er mitbekam, dass er nervte, hörte Großkreuz nie mehr auf.
»Ganz süß. Der Erhaltungszustand ist echt super, und Ahnung hat sie auch. Sie sagt, ich hätte Potenzial, und sie hofft, dass ich ihr als Mitarbeiter erhalten bleibe. Die überzeuge ich gern von meinem Potenzial und von meiner Potenz auch, wenn sie zugibt, dass sie das interessiert.«
In dem Moment erklang ein scharfer Ruf vom Ende des Büros her: »Herr Großkreuz, unser Gespräch kann Ihnen doch nicht bereits entfallen sein?«
Das »Kreuz« winkte freundlich nach hinten, zwinkerte den Kollegen zu und trollte sich.
Mia saß an ihrem Schreibtisch und versuchte, sich auf den Schadensfall vor sich zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Ihre Knie waren noch ganz weich. Maurice war heute Morgen über die Feiertage nach Frankreich geflogen, um bei seiner Familie zu sein. Das hatte sie traurig gemacht. Sie hatte es sich so sehr gewünscht, Weihnachten zusammen verbringen zu können. Aber Maurice war so ein mitfühlender, verantwortungsbewusster Sohn. Er hatte ihr erklärt, dass er es seinen alternden Eltern einfach nicht antun konnte, nicht zu kommen. Er fehlte ihnen sowieso schon so sehr, seit er beruflich in Deutschland war. So viel lieber hätte er die Tage mit ihr verbracht, aber Vater und Mutter würden eben in ein Alter kommen, wo man sich nicht einfach sagen sollte: Wenn es dieses Jahr nicht geht, dann eben nächstes. Außerdem erwartete sein Vater, der zugleich sein Chef war, einen persönlichen Bericht über die Lage in der deutschen Filiale.
Mia fand seine Einstellung regelrecht rührend. Insgeheim hatte sie sich gewünscht, er würde sie vielleicht mitnehmen. Er hatte ihr so viel von dem Familiensitz erzählt, dass sie ihn zu gern gesehen hätte. Außerdem hätte es schon etwas bedeutet, wenn er sie seinen Eltern vorgestellt hätte. Aber diese Möglichkeit war nie zur Sprache gekommen. Nun ja, sie kannten sich ja auch erst seit gut drei Monaten – drei unsagbar romantischen, leidenschaftlichen Monaten.
Als die Kollegin den Raum verließ, öffnete Mia ihre Schreibtischschublade und streichelte das quadratische rot-goldene Päckchen, das er ihr zum Abschied überreicht hatte. Ausdrücklich hatte er darum gebeten, dass sie das Päckchen möglichst bald in einem ruhigen Moment öffnen sollte. Sollte sie schnell hineinschauen? Nein, sie würde warten, bis die Kollegen gegangen waren, und dann in aller Ruhe den Augenblick genießen. Sie wusste einfach, dass er ihr eine Botschaft hinterlassen hatte. Kein Mann, in den Mia verliebt gewesen war … und das waren immerhin vier, na ja, fast fünf gewesen … hatte so mit Worten umgehen können wie Maurice. Und das natürlich noch mit diesem unwiderstehlichen Akzent. Den konnte man nicht lesen, aber er war so gegenwärtig, dass sie sich seine Worte problemlos gesprochen vorstellen konnte …
In dem Moment kam die Kollegin zurück. Mia schloss schnell die Schublade und machte sich an den Rohrbruch, der sie schon seit gestern beschäftigte.
Gegenüber der Versicherungsgesellschaft befand sich eine Bar, die sich »Paragrafenreiter« nannte. Ein Großteil der Kunden setzte sich aus Mitarbeitern des Gerichts an der nächsten Ecke, aus Anwälten aus verschiedenen Kanzleien und aus Versicherungsangestellten zusammen. Normale Menschen kamen auch vereinzelt des Weges. Wenn sie nur schnell ein Bierchen nach der Arbeit trinken wollten, fanden sich Tim und Gabriel auch regelmäßig dort ein.
Gerade als sie die Kneipe betreten wollten, klingelte Gabriels Handy. Beide sahen es erstaunt an. Gabriels Freundeskreis war genauso überschaubar wie Tims. Gabriel ging ran, hörte einen Moment lang zu und versprach dann, in zehn Minuten da zu sein.
»Ist was passiert?«, fragte Tim besorgt.
»Ich hab wohl einen Wasserschaden in meiner Wohnung. Das war meine Nachbarin. Wir haben für solche Fälle unsere Handynummern ausgetauscht. Je nachdem, wie schlimm es ist, melde ich mich später noch mal. Jetzt muss ich leider …« Sprach es, drehte sich um und stürmte los.
Dieses Verhalten war völlig nachvollziehbar im Falle eines Wasserschadens. Das glückselige Lächeln auf dem Gesicht des Freundes passte aber gar nicht dazu. Da war eindeutig etwas im Busch. Oder jemand. Aber Gabriel würde es ihm erzählen, wenn er so weit war.
Halbherzig öffnete Tim die Tür zur Bar. Er konnte ja wenigstens mal schauen, wer so da war. Um zu Hause allein rumzuhocken, hatte er immer noch Zeit genug.
Kaum war er eingetreten, sprang ihn der Barmann regelrecht an. »Mit euch Versicherungsfritzen ist es wie mit euren Versicherungen. Ständig hängt ihr an einem, und wenn man euch braucht, dann ist keiner da.«
»Was ist denn los, Schlückchen?! Hast du Versicherungsprobleme? Raus damit.«
»Nein, Tim. Da hinten sitzt seit einer Stunde eine Kleine, die arbeitet auch bei euch, glaube ich. Ich wäre froh, es würde mal einer nach ihr sehen. Die schüttet sich ganz schön zu und scheint wenig Übung zu haben. Wärst du wohl so gut?«
»Bitte nicht! Ich habe Feierabend und keine Lust, mich um eine besoffene Tussi zu kümmern. Das ist dein Fachgebiet!«
»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sie ist ja noch friedlich. Aber das nimmt kein gutes Ende. Entweder kotzt sie mir alles voll oder sie kippt um … Bitte, Tim. Sie ist ein nettes Mädchen, das irgendein Problem hat. Ich will nicht, dass sie noch mehr Ärger kriegt.«
Schlückchen war ein riesen Brocken mit tätowierten Unterarmen, multiplen Ohrringen und einem Herzen aus Gold. Letzteres versuchte der Barmann vergeblich zu verbergen.
»Wo sitzt denn die Schnapsdrossel?«, fragte Tim missmutig.
Schlückchen wies auf einen Tisch hinten im Lokal.
Mia!!!
Tim glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Aber da saß sie. Ihr Kopf lag auf ihren Armen auf der Tischplatte. Ihr schon leicht glasiger Blick ruhte auf einem fast leeren Whiskyglas.
»Ich kümmere mich drum«, verkündete Tim und machte sich zu ihr auf den Weg.
»Danke, Mann! Das nächste Mal gebe ich einen aus!«
Als Tim an ihren Tisch trat, schaute sie zu ihm auf, ohne den Kopf zu heben. Auf ihrem Gesicht verbreitete sich ein strahlendes Lächeln, das Tim direkt ins Herz traf.
»Hey, T…Tim! Setzt dich doch, und wir trinken einen zusammen.«
Tims sehr überschaubarer Name klang bei ihr so, als müsste man nach dem T erst mal Kraft für den Rest schöpfen. Er setzte sich zu ihr.
Sie richtete sich auf und rief dem Barmann energisch zu: »Noch zwei für mich und meinen Freund T…Tim.«
Hinter dem Rücken machte Tim ein Handzeichen, das die Bestellung wieder aufhob. Schlückchen nickte ihm dankbar zu. Tim sah Mia an. Ganz offensichtlich war ihr Bedarf an Alkohol mehr als gedeckt. Etwas klebte an ihrer rechten Wange. Tim beugte sich vor und entfernte es behutsam. Ihre Haut fühlte sich genauso zart an, wie er es sich immer vorgestellt hatte.
»Was ist das denn?« Mia beugte sich zu ihm und versuchte, den Gegenstand zu fixieren.
»Ah, eine Erdnuss!« Mit den Lippen pickte sie sie aus seiner Hand und aß sie auf.
Besorgt fragte sich Tim, wie viele Whiskys sie wohl schon intus hatte.
»Schön, dass du da bist, T…Tim. Allein zu trinken ist blöd. Komm, noch einen! Barkeeper, noch ’ne Runde für uns zwei Hübschen.«
»Sag, T…Tim, voulez vous coucher avec moi?«
Tim sah sie fassungslos an. Ihr Französisch klang nicht so verwaschen wie ihr Deutsch. Es war mehr der Inhalt, der seinen Atem stocken ließ.
»Was?!«
»Sorry, mon cher, T…Tim. Sicher sprichst du kein Französisch, weil du ein netter Kerl bist. Das bist du … ein netter Kerl, das bist du, weißt du, T… weißt du, T…Tim?«
»Es ist nett, dass du das sagst! Ich …«
»Das heißt: ›Willst du mit mir ins Bett gehen?‹ Es ist zwar Französisch, aber es funktioniert genau wie auf Deutsch. Keine Sorge. Man legt sich vielleicht nur schneller hin, weil es irgendwie romantischer klingt. Was ist …? Willst du?!«
»Mia, was soll ich sagen? Das wäre sicher ganz toll …«
Natürlich wollte er. Das wünschte er sich seit Monaten. Und nicht nur das. Er wollte ihre kleine Hand halten und mit ihr durch die Stadt laufen. Er wollte auf dem Sofa mit ihr kuscheln. Er wollte ihr dunkles Haar streicheln …
Ich will …, dachte Tim bedrückt. »Heute aber besser nicht, Mia!«
Diese seufzte tief und ließ den Kopf wieder auf ihre Arme sinken. »Macht nichts. So toll wäre es eh nicht gewesen, wie kürzliche Studien ergeben haben.«
Was hatte sie nur? Bei den Worten waren ihr Tränen in die Augen getreten.
»Alles okay bei dir, Mia?«
»O ja, alles bestens. Komm, mein lieber Freund, T…Tim! Lass uns noch einen heben, wo wir so ge…gemütlich zusammensitzen. Barkeeper noch zwei, aber flott!«
»Ich weiß nicht, Mia! Eigentlich will ich nichts trinken. Ich sollte heimgehen und du vielleicht auch?«
»Du hast recht, T…Tim. Du hast wirklich genug für heute. Na gut, dann fahre ich jetzt auch heim. Allein zu trinken ist blöd. Also … ups, wir haben ein klitzeklitzeklitze … also wir haben irgendwie … Weißt du zufällig, wo ich heute Morgen mein Auto hingestellt habe? Es ist blau und klein und hat Rost an der Fahrertür, der muss ganz dringend weg, sonst fällt die Tür bald ab. Und ich raus … Hoffentlich nicht, wenn ich gerade fahre … Das wäre so typisch … Weißt du, wo es ist? Sonst kann ich nicht rausfallen … heimfahren, meine ich. Heimfahren aber mit meinem Auto. Verstehst du?«
»Mia, wenn ich mich nicht täusche, bist du heute Morgen ins Büro gebracht worden.«
»Echt? Mais, bien sure! Maurice, très charmant, très beau, très sexy, très … Mist! Ich kenne gar keine französischen Schimpfwörter. Aber ich weiß, wo mein Auto ist. Zu Hause. Na, dann fahre ich da jetzt auch hin! Mach es gut, mon cher ami.« Unsicher krabbelte sie aus der Sitzbank.
»Wie willst du denn ohne Auto heimfahren, Mia? Mit dem Bus?«
»Es gibt keinen Bus, ich wohne in der Wildnis.«
»In der Wildnis?«
»Genau, das heißt so. Und kein Bus.«
»Gut, dann fahre ich dich! Komm!«
»Du bist ein echter Kavala… netter Mann, T…Tim.«
Beherzt fasste Tim die heftig schwankende Mia am Arm und zog sie in Richtung Parkplatz. Als er ihr die Beifahrertür öffnete, strahlte sie ihn glücklich an.
»Wie gut, dass du keinen Maurice hast. Sonst wären wir jetzt beide die Dummen.«
»Wo muss ich denn hin?«
»Ach, fahr mich einfach heim, mein lieber netter T…Tim. Daanke.« Entspannt legte sie ihren Kopf an die Rückenlehne.
»Wo wohnst du denn, Mia? Hey, Mia, nicht einschlafen, sag mir deine Adresse!«
»In der Wildnis!«