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Band vier bis sechs der herrlich komischen Küsten-Krimi-Reihe - jetzt als eBundle Dreimal Tote Tante: Das Frühjahr bringt mordsmäßig Aufregung nach Fredenbüll: Im Jauchebecken von Schweinezüchter Schlotfeldt tauchen die Leichen zweier vermisster Frauen auf. Und Pensionswirtin Renate wird nach dem abendlichen Landfrauentreffen entführt und findet sich angekettet in einem dunklen Kellerverlies wieder. Das passt gerade gar nicht, wo doch die neuen Gäste anreisen. Was will dieser Verrückte überhaupt von ihr? Für Dorfpolizist Thies Detlefsen ist jedenfalls klar: Ein wahnsinniger Frauenmörder geht um in Fredenbüll und er muss ihn finden, bevor es noch mehr Opfer gibt! Backfischalarm: Thies Detlefsens Zwillinge Telje und Tadje setzen mit der 10a des Theodor-Storm-Gymnasiums zur herbstlichen Klassenfahrt nach Amrum über. Mit an Bord sind Junglehrerin Vanessa Loebell, der »voll süße« Referendar Manuel Scholz mit modischem Piratentuch um den Kopf und Klassenlehrer Dr. Niggemeier. Die Überfahrt ist äußerst stürmisch, doch die Schüler machen unzählige Selfies und wackelige Filmaufnahmen – bis einer von ihnen den Toten entdeckt: Jungreeder Bent Blankenhorn sitzt ermordet auf dem Oberdeck. Alarmstufe Rot für Thies und KHK Nicole Stappenbek, die umgehend die Ermittlungen auf der von Herbstnebel umwaberten Insel aufnehmen. Pannfisch für den Paten: In Fredenbüll herrscht Aufruhr: Auf dem Deichvorland werden mehrere Windräder installiert, was die Naturschützer im Dorf auf den Plan ruft. Sogar Oma Ahlbeck unterstützt die eilig gegründete Initiative »Sei (k)ein Frosch e.V.«, die sich um die bedrohte Rotbauchunke sorgt. Eines Morgens steckt in dem noch feuchten Betonsockel eines Windrads ein Toter! Mischt da etwa der mysteriöse Unbekannte mit, der von lauter Männern in dunklen Anzügen bewacht wird? »Dat is BKA«, weiß Polizeiobermeister Thies Detlefsen. Und wittert sofort einen ganz großen Fall.
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Seitenzahl: 805
Krischan Koch
Dreimal Tote Tante Backfischalarm Pannfisch für den Paten
Dreimal Tote Tante
Ein Küsten-Krimi
Für meine Tanten
Hanna, Else und Thea
»Irgendwann komme ich hier raus.«
Jussi Adler-Olsen, ›Erbarmen‹
Ihre silbrig violetten Fingernägel aus dem »Salon Alexandra« kratzen auf dem rostigen Eisen der Fußschellen. Ihre Hände zittern. Sie schiebt einen Fingernagel unter den eingerosteten Verschluss der eisernen Fußfessel. Das Metall lässt sich keinen Millimeter bewegen. Der Nagel des Zeigefingers bricht sofort ab. Beim zweiten Versuch mit dem Mittelfinger bleibt sie in dem Metall klemmen und versucht den Verschluss ein kleines Stückchen aufzuhebeln. Aber auch dieser Nagel bricht ab. Entsetzt blickt sie auf die Splitter, die jetzt in der Eisenfessel hängen. Erst gestern hat sie sich im »Salon Alexandra« schön machen lassen, neue Dauerwelle, neue Strähnchen und erstmals auch die Fingernägel. Die silbrig schillernden Nägel mit der schilfähnlichen Struktur, die alle Frauen in Fredenbüll haben. Und jetzt das! Es ist wirklich ein Jammer.
Sie hockt auf dem kalten feuchten Betonboden und starrt verzweifelt auf das schwere Fußeisen, das normalerweise bei der Schafschur oder beim Viehtransport eingesetzt wird. Die Fessel ist über eine Kette an der Wand befestigt und der Eisenring schneidet ihr in das rechte Fußgelenk, genau in die Operationsnarbe. Der straff über die Mundpartie gespannte, breite Klebestreifen drückt ihr die Lippen unangenehm auf die Zähne und der schimmlige Geruch nimmt ihr zusätzlich den Atem. Das Klebeband über den Augen hatte man ihr wenigstens wieder abgenommen, bevor sie hier reingeschubst wurde.
Anfangs war der Raum stockdunkel gewesen. Aber inzwischen hat sie sich an die Dunkelheit gewöhnt. Außerdem fällt durch einen kleinen Riss in dem vergilbten Zeitungspapier, mit dem das Kellerfenster abgeklebt ist, ein dünner Lichtstrahl. Sie erkennt mehrere Eierpappen, mit denen ein Teil der Wände beklebt ist, und Regale mit verstaubten Einmachgläsern mit Quittengelee, Apfelmus und Sauerfleisch. Auf mehreren der Fleischkonserven meint sie unter der Staubschicht die Jahreszahl 2007 zu erkennen. Ja, jetzt sieht sie die Zahlen ganz deutlich: 2007.
An der gegenüberliegenden Wand steht eine große Sperrholzplatte mit einer Modelleisenbahn. Die Gleise, Schranken und Signale, die Lokomotiven und der Bahnhof, die Häuser, die kleinen Menschen und Modelltiere zwischen den Hügeln aus beklebtem Kunststoff sind von einer dicken Staubschicht überzogen. Eine Faller-Landschaft, die in einen Dornröschenschlaf gefallen ist, mitten im Leben erstarrt, wie nach einer atomaren Katastrophe.
Sie hat keinen blassen Schimmer, wie sie hierhergekommen ist. Sie war gestern Nacht auf dem Weg zurück von einem Treffen der Landfrauen. Im Dunkeln am Deich hatte sie plötzlich einen dumpfen Schlag am Kopf gespürt und war in ein tiefes schwarzes Loch gefallen. Ganz weich. Auf der Zunge hatte sie den Geschmack von Blut und ganz in der Nähe hinterm Deich hörte sie eine Eiderente auffliegen, drei scharfe Flügelschläge, schapp-schapp-schapp. Dann war alles still. Irgendwann später war sie in diesem feuchten Keller wieder aufgewacht.
Aus dem Nebenraum hört sie ab und zu ein Brummen wie von einer anspringenden Tiefkühltruhe. Verdammt noch mal, wohin hatte man sie verschleppt? Und vor allem: Wer macht so etwas und warum? Sie muss hier sofort wieder raus. Sie zerrt panisch an der Eisenkette und atmet in kurzen hektischen Zügen durch die Nase. Sie will schreien, aber durch das stramme Tape bekommt sie keinen Ton heraus. Sie fühlt ihr Herz bis zum Hals schlagen, schapp-schapp, wie gestern bei der auffliegenden Ente. War das gestern? Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wischt sich einen Blutstropfen von dem eingerissenen Nietnagel. Vor ihren Füßen krabbeln zwei Asseln über den kalten feuchten Betonboden Richtung Modelleisenbahn.
»Dreimal Tote Tante«, ruft Postbote Klaas Imbisswirtin Antje unternehmungslustig über den Glastresen des Stehimbisses zu und reibt sich die Hände. »Immer noch frisch heute Morgen. Da können wir gut ’n Kleinen zum Aufwärmen vertragen, wat Piet?«
Piet Paulsen mustert ihn skeptisch über seine Gleitsichtbrille hinweg, dann nickt er Antje mürrisch zu. »Ja, ja, is ja gut, ich trink einen mit! Ich will mal nich so sein.« Der Landmaschinenvertreter im Ruhestand schiebt sich die schwere Gleitsichtbrille auf die Nase zurück. Piet Paulsen kann die plötzliche Begeisterung für das nordfriesische Nationalgetränk nicht ganz nachvollziehen. Der Kakao mit Rum und Sahnehäubchen war in den letzten noch kühlen Frühjahrswochen der Renner in der »Hidden Kist«. Und das liegt allein an Mandy.
Für Paulsen war es ein regelrechter Schock, als eines Tages neben dem Postboten eine fremde Frau an Stehtisch Zwei stand.
»Moin, moin, wat machen Sie denn hier?«, hatte der Rentner gebrummt und wollte die auswärtige Dame gerade von seinem Stammplatz verscheuchen, als Klaas verlegen herumdruckste und in seiner Postjacke mächtig ins Schwitzen kam.
»Ja, also … dat ist Mandy«, platzte es schließlich aus ihm heraus. »Die kommt hier jetzt öfter.«
Klaas hat also neuerdings eine »Bekannte«. »Aus ’m Internet, angeblich«, behauptet Antje hinter vorgehaltener Hand. Seitdem ist in der »Hidden Kist« die Welt aus den Fugen. Statt Jägermeister gehen reihenweise Tote Tanten über den Tresen, und statt Fußball flimmerte kürzlich die WM im Eiskunstlauf über den Großbildschirm, der gegenüber der Dunstabzugshaube hängt. Die flotte Mandy aus dem Erzgebirge war in den Achtzigern schließlich viermal sächsische Meisterin im Eistanz.
Mandy ist erst seit wenigen Wochen in Nordfriesland. Aber sie hat sich schon bestens akklimatisiert. Die Frisur mit Strähnchen und geföhnter Außenwelle im Farrah-Fawcett-Look und die Fingernägel mit der kunstvollen Schilfstruktur stammen unverkennbar aus dem »Salon Alexandra«. »Guudn Mohrschn« hat sie längst aus ihren Sprachgebrauch gestrichen. Das »Moin, moin« geht ihr schon erstaunlich flüssig und fast ohne sächsischen Akzent über die Lippen. Seit zwei Wochen kellnert Mandy im »Café Wattblick« in Neutönninger Siel, für die Hauptsaison hat sie einen Job in einem Sylter Eiscafé in Aussicht. Dabei hat die Erzgebirglerin ein paar schwierige Jahre hinter sich. Nach ihrer aktiven Zeit im Eissportzentrum Karl-Marx-Stadt hatte sie es nach der Wende im Showgeschäft versucht. Als »Dornröschen on Ice« war sie allerdings nach mehreren rollengerecht verschlafenen Wurfsalchows recht unsanft in den Kulissen gelandet und prompt aus der Showtruppe geflogen. Auch das folgende Engagement als Eislauf-Kokommentatorin der MDR-Sendung »Sport im Osten« war, nachdem der eigentliche Moderator kaum mehr zu Wort kam, gleich wieder eingestellt worden. Doch diese kleinen Rückschläge hatten Mandys Optimismus nichts anhaben können.
Ihr sächsisches Temperament hatte den nordfriesischen Postboten gleich bei ihrem ersten Treffen regelrecht umgehauen. Das Rendezvous hatte im Erlebnismuseum »Sturmflutenwelt Blanker Hans« in Büsum stattgefunden. Und ehe Klaas sich versah, stand die ehemalige Eisprinzessin mit drei Riesenkoffern bei ihm vor der Tür und war in seine kleine Junggesellenwohnung über dem ehemaligen Fredenbüller Postamt eingezogen.
In der »Hidden Kist« tönt seitdem Barry Manilows »Mandy« aus dem verölten Radiorecorder auf Antjes Gewürzbord. Stones-Fan Klaas und selbst »Stormy Weather«-Gitarrist Bounty schluchzen die Schnulze inzwischen sogar mit. In dem Stehimbiss hat sich Mandy bereits bestens eingeführt. Mit ihrer Begeisterung für den Eiskunstlauf konnte sie die Fredenbüller Imbissrunde zwar noch nicht anstecken, aber ihre Trinkfestigkeit hat nicht nur Klaas, sondern auch der restlichen Stammbesetzung schwer imponiert. Zur Kür im Paarlaufen hatte Antje vier Runden Tote Tante serviert und zwischendurch, zum Verteilen, immer mal ein paar rote Genever. Klaas und den ebenfalls anwesenden Althippie Bounty hatte es angesichts der gleichzeitig über den 46-Zoll-Bildschirm fliegenden Sprungkombinationen von Doppelaxel und dreifachem Toeloop fast von den Beinen gehauen. »Aber die Deern hat die vierfache Tote Tante sauber gestanden«, musste selbst Piet Paulsen konstatieren.
»So, hier kommt ganz was Feines.« Antje stellt drei dampfende Becher auf den Glastresen und setzt den drei Toten Tanten das finale Sahnehäubchen auf.
»Nu, da gommen ja unsere Doden Danden. Härrlisch.« Mandy lässt sich von Antje ein Tablett geben und übernimmt das Servieren an Stehtisch Zwei.
Piet Paulsen schiebt sich grimmig sein blaues Basecap von der Nordfriesischen Raiffeisenbank aus der Stirn. »Antje, aber mach mir mal gleich ’n Pils zum Nachspülen.«
»Wenn dir das mit dem Kakao zu viel wird, nehm ich dir die Tante ab«, kommt Bounty von Stehtisch Eins dem Landmaschinenvertreter a.D. zu Hilfe. »Kommt echt gut zu dem Kokos.« Der Althippie gluckst in sich hinein und reißt das Papier von einem Schokoriegel. Imbisshündin Susi, seit einer üblen Fleischvergiftung überzeugte Vegetarierin mit einer ausgeprägten Vorliebe für Süßigkeiten, sieht erwartungsvoll zu Bounty hoch.
»Wat is mit dir, Thies? Tote Tante?«, ruft Klaas dem Fredenbüller Polizisten Thies Detlefsen zu, der grade »De Hidde Kist« betritt.
»Nee, nee, Freunde, ich bin im Dienst.« Thies setzt seine wichtige Miene auf.
»Dienst ist gut«, kichert Bounty. »Ist doch seit anderthalb Jahren nix passiert in Fredenbüll.« Piet Paulsen reicht ihm seinen Kakaobecher mit dem Sahnehäubchen von Stehtisch Zwei herüber.
»Ach, Bounty, hör doch auf«, ranzt Thies ihn an.
»Thies, wie immer? Coffee to go?«, funkt Wirtin Antje dazwischen.
»Ja, Antje, aber wie immer, einen zum hier trinken.«
In der letzten Zeit verbringt Polizeiobermeister Thies Detlefsen fast den ganzen Tag in der »Hidden Kist«. Und seit seine Frau Heike die vegane Küche praktiziert, nimmt er meistens auch die Mahlzeiten bei Antje ein. Aus Protest hat Thies in den letzten Monaten das Wintergrillen entdeckt.
»Dat Problem is allerdings, du hast längere Grillzeiten als im Sommer.« Thies hat sich voll in die Materie eingearbeitet. »Dat Grillgut kühlt dir schnell aus … also nie ohne Deckel, und statt Kohle brauchst du Briketts.«
Bei Piet Paulsen erntet Thies mit seinem Grillchinesisch nur Kopfschütteln. »Wat sollen wir uns im Winter draußen einen abfrieren, wenn wir hier bei Antje schön im Trockenen sitzen.«
Im Frühjahr ist die Wintergrill-Saison ohnehin zu Ende. Im Edeka-Markt von Hans Jürgen Ahlbeck sind die letzten Bestände an Grillbriketts aus dem Vorjahr aufgebraucht. Die meiste Zeit sitzt Thies also wieder im Imbiss. Die Mordfälle und die spektakuläre Schießerei im Edeka-Markt im Herbst vor anderthalb Jahren hatte seine kleine Wache an der Dorfstraße vor der Schließung bewahrt. Aber seitdem war tatsächlich nicht viel passiert in Fredenbüll. Eigentlich gar nichts. Außer den üblichen Falschparkern am Deich und den notorischen Beschwerden des Eppendorfer HNO-Arztes Müller-Siemsen über den Treckerlärm vom Biohof war mal wieder nichts gewesen. Thies’ Schreibtisch in der kleinen Wache in dem roten Backsteinbau an der Dorfstraße ist beängstigend leer.
Aus lauter Langeweile hat er im Winter schon eine Fortbildung besucht: »Täterprofile. Theorie und Praxis des Profilings«. Jetzt wartet Thies ungeduldig auf eine Gelegenheit, die erworbenen Kenntnisse anwenden zu können. Vorläufig bleibt ihm nur, bei Kaffee und »Croque Störtebeker« in der Imbissrunde über den »psychosozialen Kontext von Straftaten« zu dozieren.
»Bei deinen Parksündern am Deich hilft dir dat aber auch nich weiter«, meint Piet Paulsen.
Thies schlürft seinen heißen Kaffee. Klaas und Bounty kämpfen noch mit der Sahnehaube auf der Toten Tante. Mandy und Piet Paulsen zieht es derweil zum Rauchen nach draußen. Mit ihrem neuen nordseeerprobten Sturmfeuerzeug mit der Gravur »Für Mandy von Klaas« gibt sie dem Landmaschinenvertreter a.D. Feuer. Piet qualmt genüsslich sein Zigarillo und Mandy eine »Slim Line Gold«. In dem Moment läuft ein dynamisches Rentnerpaar in wattierten Anoraks im quietschbunten Partnerlook über die Dorfstraße auf »De Hidde Kist« zu und betritt den Imbiss. Die beiden Rentner aus dem Westfälischen bleiben zunächst etwas unentschlossen zwischen den beiden Stehtischen stehen.
»Gibt dat hier eigentlich auch Frühstück?«, fragt der Mann in breitem Ruhrpott-Dialekt.
»Wir haben nämlich kein Frühstück bekommen«, schießt die Frau in vorwurfsvollem Ton gleich hinterher.
»Ja, da können wir aber jetzt nix für!« Antje schiebt eine Schale mit Kartoffelsalat unter ihren Glastresen und sieht die beiden Touristen fragend an.
»Wir hatten aber eigentlich mit Frühstück gebucht«, beschwert sich die Frau. »Wir sind hier in der Pension bei Frau … ähhh …«
»Bei Renate«, erklärt Thies.
»Auch erst mal ’ne Tote Tante?« Klaas setzt den Becher ab und hat jetzt einen Sahnetupfer auf der Nasenspitze.
»Gann isch nur empfählen«, schwärmt Mandy. »Escht läcker.« Sie drückt dem Postboten einen dicken Kuss auf die Wange.
»Dat iis doch mit Rum drin, und dat am frühen Morgen«, gibt die Frau zu bedenken.
»Aber hauptsächlich Kakao, oder?« Ihr Mann scheint nicht abgeneigt.
»Hauptsächlich Kakao«, grinst Bounty und kredenzt Imbisshündin Susi die Hälfte seines Schokoriegels.
»Is aber schon merkwürdig, dat Renate heute kein Frühstück gemacht hat.« Thies zeigt Ansätze seines Kuhblicks. »Is eigentlich nich ihre Art.«
Es ist ein kühler, aber klarer sonniger Vormittag. Nur ein paar milchige Wolken schwimmen in dem hellblauen Himmel. Man kann über die Wiesen bis zum Deich sehen. Ein paar Möwen ziehen lachend gen Nordsee und Inseln. Mehrere Osterlämmer machen auf dem Deich übermütige Bocksprünge und halten ihre puscheligen Ohren in die laue Frühlingsbrise. In den Vorgärten blühen die Forsythien und Narzissen. Doch Imke nimmt die Schönheiten der nordfriesischen Landschaft gar nicht mehr wahr. Der Stallmief, der über dem ganzen Schweinehof Schlotfeldt liegt, beißt ihr in der Nase. Die Lüftung aus dem großen Stall brummt dumpf. Gedämpft ist das Grunzen und Quieken der Tiere zu hören.
Irgendwie hatte Imke sich das anders vorgestellt, als sie vor fünf Jahren den jungen Sören Schlotfeldt heiratete. Es ging alles Hals über Kopf. Der kleine Kimi war bereits unterwegs, ein gutes Jahr später kam dann gleich Merle hinterher. Sören hatte gerade den Hof übernommen, und sie hatten sich ihre Zukunft in den schönsten Farben ausgemalt. Sie wollten von der konventionellen Schweinezucht auf ökologischen Landbau umstellen. Vor allem wollte Imke von der Tierzucht weg. Schließlich ist sie Vegetarierin. Vor der Hochzeit hatte Sören ihr Gott weiß was versprochen. Er plane, alte Getreidesorten anzubauen, einen Hofladen einzurichten, die Direktvermarktung einzuführen. Nichts ist daraus geworden. »Imke, dat is ’n langer Weg«, hat Sören sie immer wieder vertröstet.
Erschwerend kommt dazu, dass Sören und Imke auf ihrem eigenen Hof nichts zu melden haben. Hier hat immer noch der alte Schlotfeldt das Sagen, auch wenn er den Hof offiziell seinem Sohn überschrieben hat. Er tyrannisiert die junge Familie von morgens bis abends. Ständig kommandiert er seinen Sohn herum. Und Imke kann es ihm schon gar nicht recht machen.
»Was will man von einer Beamtentochter aus der Stadt schon erwarten«, blökte Schlotfeldt sie an. »Dir fehlt der Stallgeruch, min Deern!«
Imke kommt aus Neumünster. Eine richtige Stadt ist das eigentlich nicht. Und den Stallgeruch, den wollte sie ja nun grade abschaffen. Wenigstens will sie jetzt ihre Vorstellungen von artgerechter Haltung durchsetzen. Eine Vegetarierin auf einem Schweinehof, das klingt doch wie ein blöder Witz.
Auf der Wiese hinter dem großen Stall darf Imke drei Schweine im Freien halten. Sau Helene und ihre beiden Ferkel Max und Moritz werden nur mit den besten Küchenabfällen gefüttert. Sie suhlen sich mit Blick auf den Deich im Dreck und grunzen fröhlich. Doch der alte Schlotfeldt bekommt Wutanfälle, wenn er von Imkes hochtrabenden Ideen nur hört oder wenn sie mit ihm eine Diskussion über industrielle Tierhaltung anfängt.
»Wenn du dir für unsere normalen Schweine im Stall zu fein bist, dann heuer doch im Bioladen in Hamburg an und friss deinen Tofu.« Sobald jemand ein Widerwort wagt, rastet er regelmäßig aus und droht mit Mistforken oder dem Holzknüppel, den er fast immer bei sich trägt und mit dem er sonst die Schweine in ihre Kastenstände oder die Viehtransporter treibt. Einmal hat er mit seinen verdreckten Holzpantoffeln aus dem Stall nach den kleinen Kindern geworfen. Da war Imke zur Abwechslung mal ausgeflippt.
Schlotfeldt war ein notorischer Choleriker. Seine Frau hatte, kurz bevor Imke und Sören sich kennenlernten, die Flucht ergriffen. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten. Angeblich hatte er sie immer wieder geschlagen. Mit seinem Holzknüppel hatte er sie einmal so schwer am Bein verletzt, dass eine bleibende Behinderung blieb. Eines Abends war sie von einem Treffen der Landfrauen einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Im Ort kursierten die wildesten Gerüchte. Einige behaupteten, dass sie inzwischen eine Kängurufarm in Australien betreibe.
Auch für Imke entwickelte sich dieser Schweinehof in der nordfriesischen Walachei immer mehr zum Albtraum. Der ekelhafte Gestank aus dem Stall und dem nur wenige Meter vom Wohnhaus entfernten Jauchebecken ist allgegenwärtig. Sobald im Stall die Lüftung läuft, muss man die Fenster geschlossen halten. Draußen riecht es nach Schweinestall und drinnen nach der Ölheizung, die im Wohngebäude mit untergebracht ist. Sören und Imke hatten sich die alte Tenne in dem großen Fachwerkhaus ausgebaut und vergrößert. Der alte Schlotfeldt wohnte in der seit Jahrzehnten unveränderten neonausgeleuchteten Wohnküche im Hinterhaus.
Anfangs hatte Imke sich die Wohnung nach ihren Vorstellungen einrichten können. Doch irgendwann veränderte sich das. Plötzlich hing dann ein ausgestopftes Eichhörnchen oder ein Mader an der Wand. Sören und sein Vater tapezierten gnadenlos alle Wände mit ihren Jagdtrophäen, mit Geweihen und sonst wie erlegten Tieren, Frettchen, Bisamratten, Fischottern und ganzen Vogelschwärmen. Imke hatte keinen blassen Schimmer, ob die Männer das wirklich alles selbst geschossen hatten, und es interessierte sie auch nicht. Die Jagd und das Präparieren der toten Tiere, dieses seltsame Hobby, das Vater und Sohn verband, waren ihr unheimlich. Wenigstens hat sie ihre schicke neue Einbauküche aus dem Husumer Küchenstudio von Schlotfeldts Tierleben bislang noch freihalten können.
Imke raspelt Wurzeln für einen Gemüsegratin in eine Auflaufform. Kimi fährt mit seinem Gokart Slalom zwischen den Jaucheplacken auf dem geteerten Hof. Seine kleine Schwester Merle sitzt auf ihrem Dreirad und sieht ihm bewundernd zu. Zwischendurch wirft Imke immer mal einen Blick durch das Küchenfenster. Der fünfjährige Kimi wird zunehmend unternehmungslustiger. Letzte Woche war er auf die Sofalehne gestiegen, um das große Hirschgeweih an der Wand zu erklimmen. Sören und vor allem sein Vater hatten das glücklicherweise nicht mitbekommen. Jetzt turnt er schon wieder auf der Leiter am Jauchebecken herum. Kimi hat ein Faible für verbotene Kletterpartien. Der alte Schlotfeldt ist schon mehrmals ausgerastet.
»Imke, verdammte Scheiße, pass bloß auf. Eines Tages fällt der Jung noch in die Jauche. Das war’s dann.« Ausnahmsweise hat ihr Schwiegervater da mal recht. Imke hat schon einige Male von tödlichen Unfällen in Jauchegruben gelesen.
Panisch reißt Imke das Küchenfenster auf. »Kimi-i-i!! Komm da runter!«
Kimi dreht sich freudestrahlend um. Stolz lächelt er seiner Mutter zu. Merle pest freudig quiekend auf ihrem Dreirad ebenfalls Richtung Jauchebecken.
»Kimi-i-i-i-i-i!!!« Kimi erklimmt die nächsten beiden Stufen der Stahlleiter.
Augenblicklich lässt Imke Gemüseraffel und Wurzel fallen und rast in Schürze und Hausschuhen auf den Hof.
»Kimi, komm da sofort runter!!!« Je lauter sie schreit, desto schneller versucht sich der Kleine die Leiter hochzuziehen. Sein blonder Schopf leuchtet in der Sonne vor dem betongrauen Becken. Imke stürmt über den Hof. Merle düst auf dem Dreirad durch die Jauche und juchzt. Inzwischen hat Kimi den Beckenrand erreicht.
»Mama, guck ma’, da schwimmt einer!«, ruft er begeistert, aber gleichzeitig auch etwas irritiert.
»Nicht bewegen!«, schreit Imke inzwischen völlig hysterisch. »Bleib da, wo du bist!« Imke hat jetzt auch die Stahlleiter des Beckens erreicht und hastet keuchend die Leiter hinauf. Nach der Geburt der beiden Kinder hat sie etwas zugelegt. Seitdem ist sie nicht mehr so gut in Form. Früher war sie sportlicher. Kimi steht auf der obersten Sprosse und zeigt in das Becken.
»Was erzählst du da für einen Quatsch! Du kommst da sofort runter!« Imke hat jetzt den Beckenrand erreicht, greift Kimi an den Trägern seiner Latzhose und klemmt sich ihren Sohn unter den Arm. Sie ist fast schon wieder auf dem Weg nach unten, als sie wie in einem Traum ganz kurz so etwas wie ein Gesicht aus dem Jauchebrei auftauchen sieht. Ehe sie das richtig realisiert, ist sie mit Kimi nach unten geklettert, setzt ihn unten ab, um dann allein wieder hinaufzusteigen. Imke traut ihren Augen nicht. Aus der bräunlich grünen Gülle ist ein bleiches Gesicht aufgetaucht. Ein Gesicht ist es eigentlich nicht, eher ein Schädel, der von dem dicklichen Jauchebrei überzogen ist. Undeutlich meint sie die Umrisse eines Körpers zu erkennen. Aus der stinkenden Brühe ragen vorsichtig die Füße mit Schuhen heraus. Imke hat mit einem Würgereiz zu kämpfen.
»Dat is ’ne Riesensauerei«, warnt Thies die Kollegen gleich, als er bei der Mordkommission in Kiel anruft. »Ihr müsst euch Gummisachen mitbringen. Unbedingt.«
Die Nachricht von dem grausamen Fund in der Jauchegrube erreicht den Fredenbüller Polizeiobermeister auf dem Weg nach Hause. Thies ist mittags ausnahmsweise mal auf zwei Tofu-Frikadellen bei seiner Familie reingeschneit. In der Wache war mal wieder nichts los. Aber jetzt ist er vollkommen aus dem Häuschen. Endlich ein neuer Mordfall! Die neuen Riesenostereier im Eingang und die zwölf mit der Motorsäge rustikal ausgesägten Holzhasen, die Heike heute Morgen grad im Vorgarten aufgestellt hat, übersieht Thies glatt. Er hatte Nicole Stappenbek gleich am Telefon, und die Leiterin der Kieler »Mord Zwei« wollte sich mit ihrem Team sofort auf den Weg machen.
»Thies, dat darf nich war sein. Nun hatten wir grad mal ’n büschen Ruhe, und schon tanzt deine blonde Oberkommissarin hier wieder an. Ich hab mich auf schöne Ostern gefreut.« Heike Detlefsens Stimmung ist sofort auf dem Nullpunkt. Ärgerlich zieht sie das Haargummi stramm, mit dem sie den blonden Heuwagen auf ihrem Kopf bändigt. Während Thies schon wieder die Polizeijacke übergezogen hat und im Stehen eine Tofu-Frikadelle in sich hineinschlingt, pfeffert seine Frau eine Ladung geschrotete Leinsamen auf die restlichen veganen Klöpse. Wenn Nicole Stappenbek in Fredenbüll anreist, ist Heike regelmäßig auf achtzig. Thies schwärmt ein bisschen zu offensichtlich für die Kieler Kollegin in der lässig abgeschabten Vintage-Lederjacke mit den verwegenen Nieten.
»Heike, du solltest dich freuen. Wir haben endlich wieder ’n Mordfall.« Thies richtet seinen Frontigel. Nach einem vorübergehenden Frisurenexperiment – zur letzten WM hatte Friseurmeisterin Alexandra Thies eine Marco-Reus-Bürste verpasst – hat der Fredenbüller Polizist jetzt wieder seine alte Frisur: kurz geschnitten mit kleinem Strubbelspoiler vorne.
»Die Leiche im Jauchebecken bei Schlotfeldt is ’n echter Glückstreffer. Heike, die Kriminalitätsstatistik des letzten Jahres ist eine einzige Katastrophe. Und dir sollte klar sein: Ohne Kriminalität ist meine Wache hier weg!«
Seine Frau sieht ihn sprachlos an.
»Ja, Heike, und dann bin ich auch weg.«
»Thi-i-ies, hör doch auf, ich gönn dir deinen Mord doch«, lenkt Heike ein. »Aber schaffst du dat nich langsam mal alleine? Kann doch nich angehen, dass deshalb immer gleich diese oberschlaue Nicole anrücken muss und dich verrückt macht.«
»Ich hab jetzt grad mal den Seminarschein ›Täterprofile‹, aber deswegen bin ich noch lange kein Hauptkommissar bei der Mordkommission.« Bockig knöpft Thies seine Polizeijacke zu, wischt sich ein paar Tofukrümel vom Mund und läuft nach draußen zu seinem Wagen.
»Noch so ’n Thema«, denkt er sich verärgert. Den ersehnten neuen Dienstwagen hat Thies nämlich wieder nicht bekommen. Er fährt immer noch seinen alten Privatwagen mit der improvisierten Polizeilackierung. Der altersschwache Escort ist mit Ach und Krach grade noch mal durch den TÜV gekommen. Die durchgerosteten Kotflügel hat Sönke, der Mechaniker in der Schlütthörner Tankstelle, inzwischen alle in den neuen Polizeifarben Blau und Silber lackiert. Nur das Dach hat noch das alte Grün, und auch die neue Lackierung stimmt nicht ganz: Kotflügel blau, Haube silber, normalerweise gehört das umgekehrt. Bei der farblichen Gestaltung von Thies’ Einsatzfahrzeug hat Tankwart Sönke seine eigenen Vorstellungen. Aber schön ist das nicht, mit dieser alten Kiste zu einem Tatort zu fahren, ärgert sich Thies.
Kriminalhauptkommissarin Nicole Stappenbek ist gleich mit der ganz großen Besetzung angereist. Gerichtsmediziner Carstensen, KTU-Mann Mike Börnsen und weitere Kriminaltechniker. Ein ganzer Trupp von Männern und Frauen in weißen Einmalanzügen wieselt um das Jauchebecken herum. Die meisten tragen wegen des Güllegestanks einen Mundschutz. Die Kriminaltechniker haben zwei zusätzliche Leitern angestellt. Sie brauchen eine ganze Weile, um den Toten aus der Jauche zu ziehen. Mit einer langen Teleskopstange und mit Heugabeln stochern sie in der grünlich braunen Brühe herum und schupsen die Leiche Richtung Beckenrand. Sobald die beiden Männer sie ein Stück aus der Pampe herausbekommen haben, will sich der zähe Brei den Leichnam zurückholen. Immer wieder taucht der oder die Tote kurz ab, um dann aber mit den Füßen oder dem Kopf sofort wieder an die Oberfläche zu kommen. Schließlich gelingt es Spusi-Mann Börnsen und seinem Kollegen, den Leichnam mithilfe eines Seiles aus der Gülle herauszuziehen und über den Beckenrand zu hieven. Dem blonden Spusi-Mann läuft dabei die stinkende Suppe unter seine Gummihandschuhe. Der schlammige Körper strebt kurz noch mal in die Jauche zurück, dann fällt er mehrere Meter hinab auf den Betonboden. Die Gliedmaßen federn beim Aufprall einmal nach oben und zerfallen dann in mehrere Teile. Die braune Gülle spritzt. Darunter kommen Teile eines Skelettes zum Vorschein. Thies, der die Bergung der Leiche überwacht, geht in Deckung. Börnsen hat mit dem Brechreiz zu kämpfen. Nicole hastet hinter den Stall und muss sich tatsächlich übergeben.
Schlotfeldt senior und auch sein Sohn Sören stehen mit versteinerter Miene und aschfahlem Gesicht vor dem toten Körper und starren ihn an. Der Leichnam ist über und über mit der grünbraunen Schlacke überzogen. Es ist nur noch ein Skelett, an dem gülledurchtränkte Reste von Kleidung oder eines Körpers kleben, die die einzelnen Knochenteile bisher zusammengehalten haben. Auch das Gesicht ist nicht mehr zu erkennen. Nur noch ein schlammüberzogener Totenschädel.
»Echt lecker!« Mike Börnsen wendet sich ab und zieht sich mühevoll die Gummihandschuhe von den Fingern. »Gibt’s hier irgendwo fließend Wasser?«
»Ach so, ja!« Sören Schlotfeldt überlegt. »Klein Moment, ich kärcher euch eben ab. Dat ham wir gleich.« Der Junior holt den Hochdruckreiniger aus einem Schuppen.
»Sieht irgendwie nach ’ner Frau aus, oder?«, überlegt einer der Kriminaltechniker mit Blick auf die Körperform. Um den Hals schimmert ein rotes Tuch unter dem Schlamm hervor. Oder ist das vielleicht doch eine Krawatte?
Während Börnsen und seine Kollegen ihre Gummianzüge von dem jungen Schlotfeldt abspritzen lassen, steuert Gerichtsmediziner Carstensen, heute ebenfalls im weißen Einmaloverall, mit einem Leichensack auf den stark verwesten Leichnam zu. Der Gokart des Jungen steht daneben. Die Kinder, die Imke sofort ins Haus gebracht hat, kleben mit den Nasen am Küchenfenster. Imke steht in Schürze dahinter und zieht die dreijährige Merle vom Fenster weg.
»Moin Thies«, begrüßt Carstensen den Fredenbüller Dorfpolizisten. »Wo ist unsere Hauptkommissarin denn abgeblieben?«
»Ja … mal eben hintern Schuppen«, sagt Thies zögerlich. »Aber da kommt sie schon wieder.« Nicoles Gesichtsfarbe tendiert ins Grünliche.
»Willst hier noch mal ’n Blick drauf werfen, ehe ich einpacke?«, fragt Carstensen.
Genau das will Nicole vermeiden. Sie wendet sich stattdessen an Schlotfeldt. »Aber ich will vor allem, dass Sie hier einen Blick drauf werfen«, sagt die Kommissarin mit ungewöhnlich leiser Stimme. »Sind Sie hier der Eigentümer?«
»Jo.« Der Schweinebauer starrt abwesend auf den Leichnam, dann sieht er Nicole an. »Jo, dat ist mein Hof.« Er schiebt sich den Schirm der grünen Bauernmütze in die Stirn.
»Na ja, eigentlich …« Sören Schlotfeldt, der inzwischen dazugekommen ist, will offenbar etwas einwenden, lässt dann aber nur ein kleinlautes, fast lautloses »Jo, egal« heraus.
»Wer ist das? Kennen Sie den oder die Tote?«, fragt die bleiche Kommissarin. Aber gleichzeitig merkt sie, wie unsinnig die Frage ist. Dieses halb verweste gülleüberzogene Etwas ist wirklich nicht zu identifizieren.
»Dat ist meine Frau«, sagt Schlotfeldt, ohne lange zu überlegen. Aber dann zuckt er die Achseln.
»Ihre Frau?« Nicole staunt.
»Mutti? Nee!« Schlotfeldt junior ist überhaupt nicht überzeugt, und auch der alte Schlotfeldt glaubt selbst nicht mehr, was er da gerade eben gesagt hat.
Der kleine Kimi kommt schon wieder aus dem Haus gestürmt. »Ich hab ihn zuerst gesehen«, schreit er. Imke läuft hinterher. Sie schnappt sich ihren Sohn sofort und zieht ihn zurück ins Haus.
»Herbert, wie willst dat denn erkennen?« Thies blickt skeptisch erst auf die Tote, dann auf den Schweinebauern. Der alte Schlotfeldt hat immer diesen starren Blick aus seinen wasserblauen Augen, die unter dem Schirm der grünen Bauernmütze hervorstechen. Jetzt ist sein Blick noch starrer. Schlotfeldt sagt gar nichts und stiert nur auf die Schuhe. Thies und Nicole sehen ebenfalls kurz hin.
»Herbert, hörst du mich?«, fragt der Fredenbüller Polizist.
»Die Schuhe«, stößt Schlotfeldt fast lautlos heraus.
Thies sieht auf die Überreste hochgeschlossener Schnürschuhe, die verdreckt, halb zerfallen, aber im Gegensatz zu allem anderen vergleichsweise gut erkennbar sind.
»Dat sind Gesundheitsschuhe, oder?«, stellt er fest.
Nicole wird schon wieder leicht grünlich. »Herr Schlotfeldt, wir müssen uns nachher mal in Ruhe unterhalten. Lassen Sie die Kollegen hier erst mal weitermachen.« Sie schnappt nach Luft und schiebt sich die Sonnenbrille ins Haar. Thies mustert sie kritisch.
Nicole und er haben sich eine ganze Weile nicht gesehen. Beruflich ergab es sich ja leider nicht. Allerdings waren Nicole und Mike Börnsen vor ein paar Monaten zu Bountys »Stormy Weather«-Party in dem renovierten Übungsraum im alten Dorfkrog aus Kiel herübergekommen. Kann es sein, dass sich Nicole seitdem irgendwie verändert hat? Vielleicht hatte sie ein bisschen zugelegt?
»Thies, ich bin mal wieder ohne Frühstück los. Ich brauch unbedingt erst mal ’n Kaffee und was zu essen.« Sie schnieft.
Mit ihren Allergien hat sie jedenfalls immer noch zu tun.
Als Nicole in der »Hidden Kist« das Duftgemisch aus frittierten Pommes und eingelegten Rollmöpsen entgegenschlägt, kehrt schlagartig die normale Farbe in ihr Gesicht zurück. Im Imbiss wird die Kieler Kommissarin gleich mit großem Hallo empfangen. Bei ihren Fredenbüller Mordfällen hat sie ihre Mahlzeiten stets bei Antje eingenommen. Nicole begrüßt die Stammbelegschaft, und Klaas stellt ihr seine Bekannte vor. Nicole staunt.
»Moin, isch bin die Mandy.« Klaas’ neue Freundin streckt ihr die Hand mit den violett lackierten Fingernägeln entgegen und schüttelt die mehrfarbige Sturmfrisur. Nicole kann sich angesichts des sächsischen Moin und der in Fredenbüll obligatorischen Fingernägel aus dem »Salon Alexandra« ein heimliches Grinsen nicht verkneifen. Bounty grüßt ebenfalls grienend und Schokoriegel kauend von Stehtisch Eins herüber. Allein der Imbisshund, Schäfermischling Susi, hat nur Augen für den Althippie, mit dem er sich grade einen Kokosriegel teilt.
»Freut uns, dass du mal wieder da bist … na ja …« Antje macht eine Pause und räumt aus Verlegenheit eine Schale mit Kartoffelsalat vom Tresen in die Glasvitrine. »Is natürlich immer kein so schöner Anlass, muss ja wohl schlimm aussehen, aber … Wie sieht’s aus, erst mal ’n Croque?«
»Rollmops-Burger!«, bestellt Nicole wie aus der Pistole geschossen.
»Und vielleischt och ’ne Dode Dande?«, flötet Mandy, die über die Stützung der Frauenquote in der »Hidden Kist« offenbar ganz froh ist. »Kann isch nur emfählen.«
»Lass mal, Mandy, die tote Tante hatten wir heute Morgen schon«, winkt Thies ab.
Nicole lässt sich den morgendlichen Latte macchiato und das Fischbrötchen schmecken, gleich darauf ein zweites. Sie strahlt. Ja, sie hat tatsächlich ein bisschen zugelegt. Aber steht ihr, findet Thies.
»Dat schmeckt dir aber, min Deern«, brummt Paulsen. »So ’n Toter am Morgen macht wohl ordentlich Appetit.« Die Männer staunen über Nicoles Appetit, und Antje mustert sie eindringlich.
»Hört bloß auf«, protestiert Thies. »Von der oder dem Toten war nich mehr viel zu erkennen in der ganzen Jauche«, erklärt der Fredenbüller Polizist. »Sah schlimm aus, dat Gesicht war praktisch nich mehr da.« Dabei läuft ihm selbst noch einmal ein leichter Schauder über den Rücken, aber ein bisschen genießt er es auch, seine Imbissfreunde zu schockieren.
»Gru-u-uselisch«, stöhnt Mandy.
»Fast wie in einem von diesen Dänen-Krimis«, findet Piet Paulsen. »Da geht dat ja immer ganz schön brutal zur Sache. Muss ich mich manchmal wundern.«
»Na ja, wir sind schließlich ganz nah dran«, konstatiert Thies. »Dat sind keine fünfzehn Kilometer zur Grenze.«
Wütend räumt Huberta von Rissen zwei leere Weinflaschen und ein halb volles Glas vom Kirschholztischchen. Durch die hohen Räume des Gutes klimpert ein Chopin-Tanz. Seit ihr Mann Onno überraschend vorzeitig aus der Psychiatrie entlassen wurde, stehen die leeren Bordeauxflaschen wieder überall herum. Ihr litauisches Hausmädchen muss regelmäßig Rotweinflecken von dem gestreiften Bezug des Biedermeiersofas und aus dem Orientteppich entfernen.
Huberta von Rissen, im obligatorischen taillierten Tweedjackett mit den Lederflicken auf den Ellenbogen, in Reithose und mit Perlenkette, holt sich selbst ein Glas Weißwein aus der Küche. Seit Onno wieder da ist, ist sie wie gelähmt. Sie versteht einfach nicht, dass man ihren Mann jetzt schon entlassen hat. Vier Jahre ist es her, dass er den schönen Biobauern Jörn Brodersen, mit dem Huberta ein Verhältnis hatte, ins Jenseits befördert hat. Nachdem er auch noch für einen weiteren Mord verantwortlich war, wollte er sich selbst eine Kugel in den Kopf jagen. Er war dann für schuldunfähig erklärt worden, das hatte das psychiatrische Gutachten ergeben, das sein Anwalt durchgesetzt hatte, aber das konnte doch eigentlich kein Grund sein, ihn vorzeitig auf freien Fuß zu setzen. Huberta von Rissen schätzte ihren Mann immer noch als gefährlich ein, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie ihn gern noch ein Weilchen in der Flensburger Psychiatrie behalten können. Diese Entlassung hatte ebenfalls sein Hamburger Anwalt Doktor Cordt Brookmann durchgesetzt. Und Brookmann hatte jetzt die alte Mühle am Koogdeich gekauft und kreuzte hier neuerdings dauernd mit seinem schwarzen Porsche oder diesem Motorrad-Oldtimer auf.
Huberta hatte die Zeit genossen, in der Onno weg gewesen war. Sie war wieder zum Reiten gekommen. Sie hatte sich um die beiden Pferde und um den großen Garten gekümmert, und der Kontakt zu dem Eppendorfer HNO-Professor Müller-Siemsen, der mittlerweile von seiner Frau getrennt lebte, war intensiver geworden. Zusammen mit Müller-Siemsen organisierte sie auf dem Gut Kammerkonzerte und mal eine Kunstausstellung oder Lesung. Sie hatten das schon immer gemacht, aber in Onnos Abwesenheit war das deutlich mehr geworden. Der alte von Rissen hatte sich immer alle Mühe gegeben, ihre Kulturveranstaltungen zu boykottieren. Jetzt hatte sie diese kleinen Events mal richtig genießen können. Denn neben den auftretenden Künstlern war immer sie der Mittelpunkt, und der schrullige Hamburger Professor und auch die Kulturinteressierten, die aus dem ganzen Landkreis anreisten, hofierten sie.
Auf den ersten Blick wirkt Huberta immer etwas streng. Ihr dunkler Typ, die grauen ungefärbten Haare und die Perlenkette, die sie auch zur Gartenarbeit nicht abnahm, lassen sie etwas unnahbar erscheinen. Aber bei ihren Kulturevents kann die Dame mächtig aufdrehen. Nach einem dieser Konzerte hatten sie und der smarte Biobauer Brodersen damals in der Speisekammer des Gutes die Gurkengläser auf dem Regal zum Tanzen gebracht. Und kürzlich hatte sie den verwegenen Bratschisten eines russischen Streichquartetts auf dem unbequemen Biedermeiersofa verführt.
Jetzt suchte sie das Sitzmöbel nach Rotweinflecken ab, die ihr Mann regelmäßig hinterlässt. Den Tag über lungert Onno schlecht gelaunt im Haus herum und verdirbt auch ihr die Laune. Dann sitzt er neuerdings stundenlang am Computer, und wenn sie den Raum betritt, klickt er hektisch mit der Maus herum, bis der Bildschirmschoner mit dem Familienwappen erscheint. Abends nach der zweiten Flasche Bordeaux begibt er sich dann auf eine seiner Spritztouren, was Huberta auch gleich wieder die Laune verdirbt.
Er hatte sich schon früher betrunken ins Auto gesetzt und war nachts in der Landschaft herumgegurkt. Aber nicht mit dieser Regelmäßigkeit. Früher war er ab und zu ins Spielcasino nach Travemünde gefahren. Mit seiner Spielsucht hatte er sie fast ruiniert. Aber das ist es jetzt nicht mehr. Für Travemünde ist er zu schnell wieder zurück. Was macht er, wenn er in seinem alten Landrover nachts auf den weiten nordfriesischen Landstraßen den Deich entlangschlingert? Wo fährt er hin? Lauert er womöglich Anhalterinnen auf? Diese neue sächsische Bedienung aus dem »Wattblick« soll er neulich mitgenommen haben und das Fräulein aus der Schlütthörner Bank. Das hatte sie ihr selbst erzählt. Beim Friseur hatten sie so seltsame Bemerkungen gemacht, als hätte Onno sich der rothaarigen Chefin Alexandra unsittlich genähert, nachdem er sie an der nächtlichen Landstraße aufgelesen hatte. Der Postbote will seinen Wagen kürzlich neben diesem alten Wohnmobil mit dem rosaroten Neonherz hinter der Windschutzscheibe gesehen haben. Und dann war seit gestern auf einmal die Fredenbüller Pensionswirtin Renate verschwunden. Renates Gäste waren im Gutshof aufgekreuzt und hatten gefragt, ob sie auch Zimmer vermiete.
Huberta hat auf einmal ein ausgesprochen schlechtes Gefühl.
»Mandy, zwei Friesen, ein Rhabarber, ein Butterkuchen, zweimal Kännchen, eine Tote Tante, ein Bier, das geht alles an Tisch Fünf.« Der rot gelockte Kellner Robert Rusk zeigt auf das Tablett und spießt lila Bestellzettel auf einen dafür vorgesehenen Dorn auf dem Tresen. Herr Robert, wie er von allen genannt wird, nickt Mandy freundlich zu. Sie stemmt das Tablett und serviert an Tisch Fünf. »Soo, zwei Gännschen Gaffee … wer ist die Friesendorde?«, fragt Mandy, die im Dienst ihre Farrah-Fawcett-Außenwelle mit einer Haarklammer bändigt, munter in die Seniorenrunde.
»Die Friesentorte bin ich«, meldet sich eine der älteren Damen. Der einzige Mann in der Runde trinkt Pils zum Butterkuchen.
Das »Café Wattblick« liegt gleich hinter einer kleinen Brücke, die über einen Bewässerungskanal führt. Hundert Meter weiter kommt man zur Badestelle Neutönninger Siel mit dem weiß gestrichenen DLRG-Häuschen. Der Ort Neutönninger Siel besteht eigentlich nur aus der Badestelle, dem Café und einem Schleusenhäuschen des Wasserwirtschaftsamtes. Aus den Fenstern des Gastraumes hat man einen schönen Blick über den Deich, auf dem unzählige Schafe stehen, und über das Deichvorland, hinter dem sich die Nordsee erahnen lässt. Die grobmaschigen, dreiviertellangen Häkelgardinen allerdings erschweren den Blick. Im »Café Wattblick« hat sich in den letzten dreißig Jahren wenig verändert. Die Eichentische und Stühle mit den grün-braun gestreiften Kunstsamtbezügen stammen noch original aus den Siebzigern, ebenso die dicken Häkeltischdecken, in denen die Kaffeekännchen und Biergläser versinken und immer umzukippen drohen.
»Irgendwie zeitlos«, findet Wirtin Bertha Bessen, und die Mehrheit ihrer Stammgäste teilt ihre Meinung. Auch die Karte ist bodenständig: Eisbecher »Steife Brise«, Eis mit Roter Grütze, Friesentorte, Friesenwaffeln, Schwarzwälder Kirsch und Butterkuchen stehen seit Ewigkeiten auf der Karte. Nur die Preise werden ab und zu überklebt. Abgesehen von den friesischen Spezialitäten auch nicht so viel anders als damals in der DDR, denkt sich Mandy, mit dem einzigen Unterschied, dass es die Sachen von der Karte tatsächlich gibt.
Bertha Bessen, die das »Wattblick« bereits in der zweiten Generation betreibt, verlässt die Küche praktisch nicht, sie backt Butterkuchen und Bienenstich, und, wenn jemand etwas Warmes will, macht sie ein paar Würstchen heiß. Um die Gäste kümmert sich Herr Robert, seitdem er wieder hier ist. Auch Mandy wurde von ihm eingearbeitet. Robert Rusk war früher Kellner im Reusenbüller Krog. Nachdem der alte Gasthof im Jahr 2007 dichtgemacht hatte, ging Rusk ins Ausland, um dort eine Stelle als Kellner anzunehmen. Seit einem halben Jahr ist er wieder in Nordfriesland und seitdem im »Café Wattblick«. Herr Robert ist der geborene Kellner. Alle kennen ihn immer nur in seinem abgetragenen, leicht speckigen schwarzen Kellneranzug mit den breiten Revers, die jetzt schon wieder in Mode sind. Auch sonst verströmt der Ober mit seinen längeren rot gelockten Haaren und den breiten Koteletten den leicht schmierigen Charme der Siebzigerjahre. Die älteren Damen lieben Herrn Robert, der immer ein kleines Kompliment parat hat und sich die Beine ausreißt, um den Gehbehinderten unter den Gästen behilflich zu sein.
Seitdem auch Mandy im »Wattblick« bedient, sind sie im Service fast ein bisschen überbesetzt. Denn in der Woche ist hier kaum etwas los. Eigentlich gar nichts. Nur der alleinstehende Kurt Krösing, pensionierter Beamter des Wasser- und Schifffahrtsamtes Nord, sitzt jeden Nachmittag an seinem Stammplatz am Fenster, bestellt zwei Stücke Bienenstich und trinkt sein Kännchen Kaffee Hag und anschließend ein Pils. Dann blickt er unter den Häkelstores hindurch auf die Schleuse, für die er neben vielen anderen sein ganzes Beamtenleben verantwortlich war. Krösing trägt immer dasselbe unmoderne cremefarbene Trevira-Jackett und einen altmodischen Schlips, der verdächtig nach Polyester aussieht. Im »Wattblick« tragen die Herren noch Krawatte. Krösing spricht nicht viel. Nur mit Herrn Robert und neuerdings mit Aushilfskellnerin Mandy tauscht er sich kurz über das Wetter und die aktuellen Wasserstände aus.
Am Samstag und am Sonntagnachmittag herrscht im »Café Wattblick« dann plötzlich Hochbetrieb. Die Altbauern fahren in ihrem Diesel mit ihren Frauen auf dem Beifahrersitz im Schritttempo zum Kaffeetrinken. Die Jungbauern bugsieren Oma samt Rollator die paar Treppen über den Deich zum Café, während die Enkelkinder die mit neonfarbenen Zahlen besprayten Schafe streicheln. Heute sind neben dem Platz von Kurt Krösing immerhin zwei weitere Tische besetzt.
»Kann ich das Gännschen schon mitnehmen, Herr Grösing?«, fragt Mandy und dann routinemäßig: »Und jetzt ’n schönes Bierschen?«
»Ist ja heute richtig was los bei Ihnen, Fräulein Mandy.« Kurt Krösing spießt mit der Kuchengabel ein letztes vom Bienenstich abgefallenes Mandelblatt auf.
»Nu, so soll’s sein. Wenn nüschd los is, is och nix.« Sie nimmt das Kännchen vom Tisch und blickt den pensionierten Schleusen- und Wasseramtmann fragend an.
»Eine gute Idee, Fräulein Mandy, dann nehm ich gern ein Pils.« Es klingt, als wäre dies eine ganz verwegene Idee und als würde Krösing dies zum ersten Mal bestellen. Er legt die Kuchengabel auf den Teller und widmet sich dem Wasserstand in der Schleuse.
Herr Robert bugsiert derweil Seniorin Frau Bandixen mit ihrem Rollator Richtung WC. »Soll ich mitkommen, Mutti?« Die Schwiegertochter ist von der Kaffeetafel aufgesprungen.
»Das bekommen wir schon allein hin, was, Frau Bandixen? Wir sind ja noch gut zu Fuß.« Der Kellner stützt die Rentnerin und starrt dabei, seine Zähne bleckend, erst auf den Rollator und dann auf ihre Füße.
»Der Herr Robert macht dat schon«, schreit Frau Bandixen durch den Gastraum, ohne sich zu ihrer Familie umzudrehen. »Er war ja schließlich bei den Johannitern!«
Während ihres Aufenthaltes auf der »Wattblick«-Toilette zapft Herr Robert Krösing sein Pils. Als der Ober die Seniorin zurück an ihren Tisch bringt, betritt das Touristenpaar aus dem Ruhrpott das Café.
»Na, hier ist ja ausnahmsweise offen«, stellt die Frau unfreundlich fest.
»Aber sicher haben wir offen.« Robert Rusk liefert Frau Bandixen in ihrer Familienrunde ab.
»Nu, da sind Sie ja wieder«, stellt Mandy erfreut fest.
»So selbstverständlich ist dat niich«, motzt die Urlauberin aus dem Ruhrgebiet.
»Die Herrschaften ham heut Mohrschn keen Frühstück begommen«, erklärt Mandy. »Sie sind Pensionsgäste, hier bei …«
»Renate«, schreit Frau Bandixen.
»Bekommen wir bei Ihnen denn wenigstens einen Kaffee?«, mault die Frau. Der Mann steht stumm daneben.
»Nehmen Sie doch erst mal Platz, wir sind gleich bei Ihnen.« Herr Robert klingt nicht mehr ganz so freundlich. Er streicht sich mit der Hand eine rote Locke aus dem Gesicht und richtet die Krawatte, die bei der Toilettentour mit Frau Bandixen verrutscht ist. Durch die Häkelgardinen fällt die Frühlingssonne herein. Die Krawatte leuchtet in den nordfriesischen Farben Gold-Rot-Blau.
Während Thies schon in Polizeijacke im Stehen seinen Kaffee trinkt, ist seine Frau noch im Jogginganzug. Heike ist übermüdet. Gestern gab es im Fernsehen wieder ihre neue Lieblingssendung, die »Gänsehautnacht« mit den gruseligsten Morden der Filmgeschichte. »Tiere darf man nicht mehr töten, aber die Filme können gar nicht blutig genug sein«, kommentiert Thies Heikes neueste Leidenschaft für harte Krimikost. Schlecht gelaunt rührt sie Sojamilch in ihr veganes Müsli.
»Thies, bevor du gleich wieder abschwirrst, musst du mal ’n Machtwort sprechen.«
»Schon wieder wat mit der Schule?«
»Nee, Telje will zum Husum Harbour!«
»Husum … wat?«
»Husum Harbour. Dat Festival. Open Air und so.« Heike macht eine Kunstpause. »Sie will mit ihrem Freund dorthin.«
»Wie bitte? Telje hat ’n Freund?« Thies verschluckt sich an dem heißen Kaffee. »Erzähl doch nix!«
»Da siehst du mal wieder, wie dat Familienleben an dir vorbeigeht.«
»Und wat is mit Tadje?«
»Wat soll sein, die hat keinen Freund, kennst doch Tadje.« Äußerlich gleichen sich die Detlefsen-Zwillinge noch wie ein Ei dem anderen. Aber sonst entwickeln sich die beiden in der Pubertät jetzt immer mehr auseinander. Die dösigere Tadje war schon immer etwas hinterher. Sie geht weiterhin im Nachbarort Schlütthörn zur Schule, hört Shakira und geht ganz bodenständig mit den Fredenbüller Jungs zum Grillen am Deich. Schwester Telje besucht das Husumer Theodor-Storm-Gymnasium und hat neuerdings den Poetry-Slam und Independent-Bands entdeckt. »Aber Telje und Tjark nehmen Tadje immer mal mit.«
»Tjark? Die Zwillinge teilen sich den Freund? Dat wird ja immer schöner.«
»Na ja, ich weiß auch nich, manchmal geht das wohl ’n büschen durcheinander. Aber zum Husum Harbour will Telje allein, und dat sind so ganz wilde Bands. Da gibt’s doch bestimmt auch Drogen.« Heike blickt ihren Mann besorgt an.
»Da musst du gar nich erst nach Husum, die gibt’s auch hier in Fredenbüll!«
»Wie bitte?«
»Na ja, bei Bounty im Garten. Und jetzt muss ich los, wir müssen ermitteln.«
Nicole Stappenbek sitzt in der »Hidden Kist« bei einem üppigen Frühstück. Zu ihrem allmorgendlichen Latte macchiato hat sie heißhungrig schon wieder Antjes halbes Heringssortiment durchprobiert. Jetzt schlingt sie grade einen mit Bismarckhering und Gurken mit Antjes süß-saurer Spezialmayonnaise belegten »Croque Störtebeker« in sich hinein. Antje zwinkert ihr zu und beobachtet sie fasziniert. Auch die sächsische Servicekraft Mandy ist vor Dienstbeginn bereits in der »Hidden Kist« und genehmigt sich schnell noch eine Tote Tante. »Aber Antje, mit wenisch Rum!« Auch ihr fällt Nicoles außerordentlicher Appetit auf, selbst Imbisshündin Susi blickt staunend zu der Kieler Kommissarin auf. Nur die anwesenden Männer scheinen unbeeindruckt. Klaas sortiert bei einem Latte macchiato auf Stehtisch Zwei die Post, Piet Paulsen blickt versonnen in die Blume seines ersten Morgenbierchens, und Bounty zupft penibel das Papier vom Kokosriegel.
»Na, Thies, auch erst mal ’nen Coffee to go?«, ruft Antje Thies zu, als er den Imbiss betritt.
»Ja, nee, Antje, keine Zeit, wir müssen ermitteln«, lehnt er mit wichtiger Miene ab und sieht dann die Kommissarin erwartungsvoll an. »Wat is Nicole, wollen wir mal los? Wir ham schließlich ’n Mordfall.«
»Vielleicht eher ’n Coffee to run«, gluckst Bounty an Stehtisch Eins. »Für die ganz Eiligen zum Mitnehmen.«
»Wär mal wat anderes«, krächzt Paulsen.
»Aber mich lasst ihr noch in Ruhe meinen Croque aufessen, oder?«, protestiert Nicole.
»Genau, Nicole, immer mit der Ruhe. Habt ihr denn mein neues Schild mit der Schnecke an der Eingangstür gar nich gesehen: Slow Food. Dat is’ der neuste Trend«, verkündet Antje und jongliert gleichzeitig mit Frittierkorb und Wurstzange. »Wir sind der erste Slow-Food-Imbiss im Norden!«
»Antje, dann mach mir aber vorher schnell noch mal ’n Bier«, brummt Piet Paulsen.
»Und isch nähm uf de Schnelle noch ne Dode Dande, aber ohne Rum«, ordert Mandy noch mal ihr Lieblingsgetränk.
»Dat is dann aber keine Tote Tante mehr.« Paulsen mustert die Eisprinzessin kritisch über seine Gleitsichtbrille hinweg. »Dat ist dann einfach ’n Kakao.«
»Nu?!« Mandy zuckt mit den Schultern und strahlt den Landmaschinenvertreter a.D. an.
»Hat eigentlich jemand wat von Renate gehört?«, fragt Thies in die Runde.
»Renate is wohl immer noch abgetaucht«, bemerkt Antje mit ernster Miene. »Ich mach mir langsam Sorgen.«
»Gestern Nachmittag waren ihre Pensionsgäste bei mir im Café«, berichtet Mandy. »Die hatten sie den ganzen Tag nich gesehen. Glücklicherweise hatten sie ’n Schlüssel, dass sie wieder in die Pension reinkamen.«
»Dat is wirklich merkwürdig«, überlegt Klaas und verstaut die sortierte Post in seiner Tasche. »Angeblich war sie vorgestern wohl noch bei ihren Landfrauen. Die treffen sich ja immer Dienstagabend. Bei Dörte, bei Sandra oder neuerdings im Salon bei Alexandra. Danach hat sie keiner mehr gesehen. Komisch, ist eigentlich nich ihre Art.«
»Gibt es eine Vermisstenanzeige?«, fragt Nicole Stappenbek mit dem letzten Heringsbissen im Mund.
»Nee, Renate lebt ja allein«, meint Klaas. »Wer soll sie vermissen … na ja, ihre Pensionsgäste. Sie nennt dat ja neuerdings ›Bed and Breakfast‹. Wenn dat dann kein Breakfast gibt, fällt dat natürlich auf.«
Nicole hebt die Augenbrauen.
»Und bei den Landfrauen geht dat wohl neuerdings hoch her.« Piet Paulsen wischt sich den Bierschaum von der Oberlippe und bleckt die zu groß geratenen dritten Zähne.
»Woher willst du dat denn wissen?« Klaas wundert sich.
»Na ja, als wir hier neulich Nacht noch die WM im … ähh … Schlittschuhtanzen gesehen haben, bin ich ganz normal zu Fuß nach Hause. Da seh ich im Friseursalon noch Licht brennen. Vorne im Laden keine Menschenseele. Aber aus dem hinteren Raum, wo früher dat Solarium stand, hör ich so Geräusche.«
»Wat denn für Geräusche?«, will Thies wissen.
»Na ja … so Stöhnen.«
»Ich sag’s doch, Alexandra lässt nix anbrennen«, gluckst Bounty. »Das ist doch nicht der Erste, den sie auf ihrem Friseurstuhl vernascht.«
»Nee«, wendet Paulsen ein. »Dat waren mehrere Frauenstimmen.«
»Frauenstimmen?«, Antje staunt.
»Die Landfrauen?« Klaas wundert sich. »Kann doch nich sein!«
»Die hab’n nicht nur gestöhnt, die haben auch geredet«, krächzt der Landmaschinenvertreter a.D.
»Wat hab’n sie denn gesagt?«, will Thies wissen.
»Ja, weiß auch nich mehr so genau … ich bin so heiß oder so ähnlich.« Paulsen rutscht vor Aufregung seine Gleitsichtbrille von der Nase.
Klaas wird in seiner Postjacke jetzt auch warm, Mandys Tote Tante dagegen wird auf dem Stehtisch kalt. Antje hat Wurstzange und Frittierkorb aus den Händen gelegt. Von Coffee to run kann keine Rede mehr sein. Der Imbissbetrieb ruht.
»Ja, Piet, und weiter?«, drängelt Klaas.
»Wat hab’n sie noch gesagt?«, will Thies wissen.
»Jo, nich viel, noch mal ich bin so heiß, und dann hab’n sie wieder gestöhnt. Ich bin denn auch langsam weiter. War ja spät geworden hier mit dem Schlittschuhlaufen.« Paulsen schiebt sich nervös die Brille auf die Nase zurück.
»Ist ja toll, was bei euch in Fredenbüll wieder los ist.« Nicole leckt sich die restliche Mayonnaise von den Lippen.
»Ist ja wirklich ’n Ding.« Bounty knüllt umständlich das Schokoladenpapier zusammen. »Als ich neulich nachts so durch die Fernsehprogramme zappe, da gibt’s doch diese Privatsender mit der schnellen Nummer am Telefon. Null-hundertachtzig-sechs-sechs-sechs, Ruf mich an! Oder so.«
»Wat ihr so alles guckt?«, wundert sich Antje. Nicole muss grinsen.
»Gibt’s nachts och noch was anderes als Eiskunstlauf?«, lacht Mandy.
»Ach was, nur so durchgezappt.« Bounty zieht nervös das Haargummi seines dünnen grauen Pferdeschwanzes stramm. »Mir fällt das jetzt grad wieder ein. Da gab es so einen Spot mit so ’ner Lady im Bunny-Kostüm …«
»Bugs Bunny, oder wat?« Klaas hat sich die Postjacke jetzt ausgezogen.
»Nee, eher Schweinchen Dick«, kichert der Althippie. »Keine Ahnung, die Lady mit den Hasenohren kannte ich nich, aber die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. So ’n rollendes R.«
»Und wat hat sie gesagt, Bounty, mach’s nich so spannend«, drängt Thies.
»Rrrassige Frrauen aus deiner Rrrregion … Rrrruf mich an!«
»Oma Ahlbeck?«, schlägt Klaas vor.
»Ach komm, hör doch auf! Nee, nich ganz so reif. Wer r-r-rollt noch das R?«
Thies, Klaas und Piet Paulsen sehen sich fragend an.
Dann platzt es aus Antje raus: »RENATE!«
Der Himmel ist strahlend blau, kein Wölckchen ist zu sehen, aber die Luft ist immer noch kalt. Ein großer Schwarm Eiderenten zieht im Formationsflug laut schnatternd über das Deichvorland hinweg Richtung Inseln. Über der Dorfstraße liegt der Duft der ersten Kastanienblüten. In den Vorgärten verlieren die Tulpen in den gewagtesten Farbkombinationen gerade ihre Blütenblätter. Der Schweinehof Schlotfeldt wirkt wie ausgestorben, als Thies und Nicole den Wagen vor dem großen Tor parken. Kein Schweinebauer, keine Kinder, nur aus dem großen Stall ist gedämpft das Quieken der Schweine zu hören. Die beiden Polizisten haben sofort den beißenden Gestank der Gülle in der Nase. Das Jauchebecken ist mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Der Gokart des Jungen parkt noch immer daneben. Ein Stück weiter steht eine Schubkarre mit leeren Papiertüten einer Tierarznei, die eindeutig auf konventionelle Tierhaltung hindeutet. Der ganze Hof wirkt wie in Schockstarre gefallen. Nicole fröstelt und zieht den Reißverschluss ihrer Lederjacke bis zum Hals. Sie fasst sich demonstrativ an die Nase. »Puh, das ist ja noch mal schlimmer als gestern.«
»Ja, Schweinehof mieft immer ’n büschen«, stellt Thies nüchtern fest.
»Wir müssen mit allen reden«, instruiert die Kommissarin ihren Kollegen, als sie über den Hof gehen. »Aber vor allem mit dem alten Schlotfeldt.« Thies hat seine Kollegin natürlich inzwischen über die schwierigen Familienverhältnisse, über Schlotfeldts cholerische Ausfälle und seine Neigung zu Handgreiflichkeiten in Kenntnis gesetzt. »Aber schon seltsam, dass er gestern spontan seine Frau erkannt haben will«, flüstert Nicole.
Thies klopft an die Tür. »Sören … Imke … hallo?! Jemand da?« Thies wird lauter. »Hier spricht die Polizei!« Nicole muss das Grinsen unterdrücken. Er öffnet die Tür, auf der draußen der Schlüssel steckt. »Sören! Herbert! Ich bin dat, Thies!« Die beiden Polizisten machen einen Schritt in die ehemalige Tenne, wo die jungen Schlotfeldts wohnen. Nicole blickt staunend nach oben, als sie die ausgestopften Greifvögel über sich entdeckt. »Vorsicht, Gefahr von oben«, flüstert sie Thies lachend zu.
»Die Jagd, dat is so ’n Hobby von den Schlotfeldts.« Thies rollt die Augen.
Im selben Moment steht der alte Schlotfeldt hinter ihnen in der Tür, in der Hand den obligatorischen Holzknüppel. Er kommt nicht aus dem Haus, sondern auch von draußen, irgendwo vom Hof. »Wat macht ihr denn hier?!«, bellt er die beiden an. Nicole bekommt richtiggehend einen kleinen Schreck, und auch Thies zuckt kurz zusammen.
»Ja, Herbert, wir haben da noch ’n paar Fragen.«
Schlotfeldt starrt die beiden ungläubig aus seinen wasserblauen Augen unter der Schirmmütze hervor an.
»An Sie und auch an Ihre Kinder. Ihr Sohn und seine Familie sind wohl gar nicht zu Hause, oder?« Nicole sieht ihn prüfend an.
»Nee!«, blafft Schlotfeldt knapp.
Nicole richtet ihren Blick gleich wieder auf die Vogelwelt über ihr. »Sie haben hier ja ordentlich Beute gemacht.«
»Jo.« Mehr fällt dem Schweinebauern zu dem Thema nicht ein. Nicoles Bemühungen, die Situation etwas zu entkrampfen, fruchten nicht recht.
»Wo sind Sören und Imke denn?«, will Thies wissen. »Und wann kommen sie wieder?«
»Woher soll ich dat denn wissen. Die sind zu Imkes Eltern nach Neumünster gefahren. War hier wohl alles ’n büten veel.«
»Vor allem wollten wir auch Sie sprechen. Wie Thies schon sagt, es gibt da ein paar offene Fragen.«
Schlotfeldt bleibt in der Tür stehen und sieht die Kommissarin nur an.
»Müssen wir das hier besprechen?« Nicole zieht geräuschvoll Luft durch die Nase.
»Ja, dann gehen wir am besten zu mir rein.« Thies und Nicole trotten hinter Schlotfeldt her zum Nebeneingang an der Seite des Hauses gegenüber vom Schweinestall. In dem kleinen Flur ist es eiskalt. Die Wohnküche dagegen, in der Schlotfeldt sich vorwiegend aufhält, ist massiv überheizt. Der Ölofen steht direkt neben dem Herd in der Küche. Im ganzen Raum steht der Ölgeruch, fast wie an einer Tankstelle. Obwohl Sonnenlicht durch das Fenster fällt, brennen an der Decke Neonröhren. An den Wänden hängen die unvermeidlichen Geweihe, und neben einer verblichenen Luftaufnahme des Hofes blinzelt dem Besucher ein ausgestopfter Marder entgegen. Auf dem Tisch stehen ein Teller mit einem angebissenen Wurstbrot und ein seit Längerem nicht abgewaschener Kaffeebecher. Auf der Sitzbank liegen eine Wolldecke und ein großes Kissen mit einem Bettbezug. Es wirkt, als würde Schlotfeldt in dieser urgemütlichen Wohnküche auch schlafen, fast so, als hätten die beiden Polizisten ihn eben geweckt.
»Echt lauschig«, raunt Nicole Thies leise zu. Die beiden Polizisten bleiben etwas unschlüssig stehen. Schlotfeldt bietet ihnen keinen Platz an, aber es gibt eigentlich auch keine rechte Sitzgelegenheit.
»Herr Schlotfeldt …« Nicole Stappenbek sieht sich immer noch suchend um. Aber zum Sitzen ist wirklich kein Platz. »Als wir gestern die oder den Toten, so ganz genau wissen wir das ja noch gar nicht, aus Ihrem Jauchebecken geborgen haben, glaubten Sie spontan, Ihre Frau erkannt zu haben.«
»Ja … nee.« Schlotfeldt blickt jetzt starr auf das halb gegessene Wurstbrot. Den beiden Polizisten bricht in der Hitze der Schweiß aus. Thies reißt sich die Polizeimütze vom Kopf. Nicole zieht den Reißverschluss ihrer Lederjacke auf und muss niesen. »Ja oder nee?«
»Nee, muss ich mich wohl getäuscht haben, dat kann eigentlich nich sein.«
»Sie sagten gestern, dass Ihnen die Schuhe bekannt vorkamen, vielmehr das, was von ihnen übrig war.«
»Viel war dat ja nich«, muss auch Schlotfeldt einräumen.
»Herbert, gestern hast du gesagt, dat sind Hedis Schuhe«, schaltet sich Thies jetzt ein. »Sie hatte ja so spezielle Schuhe.«
»Ja, Gesundheitsschuhe … sie hatte dat ja mit ’m Fuß.« Schlotfeldt starrt Thies an. »Aber da muss ich mich wohl getäuscht haben.«
»Wie kommen Sie darauf«, fragt die Kommissarin.
»Na ja, weil sie ja weg is … schon seit Jahren.«
»Das ist ja vielleicht gar kein Widerspruch«, bemerkt Nicole vorsichtig.
Schlotfeldt geht gar nicht darauf ein. »Sie wollte damals zu den Landfrauen, aber da is sie nie angekommen. Ich weiß dat noch genau, dat war 2007, der Dienstag vor Ostern. Da war hier Hochbetrieb, alle am Güllefahren, und damit wollten wir zu Ostern durch sein.« Beim Gülle-Thema wird der Schweinebauer etwas gesprächiger.
»Landfrauen?!« Nicole wird hellhörig.
»Ja, dat is immer Dienstag«, erklärt Thies. »War schon immer so.«
»Hier, wie heißt sie?« Schlotfeldt fällt der Name nicht gleich ein. »… Sandra, die ist auch bei den Landfrauen, die behauptet ja, Hedi hat ’ne Kängurufarm da unten in Australien, oder so.«
»Wie kommt sie darauf?«
»Dat müssen Sie Sandra fragen. Ich halt dat ja für ’ne Schnapsidee.«
»Sandra?« Nicole wird langsam ungeduldig, vor allem wird ihr immer wärmer.
»Sandra ist ’ne Freundin von Heike«, bemerkt Thies.
»Ich hab von meiner Frau ja noch ’ne Postkarte aus Hamburg bekommen.«
»Ihre Frau hat Ihnen geschrieben? Einen Abschiedsbrief?«
»Nee, wie gesagt, ’ne Karte. Mit so einem alten Stich drauf. Wartet mal, die Karte müsste ich noch irgendwo haben.« Schlotfeldt geht an den alten Küchenschrank und kramt in der Schublade. Nach längerem Suchen zieht er aus einem Durcheinander von Scheren, Heftpflaster, Tankquittungen und allerlei vergilbten Papieren eine Postkarte mit einer historischen Hamburgensie heraus: »Der Jungfernstieg mit dem alten Alsterpavillon von 1825«.
Die Postkarte ist an Herbert Schlotfeldt adressiert. Der Text ist knapp. »Werde gleich das Schiff in meine ‹neue Welt› besteigen. Leb wohl. Hedi.«
»Kurze und knappe Abschiedsworte«, kommentiert Nicole. »Ist das die Handschrift Ihrer Frau?«
»Ja, wieso?«
»Das spricht natürlich dagegen, dass es sich bei dem Leichnam in Ihrem Jauchebecken um Ihre Frau handelt. Dürfen wir die Karte mal mitnehmen?«
»Ja, ich brauch die nich mehr«, poltert Schlotfeldt, der inzwischen einen hochroten Kopf unter seiner Mütze bekommen hat.
Die Kommissarin lässt die Karte in eine Plastiktüte gleiten. »Und dann müssten wir noch wissen, bei welchem Zahnarzt Ihre Frau in Behandlung war.«
»Wieso dat denn?« Die beiden sehen, wie es in dem Schweinebauern arbeitet. »Ach so, an den Zähnen könnt ihr sehen, ob … also, wer dat bei mir in der Anlage is.«
»Genau«, bestätigt Thies.
»Dat war ja noch die alte Zahnärztin in Bredstedt … die sie ermordet haben … Christiansen …«
»Butz-Christensen«, korrigiert Thies prompt und sieht seine Kollegin an. »Nicole! Unser letzter Mordfall!«
»Aber ihr Nachfolger müsste die Unterlagen ja noch haben. Was sagen Sie, seit wann ist Ihre Frau nicht mehr da?«
»Ja, wie gesagt: 2007.«
Ob Tag oder Nacht ist, kann Renate nur an dem schmalen Riss in der alten Zeitung erkennen, mit dem das Kellerfenster abgeklebt ist. Am Tag fällt Licht durch den schmalen Schlitz, und wenn die Sonne scheint, dann zerschneidet eine dünne Lichtscheibe den ganzen Raum. In dem Licht schwirren dann unzählige Staubteilchen. Wenn sie zum Fenster sieht, wird sie geblendet. Die Ränder des Schlitzes fransen im Gegenlicht aus. Für einen Moment kann sie dann nichts mehr sehen, bis sich ihre Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt haben. Von draußen hat sie aus der Ferne ein paar Mal das Geräusch vorbeifahrender Autos gehört. Da draußen ist die Welt. Aber wo ist sie hier? In Fredenbüll? Schlütthörn oder Neutönninger Siel? Oder sogar weiter weg? Wo ist dieser feuchte Keller, in dem sie hier gelandet ist?
Jetzt ist es dunkel um sie herum. Durch die eingerissene alte Zeitung fällt kein einziger Lichtstrahl mehr. Renate hat geschlafen, aber sie weiß nicht wie lange. Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren. Sie betastet ihren gefesselten Fuß. Die Operationsnarbe an ihrem Bein ist durch die rostige Fußfessel aufgescheuert und sie hat das Gefühl, dass die Wunde sich entzündet hat. Genau das, was nicht passieren darf. In ihrem Fuß pocht es, und in ihrem Kopf ist dieses Hämmern. Sie kann keinen klaren Gedanken fassen. Der Schimmelgeruch nimmt ihr den Atem. Im Nebenraum springt wieder brummend eine Gefriertruhe an. Und dann fällt es ihr siedend heiß ein: Verdammt noch mal, sie hat Pensionsgäste! Ihre Gäste haben kein Frühstück bekommen und die Zimmer sind nicht gemacht! Der Gedanke macht sie vollkommen verrückt. In zwei Tagen sollen neue Gäste kommen. Die haben noch nicht mal einen Schlüssel. Und sie sitzt hier angekettet – verschleppt von einem Irren!
Sie ist sich mittlerweile ziemlich sicher, dass es ein Mann ist. Sie hatte die Stimme immerhin schon gehört, eine blecherne Stimme aus einem Lautsprecher, irgendwo aus Richtung der elektrischen Eisenbahn. Ihr war so, als käme die Stimme aus dem lang gestreckten Modellbahnhof. Ein mattes Licht flackerte dabei im Innern des Bahnhofs. Sie konnte die kleinen Fenster des Bahnhofsmodells leuchten sehen. Es waren nur wenige Worte, die er gesagt hatte.
»Du wirst einige Zeit hier bei mir bleiben! Wie wir miteinander auskommen, hängt ganz von dir ab.« Dann hatte der Unbekannte ihr eine Bettpfanne durch eine Luke in der Wand geschoben, darin eine Plastikflasche mit Wasser. Die Sachen kamen wie aus dem Nichts. Diese seltsame Klappe war ihr vorher gar nicht aufgefallen, obwohl sie nun wirklich lange genug Zeit hatte, sich in dem Raum umzusehen. Für eine Katzenklappe war die Luke zu groß, und mit landwirtschaftlicher Tierhaltung hat das auch nichts zu tun. Das würde sie kennen. Sie wohnt schließlich schon ihr ganzes Leben auf dem Lande. Diese eiserne Fußfessel wird normalerweise beim Schafscheren benutzt, das weiß sie.
Bisher war sie eher wütend auf diesen Idioten, der sie hier gefangen hielt. Aber jetzt wird sie langsam panisch. Was hat dieser Irre mit ihr vor? Renate spürt, wie die Angst in ihr hochkriecht, und die Angst ist schlimmer als die Schmerzen in dem verletzten Bein.