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Mord ist Sport - der zweite Fall der Cosy-Crime-Serie um die Buchhändlerin und Amateurdetektivin Samantha Washington
In der beschaulichen Kleinstadt North Harbor ist Dawson Alexander der Star des örtlichen American Football Teams. Für Buchhändlerin Samantha Washington ist Dawson nicht nur ihr Mieter, sondern fast wie ein Sohn. Doch für die Polizei ist er ein Hauptverdächtiger, nachdem Dawsons Ex-Freundin Melody ermordet aufgefunden wurde. Während Samanthas Schwester Jenna als Anwältin Dawsons Verteidigung aufbaut, schmieden Samantha, ihre rüstige Großmutter Nana Jo und deren treueste Gefährtinnen aus dem Seniorenheim einen raffinierten Plan, um dem wahren Mörder auf die Spur zu kommen.
»Liebenswerte Charaktere, zwei quirlige Pudel, viel Atmosphäre und die perfekte Mischung aus Spannung und Humor« Publishers Weekly
»Leser von Cosy Crimes und Liebhaber historischer Romane werden diese warmherzige, clever gemachte Serie lieben« Kirkus Reviews
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Seitenzahl: 352
Mord ist Sport – der zweite Fall der Cosy-Crime-Serie um die Buchhändlerin und Amateurdetektivin Samantha Washington
In der beschaulichen Kleinstadt North Harbor ist Dawson Alexander der Star des örtlichen American Football Teams. Für Buchhändlerin Samantha Washington ist Dawson nicht nur ihr Mieter, sondern fast wie ein Sohn. Doch für die Polizei ist er ein Hauptverdächtiger, nachdem Dawsons Ex-Freundin Melody ermordet aufgefunden wurde. Während Samanthas Schwester Jenna als Anwältin Dawsons Verteidigung aufbaut, schmieden Samantha, ihre rüstige Großmutter Nana Jo und deren treueste Gefährtinnen aus dem Seniorenheim einen raffinierten Plan, um dem wahren Mörder auf die Spur zu kommen.
»Liebenswerte Charaktere, zwei quirlige Pudel, viel Atmosphäre und die perfekte Mischung aus Spannung und Humor« Publishers Weekly
»Leser von Cosy Crimes und Liebhaber historischer Romane werden diese warmherzige, clever gemachte Serie lieben« Kirkus Reviews
Valerie M. Burns wurde in Northwest Indiana geboren, verbrachte einen Großteil ihres Lebens an der Küste des Michigansees und lebt heute in Tennessee. Sie studierte Urbanistik, Politik- und Literaturwissenschaft. Tod zwischen den Zeilen ist ihr Debüt als Romanautorin und wurde 2017 in der Kategorie »Best First Novel« für den Agatha Award nominiert. Burns lebt als freie Schriftstellerin und ist Mitglied mehrerer literarischer Organisationen wie International Thriller Awards, Mystery Writersof-America und Sisters in Crime.
Kriminalroman
Aus dem Englischen vonAngela Koonen
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Valerie Burns
Titel der englischen Originalausgabe: »Read Herring Hunt«
Originalverlag: Kensington Publishing Corp., New York
Published by Arrangement withKensington Publishing Corp., New York, NY 10018 USA
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Einband-/Umschlagmotive: © Getty Images Plus (15); Alena Petrachkova/Adobestock
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2827-0
luebbe.de
lesejury.de
In liebevoller Erinnerung an Coco Chanel für siebzehn Jahre Liebe und Kuscheln
North Harbor, Michigan
»Hast du den Aufzug dieses Flittchens gesehen?«
»Schsch.« Ich schaute nach allen Seiten, ob das »Flittchen« außer Hörweite war. Taktvolles Benehmen war nicht Nana Jos Stärke.
»Komm mir nicht mit ›Schsch‹, Sam! Ich habe schon Sumoringer gesehen, die mehr anhatten.«
Meine Großmutter übertrieb mal wieder, aber nicht sehr. Melody Hardwick war dünn wie ein Supermodel, stark geschminkt, studierte im vierten Jahr und klebte im übertragenen und buchstäblichen Sinn an meinem Mitarbeiter Dawson Alexander.
»Dem Jungen ist hoffentlich klar, dass sie nur eine Goldgräberin ist.« Nana Jo hatte Melody von Anfang an nicht gemocht.
»Du weißt doch gar nicht, ob sie es auf sein Geld abgesehen hat. Du kannst sie bloß nicht leiden.« Ich schloss die Ladentür zu. »Außerdem hat Dawson überhaupt kein Geld.«
»Mag sein, dass er zurzeit keinen Cent in der Tasche hat, aber der Junge hat FEP.« Nana Jo wischte die Kassentheke ab und leerte den Papierkorb.
»Was heißt ›FEP‹?«
»Fantastisches Erwerbspotenzial. Er ist der beste Quarterback der MISU Tigers seit zehn Jahren. Sie sind ungeschlagen, und wenn es so weitergeht wie in der letzten Woche, haben sie gute Chancen, ins Finale zu kommen und vielleicht die Meisterschaft zu gewinnen.«
Meine Großmutter begeisterte sich seit jeher für Sport, aber seit der Quarterback der Michigan Southwest University, von den Einheimischen »MISU« genannt, in meiner Buchhandlung jobbte, war sie fanatische Anhängerin seiner Mannschaft.
»Es war ihm peinlich. Hast du gesehen, wie sie an ihm geklebt hat?«
»Dawson ist ein großer Junge. Er kann schon selbst entscheiden.«
Sie blickte mich an, als wäre sie davon nicht überzeugt. Offen gestanden, war ich es auch nicht. Ich machte mir seinetwegen Sorgen. Das Studium fiel ihm schwer. Am Ende des ersten Jahres war ihm eine akademische Probezeit gewährt worden. Weil er den ganzen Sommer über gebüffelt und von Nana Jo und mir Nachhilfe bekommen hatte, waren seine Zensuren besser geworden, er war nicht suspendiert worden und hatte sein Leben neu ausgerichtet. Er brauchte eigentlich nicht mehr in der Buchhandlung zu arbeiten. Sein Football-Stipendium deckte Miete und Essen. Ich wollte von ihm eigentlich nie Geld für das Apartment über meiner Garage verlangen, aber Studenten mussten die Hausraten einbringen und fair für ihre Arbeit bezahlt werden.
»Solche Mädchen bedeuten nichts als Ärger. Denk an meine Worte. Sie wird sich bei der ersten Gelegenheit mit einer Schere an Dawson ranschleichen, wie Delila an Samson.«
Nana Jo riss mich aus meinen Gedanken und weckte in mir die Sorge, die ich glaubte, verdrängt zu haben. Ich versuchte, sie zu vertreiben, doch sie blieb im Hinterkopf.
Wir putzten den Laden, und dann machte sie sich eilig auf den Weg zu einem Date mit ihrem Freund Freddie.
Bei einer schnellen Runde durch die Regale sah ich mir an, wie ordentlich die Bücher in den Fächern standen. Ich staunte noch immer, dass Market Street Mysteries mir gehörte. Mein verstorbener Mann und ich hatten jahrelang davon geträumt, eine Krimibuchhandlung zu eröffnen. Nach seinem Tod, der inzwischen ein Jahr zurücklag, lebte ich unseren Traum.
Ich ließ die Fingerspitzen über die soliden Borde gleiten, die noch nach Holz rochen und von der öligen Politur glänzten, die mein Tischler Andrew mir gegeben hatte. Nach sechs Monaten lief das Geschäft gut, und ich fand es noch immer aufregend, darin umherzuschlendern und zu denken, dass dies mein Eigentum war. Während ich von Regal zu Regal ging, hörte ich Krallen auf dem Holzboden klicken, denn meine vierbeinigen Gefährten Snickers und Oreo begleiteten mich. Meine Liebe zu Kriminalromanen mochten die beiden Pudel nicht teilen, aber sie schätzten definitiv die Gebäckkrümel, die ihren Weg unter Büchertische und die Kassentheke fanden.
An der Rückseite des Geschäfts lag der eingezäunte Garten, in dem ich mich erholen und die Hunde Eichhörnchen jagen und in der Sonne liegen konnten. Wenn der Herbst am Michigansee einzog, wurde es kalt. Das Laub ging von Gelbgrün zu sattem Gelb, Burgunderrot und Rostrot über. Der See wechselte ebenfalls vom ruhigen Dunkelblau des Sommers zu dem hellen Blau, das mit dem Horizont verschwamm und vom Himmel nur durch die weißen Wellenkämme zu unterscheiden war, die über das Wasser tanzten und ans Ufer schlugen.
Der Herbst war meine liebste Jahreszeit. Da hielt ich mich viel im Freien auf und genoss das Abendrot, so auch an diesem Abend, bis Snickers mir zu verstehen gab, dass sie ihr Fressen noch nicht bekommen hatte, indem sie an meinen Beinen kratzte und mir die Strumpfhose ruinierte. Ich musste unbedingt daran denken, gleich am nächsten Morgen einen Termin mit dem Hundesalon zu vereinbaren, oder ich durfte vorerst keine Röcke tragen.
Solange mein Mann Leon und ich von der Buchhandlung geträumt hatten, hatten wir die Drei-Zimmer-Wohnung in der oberen Etage vermieten wollen, um unsere Fixkosten zu reduzieren. Nach seinem Tod hatte ich unser damaliges Haus verkauft und war mit meinen Pudeln in das neue gezogen. Eines Tages hatte ich in meinem Garten ein Mordopfer gefunden. Seitdem schlief Nana Jo meistens in meinem Gästezimmer, obwohl sie ein Haus in der Seniorenwohnanlage hatte. Dass ich mich in der Wohnung so wohlfühlen würde, hätte ich nie gedacht.
Nächste Woche jährte sich Leons Tod zum ersten Mal. Der Schmerz war inzwischen nicht mehr so lähmend. Tagsüber lenkte mich die Arbeit ab, aber abends wurde es für mich schwer. Vor einem Jahr hatte ich angefangen zu schreiben, um mich geistig zu beschäftigen und meine Zeit auszufüllen. Vor sechs Monaten hatte ich die erste Fassung eines britischen Kuschelkrimis abgeschlossen und seitdem überarbeitet.
Nana Jo wollte, dass ich ihn an einen Literaturagenten schickte, doch dann müsste ich jemand anders als meiner liebenden Großmutter erlauben, ihn zu lesen. Ich war noch nicht bereit, mich demütigen und zurückweisen zu lassen. Und in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ein Verleger an meinem Roman interessiert wäre, stünde ich vor einem weiteren Problem: Er würde wissen wollen, was ich als Nächstes schreiben könne. Aber was, wenn ich lediglich ein Buch in mir hatte?
Die Frage ließ sich nur auf eine Art beantworten: durch einen zweiten Versuch. Deshalb kochte ich mir nach dem Abendessen einen Tee und setzte mich an meinen Laptop.
Wickfield Lodge, Landsitz von Lord William Marsh,
November 1938
Thompkins betrat den hinteren Salon, wo die Familie beim Tee saß, und räusperte sich. »Der Duke of Kingfordshire ist am Telefon.«
Lady Daphne saß an ihrem Lieblingsplatz beim Fenster. Sie war im Begriff, sich zu erheben, hielt jedoch inne, als Thompkins sich erneut leise räusperte.
Er wandte sich an Lady Elizabeth. »Der Herzog bittet, Eure Ladyschaft sprechen zu dürfen.«
Lady Elizabeth Marsh schaute zu ihrer Nichte Daphne, deren Erröten ihr nicht entging. Sie stellte die Tasse ab und eilte aus dem Salon. In der Bibliothek nahm sie den Hörer ab. »Hallo, James, mein Lieber, gibt es …«
»Gott sei Dank, Sie sind zu Hause. Ich bedaure, aber mir bleibt keine Zeit für Höflichkeiten. Eile ist geboten.« Lord James Fitzandrew Browning, normalerweise ruhig und entspannt, sprach mit leicht schwankender Stimme, was die Dringlichkeit seines Anrufs noch deutlicher widerspiegelte als seine Worte und sein inkorrektes Benehmen. Der Herzog holte tief Luft und sprach weiter. »Es wird Ihnen sonderbar vorkommen, aber Sie müssen mir vertrauen. Sie werden einen Anruf der Herzogin von Windsor erhalten, die darum bitten wird, ihre Jagdgesellschaft am kommenden Wochenende in Wickfield Lodge aufzunehmen. Es ist essenziell, dass Sie ihr das gestatten.«
Was immer Lady Elizabeth erwartet haben könnte, dies ganz gewiss nicht. Einen Moment lang war sie wie erstarrt, bevor sie sich so weit fasste, dass sie darauf eingehen konnte. »Aber natürlich, James. Wir … wir haben noch nichts vor.«
James ließ einen tiefen Seufzer hören, und sie sah ihn beinahe vor sich, wie er sich die Stirn wischte.
»James, Sie wissen, wir helfen gern, wo wir können, aber Sie sagten, das sei essenziell. Essenziell für wen?«
James zögerte kurz mit seiner Antwort. »Für England. Für die Krone. Vielleicht für die ganze Welt.«
An Samstagen war in der Buchhandlung viel zu tun, und deshalb war ich froh, dass meine Neffen Christopher und Zaq für die Herbstferien vom College heimgekommen waren und im Geschäft aushalfen. Auch den Sommer über waren mir die Zwillinge eine unschätzbare Hilfe gewesen. Sie waren zwanzig Jahre alt, groß und schlank und sahen einander zum Verwechseln ähnlich, waren aber charakterlich so verschieden, dass man sie ganz leicht auseinanderhalten konnte. Christopher war kaufmännisch orientiert und neigte zum Preppy-Look, Zaq dagegen hatte ein Händchen für Technik und kleidete sich provokant. Keiner der beiden hatte etwas für Krimis übrig, doch sie waren begabt, und ich war ihnen dankbar, weil sie Zeit für ihre Tante opferten und sich ihr Taschengeld nicht woanders verdienten.
Nana Jo las gern Krimis und verstand es, die Wünsche der Kunden zu ermitteln und ihnen die passenden Autoren und Krimigenres wie Hardboiled, Detektivroman, Kuschelkrimi oder Polizei-Thriller zu empfehlen.
Heute begann das Heimspielwochenende für die MISU und die Bye Week, die spielfreie Woche für die Jesus Andrea Mary University, von den Einheimischen »JAMU« genannt, an der die Zwillinge studierten. Als Dawson seinerzeit angefangen hatte, bei mir zu arbeiten, hatte ich überlegt, in der Buchhandlung einen Fernseher aufzustellen, damit wir ihn samstags spielen sehen konnten. Jedoch schien mir ein Fernsehgerät in einer Buchhandlung paradox zu sein. Ich wählte schließlich einen Mittelweg, indem ich auf den sanften Jazz verzichtete, den ich sonst laufen ließ, und auf den Sportsender schaltete, zumindest wenn Spiele der MISU und der JAMU übertragen wurden.
Ich rechnete mit Beschwerden der Kunden, die sich gern in einen Sessel setzten und in Ruhe lasen. Aber bisher waren die Kommentare positiv gewesen. Vermutlich war das ihrem Wunsch geschuldet, einen Jungen ihrer Stadt zu unterstützen, zumal sie eine Vorliebe für das von Dawson produzierte Gebäck hegten. Für jemanden, den sie persönlich kannten, waren sie bereit, ein wenig Ruhe zu opfern.
Zum Glück hatten Dawson und die MISU Tigers das Spiel mit einem gesunden Vorsprung von drei Touchdowns gut im Griff. Ein Sieg der eigenen Mannschaft machte die Kunden glücklich, und glückliche Kunden gaben mehr Geld aus.
Sobald sich in der Stadt herumgesprochen hatte, dass Dawson bei mir wohnte und arbeitete, waren mehr Leute in den Laden gekommen. Viele waren Football-Fans, die ihm gratulieren und über Sport plaudern wollten oder um Autogramme für ihre staunenden Kinder baten. Die übrigen waren junge Mädchen, die für ihn schwärmten und schüchtern zu ihm hinschauten, wenn er arbeitete, und sich kichernd hinter einem Buch verbargen, sobald er zu ihnen blickte. Der zusätzliche Kundenverkehr war gut fürs Geschäft, unabhängig von den Gründen.
Das MISU-Team gewann mühelos, und ich hatte am Ende des Tages sehr viel eingenommen. Die Zwillinge waren am Abend verabredet und machten sich nach Ladenschluss sofort auf den Heimweg.
»Du solltest mit uns ins Casino gehen«, sagte Nana Jo.
»Danke, aber ich werde zu Hause bleiben. Ich möchte ein paar Seiten schreiben.« Wir ordneten Bücher in die Regale ein und putzten.
»Wunderbar. Du arbeitest an einem neuen Band der Reihe? Weißt du, ich bin wirklich stolz auf dich. Doch du musst dein Manuskript endlich an Literaturagenten schicken. Soweit ich weiß, ist es ein langer Prozess, bis man veröffentlicht wird. Ich habe irgendwo gelesen, dass Agatha Christie fünf Jahre lang abgelehnt wurde, bevor sie ihren ersten Buchvertrag unterschrieb.«
»Ich weiß. Es ist …«
Die Alarmanlage, die seit dem Sommer installiert war, sprang an. Ich erschrak derart, dass ich die Bücher fallen ließ, die ich einsortieren wollte. Der Alarm schrillte, sobald eine Tür oder ein Fenster geöffnet wurde – manchmal sogar, wenn die Anlage nicht scharf geschaltet war. Nana Jo trat um mich herum, um zu sehen, wer hereingekommen war, und ich hob die Bücher auf.
Hastig legte ich sie auf den nächsten Tisch und eilte nach vorn. Ich hätte schwören können, dass ich die Ladentür zugeschlossen hatte. Gerade als ich um die Ecke bog, hörte ich Nana Jo reden.
»Wir haben geschlossen.«
»Oh, ich weiß. Ich dachte nur, ich warte hier auf Dawson.«
Ich überlegte, woher ich die Stimme kannte. Als ich in den Hauptgang trat, sah ich Dawsons spärlich bekleidete Freundin Melody. Ihr heutiges Outfit bestand aus mehr Stoff als das gestrige, aber der Unterschied war gering. Ein schwarzer hautenger Minirock und ein kurzes Mesh-Top mit tiefem V-Ausschnitt, das nur die Brüste bedeckte, und rote zehn Zentimeter hohe Pumps, die Nana Jos Freundin Irma als »Nuttenschuhe« bezeichnet hätte.
»Gott erbarme sich. Was hast du denn da an?« Nana Jo betrachtete sie mit offenem Mund.
Ihr schockierter Gesichtsausdruck war an Melody nicht verschwendet. Die drehte sich lachend um die eigene Achse, um Nana Jo den Gesamteindruck zu gönnen. »Toll, hm?«
»Kommst du gerade von der Stange?«
Melody errötete, neigte den Kopf zur Seite und machte einen Schritt auf sie zu, als wollte sie etwas Beleidigendes erwidern.
Viele junge Menschen hielten Ältere für schwächlich. Allerdings wog meine Nana Jo hundert Kilo und hatte den Grünen Gürtel in Aikido. Außerdem konnte sie eine Fledermaus auf dreihundert Meter Entfernung von der Dachrinne schießen. Fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß. Trotz des Altersunterschieds hätte ich bei einem Zweikampf mein Geld auf Nana Jo gesetzt.
Ich trat dazwischen. »Dawson ist nicht da, und das Geschäft ist geschlossen. Ich schlage vor, du versuchst es auf dem Campus.«
Melody sah mich an wie einen Kaugummi unter ihrer Schuhsohle.
»Was ist hier los?«
Ich war so sehr darauf konzentriert gewesen, einen Streit zwischen Nana Jo und Melody zu verhindern, dass ich Dawsons Schritte nicht gehört hatte.
Melody offenbar auch nicht. »Dawson. Wie lange bist du schon hier?« Sie lächelte breit.
»Lange genug.« Bei seinem eisigen Ton drehte ich den Kopf. Sein Blick war hart, sein Gesicht wie versteinert. »Was machst du hier, Melody? Ich habe dir gestern gesagt, dass Schluss ist.«
Mit demselben breiten Lächeln schlenderte Melody an mir vorbei. »Ich wusste, du meinst das nicht so. Wir haben gestern beide Sachen gesagt, die wir nicht so meinten.« Sie ging nah an ihn heran, legte die Handflächen an seine Brust und neigte sich zu ihm. »Lass uns zu dir hochgehen und über alles reden, ja?«
Ein paar Sekunden lang rührte sich Dawson nicht, aber ich sah die Ader an seiner Schläfe hervortreten. Schließlich nahm er Melody entschlossen beim Handgelenk.
Sie verzog das Gesicht. »Autsch. Du tust mir weh.«
Dawson drehte sich um und ging auf demselben Weg hinaus, auf dem er hereingekommen war, wobei er Melody mit sich zog.
»Anscheinend war er intelligent genug, um das billige Flittchen zu durchschauen«, murmelte Nana Jo. »Die haben wir zum letzten Mal hier gesehen.«
Ich lief zur Ladentür, um abzuschließen. Irgendetwas an Melodys Gesichtsausdruck und ein Kribbeln im Nacken sagten mir, dass Nana Jo sich irrte und dass dies noch nicht alles gewesen war.
Gewöhnlich verbrachte ich die Sonntage mit meiner Mutter. Wir gingen in die Kirche, danach essen, und anschließend unternahmen wir etwas. Heute machten wir einen Einkaufsbummel in der Innenstadt von South Harbor.
Im Gegensatz zu North Harbor gab es hier ein belebtes Geschäftszentrum mit malerischen Kopfsteinpflasterstraßen und Backsteinhäusern. In Konfiserien bekam man alles von Butter-Toffees über Trüffel bis hin zu überteuertem Kaffee. Zwischen altmodischen Sodashops und Antiquitätengeschäften reihten sich Klamottenläden aneinander, in denen die Schuhe mehr kosteten, als ich in einem Monat als Lehrerin verdient hatte.
»Honey, ist der Kaschmirpulli nicht schön? Der würde dir großartig stehen.« Meine Mom hielt ein bonbonrosafarbenes Strickteil hoch, das gerade über einen meiner Oberschenkel gepasst hätte.
»Nicht mal im Traum würde ich in den hineinpassen, Mom.«
»Den wird es auch in anderen Größen geben. Ich finde wirklich, du solltest deine Garderobe aufbessern. Du hast nur schwarze und braune Sachen. Du läufst noch immer herum, als wärst du in Trauer.« Sie hielt mir das flauschige Ding unters Kinn.
Als ich aufs Preisschild sah, blieb mir die Spucke weg. »Soll das ein Witz sein? Der kostet ja beinahe mehr als meine monatliche Rate für den Hauskredit.«
»Du solltest mehr Wert auf deine Erscheinung legen. Seit Leon tot ist, lässt du dich gehen. Ich denke, du versteckst dich hinter deiner Trauer, und es ist Zeit, dass du wieder anfängst zu leben und vielleicht auch mal mit jemandem ausgehst.«
Ich starrte sie mit offenem Mund an. »Wir können nicht alle wie die Fürsten leben. Ich habe weder die Zeit noch das Geld, um mir ständig die Nägel und die Haare machen zu lassen und überteuerte Pullover zu kaufen. Ich muss mich um mein Geschäft kümmern.«
Die Verkäuferin, die mit einem strahlenden Lächeln zu uns gekommen war, wandte sich ab und ging weg.
Seufzend legte meine Mutter den Pullover zurück und schlenderte in den hinteren Bereich der Boutique. Ihr Seufzen sagte mehr als tausend Worte. Offenbar hatte ich sie wieder einmal enttäuscht. Einen Moment lang stand ich da, dann sah ich mir die Pullover an einem Ständer an und suchte nach einem, den ich anziehen könnte, ohne wie eine Wurst in der Pelle zu stecken.
Grundsätzlich konnte ich mir den rosa Pulli schon leisten. Während meiner Ehe war das Geld immer knapp gewesen. Ein Koch und eine Englischlehrerin kauften keine Kaschmirpullover. Aber ich hatte unser Haus verkauft und mit dem Geld aus der Lebensversicherung mein jetziges erworben. Die Buchhandlung warf Gewinn ab, nicht so viel, um in der Fortune erwähnt zu werden, doch dank niedriger Fixkosten, sparsamer Lebensführung und harter Arbeit kam ich ganz gut über die Runden. Ein Kaschmirpullover würde mich nicht in den Ruin stürzen, und meine Mom wäre glücklich. Aber als erwachsene Frau von Mitte dreißig sollte ich mir keinen Pullover kaufen müssen, den ich nicht haben wollte, nur um meine Mom glücklich zu machen. Ich wünschte, Nana Jo hätte uns begleitet. Sie hätte mich verstanden und zwischen uns vermittelt.
Meine Mutter war ganz anders als sie. Man glaubte kaum, dass die beiden Mutter und Tochter waren. Josephine Thomas war groß und robust. Grace Hamilton, meine Mutter, dagegen klein und recht zierlich. Mit eins zweiundfünfzig wog sie tropfnass nur fünfzig Kilo. Sie glich einer zarten Porzellanfigur, die man ins oberste Fach einer abschließbaren Vitrine stellte, damit man sie nicht versehentlich zerbrach. Mein Großvater hatte sie immer seine »kleine Prinzessin« genannt und ihr die »Prinzessin-Flause« in den Kopf gesetzt, wie Nana Jo es ausdrückte. Meine Mutter war jetzt Mitte sechzig und hatte außer im eigenen Haushalt noch nie gearbeitet. Sie hatte bis zum Tod meines Vaters niemals eine Rechnung bezahlt. Sie war eben die Prinzessin.
Ich setzte meine Mom vor ihrer Eigentumswohnung in South Harbor ab und fuhr über die Brücke nach North Harbor, wo ich lebte. Die pinkfarbene Ladentüte auf dem Rücksitz enthielt einen weißen Kaschmirpullover, den ich aus Angst, ihn zu bekleckern, bestimmt nie tragen würde.
Nun bog ich auf den Parkplatz des Spirituosengeschäfts ein, das sich in meiner Nachbarschaft befand, und sah auf die Uhr. Zum Glück war es nach zwölf, sodass Alkohol verkauft werden durfte. Laut der Nummernschilder gehörten die anderen vor dem Geschäft geparkten Autos Einwohnern von Indiana, die die Staatsgrenze überquert hatten, weil sie in Michigan auch sonntags alkoholische Getränke kaufen konnten. Wir alle überschritten mal die eine oder andere Grenze. Ich hatte nur nicht die Zeit oder die Energie, um darüber nachzudenken, welche es bei mir gerade war. Anstelle einer Therapie musste eine Flasche Wein fürs Erste genügen.
Während des Sommers hatte ich Dawson oft gesehen, nach Beginn des Herbstsemesters kaum noch, obwohl er über meiner Garage wohnte. Zweimal am Tag Football-Training, Gewichtheben und Unterricht nahmen den Großteil seiner Zeit in Anspruch. Doch er backte gern und konnte das wirklich gut. Sein Apartment war winzig, und in seiner Küchenzeile gab es nur eine Kochplatte und keinen Backofen. Deshalb hatte er sich angewöhnt, meine Küche zu benutzen und jeweils für eine ganze Woche zu backen.
Als ich durch die Hintertür hereinkam, wehte mir von der Treppe ein köstlicher süßer Duft entgegen.
Ohne meine gewohnte Eskorte stieg ich die Treppe hoch. Snickers und Oreo hörten es, wenn ich das Garagentor öffnete, und sprangen mir an anderen Tagen bellend entgegen. Allerdings war die Möglichkeit, dass ein Plätzchen auf den Boden fiel, an diesem Tag viel verlockender als das Wiedersehen mit mir.
Ich stellte die Flasche Wein auf die Kassentheke und entledigte mich achtlos der pinkfarbenen Hochglanztüte. Dawson stand mit dem Rücken zu mir, als er ein Blech mit Plätzchen aus dem Herd zog und zum Abkühlen auf der Arbeitsfläche abstellte.
»Was für ein herrlicher Duft.« Er beschwor das Bild von Vanilleschoten, Mandeln und Zucker herauf, und ich atmete tief ein.
»Danke. Sie kommen gerade richtig, um eins zu kosten.« Dawson drehte sich zu mir um.
»Du meine Güte! Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
Er antwortete nicht, sondern senkte den Kopf. Ich eilte um den Küchentresen herum und drehte sein Gesicht ins Licht, um mir die Verletzungen näher anzusehen. Drei rote Kratzer zogen sich über beide Wangen. Unter dem linken Auge hatte er eine Platzwunde und an der Stirn einen Bluterguss. Seine Augen waren gerötet, und dunkle Schatten deuteten an, dass er kaum geschlafen hatte.
Er wollte sich abwenden, doch ich hielt sein Kinn fest und zwang ihn, mich anzusehen.
»Was ist passiert?«
Dawson blieb so lange stumm, dass ich schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, aber auch ich sagte kein Wort. Schließlich hielt er das Schweigen nicht mehr aus. »Nichts weiter.«
Ich schnaubte. »Also, nach ›nichts‹ sieht es nicht aus.«
Dawson zuckte mit den Schultern. »Das ist nichts Schlimmes.« Sanft, aber bestimmt nahm er meine Hand weg und zog sich zur hinteren Küchenwand zurück, wo er sich anlehnte und die Arme verschränkte, wie um eine Barriere zwischen uns zu schaffen.
Ich holte tief Luft und versuchte, ruhig zu atmen. »War das dein Vater? Wurde er entlassen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wer dann?«
Er ließ wieder den Kopf hängen. »Sagen wir einfach, Melody hat das endgültige Aus unserer Beziehung nicht so gut aufgenommen.«
»Du solltest zum Arzt gehen. Die Kratzer sind tief und könnten …«
Er schüttelte den Kopf, bevor ich zu Ende gesprochen hatte. »Wenn ich das tue, steht es am nächsten Tag in der Zeitung.«
Traurig, dass ein Neunzehnjähriger fürchten musste, in die Zeitung zu kommen, weil er mit einem Mädchen Schluss gemacht und sie ihm dafür das Gesicht zerkratzt hatte. Doch in dieser Saison bekamen die MISU Tigers viel öffentliche Aufmerksamkeit und ganz besonders Dawson.
Ich ging ins Bad und holte einen Kühlverband und Jod. Dawson weigerte sich nicht, als ich ihn aufforderte, sich an den Esstisch zu setzen, und beschwerte sich auch nicht, als ich die Wunden versorgte. »Die Zeitungen sind deine geringste Sorge. Warte nur ab, wenn Nana Jo das erfährt!«
Er zuckte zusammen, aber ich konnte nicht erkennen, ob das am Jod lag oder an meinem Hinweis auf Nana Jos Reaktion.
»Was für eine ungewöhnliche Bitte! Und mehr wusste James darüber nicht?«, fragte Lord William, während er geistesabwesend ein Stück von seinem Scone abbrach und an Cuddles verfütterte, den Cavalier King Charles Spaniel, der zu seinen Füßen saß.
»Zumindest hat er nichts Näheres gesagt. Aber ich bin mir sicher, dass er uns ins Bild setzen wird, sobald er hierherkommt.« Lady Elizabeth nahm ihre Handarbeit aus dem Korb und strickte weiter. Wie sie hin und wieder sagte, half ihr das, klar zu denken.
»Wird Lord Browning auch teilnehmen?« Lady Daphne Marsh zupfte ein imaginäres Fädchen von ihrem Rock und mied den Blickkontakt mit ihrer Tante.
»Nun, vermutlich. Allerdings habe ich ihn nicht danach gefragt. Ich nehme es nur an.« Elizabeth schaute ihren Gatten an. »Du hast doch nichts dagegen, mein Lieber, nicht wahr?«
»Nein. Nein. Natürlich nicht.« Lord William warf den Rest des Scones dem Hund hin und zog seine Pfeife hervor. »James hätte die Bitte sicherlich nicht geäußert, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Genau das dachte ich auch.« Lady Elizabeth strickte weiter.
»Ich nehme nicht an, dass du etwas darüber weißt?« Lord William sah seine Nichte fragend an.
Lady Elizabeth seufzte. Manchmal war ihr Gatte zu begriffsstutzig, um die Zeichen richtig zu deuten, andernfalls hätte er bemerkt, dass Daphne kaum gesprochen hatte, seit der Name James Browning gefallen war. Die beiden hatten sich vor sechs Monaten kennengelernt, als Lord James seinem früheren Klassenkameraden und Freund Victor Carlston, dem Earl of Lochloren, zu Hilfe gekommen war. Man hatte den Earl beschuldigt, einen von Daphnes Verehrern ermordet zu haben. Damals meinte Victor, er sei in Daphne verliebt, und um sie zu schützen, schritt er ritterlich ein und ließ die Polizei glauben, er habe den Mord begangen. Lord James half, den wahren Mörder zu entlarven, sodass sein Freund der Verurteilung entging. Victor lebte nun im Eheglück mit Daphnes Schwester Penelope auf dem Nachbaranwesen, Bidwell Cottage.
Die Marshs hofften, bald eine weitere Hochzeit ankündigen zu können, da Lord James und Lady Daphne füreinander bestimmt zu sein schienen. Allerdings waren die Besuche des Herzogs in letzter Zeit immer seltener geworden.
»Nein. Ich habe mit James … äh, dem Herzog seit fast zwei Wochen nicht mehr gesprochen«, antwortete Daphne nahezu flüsternd.
»Am besten, du sagst Thompkins, sie sollen sich auf Gäste einstellen«, meinte Lord William.
»Das werde ich tun, aber ich denke, ich warte damit, bis wir uns sicher sein können«, erwiderte Lady Elizabeth. »Immerhin hat Wallis noch nicht angerufen. Ich weiß nicht einmal, wie viele Leute wir zu erwarten haben.«
»Nimmst du an, dass David auch kommt?«, fragte Lord William.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete sie, ohne von ihrer Handarbeit aufzublicken. »Zuletzt hörte ich, er sei in Frankreich.«
»Es wird doch kein Problem mit der Königinmutter oder der übrigen Familie geben?«, hakte Daphne nach.
»Nun, das hängt davon ab, welche Art Problem du meinst.« Lady Elizabeth strickte still einige Maschen. »Sein Bruder Bertie und dessen Frau Elizabeth sind noch immer sehr verärgert, und die Königinmutter ist von David enttäuscht. Ich bedaure nach wie vor sehr, dass niemand von der Familie an der Hochzeit teilgenommen hat.«
Lord William brauste auf. »Aber wie hätten wir teilnehmen können? Das wäre ein Zeichen gewesen, dass die Familie Davids Thronverzicht und die Eheschließung mit einer geschiedenen Frau – einer Amerikanerin – billigt.« Er fuchtelte mit seiner Pfeife und verstreute dabei Asche über das Sofa.
Lady Elizabeth blickte auf und schüttelte den Kopf. Auf dem Sofa zeigten sich allmählich kahle Stellen, weil die Hausmädchen ständig Tabakkrümel herunterbürsten mussten. »Nun, ich weiß nicht, ob die Tatsache, dass sie zweimal geschieden wurde oder Amerikanerin ist, das Verwerfliche daran war. Ich hätte es erwogen teilzunehmen, wenn die Hochzeit einen Tag eher oder später stattgefunden hätte.«
»Ich stimme dir zu. Es war, als wollten sie der Familie eine lange Nase drehen, indem sie sich an König Georges Geburtstag vermählen«, sagte Daphne. »Wirklich, am Geburtstag seines Vaters!«
»Schlechtes Benehmen.« Lord William stopfte sich die Pfeife.
»Ungeachtet der Umstände sind David und Bertie Brüder, und ich glaube, sie werden die Sache am Ende bereinigen«, meinte Lady Elizabeth. »Außerdem sagte James, es sei unerlässlich für die Krone, die Jagdgesellschaft bei uns zu empfangen. Das kann nur bedeuten, dass der König zumindest davon weiß.«
Lord William nickte und paffte weiter vor sich hin.
»Wie dem auch sei. Es scheint nicht so, als würden wir erfahren, wie die Krone darüber denkt. Die Herzogin hat nicht angerufen. Was, wenn sie die Jagd nun doch woanders abhält?«, fragte Daphne.
Thompkins betrat leise den Salon und räusperte sich. »Ihre Gnaden, die Herzogin von Windsor ist am Telefon und möchte Ihre Ladyschaft sprechen.«
Nana Jo reagierte lautstark, als sie Dawsons Gesicht sah, und reihte lauter altmodische Ausdrücke aneinander wie »Flittchen«, »Harpyie«, »Weibsbild«, »Drachen«. Als sie sich beruhigt hatte, rührte sie eine Salbe aus Aloe-Vera-Gel, Honig, Vitamin-E-Öl und Backnatron zusammen.
Den ganzen Sonntag über glänzte Dawsons Gesicht wie eine Speckschwarte, und immer wieder musste er Snickers abwehren, die ihm die Salbe ablecken wollte, aber am Montag sah er schon viel besser aus. Es war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Kratzer hatten sich geschlossen. Es würde noch dauern, bis die Narben verblassten, doch der Fortschritt war erstaunlich.
»Mrs Thomas, Sie haben Wunder gewirkt.« Dawson gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»In zwei, drei Tagen werden die Kratzer verschwunden sein.« Nana Jo betrachtete ihr Werk. »Aber wenigstens siehst du nicht mehr aus, als wärst du in einem Zickenkrieg zwischen die Fronten geraten.«
»Du verblüffst mich immer wieder«, sagte ich zu ihr, nachdem Dawson zur Uni aufgebrochen war.
Wir setzten uns an die Frühstückstheke und tranken Kaffee.
»Wo hast du das Rezept für solch eine Heilsalbe her?«
Lächelnd trank sie einen Schluck Kaffee. »Ich bin auf einer Farm aufgewachsen. Da hat sich andauernd jemand verletzt, und die meisten Leute waren zu arm, um einen Arzt aufzusuchen und dafür kilometerweit zu fahren. Meine Großmutter war die Hebamme der Gegend und, nun ja, eine Medizinfrau. Sie hat Kräuter gezogen und in ihrer Küche alles Mögliche zusammengebraut, um Husten und Gelenkentzündungen zu lindern.«
»Das wusste ich gar nicht.« Ich kannte sie schon mein Leben lang, und dennoch überraschte meine Großmutter mich immer wieder.
Nana Jo zuckte mit den Schultern. »Ich fand das nie erwähnenswert. Die Wirksamkeit mancher Hausmittel wird heute als Ammenmärchen abgetan.«
»Zurzeit gibt es wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass viele tatsächlich wirken. Ich habe kürzlich in einem Artikel gelesen, dass Hühnersuppe bei Erkältungen nachweislich hilft. Allerdings sind sich die Forscher nicht sicher, ob das an den Inhaltsstoffen oder an der Einstellung des Kranken liegt. Wie auch immer, die Suppe wirkt.«
Ein Weilchen unterhielten wir uns über medizinische Umschläge, Heftpflaster und Kräutertees. Dann gingen wir in den Laden hinunter.
Als ich seinerzeit meine Stelle als Englischlehrerin aufgab und die Buchhandlung eröffnete, plagten mich viele Ängste. Würde ich die Dinge allein bewältigen können? Würde ich genug verdienen, um mich zu ernähren? Lasen die Leute noch immer Bücher? Die Antwort auf die drei Fragen lautete schließlich Ja.
Kürzlich fragte mich eine alte Freundin, die ich zwanzig Jahre nicht gesehen hatte, ob ich die Arbeit in einer Buchhandlung nicht eintönig und langweilig fände. Ich brauchte keine Sekunde zu überlegen. Market Street Mysteries mochte vieles sein, aber eintönig und langweilig war sie sicherlich nicht.
Täglich kamen neue Kunden herein. Neue Bücher wurden jede Woche geliefert, darunter auch solche von Schriftstellern, die ich viele Jahre gelesen hatte und die für mich inzwischen wie alte Freunde waren. Bekannte Reihen von Victoria Thompson, Emily Brightwell, Jeanne M. Dams und Martha Grimes lösten bei mir freudige Erregung aus, wenn ich die bunten Umschläge sah und daran dachte, wie spannend es war, beim Lesen dem Täter auf die Spur zu kommen. Außerdem machte es mir Spaß, neue Autoren zu entdecken und zu überlegen, welchen ich meiner Favoritenliste hinzufügen würde.
In den seltenen Augenblicken, da es im Laden mal ruhig war, unternahm ich einen Spaziergang durch das Zentrum von North Harbor und ging in die Geschäfte meiner Nachbarn. Die Buchhandlung hatte mir durch die schwerste Zeit meines Lebens hindurchgeholfen, die vom Tod meines Mannes geprägt gewesen war. Ich hatte mir mit neuen Freunden ein neues Leben aufgebaut und hoffte, eines Tages eine viel gelesene Schriftstellerin zu sein.
Ein paar Häuser weiter hatte ein neues Restaurant eröffnet. Ich stand vor dem Fenster und las die Speisekarte, die neben der Tür angebracht war. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es kurz nach zwei war. Mir knurrte der Magen, während ich die Gerichte überflog. Ich ging hinein und wartete, bis sich meine Augen an das dunkle Ambiente gewöhnt hatten.
»Schön, dass Sie sich entschieden haben hereinzukommen.« Ein Mann mit grau melierten, sehr kurzen Haaren und Bart, sanften braunen Augen und einem warmen Lächeln kam hinter der Bar hervor.
Ich muss wohl verwirrt geschaut haben, denn er deutete zum Fenster. »Ich habe Sie draußen stehen sehen.«
»Oh. Ja. Entschuldigung.«
»Kein Grund, sich zu entschuldigen. Deshalb habe ich die Speisekarte dort aufgehängt. Ich hoffe, damit ein paar Gäste hereinzulocken.«
»Bei mir hat es gewirkt.« Ich lachte ihn an.
»Wie wär’s mit einem schönen Tisch am Fenster?«
Ich nickte und setzte mich auf den Stuhl, den der Wirt mir herauszog.
»Ich kann Ihnen einen guten Weißwein von einem lokalen Weingut anbieten.«
»Oh, nein danke. Bitte nur Wasser mit Zitrone.«
Nachdem er gegangen war, schaute ich mich um. Das Restaurant war sauber und nach dem Geschmack moderner Großstädter eingerichtet. Nackte Ziegelwände, farbiger Betonboden und Eisenelemente schufen eine moderne, hippe Atmosphäre. Hinter der Bar hing ein Flachbildschirm an der Wand. Der Wirt kam mit einem Glas und einer Karaffe Eiswasser mit Zitronenscheiben zurück.
Lächelnd stellte er sie auf den Tisch. »Ihnen gehört die Krimibuchhandlung, nicht wahr?«
Ich trank einen Schluck und nickte.
»Das dachte ich mir. Seit der Eröffnung versuche ich, die übrigen Geschäftsinhaber im Viertel kennenzulernen. Ich bin Frank Patterson.« Er gab mir die Hand.
»Samantha Washington, aber Sie können mich Sam nennen.«
»Sam, freut mich sehr. Wie lange sind Sie schon hier?«
Mir war klar, dass er nach dem Bestehen meiner Buchhandlung fragte. Ich wollte gerade antworten, als die Fernsehsendung hinter ihm meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Foto von Melody Hardwick füllte den Bildschirm, dann Aufnahmen von einer zugedeckten Leiche.
Ich schnappte nach Luft.
Am unteren Bildschirmrand war zu lesen, dass Melodys Leiche am frühen Morgen von Joggern entdeckt worden war. Die Polizei ging davon aus, dass ihr Tod auf »Fremdeinwirkung« zurückzuführen war. Das nächste eingeblendete Bild brachte fast mein Herz zum Stillstand: Dawson, der hinten in einen Streifenwagen einstieg.
Später konnte ich mich an meinen Rückweg zur Buchhandlung nicht mehr erinnern. Nana Jo sagte, ich sei hereingekommen wie ein wirbelnder Derwisch. Ich wusste aber noch, wie ich mit Nana Jo in das Polizeirevier von South Harbor marschiert war.
Der zweistöckige Backsteinbau befand sich in der Innenstadt und nicht weit von meinem Laden entfernt. North und South Harbor lagen am Ufer des Michigansees, getrennt durch den St. Thomas River, der über dreihundert Kilometer durch Nord-Indiana und Süd-Michigan mäanderte und nach einem Bogen um North Harbor in den See mündete.
Das Polizeirevier und das angrenzende Gerichtsgebäude bildeten einen weitläufigen Komplex an einer schmalen Straße zwischen North und South Harbor. Bisher war ich als Kind bei Schulexkursionen und später einmal als Erwachsene dort gewesen, als man mich in eine Jury berufen hatte. Das war vor Nine Eleven gewesen, und Überwachungskameras und Metalldetektoren, die es mit denen am nahen River Bend Airport aufnehmen konnten, hatte man damals noch nicht eingebaut.
Ich war so sehr mit meiner Sorge um Dawson beschäftigt, dass ich auch den Gang zur Polizei nur lückenhaft in Erinnerung hatte. An eines würde ich mich jedoch zeit meines Lebens erinnern, nämlich daran, wie Nana Jo den Metalldetektor ausgelöst hatte. Wir waren sofort von Polizisten mit gezogener Waffe umringt gewesen, die uns alle angebrüllt hatten, wir sollten die Hände hochnehmen und uns auf den Boden legen. Ich erinnere mich an den Officer, der mir die Arme hinter dem Rücken zusammenführte, und an die Kälte der Handschellen, die sich um meine Handgelenke legte. Ich sah zu meiner Großmutter, die ebenfalls in Handschellen neben mir lag. Mein Herz raste, und ich hörte meinen Puls in den Ohren. Jep. Das waren die Augenblicke, die ich niemals vergessen würde.
Nachdem wir die Buchhandlung verlassen hatten, hatten meine Neffen zum Glück die Hände nicht in den Schoß gelegt, sondern sofort meine Mutter angerufen. Und die hatte uns umgehend meine Schwester hinterhergeschickt. Ich war noch nie so froh gewesen, Jenna zu sehen.
»Was glauben Sie, was Sie da tun?«, sagte sie in dem kalten, unerbittlichen Ton, den ich sonst bei ihr fürchtete. »Sie haben zehn Sekunden, um meiner Schwester und meiner Großmutter vom Boden aufzuhelfen, oder ich werde, so wahr mir Gott helfe, jeden Einzelnen von Ihnen verklagen.« Jenna war Strafverteidigerin und bei der Polizei bekannt für ihr hartes, nüchternes Auftreten. Einmal hatte ich zufällig gehört, dass man sie im Büro des Bezirksstaatsanwalts »den Pitbull« nannte, und ich als ihre Schwester fand das durchaus treffend.
»Sie kennen diese Frauen?« Ein Officer trat aus der Meute hervor.
»Das sagte ich gerade, nicht wahr?«, erwiderte Jenna mit zurückgehaltenem Zorn. »Und Sie haben zwei Sekunden, um Ihre Dienstwaffe herunterzunehmen.« Sie kehrte ihm den Rücken zu und blickte direkt in die Kamera über der Tür. »Wie Sie sehen, haben diese Dummköpfe meine Schwester und meine betagte Großmutter in Handschellen gelegt und auf den kalten Betonboden gezwungen. Obwohl sie ganz offensichtlich keine Gefahr darstellen, richten diese Polizisten noch immer ihre Waffen auf sie.«
Besagte Polizisten steckten ihre Pistolen weg. Einer war mir beim Aufstehen behilflich. Es brauchte zwei, um Nana Jo auf die Beine zu helfen.
»Ihre betagte Großmutter hat den Metalldetektor ausgelöst.« Er drehte Nana Jos Handtasche um, sodass der Inhalt herausfiel. Sein schnippisches Lächeln wurde zu einem höhnischen Grinsen, als sein Blick über ihr iPad, ihr Handy, ein Notizbuch, eine Bürste, ein Holster, Make-up und zwanzig andere Dinge glitt, die nun am Boden lagen. Er trat mit der Schuhspitze gegen das leere Holster und schaute noch einmal umher, doch eine Schusswaffe war nirgends zu sehen.
»Hey, Barney Fife, du hast mein iPad zerbrochen und wirst mir ein neues kaufen«, sagte Nana Jo.
Jenna lächelte und sprach weiter zur Kamera. »Keine Pistole, nur ein leeres Holster. Und wenn sie ihre Pistole mitgebracht hätte, würde man die Genehmigung, sie zu tragen, in ihrem Portemonnaie finden.«
Das höhnische Grinsen verschwand, während der Officer in besagtes Portemonnaie schaute und den Waffenschein entdeckte. Er steckte ihn und die anderen Habseligkeiten wieder in die Handtasche und nickte den Kollegen zu, die uns festhielten, damit sie uns die Handschellen abnahmen.
»Wahrscheinlich hat das iPad den Alarm ausgelöst. Jedenfalls hätte sie vorher sagen müssen, dass sie eine Waffe besitzt, und hätte die Genehmigung sofort vorzeigen sollen«, erwiderte der Officer in einem Ton, als ermahnte er ein Kind. Schwerer Fehler.
»Das merke ich mir für das nächste Mal, wenn ich die Pistole tatsächlich bei mir trage. Natürlich hättet ihr das von mir erfahren, wenn ihr Einfaltspinsel eine Minute gewartet hättet, bevor Wyatt Earp und seine Bande ihre Waffen zogen, als wären sie bei der Schießerei am O. K. Corral.« Nana Jo riss ihm ihre Handtasche weg.
»Ich werde die Herausgabe dieser Videoaufnahme fordern«, kündigte Jenna an, »um sicherzustellen, dass damit nichts passiert. Wenn meine Schwester oder Großmutter bei diesem Vorfall verletzt wurden, werden Sie von mir hören.«
Der Officer schien etwas erwidern zu wollen, doch Jennas Blick machte ihm umgehend klar, dass Schweigen seine beste Verteidigung wäre.
»Also, wo haben Sie Dawson Alexander hingebracht?« Jennas Frage erinnerte mich wieder an den Grund unseres Besuchs.
Wir wurden zu einem Empfangsbereich eskortiert. Dort trugen wir uns ein und wurden in einen Besprechungsraum geführt. Jenna durfte den Polizisten begleiten, aber Nana Jo und ich mussten warten. Ich wollte Einspruch erheben, doch Jennas Blick verriet mir, dass auch für mich Schweigen das Beste wäre.
Noch immer aufgeregt, weil man mich in Handschellen gelegt und Waffen auf mich gerichtet hatte, war ich froh, mich hinsetzen zu können. Wie aufgeregt ich tatsächlich war, merkte ich erst, als ich mir ein Glas Wasser aus dem Krug eingoss, der auf dem Tisch stand. Denn meine Hände zitterten so stark, dass ich etwas verschüttete.
»Geht es dir gut?« Nana Jo nahm ein paar Servietten aus ihrer Handtasche und saugte das Wasser damit auf.
»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber ich bin gleich wieder okay. Das war beängstigend.«
Nana Jo lächelte. »Das war ziemlich nervenaufreibend. Es tut mir leid, Honey.«
»Ich bin froh, dass du daran gedacht hast, deine Pistole zu Hause zu lassen.«
Sie grinste. »Hab ich nicht.«
»Wie bitte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, war ich genauso überrascht wie der Polizist. Ich habe sie zwar liegen gelassen, doch nur aus Versehen. Ich war dermaßen erschüttert wegen Dawson, dass ich nicht daran gedacht habe, meinen Friedensstifter einzustecken.«
»Ein Glück.« Ich neigte mich lächelnd nach vorn. »Ich bin angenehm überrascht, dass du einen Waffenschein besitzt.«
Nana Jo grinste. »Tja, auch das haben wir Jenna zu verdanken. Ehrlich gesagt, trage ich schon länger eine Waffe, als du auf der Welt bist. Doch nach allem, was diesen Sommer vorgefallen ist, hat Jenna mich überzeugt, dass ich einen Waffenschein brauche.«
Wir warteten eine gefühlte Ewigkeit, die in Wahrheit nur zwanzig Minuten dauerte. Jenna kam mit Detective Bradley Pitt herein. Pitt hatte die Ermittlung im Mordfall »Clayton Parker« geleitet. Im Sommer hatte ich die Leiche des Immobilienmaklers in meinem Garten gefunden. Pitt war ein unangenehmer Mann mit der Neigung, falsche Schlüsse zu ziehen, wie zum Beispiel, als er geglaubt hatte, ich hätte Parker ermordet.
Pitt war klein, kämmte sich Haarsträhnen über die Glatze und trug Polyesterhosen, die ihm zu kurz waren, und viel zu enge, bunt geblümte Hemden aus dem gleichen Material. Wegen seiner Überzeugung, ich sei die Mörderin, hatten Nana Jo, ihre Freundinnen und ich selbst herausfinden müssen, wer Parker umgebracht hatte.