Mörderische Familienbande - Anne George - E-Book

Mörderische Familienbande E-Book

Anne George

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Beschreibung

Miss Marple im Zweierpack Familienforschung ist Schwesternsache! Das ist für Mary Alice keine Frage. Natürlich soll auch ihre leidgeprüfte Schwester Patricia von ihrem neuen Hobby, der Genealogie, profitieren. Sie arrangieren ein Treffen mit Meg Bryan, ihres Zeichens Ahnenforscherin. Doch das gemeinsame Mittagessen nimmt ein unvorhergesehenes Ende, als Meg abrupt hinausläuft und sich wenig später aus dem Fenster stürzt – oder wurde sie gestoßen?

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Seitenzahl: 346

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Anne George

Mörderische Familienbande

Roman

Deutsch von Christiane Filius-Jehne

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe 2010© der deutschsprachigen Ausgabe:Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40322-1 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21193-2Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de

Inhaltsübersicht

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Danksagung

Für alle Freds, insbesondere den meinigen.

1

»Reiher-Luke ist hier«, murmelte meine Schwester Mary Alice, während sie sich neben mich in die vordere Kirchenbank schob. Sie drehte sich um und winkte kurz dem Brautführer zu.

»Hat sie gesagt, Reiher-Luke ist hier?«, flüsterte Fred – mein Mann – mir ins linke Ohr.

Ich nickte. Luke ist unser Cousin. Er stammt aus Columbus, Mississippi, und war immer mit uns am Meer, als wir Kinder waren. Die Übelkeit, die ihn beim Autofahren unweigerlich überkam, war so legendär, dass sie sich zu einem Running-Gag in der Familie entwickelte.

Händels Wassermusik erfüllte die Kuppel von Birminghams St. Mark’s Episcopal Church.

»Du siehst großartig aus«, raunte ich Mary Alice zu. Und das war nicht gelogen. Das dezent aschblond gefärbte Haar (sonst war es rosa!) und das lavendelfarbene Kleid verliehen ihr etwas geradezu Königliches. Außerdem mogelte das tunikaförmige Oberteil glatt 15Kilo weg, was sie allerdings immer noch über 90Kilo wiegen ließ. »Eins zweiundachtzig und mit ein paar hübschen Rundungen«, pflegte sie sich selbst zu beschreiben.

»Hmmmm«, sagte Mary Alice mit einem musternden Blick. »Du siehst auch gut aus, Patricia Anne.« Ein seltenes Lob. Ich strich über das blaue Chiffonkleid, Größe 36, das ich in The Petite Shop erstanden hatte. Mary Alice und ich werden ständig gefragt, ob wir wirklich Schwestern seien. Mary Alice will daraufhin gelegentlich wissen, was denn mit »wirklich« gemeint sei, was den Fragesteller häufig in Verlegenheit bringt. Ich sage ihr immer, dass ich das geschmacklos fände, dass sie nach sechzig Jahren weiß Gott an die Frage gewöhnt sein und einfach mit Ja antworten sollte.

»Was hast du denn in deinem Haar?«, fragte sie.

»Poly Brillance sandblond. Das wäscht sich raus.«

»Schade.«

»Sag ihr, dass ich dein graues Haar mag«, flüsterte Fred. Ich überdachte das kurz und gab dann an meine Schwester weiter: »Fred mag mein graues Haar.«

»Ha.«

Händels Wassermusik überdeckte zum Glück meine Antwort.

Mary Alice blickte sich um. »Findest du das Rosa der Blumen nicht zu dunkel?«

»Absolut nicht. Sie sind wundervoll.«

»Ich kann es gar nicht glauben, dass Debbie so eine Hochzeit feiert.«

Mir ging es genauso. Meine Nichte Debbie Nachman, die Tochter von Mary Alice, ist eine erfolgreiche sechsunddreißigjährige Anwältin und alleinerziehende Mutter zweier Zwillingsmädchen. Als sie und ihr Verlobter Henry Lamont an Weihnachten ihre Hochzeitspläne verkündeten, hätte niemand von uns Glanz und Gloria erwartet. Aber sie hatten uns an der Nase herumgeführt, und so saßen wir jetzt in der ersten Reihe von St. Mark’s – mit mindestens dreihundert Menschen hinter uns.

»Dieses Buntglasfenster sieht nicht richtig aus wie Jesus«, murmelte Schwesterherz.

»Was hat sie gesagt?«, fragte Fred.

»Sie sagte, dass das Buntglasfenster nicht richtig wie Jesus aussieht.«

»Sie muss es ja wissen. Vermutlich kannte sie ihn.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Mary Alice.

»Nichts.« Ich blickte Fred mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mit ihren 65Jahren ist Mary Alice nur fünf Jahre älter als ich. Und zwei Jahre älter als dieser Schlauberger zu meiner Linken.

»Doch, er hat was gesagt. Er hat über mein Alter gelästert.«

»Ignorier ihn einfach.«

»Was hat sie gesagt?«, flüsterte Fred.

Die Orgel leitete zur ›Ode an die Freude‹ über, und die Menge raschelte erwartungsvoll. Die Seitentür ging auf, und Henry, der Bräutigam, und unser Sohn Freddie, sein Trauzeuge, kamen hinter dem Pfarrer herein. Sie sahen dermaßen gut aus, dass ich in meiner Handtasche nach einem Papiertaschentuch kramte.

»O Gott, sie haben beide Kaugummi im Mund«, zischte Mary Alice.

»Was hat sie gesagt?«, fragte Fred.

»Sie kauen Kaugummi, Fred!«

Die beiden wandten uns ihr Gesicht zu. Freddie lächelte uns an, und wir machten alle drei wie verrückt Kaubewegungen. Einen Moment lang blickte er erstaunt drein, und dann sahen wir seinen Adamsapfel hüpfen, als er schluckte. Er stieß Henry mit dem Ellbogen an, und eine Sekunde später wanderte Henrys Kaugummi ebenfalls abwärts.

»Gut«, nickte Mary Alice.

Unsere Tochter Haley war die Erste vorn am Altar. Das rosafarbene Brautjungfernkleid war zwar nicht praktisch, aber äußerst kleidsam. Sein enges Mieder ließ ihre Taille unglaublich schmal aussehen, und die Farbe verlieh ihrer olivfarbenen Haut einen rosigen Schein.

Mary Alices Tochter Marilyn war die Brautführerin ihrer Schwester. Mit ihren eins zweiundachtzig und dem brünetten Haar sah sie derartig aus wie ihre Mutter in diesem Alter, dass es geradezu gespenstisch war. Und wie sie neben meiner 1,55m großen rotblonden Haley stand, das war wie Schwesterherz und ich vor dreißig Jahren.

Die Orgel intonierte lautstark eine Fanfare, alles stand auf, und die Braut rauschte am Arm ihres Cousins Philip Nachman zum Altar. Rauschte war der richtige Ausdruck. Ihr Kleid hätte Prinzessin Di die Schamesröte ins Gesicht getrieben.

»Mein Gott«, sagte Fred. »Dieses jungfräuliche Weiß blendet einen ja fast.«

»Halt die Klappe.« Ich versetzte ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, als wir uns wieder setzten.

»Liebe Brüder und Schwestern«, begann der Pfarrer. Mary Alice und ich griffen beide zum Taschentuch.

Es war eine traditionelle Zeremonie. Debbie, die unabhängigste Frau, die man sich vorstellen kann, die sich mit ihren etwas über dreißig Lenzen seit Jahren allein durchgeschlagen hatte, und zwar gut, Gott sei’s gepriesen, und die sich, als sie sich für Kinder entschied, in der Samenbank der Universität künstlich hatte befruchten lassen, diese Debbie wurde nun durch ihren Cousin an Henry Lamont »übergeben«, der sieben Jahre jünger war als sie. Ein wundervoller Mann, aber mit nichts zu beißen, wie man so schön sagte. Das war aber nur vorübergehend so. Henry würde einer der großen amerikanischen Köche werden, das wussten wir alle.

Nach dem Traugelübde knieten Debbie und Henry zum Gebet nieder, und der Organist stimmte mit großem Getöse das Auszugslied an. Sie machten Halt, um Mary Alice zu küssen und eine ältere Cousine von Henry, die anstelle seiner Mutter dort saß. Das Brautgefolge stürmte grinsend vorbei, und dann eskortierte Philip Nachman seine Tante Mary Alice hinaus, während Freddie Henrys Cousine hinausführte.

»So, das wär’s«, sagte Fred.

Die Leute standen auf und unterhielten sich lächelnd. Ich wischte mir ein letztes Mal über die Augen.

»Das war eine Hochzeit, die hält«, sagte ich.

»Eine was?«

»Du weißt schon, was ich meine. Bei manchen Leuten ist einfach klar, dass sie zusammenbleiben werden.«

Jetzt arbeiteten auch wir uns durch den Mittelgang nach draußen.

»Hast du mir nicht gesagt, Mary Alice habe dem alten Philip versprochen, Debbie jüdisch zu erziehen?«, fragte Fred. »Das sieht mir hier aber gar nicht nach einem Tempel aus. Viel mehr nach einer Kathedrale.«

Der »alte« Philip, auf den Fred Bezug nahm, war Debbies Vater, Mary Alices zweiter Ehemann. Er war gleichzeitig auch der Onkel des »jungen« Philip Nachman, seines Namensvetters, der die Braut ihrem Ehemann zugeführt hatte. »Sie sagt, sie hat es vergessen«, erklärte ich.

»Sie hat es vergessen?« Fred lachte lauthals. Er lachte noch immer, als wir aus der Kirchentür hinausschritten. Mir fiel auf, dass ich schon eine ganze Weile nicht mehr dieses inbrünstige, glucksende Lachen gehört hatte. Ich verspürte einen kurzen, sorgenvollen Stich. Aber nur eine Sekunde lang, da wir uns gleich darauf mitten in der Menge von Freunden und Verwandten befanden, die vor der Kirche umherschlenderte.

»Patricia Anne!«, begrüßte mich Reiher-Luke mit einer herzlichen Umarmung. Er ist ein distinguiert aussehender millionenschwerer Versicherungsmanager in den Sechzigern. Er hat eine reizende Frau und einen Sohn, der Mitglied des Repräsentantenhauses ist. Kurz gesagt führt er ein beispielhaftes Leben und ist der Glanzstern am Götterhimmel der Familie. Mary Alice hasst ihn nach wie vor.

»Er hat so gereihert, dass ihm das Zeug sogar in den Wimpern hing!«, sagt sie immer. »Es kann einem ja schon mal beim Autofahren schlecht werden, aber er explodierte geradezu. Hat uns jede Urlaubsreise, egal wohin sie ging, versaut.«

Schwesterherz kann sich besser als ich an diese frühen Exkursionen ans Meer erinnern. Ich mag Luke, obwohl ich gern ein wenig Abstand zu ihm halte – für alle Fälle.

»Luke«, sagte ich und trat einen Schritt zurück, »schön, dich zu sehen. Schwesterherz wird sicherlich begeistert sein, dass du hier bist.«

Er machte einen erfreuten Eindruck. Ich glaube, er hofft noch immer, Mary Alice würde ihm eines Tages vergeben. Schließlich war das alles sechzig Jahre her.

Luke begrüßte Fred mit einem Handschlag, und ich umarmte seine Frau Virginia.

»Was für eine wunderschöne Hochzeit«, sagte sie. »Minnie meint, es sei die schönste, die er je erlebt habe.«

Minnie ist Virginias Kosename für Luke. Sie hatte Schwesterherz und mir auf einer anderen Familienfeier, auf der sie ganz allein eine Flasche Rheinwein geleert hatte, anvertraut, dass dies die Abkürzung für »Minutenmann« war. Ein Geständnis, das meiner Schwester das Herz aufgehen ließ. Armer Luke.

»Ja, es war wundervoll«, stimmte ich ihr bei.

»Haley war umwerfend hübsch. Und Freddie und Alan sahen unglaublich gut aus.«

Ich strahlte. Mochten meine Kinder auch nicht im Repräsentantenhaus sein, so waren sie doch in der Tat ausgesprochen nette und attraktive Menschen.

»Und die Blumen waren traumhaft. Dieses Rosa! Und Debbie hatte ein phantastisches Kleid an. Und der Bräutigam ist zum Anbeißen süß.«

Ich warf einen prüfenden Blick auf die weiter vor sich hin babbelnde Virginia. Sie hatte offenkundig schon früh mit dem Feiern begonnen.

»Patricia Anne!« Meine Freundin Bonnie Blue Butler hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt. »Das war eine Hochzeit, was?«

Ich pflichtete ihr bei und stellte sie Luke und Virginia vor.

»Sie sind aus Columbus, stimmt’s?«, sagte sie, während sie Lukes Hand schüttelte. »Mary Alice hat schon so viel von Ihnen erzählt.«

Luke schien erfreut. »Das höre ich gern.«

»Braucht jemand eine Mitfahrgelegenheit zu dem Empfang?«, fragte Virginia.

»Nein!«, antworteten wir im Chor.

»Wir müssen schon mal losfahren, weil wir nicht lange bleiben können.«

»Wir sehen euch dann dort!«, sagte ich.

»Reiher-Luke ist aber ein gutaussehender Kerl.« Bonnie Blue blickte den beiden hinterher.

»Er ist auch nett. Ich bin nur froh, dass er nicht näher bei Schwesterherz wohnt. Sie wird ihm nie verzeihen.« Wir dachten einen kurzen Moment darüber nach. »Mir hat sie auch nach wie vor nicht verziehen, dass ich ihre Shirley-Temple-Puppe verloren habe.« Auch hierüber dachten wir einen Moment lang nach. »Fünfundfünfzig Jahre ist das her.«

»Willst du mit uns zu dem Empfang fahren, Bonnie Blue?«, fragte Fred. »Wir bringen dich dann wieder hierher zurück.«

»Gern.«

»Ich hol das Auto. Ihr Frauen habt Stöckelschuhe an.«

»Das ist auch ein gutaussehender Gentleman«, sagte Bonnie Blue, als Fred davonging. Ich konnte ihr gar nicht genug beipflichten. Mit seinen dreiundsechzig Jahren hatte Fred noch immer den Gang eines jungen Mannes. Ich schob meine Bifokalbrille nach unten und blickte ihm hinterher. Schnuckelig!

Die Menge hatte keine Eile damit, sich aufzulösen. Es war so angenehm, in der warmen Märzsonne vor der Kirche zu stehen und ein Schwätzchen zu halten. Debbie hatte zweifellos Glück gehabt mit dem Wetter an ihrem Hochzeitstag. Im März kann das Wetter Kapriolen schlagen in Alabama. Und normalerweise tut es das auch. Der einzige Blizzard, der je in Birmingham verzeichnet wurde, fegte vor ein paar Jahren an einem 13.März durch die Stadt und hinterließ 45cm Schnee und 500000 traumatisierte Menschen, von denen die meisten in ihrem ganzen Leben noch nicht mehr als eine Schneeflocke gesehen hatten. Aber der heutige Tag war wunderbar. Glücklich die Braut, die bei Sonne getraut.

»Du siehst mächtig festlich aus«, sagte ich Bonnie Blue.

»Big, Bold and Beautiful Shop«, sagte sie. »Schau mal.« Sie drehte sich, damit ich den Rücken ihres cremefarbenen Kleides sehen konnte. Die Jacke war hinten in der Form eines »V« geschnitten, und der Rock hatte eine lange Sprungfalte, die das »V« der Jacke noch einmal aufnahm.

»Todschick«, sagte ich.

»Streckt die Figur.«

»Sieht einfach gut aus.«

»Danke«, antwortete Bonnie Blue grinsend. »Dein Outfit finde ich auch toll. Aber die haben dir doch hoffentlich für so ein kleines Ding nicht den vollen Preis berechnet?«

»Eine Masse Geld«, gab ich zu.

Mehrere Leute riefen uns hallo zu oder blieben stehen, um sich mit uns zu unterhalten. Autos fuhren im Schritttempo an uns vorbei, aber die Sonne war warm, und ich hatte keine Eile, von hier wegzukommen. Bonnie Blue gähnte.

»Genauso fühle ich mich auch«, sagte ich. »Ich habe gestern Nacht nicht viel geschlafen. Wir waren erst nach zwölf von der Probe zurück, und dann konnte ich keinen Schlaf finden.«

»Aber jetzt haben wir sie unter der Haube.«

»Haben wir.«

Bonnie Blue Butler gehört zu den Menschen, die ich besonders gern mag. Bei unserem ersten Zusammentreffen dachte ich, das weiß ich noch genau, ich hätte das Negativ von meiner Schwester vor Augen: die gleiche Körpergröße, die gleiche Art zu gehen, die gleichen Eigenheiten. Sie trugen sogar identische Handtaschen. Aber Bonnie Blue war etwa fünfzehn Jahre jünger, und ihre Haut war wie feine Milchschokolade.

Doch es war die gemeinsame Zuneigung zu Henry Lamont, dem Bräutigam des heutigen Tages, die uns zu richtigen Freundinnen hatte werden lassen. Bonnie Blue hatte mit ihm zusammengearbeitet, und ich hatte ihn unterrichtet, und ich denke, er steht uns beiden so nahe wie ein Sohn.

Jetzt warteten wir gemeinsam auf das sich im Schneckentempo nähernde Auto, in dem wir Fred ungeduldig mit den Handflächen auf das Steuerrad klopfen sahen.

»Wehe, Debbie macht den guten Henry nicht glücklich«, sagte Bonnie Blue. »Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«

»Amen«, pflichtete ich ihr bei. Dann fiel mir ein, dass Debbie meine Nichte war und dass ich sie ausgesprochen gern hatte. »Ich hoffe, sie machen sich gegenseitig glücklich.«

»Amen. Du und Fred – wie lange seid ihr schon verheiratet?«

»Vierzig Jahre. Vierzig glückliche Jahre.«

Das Auto blieb vor uns stehen, Fred lehnte sich zu uns herüber und öffnete die Beifahrertür. »Verdammt! Nächstes Mal könnt ihr zu Fuß gehen.«

Der Empfang fand in einem Privatclub oben auf dem Red Mountain statt. Während man bei seiner Namensgebung nicht sehr einfallsreich gewesen war – er hieß nur »Der Club«–, hatte man auf die Bauweise des Gebäudes viel Phantasie verwendet. Jeder Raum hatte Glaswände, die eine spektakuläre Aussicht auf Birmingham auf der einen Seite und Shades Valley und Shades Mountain auf der anderen Seite boten.

Wenn Leute das erste Mal nach Birmingham kommen, sind sie stets über zwei Dinge verblüfft: Das eine ist die Hügeligkeit der Gegend, der sanft gerundeten Ausläufer der erzreichen Appalachen. Das zweite ist die Statue von Vulcanus, dem Gott der Schmiedekunst. Diese größte Eisenstatue der Welt steht auf dem Gipfel des Red Mountain, nicht weit von dem Club, in dem der Empfang stattfand. Vulcanus war von jedem Standort unten in Birmingham aus zu sehen und machte es einem nahezu unmöglich, sich zu verlaufen. Wenn man auf ihn zusteuerte, bewegte man sich gen Süden. Stand er zur Linken, ging man westwärts. Er war also gleichermaßen Orientierungspunkt wie Wahrzeichen der Eisenindustrie – dem ursprünglichen Fundament der Stadt.

Und er ist eine hübsche Touristenattraktion. Am Sockel der Statue befindet sich ein schöner Park, in dem man picknicken kann, und wer die Stufen zur Spitze der Statue hinaufsteigt, wird mit einem eindrucksvollen Blick auf die Innenstadt von Birmingham und die fernen Berge belohnt. Auch einen netten kleinen Souvenirladen gibt es, in dem man T-Shirts kaufen kann und Bierkrüge mit der Aufschrift »Eisenpo«, die die Kehrseite der Statue ziert. Denn die Picknickenden werden vom größten Eisenhintern der Welt beschienen. Dasselbe gilt für die Bewohner der Südseite des Red Mountain. Vulcanus trägt nämlich nichts als eine Halbschürze.

Alle paar Jahre wird ein halbherziger Versuch unternommen, sein Hinterteil zu verdecken. Aber stets ohne Ergebnis. In Wahrheit mögen die meisten von uns den alten Vulcanus ziemlich gern so, wie er ist, mit seinem nackten Hintern.

Vom Club aus sah man Vulcanus von der Seite, was ihm etwas Majestätisches verlieh. Viele Gäste waren bereits auf die Terrasse getreten und blickten wie der Eisenmann über die Stadt. Die Hochzeitsparty fand allerdings im Tanzsaal statt. Debbie und Henry hatten sich gegen eine offizielle Begrüßung mit entsprechendem Empfangsdefilee entschieden, aber wie wir sehen konnten, war das weiße Kleid dennoch von Gratulanten umringt. Mary Alice war nirgends in Sicht.

»Wo ist denn eigentlich Schwesterherz?«, fragte ich.

»Hier«, zischte sie in mein Ohr und ließ mich hochfahren. »Komm mal mit und hilf mir mit dieser Strumpfhose. Die hängt mir ständig in den Kniekehlen.«

»Ist das die, die ich dir verkauft habe? Ich habe dir gesagt, du sollst XXL extralang nehmen. Hast du etwa doch nur XXL genommen?« Bonnie Blue, die im Big, Bold and Beautiful Shop arbeitet, nahm die Misere meiner Schwester persönlich.

»Ich glaube, ich gehe mir mal Champagner holen oder was in der Art«, sagte Fred.

Bonnie Blue runzelte die Stirn. »Wenn du nicht extralang genommen hast, watschelst du jetzt den ganzen Tag wie eine Ente umher, und wir können nichts machen.«

»Ich habe das gekauft, was du mir auf den Tresen gelegt hast.«

»Dann war das Extralang. Lass mal sehen, was da nicht stimmt. Ich glaube aber, du hast was anderes an. Mit Extralang hättest du keine Probleme. Schau her.« Sie hielt ihr Bein hoch, damit wir es begutachten konnten.

Ich sah den beiden hinterher, wie sie davongingen. Mary Alice watschelte wirklich wie ein Pinguin.

»Hallo, Mama.« Meine Tochter Haley kam vorbei, am Arm von Dr.Philip Nachman, der an der Stelle seines verstorbenen Onkels die Rolle des Brautvaters übernommen hatte. Onkel Philip liegt mit den beiden anderen Ehemännern von Schwesterherz auf dem Elmwood-Friedhof begraben. Seit an Seit.

»Haben sie sich vielleicht beschwert?«, lautet dazu gewöhnlich die Frage von Schwesterherz.

»Wo ist Papa?«, fragte Haley.

»Holt sich ein Glas Champagner.«

»Du musst dir die Kuchen anschauen. Sie sind unglaublich.« Haley winkte mir kurz zu, und dann verschwand sie mit ihrem Begleiter in Richtung Terrasse. Philip beugte sich zu Haley herunter und sagte ihr irgendetwas, und sie lächelte ihn an.

»Hmm«, sagte ich mir, während ich sie beobachtete.

Ich schaute mich nach Fred um, aber der war verschwunden, woraufhin ich beschloss, Haleys Rat entsprechend die Kuchen zu begutachten.

»Mrs.Hollowell?«

Ich drehte mich um. Vor mir stand Henrys Cousine, die die Rolle der Bräutigamsmutter übernommen hatte. Ganz schön viele Fremdbesetzungen bei dieser Hochzeit.

»Mrs.Bryan, wie geht es Ihnen? War das nicht eine wundervolle Hochzeit?« Ich hatte sie am Abend zuvor bei der kleinen Party nach der Hochzeitsprobe kennengelernt. Schwesterherz hatte sie mir als »Meg Ryan« vorgestellt.

»Bryan«, hatte sie freundlich korrigiert.

»Tut mir leid«, sagte Schwesterherz. »Ich weiß gar nicht, warum ich das immer wieder sage.«

Ich wusste es auch nicht. Meg Bryan hatte nichts von einem schicken jungen Filmstar an sich. Wenn überhaupt, war sie mehr der Jessica-Tandy-Typ. Ihre zerbrechliche Figur, das graue Haar und ihr intelligentes Gesicht ließen noch stark die Schönheit von einst durchschimmern. Meine Großmutter hätte sie unverzüglich in die Kategorie »Südstaatenlady« eingeordnet.

»Ich weiß nicht, ob ich schon mal eine großartigere Hochzeit als diese hier erlebt habe«, sagte sie. »Henrys Mutter und auch seine Tante, Gott sei ihren Seelen gnädig, wären so stolz auf ihn gewesen. Und es hätte ihnen sehr gefallen, dass er seinen Kaugummi hinuntergeschluckt hat.«

Meg Bryan und ich lächelten einander an. »Wie wär’s mit einem Glas Champagner?«, fragte ich.

»Großartige Idee. Und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich würde gern zum Büffet gehen. Haben Sie es schon gesehen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wir sind eben erst gekommen.«

»Es ist sehr eindrucksvoll.«

»Henry hat es geplant«, sagte ich.

»Das hat er mir erzählt. Ich denke, er hat eine Nische gefunden, was meinen Sie?«

Ich pflichtete ihr bei. »Wissen Sie, dass er Chefkoch im Brookwood Country Club wird? Er fängt gleich nach den Flitterwochen dort an.«

»Und Ihre Schwester erzählt, dass sie ein Restaurant kaufen und Henry zu ihrem Partner machen will. Wäre das nicht prima?«

Der reizende, phantasievolle Henry in einer gemeinsamen Firma mit seiner formidablen Schwiegermutter? »Ja, in der Tat«, presste ich verlogen zwischen den Zähnen hindurch. »Kommen Sie, wir schauen mal, ob wir zum Büffet vordringen. Ich möchte auch die Hochzeitskuchen sehen.«

Die meisten Gäste standen noch in der Mitte des Tanzsaals zusammen, weshalb Meg Bryan und ich im Vorbeigehen eine ungehinderte Sicht aus dem Fenster hatten. Ich erblickte Fred auf der Terrasse im Gespräch mit Luke (dem Minutenmann) und Virginia. Alle drei hielten ihre leergetrunkenen Champagnergläser einem vorbeikommenden Kellner zum Nachfüllen entgegen. Ich überlegte, ob ich Aspirin eingesteckt hatte. Er sah so aus, als würde er bald welches brauchen.

»Meg Bryan!«, zischte eine laute Stimme. Meg und ich fuhren beide zusammen und drehten uns um. Eine unwahrscheinlich blonde, unwahrscheinlich elegant aussehende Frau mittleren Alters kam auf uns zu. Sie trug ein gelbes Kostüm und hatte eine Selleriestange in der Hand. Wäre es ein Messer gewesen, hätte sich Meg Bryan, dem Gesichtsausdruck der Dame nach, ernsthafte Sorgen machen müssen.

»Hallo, Camille«, sagte Meg.

»Du Miststück.« Die Frau stach mit dem Sellerie auf Meg ein, die diesen jedoch instinktiv mit der Hand abfing. Mit den Worten »Steck’s dir sonst wohin« drehte die Frau sich um und stolzierte in Richtung Tür.

»Was um alles in der Welt...?« Ich war so verblüfft, dass ich erst nach einem kurzen Moment meine Sprache wiederfand.

»Eine unzufriedene Kundin. So was kommt vor.« Megs Gesicht war knallrot, aber sie öffnete ruhig ihre Handtasche und versenkte die Selleriestange darin. »Ich vergesse immer, dass Birmingham so schön ist«, sagte sie mit einem Blick auf die Stadt und der Absicht, das Thema zu wechseln.

»Das geht mir genauso«, gestand ich, während ich mich mit einem Blick rundherum vergewisserte, dass nicht noch mehr unzufriedene Kunden gemüseschwingend auf uns zukamen.

»Es ist hier so ganz anders als in South Alabama. Die Vegetation. Alles.«

»Sie sind aus Fairhope?« Ich sah die Frau, die Meg Camille genannt hatte, durch die Tür verschwinden.

Meg nickte. »Mobile Bay. Ich wohne schon mein ganzes Leben dort.«

»Da ist es aber auch schön.«

»Ja, das stimmt. Manchmal fast zu schön. Man will gar nicht weg von dort. Aber ich muss immer wieder mal weg, meiner Forschungen wegen. Ich bin Genealogin.«

»Das ist ja interessant. Dann wissen Sie also alles über Ihren Familienstammbaum.«

»Manchmal denke ich, ich weiß alles über jedermanns Familienstammbaum«, sagte Meg Bryan lächelnd. »Das ist auch die Ursache für die kleine Szene eben. Ich betreibe professionelle Ahnenforschung, und Camille Atchison hatte mich mit ein paar Nachforschungen beauftragt. Offenkundig ist sie mit dem, was ich herausgefunden habe, nicht zufrieden.«

»Offenkundig.« Ich dachte an die Wut im Gesicht der Frau.

Meg fuhr fort: »Während meines Aufenthaltes hier werde ich zu Arbeitszwecken die Universität und die Stadtbibliothek aufsuchen. Beide haben ausgezeichnete Recherchezentren. Kennen Sie in der Bibliothek die Abteilung für Geschichte der Südstaaten?«

»Dort hatte ich meinen ersten Job«, sagte ich. »Sie werden wahrscheinlich Sachen durchstöbern, die ich damals vor vierzig Jahren archiviert habe.«

»Oh, das meiste ist mittlerweile digitalisiert. Man kann es sich einfach auf den Rechner ziehen.«

»Ach ja«, sagte ich und fühlte mich plötzlich hundert Jahre alt.

»Und mein neuester Computer ist so klein, dass er sich problemlos transportieren lässt. Passt in meine Aktentasche. Das genealogische Programm, das ich benutze, ist ziemlich gut; ich arbeite aber an einem neuen Windows-System, das besser ist.«

»Ähm.« Ich blickte Meg Bryan an. Sie schien sich um ungefähr zwanzig Jahre verjüngt zu haben. Ihre Augen glänzten, und ihre Wangen waren nach wie vor aufgrund des Camille-Vorfalls gerötet.

»Ich kann Ihnen sagen, Mrs.Hollowell, die Welt der Genealogie ist eine mörderische Welt. Wissen Sie, was ich meine?«

»Ich habe noch nie darüber nachgedacht«, räumte ich ein. »Aber wahrscheinlich haben Sie recht.«

»Doch, das ist sie. Mörderisch. Da kämpft jeder gegen jeden.«

»Aber Sie haben Spaß an Ihrer Arbeit?«

»Mörderischen Spaß.«

Das glaubte ich ihr. Diese zerbrechliche alte Dame mit dem Jessica-Tandy-Gesicht hatte plötzlich etwas von einem Pitbull mit ihrer gerunzelten Stirn und den gekräuselten Lippen. Ich war drauf und dran, sie zu fragen, was genau Camille Atchison so wütend gemacht hatte, entschied aber, dass mich das nichts anging, was sie mir auch sicher höflich, aber unmissverständlich zu verstehen geben würde.

»Nehmen wir zum Beispiel an«, fuhr sie fort, während wir uns zum Büffet durchkämpften, »Sie finden Henry Hudsons Urgroßvater mütterlicherseits. Absolut perfekte Dokumentation. Da sitzen Sie besser drauf wie eine Glucke auf ihren Eiern, wenn Sie nicht wollen, dass Ihnen jemand das Ei aus dem Nest stiehlt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Ich hatte keine Ahnung, was sie damit sagen wollte. Warum sollte jemand hinter Henry Hudsons Urgroßvater mütterlicherseits her sein? Ich nickte aber dennoch höflich.

»Ich meine nicht bloß Hobbyforscher, sondern Profis. Sind Sie eine TAR, Mrs.Hollowell?«

»Wie bitte?«

»Eine Tochter der Amerikanischen Revolution. Sind Sie da Mitglied?«

»Nein.«

»Oh, das sollten Sie aber. Ihr Mädchenname war Tate, nicht war?«

Ich nickte.

»Unglaublich!«

»Den Namen gibt es hier in der Gegend relativ häufig.«

»Ich meinte die Torte.« Meg Bryan blieb stehen. »Schauen Sie sich die bloß mal an!«

In meiner sechzigjährigen Erfahrung mit Hochzeitsfeiern hatte ich noch nie so eine Torte gesehen. Sie erhob sich in mehreren Schichten aus weißem Zuckerguss, die mit Marzipanrosen vom selben Rosa wie die Kleider der Brautjungfern dekoriert waren. Gekrönt wurde sie von roten Lilien, die zu den Blumensträußen passten, die die Brautjungfern getragen hatten.

»Guter Gott«, sagte ich und überlegte, ob man eine Hochzeitstorte wohl mit dem Wort »barock« beschreiben konnte. »Wie wollen sie die bloß anschneiden?«

»Ganz vorsichtig.« Der Bräutigam war hinter uns getreten. Wir umarmten ihn beide und wünschten ihm alles Glück der Welt.

»Bei dieser schönen Frau und den zwei Töchtern habe ich das ganz zwangsläufig.«

Er bekam allerdings auch noch Schwesterherz als Schwiegermutter dazu. Ich lachte dennoch und stimmte ihm zu, dass er von nun an vollendet glücklich sein würde.

Henry küsste uns auf beide Wangen. »Tante Pat, Cousine Meg. Holt euch was zu essen.«

Wir versicherten ihm, dass wir das tun würden, und sahen ihm, während wir weitergingen, zu, wie er weitere Gäste begrüßte.

»Ja, in der Tat«, sagte Meg Bryan. »Henry wird es glänzend gehen.«

Es war nicht voll am Büffet, weil die meisten Leute sich noch auf den Champagner konzentrierten. Auf Feiern wie diesen bedaure ich besonders, dass ich allergisch auf Alkohol reagiere. Ein Glas Sekt wäre jetzt wirklich nett gewesen. Andererseits genieße ich das Essen dafür mehr.

Ich häufte mir Obst, Truthahnscheiben, kleine Quiches und verschiedene Salate auf den Teller, als Schwesterherz neben mir auftauchte.

»Ich weiß, dass du an Magersucht leidest, aber könntest du dich bitte anstrengen? Das Zeug kostet mich ein Vermögen.«

Ich sagte nur grinsend »Danke, ich bemüh mich« und nahm eine weitere Quiche. »Hast du dein Problem gelöst?«

»Bonnie Blue hatte noch eine zweite Strumpfhose in ihrer Handtasche. Sie ist ein wenig dunkel, aber einem geschenkten Gaul sollte man weiß Gott nicht ins Maul schauen. Ich habe Bonnie Blue auch gesagt, dass ich gar nicht glauben kann, wie gut sie organisiert ist. Du, Patricia Anne? Kannst du glauben, dass Bonnie Blue derartig gut organisiert ist?«

»Doch, kann ich.«

Mary Alice wandte sich Meg Bryan zu. »Haben Sie sich auch von allem was genommen? Wie sieht es mit dem Tortellinisalat aus?«

»Ich habe, was ich brauche. Danke.«

»Was ist mit Obst? Einem Pfirsich vielleicht? Gott allein weiß, woher die im März kommen, aber ich unterstütze in diesem Monat irgendein Dritte-Welt-Land.«

»Nein, danke.« Meg lächelte.

»Misch dich unters Volk«, riet ich Schwesterherz, »und schau nicht drauf, was es kostet.«

»Ich soll nicht schauen, was es kostet? Bist du verrückt? Ich muss mich womöglich noch mal verheiraten.«

»Ich sehe hier niemanden, der alt genug wäre.«

Mary Alice runzelte die Stirn. »Ich kann nicht glauben, was du da eben gesagt hast, Patricia Anne.« Sie machte Anstalten zu gehen und drehte sich dann noch einmal um. »Ach übrigens, Fred tête-à-têtet mit irgendeiner Blondine draußen auf der Terrasse.«

»Dieses Verb gibt es nicht, Schwesterherz.«

»Nun, wie immer du es auch nennst, er macht es gerade.« Dieses Mal ging sie wirklich.

Meg Bryan lachte. »Sie beide klingen wie ich und meine Schwestern.«

»Wie viele haben Sie denn?«

»Vier. Ich bin die Älteste. Unser Familienname war March, und da sind Jo, Amy, Beth–« Sie bemerkte den Ausdruck in meinem Gesicht und lächelte. »Beth lebt zusammen mit ihrem Mann und drei Kindern auf Hawaii. Der Rest von uns ist immer noch in Fairhope.«

Ich grinste. »Sie haben mich einen Moment lang erschreckt.«

»Was glauben Sie, wie Beth sich immer gefühlt hat? Die dritte Tochter heißt jedoch Trinity. Papa hat ihr den Namen gegeben. Wahrscheinlich dachte er, er könnte der Betty-und-ihre-Schwestern-Namensgebung damit ein Ende bereiten, aber Mama kehrte schnurstracks zu ihrem Plan zurück.«

»Das sind schöne Namen.«

»Ja. Trinity und ich sind mittlerweile verwitwet und leben wieder in unserem Elternhaus.«

Unsere Teller waren beide voll. »Hören Sie«, sagte ich, »wieso nehmen wir nicht unser Essen und verkrümeln uns auf die Terrasse? Es ist so schön da draußen.« Außerdem trug niemand dort ein gelbes Kostüm.

»Einverstanden«, sagte Meg.

2

Mary Alice hatte nicht gelogen: Fred war in eine innige Konversation mit einer gutaussehenden Blondine vertieft. Da meine Hände voll waren, versetzte ich mit der Spitze meines Schuhs seinem Bein einen leichten Tritt. Ich weiß nicht, warum er »Au!« rief und hochfuhr, als hätte man ihn angeschossen. Als ich später mutmaßte, dass der Champagner vielleicht seine Schmerzschwelle herabgesetzt hatte, widersprach er mir und behauptete, ich hätte ihn so fest getreten wie ein Brauereipferd.

Wie auch immer – mein Wort steht dabei gegen das seine–, Meg Bryan und ich wurden jedenfalls Kelly Stuart vorgestellt, einer Handelsvertreterin, die auch Fred bereiste und – breites Lächeln mit Nancy-Kerrigan-Zähnen – furchtbar gern Geschäfte mit ihm machte.

»Oh, wow, das Essen sieht einfach toll aus, Mrs.Hollowell«, sagte Kelly. »Ich muss mir auch was holen, bevor ich noch tot umfalle. Ich sterbe vor Hunger. Soll ich Ihnen einen Teller mitbringen, Fred?«

»Nein danke«, sagte Fred grinsend wie ein Honigkuchenpferd, »ich hol mir nachher was.« Diesmal hatte er rechtzeitig sein Bein außer Reichweite gezogen.

»Bis nachher dann.« Sie winkte uns kurz zu.

»Was verkauft sie denn?«, fragte ich. Fred besitzt einen kleinen Metallverarbeitungsbetrieb – nicht gerade der Ort, an dem man sich so was Hübsches und Kesses wie Kelly vorstellte.

»Ooch, Muttern und Schrauben und alles, was der Handwerker an Handfestem so braucht.« Er hatte wenigstens den Anstand, schuldbewusst dreinzuschauen.

Ich erbarmte mich und fragte ihn: »Möchtest du was zu essen?«

Er griff nach meinem Teller und nahm sich eine Quiche. »Mhm. Lecker.«

»Warum setzen wir uns nicht auf die Mauer? Wir können uns das teilen.«

»Macht’s Ihnen was aus, wenn wir an einen der Tische gehen?«, fragte Meg. »Höhen machen mir Angst.«

»Kein Problem.« Mehrere der schmiedeeisernen Tische waren leer, da die meisten Gäste nach wie vor umherschlenderten.

»Ein nobler Empfang«, sagte Fred.

»Schwesterherz sagt, sie muss vielleicht noch mal heiraten, um für die Kosten aufkommen zu können.«

Fred und ich lachten herzlich, was Meg Bryan, wie ich feststellte, nicht nachvollziehen konnte.

»Sie hatte drei Ehemänner«, erklärte ich ihr, »und alle waren mindestens achtundzwanzig Jahre älter als sie und reich wie Krösus. Sie muss sich um Geld so viel Sorgen machen wie darum, dass ihr der Himmel auf den Kopf fällt.«

»Und Debbies Vater?«

»Das war der mittlere, Philip Nachman. Sie hatte mit jedem von ihnen ein Kind. Marilyn, die Älteste, stammt von Will Alec. Und Ray ist von Roger Crane. Ray ist nicht hier heute. Er ist auf Bora Bora oder in Pago Pago, jedenfalls irgend so was mit doppeltem Namen. Er hat sich erst vor Kurzem ein Tauchboot gekauft. Deshalb war auch Philip Nachman der Brautführer. Nicht Papa Philip Nachman, sondern sein Neffe. Verwirre ich Sie?«

»Nein.«

»Aber mich«, sagte Fred.

»Meg befasst sich professionell mit Namen«, sagte ich. »Sie ist Ahnenforscherin.«

»Stimmt das? Ich würde gern bei Gelegenheit mal meinen Stammbaum erforschen«, sagte Fred zu meiner Überraschung. Ich hörte das zum ersten Mal. Er schnappte sich einen Melonenwürfel von meinem Teller.

»Birmingham ist ein guter Ort dafür.« Meg wirkte äußerst munter. »Es gibt sowohl an der Samford University wie in der Städtischen Bibliothek eine Spezialsammlung.«

»Ich sollte mich damit mal befassen«, erklärte Fred.

»Mary Alice war so nett, mich für die Zeit, in der ich ein paar Forschungen nachgehe, zu sich einzuladen. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Ihnen zeigen dürfte, wie Sie am besten vorgehen.«

»Väterlicherseits kann ich die Linie bis zurück zu meinem Ururgroßvater verfolgen«, sagte Fred.

»Dann sind Sie auf einem guten Wege. Manche Leute, die zu mir kommen, wissen nicht einmal, wer ihre Großeltern waren.«

Der Teller, der zwischen mir und Fred auf dem Tisch stand, war fast leer. Ich stand auf, verkündete, dass ich einen Nachschlag holen wollte, und fragte, ob ich ihnen etwas mitbringen könne.

»Meine Urgroßmutter ist in Madison, Georgia, geboren, soweit ich weiß«, sagte Fred.

Ich denke, sie bekamen gar nicht mit, dass ich sie verließ.

Im Ballsaal drängte sich eine Menge um die Tanzfläche. Die Combo spielte gerade ›Wind Beneath My Wings‹, und Debbie und Henry tanzten. Ich flitzte nach draußen zu Fred und Meg. »Das wollt ihr bestimmt nicht versäumen.«

Der Ausdruck auf dem Gesicht der Frischvermählten sagte alles. Debbie schwebte in Henrys Arm über die Tanzfläche, und die beiden wandten den Blick nicht voneinander. Vielleicht war dies, dachte ich, der eigentliche Moment der Eheschließung. Und dann trat Richardena Tucker, das Kindermädchen der Zwillinge, hinzu, an jeder Hand eines der kleinen Mädchen. Debbie nahm das eine und Henry das andere, dann tanzten sie erst getrennt jeder mit einem Kind und dann zusammen, Fay und May zwischen sich. Es war, wie Schwesterherz später sagte, ein Moment fürs Taschentuch.

Und jetzt bewegte sich die gesamte Hochzeitsgesellschaft auf den Tanzboden. Haley tanzte – offenkundig mit großem Vergnügen – mit Dr.Nachman. Ich versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, was Schwesterherz mir über ihn erzählt hatte. Irgendwie war er Witwer und Mitte fünfzig.

»Was für eine Sorte Doktor ist eigentlich Philip Nachman?«, fragte ich Fred.

»Philip Nachman?«

»Der Neffe. Der mit Haley tanzt.«

»Ich weiß rein gar nichts über ihn, Schatz.«

»Schau dir die beiden an. Ich denke, wir werden es erfahren.«

»Lass ihn bitte Hals-Nasen-Ohrenarzt sein. Lieber Gott, mach, dass meine Tochter einen Hals-Nasen-Ohrenarzt nach Hause bringt.«

Ich lachte, aber nur wegen seines Tonfalls. Klopfen Sie an irgendeine Tür in Birmingham, Alabama, und es öffnet Ihnen jemand mit Nasennebenhöhlen-Problemen. Vielleicht liegt das an der Wärme, der Feuchtigkeit, der üppigen Vegetation. Wer weiß? Aber ein guter HNO-Doktor ist nach ein paar Jahren Praxiserfahrung buchstäblich nicht mit Gold aufzuwiegen. In anderen Gegenden des Landes behauptet man, wir würden durch die Nase reden. Nun, ja.

Der Tanz ging zu Ende, alle klatschten und stürmten das Büffet.

»Das ist ein guter Augenblick, um mit Debbie und Henry zu reden«, sagte ich. Ich schaute mich um und sah Meg Bryan in eine Unterhaltung mit Mary Alice vertieft. Ich stellte Blickkontakt mit ihr her und machte ihr ein Zeichen, dass wir zum Brautpaar hinübergehen wollten. Sie nickte zustimmend.

Debbie und Henry hielten immer noch ihre zweijährigen Zwillinge Fay und May an der Hand. Schwesterherz und ich können sie beide nicht auseinanderhalten, obwohl meine Schwester schwört, dass sie dazu in der Lage sei. Sie ist auch überzeugt, dass Henry ihr Vater ist, weil er zu Collegezeiten an die Samenbank gespendet hat. Heute war ich mir nicht sicher, ob sie damit falsch lag. Henry und das Zwillingsmädchen an seiner Hand blickten einander an, und die Ähnlichkeit war gespenstisch.

»Tante Pat! Onkel Fred!«, begrüßte uns Debbie. »Ich habe mich schon gefragt, wo ihr steckt.«

Wir umarmten sie, bewunderten ihr Kleid und wünschten ihr aus vollem Herzen alles nur erdenkliche Glück.

»Wir laden euch zum Abendessen ein, sobald wir wieder da sind«, versprach Henry, während er Fred die Hand drückte.

»Wir werden euch beim Wort nehmen.«

Wir drückten sie ein letztes Mal und machten dann weiteren Gratulanten Platz.

Im Weggehen sagte Fred »Warte eine Minute« und rannte zu Debbie zurück, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Als er wieder zu mir zurückkam, strahlte er: »HNO!«

Die nächste Stunde verging schnell. Die Torte wurde angeschnitten und die oberste Etage weggetragen, um sie bis zum ersten Hochzeitstag einzufrieren. Einmal sahen wir Marie Alice in eine lebhafte Unterhaltung mit einem Mann verstrickt, der aussah wie Rübezahl mit einer braunen Perücke. Er war mindestens neunzig, und sein Anteil an der lebhaften Unterhaltung war nicht groß, aber er schien sehr interessiert an dem, was Schwesterherz sagte.

»Donnerwetter«, sagte Fred, »ich glaube, sie ist schon wieder dabei.«

»Möglich«, pflichtete ich ihm bei. »Bill sollte, denke ich, besser aus Florida zurückeilen.« Bill Adams, seit mehreren Monaten der »Freund« meiner Schwester – ein netter, gutaussehender zweiundsiebzigjähriger Mann, der stark genug war, um sie beim Tanzen rauf- und runterzuschwenken–, verbrachte die Wintermonate wie immer in St. Petersburg, Florida. Bei meiner Schwester wuchs die Liebe nicht mit der Entfernung. Nicht einmal die Rosen zum Valentinstag und die Karte mit der Aufschrift »Komm doch hier runter zu mir! In Liebe, dein Zugvogel« hatten sie weich stimmen können. »Hat schon jemals jemand von einem Zugvogel aus Alabama gehört?«, schnaubte sie. Seine Abwesenheit bei Debbies Hochzeit war vielleicht als Totengeläut dieser Liebesromanze zu werten.

Unser Sohn Alan und seine Frau Lisa blieben auf einen kurzen Plausch bei uns stehen. Sie übernachteten bei uns, so dass wir später ein richtiges Schwätzchen würden halten können. Im Moment plapperte Lisa etwas über den Kuchen und Debbies Kleid und ob wir gesehen hätten, wie gut Haley und Philip Nachman miteinander auszukommen schienen.

»Er ist HNO-Arzt«, sagte Fred. »Betet, Kinder, betet.«

»Er ist mindestens zwanzig Jahre älter als sie«, sagte Alan.

»Auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Betet, Kinder.«

Sie verließen uns lachend. Statt ihrer kam Bonnie Blue auf uns zu mit der Ankündigung, dass sie ihre Füße nicht mehr spüre und wir sie deshalb, wenn wir gehen wollten, ohne ihre Schuhe auf der Terrasse finden würden.

Ein lautes Geräusch draußen ließ den ohnehin bereits kaum beachteten Trommelwirbel der Band gänzlich verpuffen.

»Was um Himmels willen ist das?«, fragte Fred.

Ich wusste, welche Überraschung sich Schwesterherz ausgedacht hatte, weshalb ich Freds Hand ergriff und auf die Terrasse zusteuerte. »Komm, Bonnie Blue!«

Wir eilten nach draußen und sahen einen Helikopter über dem Club schweben und schließlich auf dem Dach landen.

»Ist das der Rettungshubschrauber vom Carraway Hospital?«, fragte Bonnie Blue.

»Natürlich nicht«, sagte ich. Aber ihre Frage wurde bereits von dem Brautpaar beantwortet, das zusammen mit den Freunden und Verwandten, die an der Zeremonie mitgewirkt hatten, und dem größten Teil der Gäste aus dem Tanzsaal kam. Debbie hatte sich umgezogen und trug nun ein hellblaues Kleid, während Henry nach wie vor in seinem Hochzeitsanzug steckte.

»Wiedersehen!«, riefen alle, als die Frischvermählten die gewundene Treppe zu dem Helikopter hinaufstiegen. »Viel Glück! Und schöne Flitterwochen!«

Debbie drehte sich um und warf ihren Brautstrauß direkt in Haleys Arme. Dann verschwanden sie aufs Hausdach, und kurz darauf erhob sich der Hubschrauber in die Luft. Wir sahen ihm nach, wie er über das Tal hinweg in Richtung Flughafen davonschwebte.

»Wow«, war alles, was Bonnie Blue herausbrachte.

»Haley hat den Brautstrauß gefangen«, sagte Fred mit glücklicher Stimme.

Ich sagte gar nichts. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mir die Tränen aus den Augen zu wischen, damit ich den in der Entfernung immer kleiner werdenden Hubschrauber noch sehen konnte. Werdet glücklich, Kinder! Werdet glücklich! Wir setzten Bonnie Blue an der Kirche ab und fuhren dann nach Hause. Ich war müde, aber auf angenehme Weise. »Du siehst gut aus«, sagte ich zu Fred und tätschelte sein Bein.

»Danke, Ma’am. Wie kommst du denn jetzt darauf?«

»Einfach so. Und du solltest gefälligst sagen: ›Du siehst selber ziemlich gut aus.‹«

Fred umfasste meine Hand. »Das tust du auch. Du weißt, dass ich das ernst meine.«

»Ich will nicht, dass dir irgendeine Wasserstoffblondine namens Kelly dein Essen bringt.« Ich bewegte die Hand auf seinem Bein weiter nach oben und drückte fester zu.

»Nein. Tut sie auch nicht. Großes Pfadfinderehrenwort.«

»Oder dir verkauft, was der Handwerker an Handfestem so braucht.« Meine Finger rückten noch höher und drückten noch fester.

»Muttern und Schrauben sind gestrichen.«

»Nicht mal anlächeln darf sie dich.«

»Kein Lächeln! Kein Lächeln!« Fred prustete und versuchte meine Hand beiseitezuschieben, die mittlerweile ins Schwarze getroffen hatte. »Himmel, Patricia Anne, du schaffst es noch, dass ich gleich einen Unfall baue.«

»Du sollst es ja nur nicht vergessen«, sagte ich und drückte noch einmal ordentlich zu.

»Versprochen!«

»In die Hand!«

»Nimm die erst mal weg, Frau. Der Typ in dem Lieferwagen da kann alles sehen.«

»Wir sind so alt, der denkt bestimmt, er unterliegt einer optischen Täuschung.« Ich zwickte ihn ein weiteres Mal. »Hab nicht solche Hemmungen, Fred!«

»Hemmungen? Mein Gott, Patricia Anne, du befummelst mich auf dem Red Mountain Expressway!«

»Wenn du später darüber nachdenkst, und das wirst du, mach’s gnädig.« Ich nahm meine Hand mit einer langsamen Bewegung weg. »Und jetzt erzähl mal, was das soll, dass du deine Familiengeschichte erforschen willst?«

»Was?« Fred blickte verwirrt drein.

»Du hast zu Meg Bryan gesagt, du wolltest dich mit deinem Stammbaum befassen.«

»Ach so.« Fred blinkte rechts. »Ich dachte, es wäre doch nett, etwas über meine Familie zu wissen. Interessiert es dich nicht, von wem du abstammst?«

»Ich stamme von Mama und Papa und Nanna und Großpapa ab. Und Großmama Alice. Das reicht mir.«

»Aber denk doch mal an all die Leute, deren Gene wir in uns tragen. Woher hat Haley zum Beispiel ihre olivfarbene Haut? Rotblondes Haar und olivfarbener Teint? Keine gewöhnliche Kombination.«

»Aber sehr hübsch.«

»Absolut. Aber woher kommt das?«

»Die Haare hat sie von mir. Und Schwesterherz hat olivfarbene Haut. Und irgendwas von dir hat sie sicherlich auch.«

»Sie hat sich großartig amüsiert, stimmt’s?«