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Seit ihrem achten Lebensjahr sind Andie, Raven und Julie beste Freundinnen. Doch im Sommer als sie fünfzehn werden, wird diese Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Heimlich beobachten die Mädchen ein Pärchen beim Extrem-Sex. Kurz danach wird die Frau gefunden - erhängt! Fünfzehn Jahre später wird Andie, inzwischen erfolgreiche Psychologin, von obszönen Anrufen terrorisiert. Als kurz danach in ihr Haus eingebrochen wird, ahnt sie, dass der Mörder von damals zurückgekehrt ist. In ihrer Angst wendet sie sich an den erfahrenen Polizisten Nick Raphael. Schon bald ist es ihm ein sehr persönliches Anliegen, Andie zu beschützen. Doch kann er einen Mörder aufhalten, der keine Gnade kennt?
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Seitenzahl: 628
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich
der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen
sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Erica Spindler
Mörder ohne Gnade
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Annette Keil
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Shocking Pink
Copyright © 2006 by Erica Spindler
erschienen bei: Mira Books, Toronto
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Stefanie Kruschandl
Titelabbildung: mauritius images GmbH, Mittenwald
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-379-3 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-378-6
www.mira-taschenbuch.de
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Thistledown, Missouri, 1998
Der anonyme Anrufer hatte sich nachts um drei gemeldet. Etwas Merkwürdiges gehe in der Gatehouse-Siedlung, dem Neubaugebiet außerhalb des Ortes, vor. Man hätte Lichter gesehen.
Etwas Merkwürdiges – wenn das mal nicht gewaltig untertrieben war angesichts eines Mordes.
Detective Nick Raphael sprang aus seinem Jeep Cherokee, warf einen Blick auf die zwei Streifenwagen, den Pick-up-Truck seines Kollegen Bobby und den Kombiwagen des Leichenbeschauers, und atmete auf. Keine Presse, noch nicht, Gott sei Dank. Ein Polizist stand an der Tür des Musterhauses, das mit gelbem Plastikband abgesperrt war.
Langsam und bedächtig ließ Nick seinen Blick über die Fassade des Hauses und das Grundstück schweifen. Nachdenklich rieb er sich das unrasierte Kinn. Ein ungewöhnlicher Platz für einen Mord. Oder der perfekte Tatort. Gatehouse lag zwanzig Minuten östlich von Thistledown, völlig abgelegen auf der grünen Wiese. Der Bauunternehmer hatte bei dem Projekt vermutlich das Haus im Grünen für den leitenden Angestellten aus St. Louis im Auge gehabt. Fünfundvierzig Minuten zu einem besseren Leben in Thistledown, wo die Welt noch in Ordnung war. Bei diesem Gedanken verzog Nick den Mund zu einem grimmigen Lächeln. Dieser kleine Zwischenfall heute Nacht war keine gute Reklame für die Nachbarschaft.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Umgebung zu. Bis jetzt bestand die Siedlung aus drei Musterhäusern, von denen nur dieses eine fertiggestellt war. Die anderen beiden schienen noch nicht bezugsfertig zu sein. Swimmingpool und Tennisplatz befanden sich im Bau. Es gab keine Bewohner. Noch war die Siedlung völlig verlassen.
Nein, nicht ganz verlassen, dachte Nick. Jedenfalls nicht heute Nacht. Der Beweis dafür war der anonyme Hinweis. Und die Leiche.
Er blinzelte in das Licht, das aus dem Haus hinaus in die Dunkelheit fiel. Der junge Streifenpolizist, der an der Tür stand, war auffallend blass. Es musste sich um einen Neuling handeln.
Nick begrüßte ihn. „Officer Davis, nicht wahr?“
Der Junge nickte.
„Was liegt an, Davis?“
Der junge Polizist räusperte sich. Dabei wurde er noch etwas blasser. „Eine Frau. Weiß. Achtundzwanzig bis zweiunddreißig. Der Leichenbeschauer sieht sie sich gerade an.“
Nick betrachtete noch einmal die Fassade des Hauses. Netter Bau. Er würde kaum unter einer halben Million zu haben sein. Nick machte eine Kopfbewegung zur Tür hin. „Sind alle drinnen?“
Wieder nickte der Junge. „Geradeaus, dann nach links. Im Wohnzimmer.“
Nick bedankte sich und ging hinein. Dabei bemerkte er die Alarmanlage. Hübsch, dachte er, all die blinkenden Lämpchen. Die Anlage war eingeschaltet, aber nicht aktiviert.
Er hörte Stimmen und folgte ihnen – um abrupt stehen zu bleiben, als er die Leiche sah. Nackt hing sie an einem Strick von der Decke. Ihre Hände waren mit einem schwarzen Seidenschal gefesselt. Mit einem zweiten Schal hatte man ihr die Augen verbunden. Ein umgekippter Barhocker lag unter ihren in der Luft baumelnden Füßen. Daneben stand ein zweiter, etwas niedrigerer Hocker.
„Verdammt“, murmelte Nick, der sich schlagartig in die Vergangenheit zurückversetzt sah. „Verdammte Scheiße!“
„Nick, gut dass du kommen konntest“, sagte sein Kollege.
Nick wandte den Kopf, um ihn anzusehen. „Es ging nicht eher wegen Mara. Ich musste auf den Babysitter warten.“
Er blickte wieder zu der Leiche hin. Das Déjà-vu-Gefühl, das er dabei empfand, war beunruhigend. Er musste sich zwingen, seine Aufmerksamkeit auf das Verbrechen, auf die Leiche, zu konzentrieren. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er sie. Es war eine schöne Leiche. Die Frau musste umwerfend ausgesehen haben. Blond, vollbusig. Selbst jetzt, im Tod, waren ihre Brüste noch prall und fest. Wegen des Schals konnte er nicht viel von ihrem Gesicht sehen. Aber irgendwie war er sicher, es war so attraktiv wie der Körper.
Der Leichenbeschauer stand auf einem Stuhl und untersuchte vorsichtig die Tote. Jetzt hielt er einen Moment inne, um Nick anzusehen. „Hallo, Detective.“
„Doc.“ Ebenso wie Nick war der Leichenbeschauer schon recht lange im Amt. „Was sagen Sie dazu?“
„Ein Selbstmord war es nicht“, bemerkte der Leichenbeschauer ruhig. „Und auch kein Unfall. Ihre Hände sind gefesselt. In diesem Zustand kann sie sich schlecht selbst aufgeknüpft haben. Sie hatte definitiv einen Spielgefährten.“
Nick trat näher heran. „Kommt Ihnen an der Sache etwas bekannt vor? Erkennen wir hier die Handschrift eines Täters?“
„Möglicherweise.“ Der Leichenbeschauer wandte sich wieder seiner Arbeit zu. „Oder es könnte jemand abgekupfert haben. Jedenfalls lassen sich keine Spuren eines Kampfes feststellen. Das Opfer muss bis zum Ende mitgespielt haben.“
„Genau“, sagte Nick wie zu sich selbst. „Bis zu dem Moment, als der Bastard ihr den Hocker unter den Füßen wegstieß.“
„Mann!“ Einer der Polizisten trat zu ihnen. „Wieso war eben von ‚erkennen‘ und ‚Handschrift‘ die Rede? Haben Sie etwas Derartiges schon einmal gesehen?“
„Das kann man wohl sagen.“ Nick ging noch etwas näher an die Leiche heran. „Genau dasselbe Szenario. Vor fünfzehn Jahren. Hier in Thistledown. Der Fall wurde nie aufgeklärt.“
Als er das sagte, musste Nick an Andie und ihre Freundinnen denken, die damals in dieses Verbrechen verwickelt wurden. Wie jung waren sie gewesen, wie naiv und verängstigt. Aber dabei so voller Leben. Und er selbst war kaum anders gewesen.
Vieles hatte sich verändert in den fünfzehn Jahren, die seitdem vergangen waren. Er hatte sich verändert, so sehr, wie er es sich niemals hätte träumen lassen.
„Können Sie die Frau identifizieren, Nick?“
Mit einer Pinzette zog der Leichenbeschauer der Toten vorsichtig den Schal vom Gesicht und ließ ihn in einen Plastikbeutel fallen. Dann gab er der Leiche einen sanften Schubs, sodass sie in Nicks Richtung schwang.
Und wieder starrte Nick die Vergangenheit ins Gesicht, diesmal aus leblosen blauen Augen. Nick stockte der Atem. Nein, nicht sie! Du lieber Himmel, das durfte nicht wahr sein!
Aber es war wahr.
Wieder musste er an Andie denken. Und an die Vorgänge vor fünfzehn Jahren. Der Magen krampfte sich ihm zusammen. Ein Gefühl, das ihm normalerweise fremd war, schnürte ihm die Brust zu. Angst. Kalt und unheimlich. Wie der Tod.
Er merkte, dass die beiden Männer ihn ansahen, dass sie auf eine Antwort von ihm warteten. Zunächst wollte ihm die Stimme nicht gehorchen. „Ja“, brachte er schließlich mühsam hervor. „Ich weiß, wer sie ist.“
BESTE FREUNDINNEN
SOMMER 1983
Thistledown, Missouri, 1983
Die Fenster des Camaro waren beschlagen vom heißen Atem der beiden Teenager, die auf dem Rücksitz miteinander schmusten. Der ganze Wagen schaukelte, so heftig trieben sie es. Das schmatzende Geräusch ihrer Zungen, ihr verzücktes Seufzen und Stöhnen erfüllte den engen Innenraum des Autos und drang gedämpft in die Sommernacht hinaus.
Julie Cooper schwebte im siebten Himmel. Im Kegelclub war sie auf dem Weg zur Toilette Ryan Tolber begegnet, einem Jungen aus der Oberstufe, für den sie schon ein ganzes Jahr lang schwärmte. Sie hatten miteinander gequatscht, und als er ihr vorschlug, mit ihm hinaus zu seinem Wagen zu gehen, hatte sie nicht Nein sagen können.
Nein zu sagen war ein großes Problem für Julie. Das behaupteten jedenfalls ihre Busenfreundinnen Andie Bennett und Raven Johnson. Sie selber fand, dass Ja sagen viel mehr Spaß machte als Nein sagen. Und genau das war ihr Problem.
„Julie, Baby, ich sterbe, wenn wir es nicht machen.“
„Oh Ryan … ich will es ja auch, aber …“
Er verschloss ihr die Lippen mit einem Kuss. Während er seine Zunge in ihren Mund schob, presste er sie auf den Sitz herunter. Julie dachte flüchtig an Andie und Raven, die sich inzwischen drinnen im Kegelclub vermutlich auf die Suche nach ihr machten. Andie würde besorgt, Raven wütend sein. Julie wusste, sie hätte zurückgehen und ihnen sagen sollen, wo sie war.
Aber jeder Gedanke an ihre Freundinnen war vergessen, als Ryan die Hände auf ihre Brüste legte und sie zu streicheln begann. „Baby, ich muss dich haben. Ich brauche dich.“
Seine Worte und die Empfindungen, die durch ihren Körper schossen, machten sie schwindelig. Verlangend bog sie sich ihm entgegen. „Ich brauche dich auch, Ryan.“
Er schob die Hände unter ihre Bluse, um durch den BH hindurch ihre Brüste zu liebkosen. „Du gefällst mir schon seit einem Jahr. Für mich bist du das hübscheste Mädchen von allen.“
„Ich? Das hübscheste Mädchen?“ Glücklich über das Kompliment blickte Julie in seine warmen braunen Augen. „Du gefällst mir auch. Warum bist du nie mit mir ausgegangen?“
„Du warst Unterstufe, Baby, und damit tabu.“
Julie schmiegte das Gesicht an seinen Hals. „Aber inzwischen bin ich in der Oberstufe.“
„Genau. Und jetzt, wo du älter bist, weißt du, was ein Junge braucht.“ Er zog ihr die Bluse über den Kopf und öffnete ihren BH. Mit beiden Händen umfasste er ihre prallen Brüste. „Oh Baby“, murmelte er mit erstickter Stimme. „Du hast super Titten. Echte Spitzenklasse.“ Er begann sie mit der Zunge zu liebkosen. „Sag Ja, Baby.“
Willenlos ließ Julie den Kopf zurückfallen. Sie wollte so gern Ja sagen. Es war himmlisch, was Ryan mit ihr machte. Noch nie hatte sie sich so gut gefühlt. Ein wohliger Schauer rieselte durch ihren Körper. Sie schob die Finger in sein Haar. Es wäre unfair gewesen, ihn jetzt zurückzustoßen. Schließlich war es erwiesen, dass Jungs Sex nötiger brauchten als Mädchen. Sie anzumachen und dann einfach aufzuhören tat ihnen weh. Es sollte sogar richtig schädlich sein.
„Du bist so schön, Baby. So sexy. Ich liebe dich. Ehrlich.“
Sie schob ihn ein Stückchen von sich weg, damit sie ihm in die dunklen Augen sehen konnte. „Wirklich?“, flüsterte sie. „Liebst du mich wirklich?“
„Sicher, Baby. Ich liebe dich so sehr, ich muss dich haben. Lass mich rein, Julie Cooper.“ Er öffnete ihren Hosenbund und schob die Hand in ihre Shorts. „Lass mich hinein.“
Als seine Finger ihren Venushügel berührten, packte sie ihn bei den Schultern. Leise stöhnte sie auf. Obwohl sie vor ihrem eigenen Verhalten zurückschreckte, hob sie die Hüften an, damit er seine Hand tiefer zwischen ihre Beine schieben konnte.
Du bist vom Teufel besessen, Julie Cooper. Du bist eine Verworfene, eine Sünderin …
Die Stimme ihres Vaters, jene Worte, die sie schon hundertmal von ihm gehört hatte, schossen ihr durch den Kopf. Sie fröstelte. Eine eisige Hand schien nach ihr zu greifen. Doch sie machte die Augen ganz fest zu und versuchte jeden Gedanken an ihren Vater zu verdrängen. Ryan liebte sie. Und deshalb war es okay. Seine Liebe rechtfertigte ihr Verhalten.
Sie presste die Schenkel an seine Hand. Aufregende, prickelnde Empfindungen durchrieselten sie, Empfindungen, die unheimlich angenehm waren. Was ihr Vater auch sagen mochte – etwas, das so fantastische Gefühle auslöste, konnte unmöglich schlecht sein.
„Julie!“ Jemand klopfte an das beschlagene Wagenfenster. „Bist du das da drin?“
„Komm sofort heraus!“, rief eine andere Stimme. „Du weißt, was dir blüht, wenn du deine Zeit überziehst …“
„Dein Vater wird dich umbringen!“
Julie riss die Augen auf. Andie und Raven! Die Freundinnen hatten sie gefunden. Du lieber Himmel, ihre Sperrstunde …
Sie versuchte sich von Ryan zu lösen, doch der schlang ihr den freien Arm um die Taille und hielt sie fest. „Verschwindet!“, rief er. „Wir sind beschäftigt.“
Wieder wurde ans Wagenfenster geklopft. „Julie!“, ließ sich Andies Stimme vernehmen. „Bist du verrückt geworden? Willst du den ganzen Sommer Hausarrest haben?“
Julie erstarrte. Sie brauchte bloß eine Minute zu spät nach Hause zu kommen, um sich eine harte Strafe einzuhandeln. Sie konnte sich gut vorstellen, wie ihr Sommer dann aussehen würde: keine Freundinnen, kein Kino, keine Partys, kein Schwimmbad. Stattdessen würde sie dazu verdonnert werden, jeden Tag stundenlang kniend in der Bibel zu lesen und um Vergebung zu beten.
Und ihr Vater würde bei seiner Predigt von der Kanzel herab auf sie deuten, sie eine Sünderin nennen und sie vor der ganzen Gemeinde bloßstellen. Und noch Schlimmeres konnte er tun. Er konnte sie von Andie und Raven trennen und sie irgendwohin schicken, wo sie niemanden hätte und wieder ganz allein sein würde, so allein wie damals, ehe Andie und Raven ihre Freundinnen wurden.
Julie befreite sich aus Ryans Umarmung. „Ich komme!“, rief sie, tastete mit fliegenden Fingern nach ihrem BH und ihrer Bluse, zog beides hastig an und machte ihre Shorts zu. Mit den Fingern kämmte sie ihr langes blondes Haar und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann zog sie ihre Brille aus der Hosentasche, ein hässliches schwarzes Gestell, das sie hasste und so selten wie möglich aufsetzte. Sie hatte ihren Vater angefleht, ihr Kontaktlinsen zu kaufen, doch er hatte sich geweigert und ihr stattdessen einen Vortrag über die Eitelkeit gehalten. Teufelswerk sei sie, hatte er streng erklärt und dann alle Spiegel aus dem Haus entfernt, bis auf den im Badezimmer ihrer Mutter, das er stets verschlossen hielt.
Die Brille in der Hand, blickte sie Ryan entschuldigend an. „Schade“, sagte sie. „Es war schön mit dir.“
Ryan nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Fast flehend sah er sie an. „Warum gehst du dann? Bleib doch bei mir, Baby.“
Julie glaubte, das Herz müsse ihr brechen. Er liebte sie. Er liebte sie wirklich. Wie konnte sie ihn jetzt verlassen, wenn er …
Die Tür flog auf. Das Licht der Parkplatzbeleuchtung fiel ins Innere des Wagens. Andie beugte sich hinein. „Julie, los, komm! Es ist zwanzig vor neun.“
„Zwanzig vor neun?“, wiederholte Julie und begann vor Angst zu zittern.
Ryan nahm ihre Hand. „Vergiss deinen Alten, Baby. Bleib bei mir.“ Jetzt beugte sich Raven in den Wagen. Wütend blitzte sie Ryan an. „Verzieh dich, du Depp.“
Und dann packten die Freundinnen Julie bei den Armen, zogen sie aus dem Auto und über den Parkplatz zu der Abkürzung nach Happy Hollow, der Siedlung, wo alle drei Mädchen wohnten.
Kaum waren sie weit genug von Ryans Camaro entfernt, da setzte Julie ihre Brille auf und blitzte Raven wütend an. Ihre Wangen brannten vor Zorn. „Wie konntest du so unhöflich zu ihm sein? Du hast Depp zu ihm gesagt. Jetzt will er bestimmt nichts mehr von mir wissen.“
„Julie, bitte …“ Raven schnaubte verächtlich. „Er ist ein Depp.“
„Musst du immer so grob sein? Manchmal machst du mich krank mit deiner Art.“
„Musst du immer auf jeden Jungen hereinfallen? Manchmal schäme ich mich geradezu für dich.“
Julie trat einen Schritt zurück. Ravens Worte hatten sie getroffen wie eine Ohrfeige. „Vielen Dank. Ich dachte, du seiest meine Freundin.“
„Und ich dachte …“
Andie trat zwischen sie. „Hört auf mit dem Quatsch! Wenn wir uns nicht beeilen, ist Julie verloren. Was ist bloß mit euch los? Wir sind doch Freundinnen.“
„Ich gehe keinen Schritt weiter, nicht mit ihr.“ Julie verschränkte die Arme vor der Brust. „Es sei denn, sie entschuldigt sich bei mir.“
„Wozu soll ich mich entschuldigen? Es stimmt doch, was ich gesagt habe.“
„Es stimmt nicht! Ryan hat gesagt, er liebt mich. Und das ändert alles.“
Andie und Raven sahen sich an.
„Was ist?“, fragte Julie pikiert. „Was sollen diese Blicke?“
„Julie“, sagte Andie behutsam, „du kennst ihn doch kaum.“
„Na und? Wenn man sich liebt, spielt das keine Rolle.“ Julie sah erst Andie, dann Raven an. Dabei merkte sie selbst, wie verzweifelt sie klang. Tränen schossen ihr in die Augen. „Er hat gesagt, er liebt mich, und ich weiß, dass er es ernst meint.“
„Woher?“, murmelte Raven. „Weil er mit dir vögeln wollte?“
Julie stockte der Atem. „Als meine Freundinnen solltet ihr eigentlich zu mir halten“, sagte sie verletzt. „Ihr solltet mich verstehen.“
„Wir verstehen dich ja, Julie.“ Andie drückte ihren Arm. „Aber Freunde sollten sich auch gegenseitig beschützen. Die Jungs erzählen dir alles, was du hören willst, um ihr Ziel zu erreichen. Das weißt du doch selbst.“
„Aber Ryan …“
„Hör zu, Julie“, unterbrach Raven sie in ungeduldigem Ton, „komm endlich zur Vernunft. Du bist dem Typ zufällig im Kegelclub begegnet, das ist alles. Und vorher hat er dich nie zur Kenntnis genommen.“
„Er sagte, ich würde ihm schon lange gefallen. Er sei bloß nicht mit mir ausgegangen, weil er in der Oberstufe war und ich in der Unterstufe und …“
Raven verdrehte genervt die Augen gen Himmel. „Wie kann man nur so borniert sein?“
„Danke für das Kompliment.“ Julie schob ihre Brille hoch. Ihre Stimme zitterte, so sehr hatten Ravens Worte sie verletzt. „Ihr zwei könnt euch anscheinend nicht vorstellen, dass ein Junge, der so gut aussieht und so smart ist wie Ryan Tolber, dass jemand so … Wichtiges sich für mich, die lächerliche kleine Julie Cooper, interessieren könnte.“
„Darum geht es doch gar nicht.“ Andie warf Raven einen warnenden Blick zu. „Das solltest du eigentlich wissen. Wir schätzen dich viel höher ein als ihn. Wir finden, dass du zu gut für ihn bist. Nicht wahr, Raven?“
„Viel zu gut“, pflichtete Raven ihr bei. „Er kann dir nicht das Wasser reichen.“
„Wirklich?“ Julie versuchte die Tränen wegzublinzeln. Vorwurfsvoll sah sie Raven an. „Warum bist du dann immer so hässlich zu mir? Du tust so, als seiest du schlauer als ich, als wüsstest du alles besser. Das ist nicht gerade angenehm für mich.“
„Entschuldige, Julie. Aber manchmal benimmst du dich, als hättest du nur Jungs im Kopf. Wenn du so weitermachst, ist dein Ruf bald dahin. Dann heißt es, du seist eine Nutte. Manche sagen das schon jetzt von dir. Und das macht mich wütend.“
„Eine Nutte“, flüsterte Julie. Ihre ganze Welt geriet ins Wanken. „Die Leute sagen … ich sei … eine …“ Fragend blickte sie Andie an. Andie würde ihr niemals absichtlich wehtun, aber sie würde auch nicht lügen. Andie log nie. „Sagen die Leute … das wirklich von mir?“
Andie zögerte. Dann legte sie den Arm um die Freundin. „Wir versuchen dich bloß zu schützen, Julie. Weil wir dich lieben.“
„Ich hätte diese Dinge nicht sagen sollen“, meinte Raven. „Aber ich werde so sauer, wenn ich sehe, wie du dich in Situationen bringst, wo man dir wehtut. Du bist zu gut für Typen wie Ryan Tolber. Er benutzt dich nur.“
„Es tut mir leid“, flüsterte Julie. Sie ging zu Raven hin und legte die Arme um sie. „Ich weiß, du meinst es gut. Aber was du über Ryan sagst, stimmt nicht. Da täuscht ihr euch alle beide. Ihr werdet es schon sehen.“
„Ich hoffe, du hast recht“, sagte Raven, Julies Umarmung erwidernd. „Ich hoffe es wirklich.“
„Kinder“, meinte Andie mit einem Blick auf ihre Uhr, „es ist fast neun. Könnt ihr mir sagen, wie Julie es jetzt noch schaffen soll, pünktlich nach Hause zu kommen?“
Julie blickte ihre Freundinnen völlig verzweifelt an. Erst jetzt wurde ihr der Ernst ihrer Lage bewusst. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. „Mein Vater wird mich umbringen“, flüsterte sie. „Er …“
Sie begann zu rennen. Dabei sah sie ihren Vater vor sich, wie er mit der Uhr in der Hand an der Küchentür auf sie wartete, glaubte die Litanei von Vorwürfen und Beschuldigungen bereits zu hören, mit der er sie empfangen würde.
Die Uhr auf dem Marktplatz begann zu schlagen. Es war zu spät. Sie würde es nicht schaffen. Keuchend blieb sie stehen. „Es bringt ja doch nichts“, stieß sie unter Tränen hervor. Verzweifelt sank sie auf die Knie. „Ich habe wieder mal alles vermasselt. Was ist nur mit mir los?“
„Nichts ist mit dir los.“ Andie kauerte sich neben sie. Tröstend legte sie ihr die Hand auf den Arm. „Komm, du darfst nicht aufgeben. Wir haben noch eine Chance.“
„Nein, wir haben keine. Hör doch, es hat gerade neun geschlagen. Ich bin erledigt.“ Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Mein Vater hat recht. Ich tauge nichts. Ich bin eine Schande. Eine dumme, eitle …“
„Sprich es nicht aus!“, rief Raven und begann zu rennen. „Er hat nicht recht, überhaupt nicht!“
Verwirrt sprang Julie auf. „Raven, was hast du vor? Wir können es nicht schaffen!“
Auch Andie richtete sich auf. Die beiden tauschten einen Blick aus und rannten dann hinter der Freundin her. „Raven!“, riefen sie, „warte auf uns, wir …“
Sie hatten noch nicht ausgesprochen, da fiel Raven hin, schlug mit den Knien hart auf die Schottersteine am Straßenrand und fing den Sturz mit den Händen ab. Mit einem Schrei waren Andie und Julie an ihrer Seite.
„Bist du okay?“
„Oje, du blutest!“
Raven ignorierte die Aufregung ihrer Freundinnen. Sie setzte sich auf. „Das reicht nicht“, murmelte sie, ihre abgeschürften Knie und Hände betrachtend. Sie heftete den Blick auf die Schottersteine, als würde sie etwas suchen. Im nächsten Moment hob sie einen faustgroßen scharfkantigen Stein auf, und ehe die beiden anderen sie fragen konnten, was sie damit vorhatte, holte sie aus und schmetterte ihn auf ihr Bein herunter. Sie zuckte kaum zusammen, als der Stein eine blutige Spur vom Knie bis zum Schienbein hinterließ. „Okay“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Das dürfte genügen.“
„Oh mein Gott.“ Julie starrte auf die Blutlache, die sich unter dem Bein ihrer Freundin auszubreiten begann. „Raven, warum hast du das getan?“
Raven blickte auf. „Weil ich es satt habe, untätig zuzusehen, wie dein alter Herr dich zur Schnecke macht. Seit Jahren muss ich es mit ansehen, und jetzt reicht’s mir.“ Sie lächelte mit zitternden Lippen. „Dein Vater wird dir kaum die Schuld an meinem Unfall geben können. Und du hast dich verhalten, wie sich das für einen guten Christen gehört. Trotz deiner Angst vor seiner Strafe bist du bei mir geblieben, um mir zu helfen. Und jetzt gib mir mal die Hand, damit ich aufstehen kann.“
Julie reichte ihr die Hand, Andie fasste sie bei der anderen. Zusammen halfen sie Raven auf die Füße. Sie stöhnte, als sie mit dem verletzten Bein auftrat. „Mann, das tut ganz schön weh.“
„Komm“, murmelte Andie, „wir müssen die Wunde reinigen. Sie scheint ziemlich tief zu sein.“ Sie beugte sich vor, um einen Blick auf Ravens Bein zu werfen. „Vielleicht muss sie sogar genäht werden.“
„Meinst du?“ Raven betrachtete den tiefen Schnitt. Ihr Gesicht war blass. Sie schwankte ein wenig. Halt suchend griff sie nach Julies Arm. „Jetzt passt mein Bein zu meinem Gesicht“, murmelte sie, auf die lange Narbe anspielend, die sich über ihre rechte Wange zog. Die Narbe war nach einer Verletzung zurückgeblieben, die sie als Sechsjährige bei einem Autounfall erlitten hatte. „Ich bin eben ein Freak.“
„Du bist kein Freak!“ Julies Blick ging zwischen Andie und ihr hin und her. „Du hast Haare und Augen wie ein Engel und …“
„Und ein Gesicht wie ein Monster.“ Raven lachte grimmig. „Glaubst du vielleicht, ich wüsste nicht, dass die Jungs mich hinter meinem Rücken Frankensteins Braut nennen?“
„Sie sind unreife Idioten“, sagte Andie schnell. „Mach dir nichts draus.“
„Das sagst du so. Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, wenn sie dich anstarren, wenn sie über dich tuscheln, weil du anders bist.“
„Willst du lieber so aussehen wie ich?“, fragte Andie. „An mir ist überhaupt nichts dran. Aschblondes Haar, braune Augen. Ich bin schon fünfzehn und noch platt wie eine Flunder.“
„Julie hat Titten.“ Ein Lächeln zuckte um Ravens Mundwinkel. „Sie hat genug für uns beide.“
Julie spürte, wie sie rot wurde. „Ihr habt auch welche. Und außerdem sind meine gar nicht so groß.“
„Verglichen womit? Wassermelonen?“ Ravens Lächeln schwand. „Versteht ihr denn nicht?“ Sie verlagerte das Gewicht auf ihr verletztes Bein und verzog das Gesicht. „Es ist mir egal, was die Leute denken. Meinetwegen kann die ganze verdammte Welt mich für einen Freak halten. Für mich zählt nur ihr, unsere Freundschaft. Ich könnte das schönste Mädchen der Welt sein, ohne euch zwei wäre ich verloren. Ihr seid meine Familie. Und in einer Familie hält man zusammen. So wie heute Abend. Immer. Unverbrüchlich.“
Eine Stunde später stand Andie vor der Tür ihres Elternhauses. Der Kopf schwirrte ihr von den Ereignissen des Abends. Noch immer sah sie vor sich, wie Raven sich diesen Stein aufs Bein schmetterte. Sie hatte nicht mit der Wimper gezuckt, dabei musste es fürchterlich wehgetan haben. Die Wunde hatte so heftig geblutet, dass Ravens weißer Turnschuh sich rosa färbte.
Aber sie hatte Julie damit aus der Patsche geholfen, das ließ sich nicht bestreiten. Reverend Cooper hatte sie alle drei mit finsterem Blick gemustert und von ihnen wissen wollen, wo sie vor dem Unfall gewesen seien, als wollte er sie mit seiner Fragerei dazu bringen, irgendwelche Todsünden zu beichten.
Julie hatte so schuldbewusst ausgesehen, dass es fast komisch wirkte. Aber Raven hatte dem guten Reverend ausführlich geschildert, wie Julie an ihrer Seite geblieben war, obwohl sie, Raven, die Freundin angefleht hatte, doch nach Hause zu gehen.
Eine bessere Lügnerin als Raven gab es nicht. Und keine bessere Freundin. Andie glaubte nicht, dass sie den Mut gehabt hätte, so zu handeln wie Raven, nicht einmal für ihre beste Freundin.
Reverend Cooper hatte es schließlich bei der strengen Ermahnung, in Zukunft vorsichtiger zu sein, bewenden lassen, und Mrs. Cooper hatte Ravens Bein verarztet und sie dann beide nach Hause gefahren.
Andie drehte sich um und winkte Mrs. Cooper noch einmal zu, ehe sie ins Haus ging. Dabei schüttelte sie verwundert den Kopf. Raven machte immer so komische Sachen, immer eilte sie Julie oder ihr zu Hilfe, ohne sich darum zu kümmern, ob sie sich selbst damit in Gefahr brachte.
Bei einer solchen Gelegenheit hatten Raven und sie sich kennengelernt. Andie war acht Jahre alt gewesen in jenem Sommer. Ein paar Jungs aus der Nachbarschaft hatten sie mit ihren Fahrrädern umzingelt. Raven, die zufällig vorbeikam, war ihr spontan zu Hilfe geeilt. Wie eine Furie war sie dazwischengefahren. Andie musste lachen, als sie daran dachte, wie sie Raven damals bewunderte. Selbst wenn sie beide etwas auf die Mütze gekriegt hatten. Jedenfalls waren sie von jenem Tag an unzertrennlich gewesen.
Andie ging in die Küche. Weil sie Hunger hatte, nahm sie sich einen Apfel aus der Obstschale auf dem Tisch. „Mom?“, rief sie, wobei ihr erst jetzt die seltsame Stille im Haus auffiel. „Dad? Ich bin zu Hause!“
„Wir sind hier“, antwortete ihr Vater aus dem Wohnzimmer. Seine Stimme klang irgendwie komisch, erstickt, als sei er erkältet. „Würdest du bitte mal kommen?“
„Klar, Dad.“ Sie schlenderte ins Wohnzimmer. Während sie in ihren Apfel biss, überlegte sie, was wohl der Grund für den komischen Ton ihres Vaters sein mochte. Wenn er nicht erkältet war, dann hatte er sich vermutlich wieder über einen dummen Streich ihrer jüngeren Brüder geärgert. Die Zwillinge stellten ständig irgendetwas an.
Brüder sind doch wirklich ätzend, dachte Andie.
Im Wohnzimmer traf sie die versammelte Familie an – ihre Mutter, ihren Vater, ihre Brüder. Andie blieb an der Tür stehen. Überrascht blickte sie von einem zum anderen. Der Bissen blieb ihr im Hals stecken, als sie die Gesichter ihrer Eltern sah. Die Augen ihrer Mutter waren rot und geschwollen, die Miene ihres Vaters war starr, sein Mund eine harte, schmale Linie. Ihre Brüder verhielten sich ausnahmsweise einmal ruhig. Mit gesenkten Köpfen und hängenden Schultern saßen sie da.
Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas Schreckliches musste passiert sein.
„Mom? Was ist?“ Ihre Mutter reagierte nicht. Andie sah ihren Vater an. „Dad? Was ist passiert? Ist es wegen Oma? Ist sie …“
In diesem Moment schaute ihre Mutter auf. Andie erschrak, als sie den Zorn in ihren Augen sah. Noch nie hatte ihre Mutter sie so angesehen. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück.
„Mom? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich weiß, es ist spät, aber Raven ist gestürzt und …“
„Dein Vater hat dir etwas zu sagen.“
Andie wandte sich an ihren Vater. „Daddy?“, flüsterte sie. „Was ist los?“
„Setz dich, Andie.“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Erst sollst du mir sagen, dass alles okay ist.“
„Sag es ihr, Dan“, warf ihre Mutter mit brüchiger Stimme ein. „Sag ihr, wie okay alles ist. Sag ihr, dass du beschlossen hast, uns nicht mehr zu lieben.“
„Marge!“
Die Stimme ihrer Mutter nahm einen hysterischen Klang an. „Sag ihr, dass du uns verlassen willst.“
Andie starrte ihre Eltern an. Das durfte nicht wahr sein. So etwas konnte nicht passieren. Nicht in ihrer Familie. „Nein“, sagte sie und hörte die Panik aus ihrer eigenen Stimme heraus. „Nein, das glaube ich nicht.“
„Liebling …“ Ihr Vater stand auf und streckte die Hand nach ihr aus. „Solche Dinge kommen nun mal vor bei Erwachsenen. So wie man sich verliebt, kann man sich auch entlieben. Das hat nichts mit dir oder deinen Brüdern zu tun.“
Andie hörte seine Worte. Aber sie schienen wie aus weiter Ferne zu kommen. Zusammen mit dem Hämmern ihres Herzens hallten sie in ihrem Kopf wider.
Sich entlieben? Es hatte nichts mit ihr zu tun? Ihr Vater wollte sie verlassen?
Sie holte tief Luft. Der Schmerz, den seine Worte ausgelöst hatten, war unerträglich. Wie konnte er solche Dinge sagen? Wie konnte es nichts mit ihr zu tun haben, wenn sie das Gefühl hatte, dass alles in ihr abgestorben war?
„Es hat wirklich nichts mit euch Kindern zu tun“, betonte ihr Vater noch einmal. „Ich habe euch genauso lieb wie vorher.“
Andie sah zu ihren Brüdern hinüber, die dicht beieinandersaßen, als müssten sie sich gegenseitig festhalten. Pete weinte leise vor sich hin, Daniel fixierte ihren Vater mit starrem Blick. Seine Augen funkelten vor Wut.
„Ich ziehe nicht weit weg“, erklärte ihr Vater gerade. „Ich bleibe hier in Thistledown. Wir werden uns oft sehen. Ich habe die Besuchsregelung bereits mit meinem Anwalt …“
„Mit deinem Anwalt?“, fiel ihm ihre Mutter ins Wort. „Du bist schon bei einem Rechtsanwalt gewesen?“
Er blickte sie an. „Ja, Marge, ich war bei einem Anwalt.“
Andie wich einen weiteren Schritt zurück. Was war geschehen? Wie konnte er ihre Mutter mit diesem kalten Blick ansehen? Wo er sie doch heute früh noch geküsst, mit ihr zusammen gelacht hatte.
„Ich hielt es für das Beste, mich über meine Rechte zu informieren, ehe ich …“
„Was für Rechte?“ Die Stimme ihrer Mutter klang schrill. „Das Recht, deine Kinder nur an den Wochenenden und ein paar Wochen in den Ferien zu sehen? Hältst du das für das Beste? Besser, als jeden Abend zu ihnen nach Hause zu kommen?“
„Es reicht, Marge! Wir sollten diese Unterhaltung nicht vor den Kindern führen.“
„Das sagst du mir? Wie kannst du es wagen!“ Ihre Mutter sprang auf. „Ich dachte immer, wir seien eine Familie.“
Ihr Vater seufzte frustriert. „Ich bin nicht glücklich in dieser Ehe, schon lange nicht mehr. Das musst du doch gemerkt haben.“
Andie schlang schützend die Arme um die Taille. Sie hielt noch immer ihren Apfel umklammert. Nicht glücklich? Ihre Eltern zankten sich doch so gut wie nie. Jeden Morgen, wenn er zur Arbeit ging, gab Dad ihrer Mutter einen Kuss. Und Mom küsste ihn, und dann lächelte sie. Und jetzt wollte er sie alle verlassen. Weil er nicht glücklich war.
Tränen schossen ihr in die Augen. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie wollte nicht, dass ihr Dad sie verließ. Sie hatte ihn doch so lieb. „Geh nicht weg, Dad“, sagte sie in flehendem Ton. „Ich möchte, dass wir eine Familie bleiben.“
Er blickte erst sie, dann die Zwillinge an. „Wir bleiben eine Familie, Kinder. Wir werden immer eine Familie bleiben, daran ändert sich gar nichts, auch wenn ich wegziehe.“
Oh doch, es würde sich sehr wohl etwas ändern. Alles würde sich dadurch verändern. „Ich will auch mehr helfen, das verspreche ich dir“, sagte sie, verzweifelt nach einer Möglichkeit suchend, alles wieder in Ordnung zu bringen. „Und wir Kinder werden uns nicht mehr zanken.“ Flehend sah sie ihre Brüder an. „Nicht wahr?“
Die beiden schüttelten die Köpfe. „Nein, ganz bestimmt nicht“, erwiderten sie wie aus einem Mund.
„Liebling, es hat wirklich nichts mit euch …“
Weil sie Angst vor dem hatte, was er sagen würde, ließ Andie ihren Vater gar nicht erst ausreden. „Und ich passe auf Pete und Daniel auf, damit ihr öfter ausgehen könnt“, fuhr sie hastig fort. „Ohne mich zu beklagen, ich verspreche es dir. Gib mir noch einmal eine Chance, bitte. Du wirst sehen, wie brav ich sein kann.“
„Siehst du, Dan?“, flüsterte ihre Mutter. Kraftlos sank sie auf ihren Stuhl zurück. „Siehst du, was du deinen Kindern antust?“
Die Worte ihrer Mutter ignorierend, ging ihr Vater zu ihr und nahm sie in die Arme. „Oh Andie.“ Liebevoll drückte er sie an sich. „Diese Sache hat wirklich nichts mit dir oder deinen Brüdern zu tun.“ Er schob sie ein wenig von sich weg, um ihr in die Augen zu sehen. „Es dreht sich um deine Mutter und mich.“
Andie kämpfte mit den Tränen. Wieder blickte sie zu ihren Brüdern. Pete und Daniel saßen noch immer dicht beisammen. Das taten sie immer. Sie trösteten sich gegenseitig. Sie waren ein Team. Dafür hatte sie Raven und Julie. Sie sah zu ihrer Mutter hinüber, die allein dasaß und furchtbar verzweifelt aussah. Auch ihre Eltern waren ein Team gewesen. Und jetzt?
Wie konnte ihr Vater ihnen das antun? Wie konnte er sie einfach so verlassen? Er sollte sie doch lieb haben.
Andie entzog sich der Umarmung ihres Vaters und ging zu ihrer Mutter, kniete sich neben ihren Stuhl und schlang die Arme um sie. Einen Moment verharrte ihre Mutter in ihrer erstarrten Haltung. Dann sank sie gegen Andie. Verzweifelt klammerte sie sich an ihrer Tochter fest.
„Andie, Liebling“, sagte ihr Vater leise und geduldig, „ich weiß, es ist schwer für dich, aber irgendwann wirst du mich verstehen.“
„Nein, niemals!“ Sie schüttelte heftig den Kopf. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Du hast gesagt, deine Familie würde dir alles bedeuten. Sie sei das Allerwichtigste. Du hast gelogen.“
„Ich habe nicht gelogen. Ich konnte doch nicht wissen, wie sich die Dinge entwickeln würden. So etwas kommt eben vor.“ Er blickte seine Frau an. „Marge, kannst du es ihr nicht erklären?“
Andie spürte, wie ihre Mutter wieder steif wurde vor Abwehr. „Du hast uns diese Geschichte eingebrockt, Dan. Du allein. Und jetzt soll ich dir dabei helfen, es den Kindern schonend beizubringen? Nein, Dan, das ist deine Sache.“
„Okay.“ Sein Blick ging zwischen Andie und ihren Brüdern hin und her. „Mein Entschluss steht fest. Es tut mir leid, Kinder, aber so ist es nun mal. Wenn ihr älter seid, werdet ihr mich …“
„Verstehen?“ Andie blickte zu ihm auf. Dabei brach ihr fast das Herz. Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde es nicht verstehen, Dad. Und ich werde es dir nie verzeihen. Niemals.“
Einen Moment starrte ihr Vater sie nur wortlos an. Dann wandte er sich ab und ging.
Erschöpft, mit brennenden Augen, lag Andie auf ihrem Bett. Wenige Sekunden nachdem ihr Vater gegangen war, hatte sie seinen Wagen gehört und war zum Fenster gerannt, um zu beobachten, wie er abfuhr. Sie hatte ihm nachgesehen, bis seine Rücklichter von der Dunkelheit verschluckt wurden.
Jetzt war ihr Dad weg. Einfach so.
Sie drehte sich auf die Seite. Im Haus war es unnatürlich still. Ihre Brüder waren schon vor einer Weile zu Bett gegangen, ihre Mutter hatte sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen. Normalerweise lief um diese Zeit irgendeine Fernsehsendung im Zimmer ihrer Eltern, und Andie konnte hören, wie sich ihr Dad und ihre Mom leise miteinander unterhielten. Ab und zu klingelte das Telefon, oder die Katze miaute unter ihrem Schlafzimmerfenster.
Aber nicht heute. Heute war es, als sei die Welt untergegangen. Andie war allein – allein mit ihren quälenden Gedanken. Sie setzte sich im Bett auf. Ihr Blick fiel auf die geschlossene Tür. Dabei musste sie an ihre Brüder denken, an den verzweifelten Ausdruck in ihren Gesichtern. Seufzend stieg sie aus dem Bett, um durch den Flur zum Zimmer ihrer Brüder zu gehen. Leise öffnete sie die Tür und spähte hinein.
„Seid ihr zwei okay?“, flüsterte sie.
„Klar.“ Der Blick, den Daniel ihr zuwarf, war nicht gerade freundlich. „Wir sind doch keine Babys mehr.“
„Ich weiß. Aber ich dachte, dass ihr vielleicht mit mir reden wollt.“
„Andie?“ Pete rollte sich auf die Seite, um sie anzusehen. „Ich verstehe das nicht. Mom und Dad waren doch immer so … also, ich dachte, sie hätten sich …“ Seine Stimme wurde immer leiser.
„Ja, das dachte ich auch.“ Andie seufzte. „Aber wir haben uns wohl getäuscht.“
Nur mühsam hielt der Junge die Tränen zurück. „Werden wir Dad denn noch sehen können?“
„Ich weiß es nicht.“ Andie wandte den Blick ab. „Er hat es jedenfalls gesagt.“
„Aber er ist ein Lügner.“ Daniel setzte sich im Bett auf. „Ein gemeiner Lügner. Es ist mir egal, wenn ich ihn nicht mehr sehe. Und Pete ist es auch egal.“
Aber Pete war es nicht egal, das sah Andie ihm an. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und schnell wandte er den Kopf ab. Andie warf Daniel einen wütenden Blick zu. „Halt die Klappe, okay? Du glaubst immer, du bist so schlau.“
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