Das Schweigen der Kegelrobben - Krischan Koch - E-Book

Das Schweigen der Kegelrobben E-Book

Krischan Koch

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Beschreibung

Eine Insel sucht einen Mörder Kommissarin Stappenbek hat sich überreden lassen, das Treffen mit ihrer früheren Jugendgruppe auf Amrum zu organisieren, wo man zuletzt im Herbst 1998 gemeinsam war. So richtig sympathisch fand Nicole die Leute schon damals nicht, trotzdem ist sie neugierig, was aus ihnen geworden ist. Doch mit der Wiedersehensfreude ist es schlagartig vorbei, als der »schöne Alex« äußerst unschön und tot über der Toilette des früheren Jugendheimes hängt. Nicole beordert sofort ihren Kollegen Thies Detlefsen auf die Insel, der zur Unterstützung halb Fredenbüll mitbringt. Als noch ein weiterer Teilnehmer verschwindet, geht die Angst um auf der Insel. Alle Spuren weisen in die Vergangenheit, in den Herbst vor 27 Jahren. Nicole beschleicht eine böse Ahnung ...

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Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Kommissarin Stappenbek hat sich überreden lassen, das Treffen mit ihrer früheren Jugendgruppe auf Amrum zu organisieren, wo man zuletzt im Herbst 1998 gemeinsam war. So richtig sympathisch fand Nicole die Leute schon damals nicht, trotzdem ist sie neugierig, was aus ihnen geworden ist. Doch mit der Wiedersehensfreude ist es schlagartig vorbei, als der »schöne Alex« äußerst unschön und tot kopfüber in der Toilette des früheren Jugendheimes hängt. Nicole beordert sofort ihren Kollegen Thies Detlefsen auf die Insel, der zur Unterstützung halb Fredenbüll mitbringt. Als noch ein weiterer Teilnehmer verschwindet, geht die Angst um auf der Insel. Alle Spuren weisen in die Vergangenheit, in den Herbst vor fast 27 Jahren. Nicole beschleicht auf einmal eine böse Ahnung …

 

 

Von Autor Vorname Nachname sind bei dtv außerdem erschienen:

Flucht übers Watt

Venedig sehen und stehlen

Ruhe oder es knallt!

Die Fredenbüll-Reihe:

Rote Grütze mit Schuss

Mordseekrabben

Rollmopskommando

Dreimal Tote Tante

Backfischalarm

Pannfisch für den Paten

Mörder mögen keine Matjes

Friedhof der Krustentiere

Der Weiße Heilbutt

Mord im Nord-Ostsee-Express

Schnappt Scholle

Krieg der Seesterne

Krischan Koch

Das Schweigen der Kegelrobben

Band 2

Ein Küsten-Krimi

Für Uta und Petu, ohne die wir gar nicht am Kniepsand gelandet wären

»Was er mit denen macht, erfordert Abgeschiedenheit.«

 

Jodie Foster in ›Das Schweigen der Lämmer‹

1

Schiuuschhhh … schiuusschhh … schiuusschhh.

Er hört nur das Rauschen, das leiser wird und dann immer wieder anschwillt. Sehen kann er nichts. Oder ist es einfach nur zu dunkel? Es ist stockdunkel. Er kann absolut nichts erkennen. Er hat nicht die blasseste Ahnung, wo er sich befindet. Ist er auf einmal blind geworden? Was ist geschehen? Er muss ohnmächtig gewesen sein. Er weiß überhaupt nicht, was mit ihm passiert ist.

Als er sich mit der Zunge über die Lippen fährt, schmeckt es salzig. Die Luft ist feucht. Es ist kalt, feucht, salzig und dunkel.

Schiiuuuschhhh … schiiuuuschhh. Das klingt wie Wellen, die auf den Strand auflaufen. Jetzt fällt es ihm auf einmal ein: Er ist vorhin erst auf der Insel angekommen. Das Rauschen der Nordsee, die an den Strand spülenden Wellen, das hört sich irgendwie anders an, gar nicht mal lauter, sondern … NÄHER. Er reißt die Augen auf, und jetzt sieht er es auch. Das Wasser, den Sand, die Muscheln und die waschbrettartigen Rippelmarken. Das ist alles so verdammt nah. Zunächst verschwommen, dann bekommt das Bild Schärfe. Warum ist er nur so dicht dran? Ein kleiner Vogel rennt jetzt im auflaufenden Wasser nach Nahrung pickend direkt vor seinen Augen vorbei, wie in Großaufnahme eines Films. Das ist ein Sandstrandläufer, meint er sich zu erinnern. Wie war das noch? Sein Flugruf ist ein gedämpftes, nasales »Üätt-üätt«, hatten sie damals bei ihren vogelkundlichen Führungen gelernt. Aber dieser Vogel gibt keinen Ton von sich, sondern pest immer im Kreis um ihn herum. Fast zutraulich. So einen großen Strandläufer hat er noch nie gesehen. Sehr seltsam.

Irgendetwas stimmt mit ihm nicht. Im Inneren spürt er seinen Puls. Es kommt ihm vor, als haben seine Adern zu wenig Platz für das Blut, als werde das Blut in sie hineingedrückt. In seinen Blutgefäßen brennt es. Gleichzeitig sind seine Arme und Beine kalt und schwer, er kann sie zwar fühlen, aber nicht bewegen. Sein ganzer Körper fühlt sich kalt an, aber der Puls hämmert bis zum Kopf, bis unter die Schädeldecke. Und dann weiß er auf einmal, was mit ihm los ist: Er ist bis zum Hals im Sand eingegraben. Panisch versucht er, die Arme zu bewegen, und stemmt sich mit aller Kraft gegen den betonartigen Sand. Gleichzeitig sieht er das Wasser näher kommen. Eben peste der Strandläufer noch durch den Sand, jetzt werden dessen dünne Beine von einer auflaufenden Welle umspült. Es flutet offenbar, das Wasser steigt, und er sollte hier so schnell wie möglich herauskommen. Aber er steckt fest. Keinen Millimeter kann er sich bewegen. Die Panik pocht durch seinen ganzen Körper. Das darf doch alles nicht wahr sein. Wie ist er hierher geraten?

Er kann sich gerade noch daran erinnern, dass er nach seiner Ankunft auf der Insel sofort an den Strand zum Sonnenuntergang wollte. Aber er war zu spät, nur ein letztes rötliches Glimmen lag über der See. Er hatte eine Weile am Rand der Dünen gesessen, aufs Meer gesehen und an früher gedacht. Er war sich gar nicht mehr so sicher, ob er überhaupt auf die Insel hätte kommen sollen. Der rötliche Schein des letzten Sonnenlichtes verschwand allmählich, und dann war alles schlagartig dunkel. Tiefschwarz. Von einem Moment zum anderen. Was war passiert?

Ihm fallen die Warnschilder am Ufer wieder ein: »Achtung Schlicklöcher«. Aber so weit ist er doch gar nicht hinausgelaufen. Im Augenwinkel nimmt er den schwarz-weiß gefleckten Kopf einer Kegelrobbe wahr, die ihn anstarrt. Über dem Wasser kann er jetzt ein paar Schaumkronen erkennen. Und weiter draußen meint er, noch etwas anderes zu sehen. Ist das etwa das Wrack der Pallas? Die Katastrophe ereignete sich damals, im Herbst 1998, als sie mit ihrer Jugendgruppe gerade auf Amrum waren. Der Holzfrachter havarierte südwestlich der Insel, über zweihundert Tonnen Öl flossen in die Nordsee. Es heißt, bei klarer Sicht und Niedrigwasser sei das Wrack immer noch wie ein Mahnmal vor dem Kniepsand zu sehen. Aber das kann doch jetzt in der Dunkelheit nicht sein, er muss halluzinieren. Ist die Kegelrobbe überhaupt echt?

Verzweifelt versucht er wieder, seine Arme zu bewegen, um sie irgendwie aus dem Sand und dem Schlick herauszubekommen. Vergeblich. Gleich unter der Oberfläche scheint der Sand hart wie Stein. Es fühlt sich an, als wäre er hier einbetoniert. Er wird immer panischer. Eine erste Welle spült ihm um den Hals. Die nächsten Wellen laufen wieder etwas weiter entfernt auf den Strand. Er hofft kurz, dass es doch nicht flutet. Aber im nächsten Moment wird ihm das Wasser ins Gesicht gespült. Sofort hat er Salzwasser im Mund und spuckt es wieder aus. Das Wasser steigt und mit ihm seine Angst. Die Wellen umspülen bereits sein Kinn. Er möchte hochspringen, sich nach oben recken, wegrennen. Nichts davon gelingt ihm. Immer wenn die Wellen kurz ablaufen, atmet er schnell ein. Doch das Wasser steigt unerbittlich. Die Wellen kommen in höherer Frequenz, es klingt, als seien sie kurzatmig. Guschhh-hä-guschhh-hä-guschhh. Der Strandläufer ist weitergezogen. Die Kegelrobbe wirft ihm einen letzten Blick zu und lässt sich prustend ins auflaufende Wasser gleiten. Mit der Kraft der Verzweiflung zieht er wieder an seinem rechten Arm. Jetzt hat er das Gefühl, er könne ihn bewegen. Oder bildet er sich das ein? Nein, er fantasiert doch nicht.

Als das Wasser ihm unter der Nase steht, verschwimmt alles vor seinen Augen. Er fühlt sich wie betäubt. Gleich wird sein Gesicht überspült. Und dann spürt er auf einmal seine Finger, die sich tief unten im Sand bewegen.

2

Zuerst hatte Nicole Stappenbek eigentlich gar keine Lust auf dieses Wiedersehen mit der Allergiker-Gruppe aus frühester Jugendzeit. Sie hatte mit den Leuten all die Jahre nichts mehr zu tun gehabt. Aber die Zeit damals ist ihr noch in lebhafter Erinnerung. Das waren wilde Herbstferien gewesen. Sie waren vierzehn oder fünfzehn und wussten nicht wohin mit ihrem Übermut. Die Herbststürme brachten sie auf die verrücktesten Ideen, verleiteten sie zu waghalsigen Mutproben und albernen Spielchen. Und dann geriet der Holzfrachter Pallas auf der Nordsee in Brand und strandete direkt vor dem Amrumer Kniepsand. Dadurch war die Stimmung gekippt und hatte etwas Dramatisches, Unheimliches bekommen.

Das Amrum-Treffen der Jugendgruppe war Melanies Idee. Sonderlich sympathisch hatte Nicole die einzelnen Leute noch nie gefunden, wenn sie es recht überlegt. Aber Melanie hatte sie schließlich überredet. Nicole hat es ja nicht weit bis Amrum, sie leitet seit etlichen Jahren die Husumer Mordkommission und lebt seitdem an der Nordseeküste. So hatte sie Melanie schließlich zugesagt und die Wellness-Unterkunft bei Happy Puttkammer vermittelt. Es interessiert sie ja doch, was aus den anderen geworden ist. Ist der schöne Alex immer noch so schön? Sämtliche Mädchen waren unsterblich in ihn verliebt und flüsterten nachts im Traum auf den Etagenbetten der Jugendherberge seinen Namen. Ist Torben Schmattke, der sich die idiotischsten Mutproben und derbsten Späße ausgedacht hatte, immer noch so ein Rüpel? Was ist aus der frühreifen Jackie geworden, die der blonden, nicht ganz so frühreifen Nicole die Jungs wegschnappte? Und interessiert sich Melanie immer noch mehr für Kegelrobben als für Jungs?

Vielleicht sind einige von ihnen schon angereist. Aber bevor sie in den anderen Apartments nachsieht, will Nicole selbst erst mal einchecken. Happy Puttkammer begrüßt sie gleich persönlich. Sie kann sich noch gut an die junge Kommissarin erinnern. Ihre Aufenthalte auf der Insel waren schließlich mit einigen mörderischen Turbulenzen verbunden gewesen. Das ehemalige, deutlich in die Jahre gekommene Sylter Model betreibt ihre schicke Wellness-Oase, in der es tatsächlich ein bisschen aussieht wie auf Sylt, schon eine ganze Weile. Die Abende in der Strandzeltsauna und die vogelkundlichen Führungen ihres Partners Nils Gerckens, dem früheren Vogelwart, sind über die Jahre zur festen Institution geworden. Die geselligen Runden transpirierender Freikörperkultur sind auf Monate ausgebucht.

Bei Happy ist noch alles beim Alten. Nicole hat wieder ihr Apartment von damals bekommen. Die blau-weiß gestreiften Polstersessel und das gemalte Schild mit den über einen Nachthimmel springenden Schäfchen über der Aufschrift »Bitte nicht wecken« sind dieselben wie damals. Acht Jahre ist es her. Damals war ihr Jüngster, der kleine Fiete, noch gar nicht auf der Welt gewesen und der ältere Finn hatte gerade Laufen gelernt. Thies Töchter Telje und Tadje waren in jenem Herbst auf Klassenreise, als sie den toten Reeder auf der Fähre entdeckt hatten, und auf der Insel gab es dann zwei weitere Tote. Die Leiterin der Husumer Mordkommission und ihr Kollege, der Fredenbüller Polizeihauptmeister Thies Detlefsen, hatten gleich mehrere Mordfälle zu lösen. Ein paar Jahre später hatten sie noch mal beruflich auf Amrum zu tun gehabt.

Jetzt ist sie froh, endlich mal wieder privat auf der Insel zu sein, dieses Mal auch ohne Mann und Kinder, na ja, fast. Niggi und Finn haben noch Schule. Niggi will zum Ferienbeginn nachkommen, und Finn will er bei einem Freund und dessen Familie auf Föhr absetzen. Um den kleinen Fiete kümmern sich Antje und Piet Paulsen, die zurzeit ebenfalls auf Amrum sind. Piet soll auf Empfehlung seines Arztes mal wieder seine Bronchien durchlüften. Und Antje wurde von ihrer Stammbelegschaft eine kleine Kur verordnet. Die Imbisswirtin der »Hidden Kist« hat einen schweren Schicksalsschlag zu verarbeiten.

Auf Amrum ist alles noch so wie bei ihrem letzten Besuch, soweit sie das auf den ersten Blick sehen kann. In Nebel gibt es zwei, drei neue Reetdachhäuser und zwei weitere sind gerade in Bau. Und dann fallen ihr sofort mehrere Schautafeln mit dem Slogan »Fiber to the home« auf. Die standen doch vor zwei Jahren im Kreis Fredenbüll ebenfalls überall herum. Sie hat gleich den Sound des Bauarbeiters und früheren Zugbegleiters Dennis Wiese im Ohr. »Wir bringen dat Fieber direkt zu dir nach Haus.« Bei ihm klang es eher nach einem grippalen Infekt als nach Glasfaser. Und ein Dixi-Klo steht doch auch schon wieder an der Dorfstraße.

Nicole packt gerade ihren Trolley aus, als es klopft. Auf den ersten Blick erkennt sie die Frau nicht gleich, die vor der Tür ihres Apartments steht. Ihr schlabbert eine weite weiße Hose um die Beine. Der kurzärmelige und auch sonst kurze schwarze Zopfstrickpullover sitzt dafür umso knapper. Über der Taille guckt ein Shirt mit silbrigen Applikationen heraus. Ihre krisselig dauergewellten Haare in verschiedenen Braun- und Blondtönen hat sie mit einer Klemme hochgesteckt. Das rosarote Lächeln sieht aus wie aufgemalt.

»Nicole?!« Es klingt nicht wie eine Frage. Jackie hat Nicole sofort erkannt. Einen kurzen Moment zögern die beiden Frauen, aber dann nehmen sie sich lachend in die Arme. Ganz natürlich klingt das Lachen nicht.

»Ist doch gar nicht lange her, oder?« Jackie sieht sie an. »Nicole, gut siehst du aus.«

»Na, du aber auch.« Nicole gehen die Worte nicht ganz so leicht über die Lippen. Aber es stimmt. Jackie sind die Jahre zwar anzusehen, doch das steht ihr. Irgendwie ist sie immer noch ein ziemlicher Feger.

»Du bist also auch schon da«, stellt Jackie noch mal fest.

»Gut beobachtet.« Jetzt muss Nicole wirklich grinsen.

»Es sind schon fast alle eingetrudelt. Melanie und Magnus sind noch mal an den Strand. Torben ist auch angekommen. Nur Olli fehlt, soviel ich weiß, noch. Hat wahrscheinlich die letzte Fähre genommen.«

»Bin mal gespannt, was aus allen geworden ist.« Nicole ist mittlerweile richtig neugierig.

»Ich hab gehört, du bist bei der Polizei.« Jackie sieht sie fragend an. »Kommissarin?«

Nicole nickt.

»So richtig mit Mord und so?«

»So richtig mit Mord.«

»Dann müssen wir uns ja gut benehmen.«

Nicole lacht und muss niesen. Hat Happy Puttkammer etwa nicht richtig Staub gewischt? Nicole hat gleich das Gefühl, wieder mehr durch die Nase zu sprechen. Dabei war das in letzter Zeit deutlich besser geworden. Außerdem blüht doch jetzt gar nichts.

»Du bist offenbar immer noch auf Hausstaub allergisch, was?« Jackie sieht sie an, als sei allergischer Schnupfen ein erstrebenswerter Zustand. »Ja, wir wissen, warum wir an der Nordsee sind.«

In der Jugendgruppe damals waren sie eigentlich alle Allergiker gewesen.

»Sag mal«, wechselt Nicole das Thema, »kommt Alex eigentlich auch?«

»Das möchtest du wohl gern wissen«, grinst Jackie. Beide müssen lachen, und jetzt ist ihr Lachen echt. »Der sitzt mit einem Gin Fizz auf der Terrasse zum Watt und hört Oasis. Ich glaub, ich werde ihm gleich mal Gesellschaft leisten.« Und dann fällt ihr noch ein: »Was machen wir heute Nacht eigentlich? Party am Strand?« Jackie macht eine angedeutete Tanzbewegung.

»Ich weiß sonst auch, wo hier die guten Kneipen sind.« Nicole macht eine Pause. »Na ja, eigentlich gibt es nur eine.«

3

Blublublublugluglug. Durch die kleine Amrumer Ferienwohnung geht laut vernehmlich ein Gurgeln, Blubbern und Glucksen. Es klingt, als laufe nebenan die Badewanne über oder als finde dort eine feuchtfröhliche Poolparty statt. Dabei ist es nur der Sound von Piet Paulsens neuer Trink-App, die den Senior zum regelmäßigen Wassertrinken ermuntern soll. Der Tipp mit der App kam von seinem Hausarzt. Und Imbisswirtin Antje sorgt dafür, dass ihr Stammgast Piet die Trinkempfehlung auch befolgt. Sie stellt ihm gleich ein großes Glas Wasser hin, wodurch sich Paulsens Laune nicht unbedingt hebt. Eigentlich hätte er lieber ein frisch gezapftes Pils. Er nippt an dem Glas.

Auch der Jüngste von Kommissarin Nicole Stappenbek hat nicht die beste Laune. »Wo is Mama?!« Fiete ist quakig. »Mamaaaa!« Fiete heult nicht, er ist wütend. »Wo is Papa?«

»Mama hat ihr Klassentreffen oder so was Ähnliches«, will Antje ihm erklären.

»Min Jung, dafür sind Antje und Onkel Piet ganz für dich alleine da«, versucht Piet Paulsen Nicoles Sohn zu beruhigen.

»Wieso nich Fredenbüll?«

»Dat frag ich mich allerdings auch.« Piet Paulsen muss ihm recht geben.

Fiete ist kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Bisher war er ein ruhiges und pflegeleichtes Kind, aber seit Kurzem hat der dreijährige Fiete seinen eigenen Willen entdeckt und revoltiert gerne mal ab und zu. Für die Fredenbüller Imbisswirtin und ihren treusten Stammgast ist es eine echte Aufgabe. Dabei ist Antje schon mit der Erziehung von Kuddel gut beschäftigt, der mit seinen zehn Monaten ebenfalls seinen eigenen Willen entdeckt.

Antje und die ganze Belegschaft der »Hidden Kist« haben ein trauriges Jahr hinter sich. Die Geburt ihres Welpen hatte Imbisshündin Susi noch überlebt. Aber schon während der junge Kuddel durch den Imbiss tollte und die ganze Stammbelegschaft verzauberte, lag die späte Mutter in ihrem Körbchen danieder. Von Woche zu Woche war sie immer hinfälliger geworden. Einen letzten halben Schokoriegel, den Bounty ihr zum Trost spendieren wollte, hatte sie mit einem abweisenden müden Blick quittiert, dann war sie während eines Champions-League-Abends in der »Hidden Kist« friedlich eingeschlafen. Antje hatte sie in ihren letzten Minuten hinter dem Ohr gekrault. Susi hatte einen endlosen, langen Seufzer von sich gegeben, danach war sie ganz verstummt.

»Antje, ich weiß, dat is kein Trost, aber sie hat das gut gehabt bei uns in der ›Hidden Kist‹. Sie hat ein erfülltes Leben gehabt.« Postbote Klaas hatte gleich die passenden Worte gefunden. Viel geredet wurde aber bei der kleinen Trauerfeier im Imbiss sonst nicht.

»Sie war eine von uns. Ja, is doch so«, hatte Piet Paulsen resümiert, als Bounty ihn zweifelnd ansah. »Sie war doch immer dabei in unserer Runde.«

»Die Schwangerschaft im Alter war einfach zu viel für sie«, vermutete Althippie Bounty. »Ich war doch noch mit ihr zur ayurvedischen Geburtsvorbereitung, da wollte sie eigentlich auch schon nicht hin.«

»Ich glaub, sie hatte nachher einfach keine Lust mehr«, meinte Klaas. »Sie hat ja auch ein stolzes Alter erreicht. Antje, wie alt war Susi?«

»Diesen Juli wäre sie fünfzehn geworden.« Da musste Frauchen nicht lange überlegen.

»Fünfzehn Jahre?«, überlegte Klaas. »Wat sagt man? Auf Menschen umgerechnet mal sieben, oder?«

»Na ja, kommt wohl auf die Größe an.« Antje dachte nach. »Aber bei Susi könnte das hinhauen.«

»Dann wäre sie ja einhundertfünf geworden«, rechnete Bounty nach. »Stolzes Alter. Das erreichen nicht mal die indischen Yogis.«

Fast ein halbes Jahr ist das jetzt her, doch Antje ist immer noch nicht darüber hinweg. Dabei stehen ihr die Freunde aus dem Imbiss, Klaas, Piet Paulsen, Thies Detlefsen, Bounty und auch der Schimmelreiter Hauke Schröder zur Seite. Außerdem wird sie von Susis Nachkommen, dem Schnauzer-Schäfer-Mischling Kuddel, ordentlich auf Trab gehalten und abgelenkt.

Auf Amrum ist die Fredenbüller Imbisstruppe bei Thies’ altem Chef Knut Boyksen untergekommen. Nach seiner Pensionierung ist Boyksen auf seine Heimatinsel zurückgekehrt. Wenn dort ein Freund und Helfer gebraucht wird, ist er gerne zur Stelle. Und wenn Thies mal wieder wegen eines Mordfalls auf die Insel kommt, dann erwacht Boyksen noch mal zu neuem Leben. In den Gästezimmern von Knuts altem Reetdachhaus nahe der Mole von Steenodde ist genug Platz für seinen alten Freund Paulsen und Antje samt Fiete und Schnauzer-Schäfer-Mischling Kuddel.

Komplett vermieten darf er seine beiden Ferienwohnungen ohnehin nicht mehr. Die Räume im Dachboden und Souterrain sind als Schlafräume nicht mehr zugelassen, das soll angeblich jetzt kontrolliert werden. Paulsen und Antje stört das wenig. Die Imbisswirtin hat auch schon die Doppelkochplatte aus den Siebzigerjahren in Betrieb und Piet ein erstes Putenschaschlik Hawaii gezaubert, ausnahmsweise mal in der Pfanne. Die Fredenbüller haben sich häuslich eingerichtet. Die Wellness-Pension von Happy Puttkammer wäre etwas teuer geworden und ist ohnehin ausgebucht. Außerdem seien Nicole mal ein paar Tage Zeit alleine mit ihrer alten Jugendgruppe gegönnt. Zur Entlastung kommt am Wochenende ja auch Papa Niggemeier. Und zur Not ist Mama Nicole nicht so weit weg. Aber dieser Notfall droht gerade zum Dauerzustand zu werden.

»Fiete, für dich is dat höchste Zeit, dass du ins Bett kommst. Zähne putzen und dann aber fix.« Antje setzt ihre strengste Miene auf.

»Nein, nee, ich will nicht«, quakt Nicoles Jüngster, der bereits im Pyjama herumspringt. »Mama ins Bett bringen.«

»Jetzt ist aber wirklich Schluss!« Antje wird ungeduldig. »Guck mal, Kuddel schläft auch schon in seinem Körbchen.«

»Vorlesen!« Fiete haut mit den Fäusten auf die Polster des Schlafsofas. Dabei schießen ihm die Tränen in die Augen.

Antje zieht tadelnd die Augenbrauen hoch, aber Piet Paulsen nickt nur kurz, nimmt in aller Seelenruhe die beiden Spielzeug-Walkie-Talkies von der Kommode und reicht Fiete eins. Er nimmt Haltung an und hält sich das quietschgrüne Teil vor den Mund. »Fiete, bitte kommen. Over.«

Einen ganz kleinen Moment zögert Fiete noch, dann wischt er sich mit dem Ärmel seines Pyjamas ein paar Tränen aus dem Gesicht und nimmt ebenfalls das Walkie-Talkie zur Hand. »Hallo, Onkel Piet, was is? Over!«

»Ja, ich sitz hier auf Amrum fest. Fähren fahren heute nich mehr. Wir müssen hier wohl übernachten. Over!«

»Ja, ich auch. Bei Onkel Knut. Over!« Fiete ist sofort bei der Sache. Die Tränen von eben sind von einem Moment zum anderen vergessen.

»Wie gefällt dir dat denn auf der Insel? Over!« Paulsens Stimme hallt durch die kleine Gästewohnung. So ist er auch ohne die Lautsprecherfunktion des Walkie-Talkies gut zu verstehen. Die Batterien sind nämlich längst leer, und Antje hat sich geweigert, neue zu besorgen, um so das nervige Piepen der Teile loszuwerden.

»Ganz gut. Strand ganz groß. Over.«

»Dat is einer der schönsten Strände … in Deutschland sowieso … in Europa … und überhaupt. Over.«

»Mama schon oft Amrum … und Finn auch … ich erstes Mal. Over.«

Der dreijährige Fiete macht täglich Fortschritte beim Sprechen. Und wenn er das grüne Polizei-Walkie-Talkie in der Hand hält, dann sprudelt es nur so aus ihm heraus.

»So, ihr beiden, jetzt is mal Abpfiff hier.« Antje wird allmählich ungnädig.

»Ach, Mann, gemein! Over!« Fietes Ton wird schon wieder quakiger.

Durch den lebhaften Funkverkehr ist jetzt auch Kuddel aufgewacht. Der Welpe schnappt sich sein Gummihuhn und springt mit dem quiekenden Hundespielzeug im Maul zwischen den dreien hin und her.

»Nee, Kuddel, du jetzt nicht auch noch. Hier!« Antje zeigt auf sein Körbchen.

»Kuddel, Platz! Over!«, schaltet sich Fiete gleich ein.

»Du hast recht, Fiete, für Kuddel is schon längst Feierabend, over«, funkt Piet zur Bestätigung.

Zwischen dem regen Funkverkehr und Kuddels freudigem Bellen ploppt auf einmal wieder das Gurgeln und Glucksen von Piets Trink-App auf.

Fiete nimmt es sofort auf. »Onkel Piet, schneeell! Trinken! Over!«

»Ja, ich weiß, wollen mal sehen, ob es hier vielleicht noch wat anderes als Wasser gibt. Over.«

»Ich werd allmählich verrückt.« Antje verliert endgültig die Geduld. »Dat is ja schlimmer als zur Ferienzeit in der ›Hidden Kist‹! Kuddel, sofort wieder hier rein!« Sie zeigt auf sein Körbchen, und der kleine Hund guckt schuldbewusst. »Und für euch beide ist jetzt wirklich auch mal Feierabend!«

Fiete tut so, als hätte er es gar nicht gehört. Paulsen dagegen lenkt ein.

»Ja, denn wollen wir man alle ins Bett, Anweisung von oben. Over!«

»Och, Onkel Piet … Over!«

»Komm, Fiete, hast ja gehört. Morgen is auch noch ’n Tag, dann funken wir weiter. Du gehst schon mal ins Bett, und ich seh mal, ob ich noch wat Flüssiges im Kühlschrank finde. Over.«

»So.« Antjes Stimme klingt resolut. »Jetzt is hier aber endgültig OVER, ENDE UND AUS!«

4

Heute Abend will die Pallas-Jugendgruppe von damals im »Lustigen Seehund« Wiedersehen feiern. Nicole hat die Kneipe empfohlen. Sie war selbst lange nicht dort, sie war ohnehin eine ganze Zeit nicht auf Amrum, über drei Jahre nicht, Fiete war noch gar nicht auf der Welt. Bounty hatte erzählt, dass Raik Rettmer die Kneipe immer noch betreibt. Hier hatte er zusammen mit Niggemeier mehrere Gitarrensessions veranstaltet. Bounty ist ja regelmäßig auf Amrum. Seine Freundin Giselle betreibt auf der Insel ein Restaurant. Und dort geht die Gruppe erst mal Seezungen essen, bevor sie in die Piraten-Spelunke weiterzieht. Nicole hat ihnen vorsichtshalber den großen Tisch reservieren lassen. Melanie hatte die Idee zu dem Treffen und die Kontakte, aber Nicole fungiert jetzt als Reiseleiterin.

»Das Kabeljau-Ceviche und die Seezungen mit dem frittierten Salbei waren super«, findet Jackie nach dem Essen und streicht sich mit den lackierten Fingernägeln durch die Dauerwelle. »Echt! Noch nie eine so gute Seezunge gegessen.«

»Fast so gut wie auf Sylt, isso!«, tönt Torben Schmattke, der immer noch das große Wort führt, und bestellt Köm für die ganze Runde.

»Ich verstehe nicht, wie ihr Tiere essen könnt.« Für Melanie hat die Küche die vegane Variante von Giselles Meeresfrüchte-Salat gezaubert. Mit ein paar Algen und ein bisschen Queller.

Torben macht die üblichen Vegetarier-Witze und lacht selbst als Einziger darüber. Die anderen rollen die Augen, nur Jackie ringt sich ein Grinsen ab.

Giselle und Nicole lästern nebenbei ein bisschen über ihre Männer, die am Wochenende kommen wollen. Im »Lustigen Seehund« ist mal wieder eine Session geplant. Die unplugged Gitarrenabende mit maritimen Songs aus der gesamten Rockgeschichte sind mittlerweile legendär. Von dem Beatles-Klassiker I Am the Walrus bis zu Nightswimming von R. E. M.

»Die Playlist der beiden können wir nicht mehr ändern«, meint Nicole und vergisst dabei, dass Giselle denselben Musikgeschmack hat.

Heute Abend kommt die Musik aus der historischen Jukebox, die seit Jahrzehnten hier im »Seehund« steht. Auch die gelbliche Leuchte mit der Rumreklame hängt unverändert über dem Tresen, und auf dem Regal mit dem nordfriesischen Wappen und der Aufschrift »Lewer duad as slaaw« sitzt noch der Papagei Käpt’n Flint. Rettmer behauptet, der Vogel sei vor Urzeiten noch um Kap Horn gesegelt. In Wahrheit aber hatte er dessen Tante in ein Bredstedter Seniorenheim begleitet, bevor er endgültig auf dem Rum-Bord im »Lustigen Seehund« Quartier bezogen hat. Angeblich soll er sämtliche Strophen von »Wir lagen vor Madagaskar« krächzen können. Mit viel gutem Willen und nach ein paar Grogs lassen sich die Worte »Pest an Bord« heraushören. Vor ein paar Jahren wollte Käpt’n Flint noch mal auf große Fahrt gehen, Richtung Madagaskar, hatte angesichts eines Sturmtiefs polaren Ursprungs dann aber über Hallig Hooge wieder kehrtgemacht. Das allgemeine Rauchverbot in Kneipen ist im »Lustigen Seehund« immer noch außer Kraft. Der Cocktailklassiker »Salty Dog« und der Rumdrink »Skorbut« stehen nach wie vor auf der Karte.

In der alten Spelunke hat sich nichts verändert, stellt Nicole fest. Ganz im Gegensatz zu ihrem Leben. Vor vier Jahren, als Niggemeier und Bounty ohne ihre Band »Stormy Weather« hier dieses legendäre Konzert im brechend vollen »Seehund« spielten, hatten Niggi und sie zwar bereits ein Kind zusammen, aber sie beide waren alles andere als ein Paar. Inzwischen haben sie zwei Kinder und ein Familienleben im Reetdachhaus am Deich, wie Nicole sich das immer vorgestellt hat. Auch Bounty und Giselle lernten sich damals nach dem Konzert kennen. Seitdem wundern sich alle, dass der Althippie und die schöne, deutlich jüngere Restaurantchefin immer noch ein Paar sind.

»Toller Schuppen!«, meint Torben. »Gab es den damals eigentlich auch schon?« In seinem verlangsamten Norddeutsch klingt es eher verächtlich als anerkennend.

»Echt heiß«, findet Jackie und streicht sich die Haare zurück über den Kragen ihrer mit Glitzerapplikationen bestickten Jeansjacke.

»Ist doch originell!« Melanie muss angesichts der staubigen Fischernetze, die überall unter der Decke hängen, gleich niesen. Auch sie hat offenbar noch mit Allergien zu tun. Dabei fällt Nicole ihre Nase auf. Melanie hatte immer schon diese große, etwas platte Nase. Platt ist sie immer noch, aber ein bisschen kleiner. Irgendwie anders. Aber vielleicht liegt das auch am düsteren Kneipenlicht.

»Interessante Location.« Magnus zieht beim Einatmen die Luft geräuschvoll durch die Zähne ein. Er setzt dabei einen Blick auf, als sei dies eine bewegende neue Erkenntnis. »Vor allem interessant, dass es dich hier in dieses Ambiente zieht, Nicole.« Er sagt das bedeutungsvoll langsam und sieht sie vielsagend an. Den großen Durchblick meinte Magnus früher schon gehabt zu haben. Aber was soll daran interessant sein, fragt sich Nicole. Was meint er damit? Trotzdem verunsichert er sie irgendwie, so wie er das früher schon mit allen gemacht hat. Magnus ist auch heute noch der Kleinste in der Gruppe. Er hat immer noch längere gelockte Haare, einen penibel auf Drei-Tage-Länge gestutzten Bart und rote Trekkingschuhe, als wolle er jeden Moment zu einer Wanderung über die Alpen aufbrechen. Magnus hat Psychologe studiert und besitzt jetzt eine Praxis als Therapeut.

Vorhin, beim Essen, brauchte Nicole einen Moment, die Gesichter der damaligen Jugendlichen und der heutigen Teilnehmer des Wiedersehenstreffens zusammenzubekommen. Aber eigentlich haben sie sich kaum verändert.

Magnus hat immer noch diesen Tick mit dem laut zischenden Einatmen durch die Zähne. Irgendwie meint er wohl, dass dieses bedächtige Zischen ihm eine Aura der Überlegenheit und Allwissenheit verleiht. Aber in das Zischen mischt sich dann manchmal auch das Rasseln der Bronchien, das einen Asthmaanfall ankündigt.

Jackie hat schon früher alle Jungen angeflirtet, und das scheint sie bei den Männern heute auch noch zu machen. Mit dem Kneipenwirt Raik Rettmer schäkert sie bei der Bestellung am Tresen auch gleich. Melanie dagegen scheint das übergewichtige Mauerblümchen geblieben zu sein, das die Liebe in der maritimen Tierwelt sucht.

Auch Torben Schmattke ist nach wie vor der laute Angeber. Er trägt Edeljeans im Destroyed-Look und ist als Einziger im Auto auf die Insel angereist, einem SUV, der vor dem Wellness-Resort gleich zwei Parkplätze einnimmt.

»Macht ja echt was her, die Kiste.« Magnus’ ironischer Unterton ist nicht zu überhören. »Nur eines ist ein bisschen peinlich.«

Torben sieht ihn fragend und fast erschrocken an.

»Schicke Ledersitze, alles vom Feinsten … und dann ein SE-Kennzeichen.« Erst schmunzelt Magnus, schließlich zieht auch Torben den Mund schief, wie er das ständig macht.

Vor etlichen Jahren hat Torben den väterlichen Klempnerbetrieb in Bad Segeberg übernommen, das war in seiner Jugend schon klar gewesen. »Gas, Wasser, Scheiße«, hatte er damals durch die Waschräume gegrölt. Seine Komplimente Frauen gegenüber sind heute nicht weniger plump und seine Sprüche genauso dämlich. Torben ist wirklich noch ganz der Alte, mit dem Unterschied, dass er früher ein paar Haare mehr auf dem Kopf und nicht so penetrant nach Rasierwasser gestunken hatte.

Beim ersten Bier im »Lustigen Seehund« fragt Nicole sich erneut, warum sie zu diesem Treffen überhaupt angereist ist. Aber da ist ja noch der schöne Alex, in den die Mädchen damals alle hoffnungslos verknallt waren. Und sie muss zugeben: Alex hat sich wirklich erstaunlich gut gehalten. Seine Haare haben ein paar graue Strähnen, aber damit sieht er fast noch besser aus. Er sitzt etwas abseits von den anderen am Tresen. Seine grünlich getönte Ray-Ban-Sonnenbrille hat er sich ins Haar gesteckt. Alex ohne Sonnenbrille war schon damals undenkbar. Ganz schön hell hier in der Spelunke, denkt Nicole und muss innerlich schmunzeln. Den Kragen seiner Sportjacke hat er hochgeschlagen. Er ist braun gebrannt, als würde er seine Tage auf dem Segelboot verbringen.

»Na, Frau Hauptkommissarin.« Er stößt mit ihr an, als sich Nicole zu ihm an den Tresen stellt. »Hat sich natürlich schon rumgesprochen.«

»Jackie?«, vermutet sie.

Er nickt nur und richtet die Ray-Ban-Brille.

»Und du? Ich hab gehört, du hast ’ne Klinik … ganz edel. Plöner See oder so?«

»Na ja, ich bin daran beteiligt.« Er nickt nur lässig.

»Tatsächlich am Plöner See? Eine dieser edlen Privatkliniken?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ja, ganz schöner Standort.«

Nicole hat gleich vor Augen, wie Doktor Alexander von Rönne im weißen Kittel mit Silberknöpfen zur Visite durch die Nobelklinik schwebt und von den Assistenzärztinnen und Schwestern umschwärmt wird. Von den Patientinnen ganz zu schweigen.

»Was bist du denn für ein Arzt?«, fragt Nicole, obwohl sie die Antwort schon zu kennen meint.

»Wir sind eine chirurgische Klinik.«

»Ach so, ich dachte …«

»Ja … stimmt schon, ich mache vor allem plastische Chirurgie.« Er nestelt am Kragen seiner Sportjacke herum.

»Hast du eigentlich Familie, Frau und Kinder?« Das interessiert sie dann doch.

»Ja, zwei.«

»Zwei Frauen?« Nicole lacht, und er muss mitlachen.

»Zwei Mädchen.«

»Ich hab auch zwei. Zwei Jungs.«

»Ist ja verrückt, das kann kein Zufall sein.«

Flirtet er mit ihr? Zumindest kommt es Nicole so vor. Sie hat das Gefühl, ein bisschen rot zu werden. Sie fand ihn damals auch schon toll. Es war nicht nur sein Aussehen, sondern vor allem die Lässigkeit. Er musste nicht groß herumtönen wie die anderen Jungs. Alex war cool. Aber gegen Jackie hatte sie keine Chance.

Nicole würde sich jetzt gerne eine Zigarette anzünden. »Darf man hier eigentlich noch?«, fragt sie Wirt Raik, der gerade einen »Salty Dog« mixt, den Gin-Cocktail mit Zitrone und Salz am Glasrand.

»Aber immer«, brummt Rettmer. »Wir sind im ›Seehund‹!«

Nicole bietet ihm auch eine an. »Eigentlich rauche ich ja auch gar nicht mehr«, beteuert sie. Doch die Kneipenluft und die Erinnerungen an früher verleiten sie, sich mal wieder eine anzuzünden. Damals hatten sie gequalmt, was das Zeug hielt.

Kaum hat Nicole die Zigarette zwischen den Lippen, steht schon Torben Schmattke mit dem Feuerzeug neben ihr.

»Na, Nicole, erst mal eine rauchen?« Er zündet sich selbst ebenfalls eine an, nimmt einen tiefen Zug und zieht den Mund schief. »Siehst gut aus.«

Die Mischung aus Rauch, Rasierwasser und platten Komplimenten löst bei Nicole gleich ein Kribbeln in der Nase aus.

»Bekomme ich bei euch auch eine Bionade?«, schaltet sich Magnus ein, der hier als Einziger keinen Alkohol trinkt und damals schon wegen seines Bionade-Fimmels aufgezogen wurde.

»Bionade?«, rotzt Rettmer zurück. »Hatte ich früher mal. Is mir immer schlecht geworden.«

»Habt ihr Oasis gar nicht in eurer Jukebox?«, ruft Torben in Zeitlupen-Norddeutsch dem Kneipenwirt zu, der schon wieder am Zapfhahn steht.

»Oder No Doubt oder Echt!«, fragt Jackie laut hinterher. »Alles wird sich ändern!« Den Song der deutschen Teenie-Band hatten die Mädchen auf ihren Walkmans damals rauf und runter gehört.

»Hör bloß auf!«, grölt der nicht mehr ganz nüchterne Schmattke. Und kurz darauf lässt Rettmer dann den Oasis-Hit Live Forever aus den Kneipenboxen scheppern.

Mit jedem Song und mit jedem Bier wird die Stimmung ausgelassener. Dann fällt irgendjemandem plötzlich wieder ein, dass Oliver fehlt.

»Bist du dir denn wirklich sicher, dass er kommen wollte?«, will Jackie von Melanie wissen.

»Ich weiß nicht.« Melanie überlegt. »Ich habe ja noch mit ihm telefoniert, wie mit den meisten von euch. Und eigentlich hatte er zugesagt.«

»Melanie war doch damals in Oliver verliebt«, flüstert Jackie Nicole verschwörerisch zu. Dann noch leiser: »Und ich hatte später mal was mit ihm.«

»Sag mal, mit wem hast du eigentlich nichts gehabt?« Nicole wirft ihr einen spöttischen Blick zu. »Mit allen … außer mit Alex, oder?«

»Bist du dir da so sicher?« Jackie zieht die geschminkten Augenbrauen hoch.

»Mit Alex? Damals?«

»Ja, nee.« Jackie schüttelt den Kopf.

»Und dann warst du doch mit Torben verheiratet?«

»Genau.«

»Dass der Oliver sich drückt, kann ich verstehen«, bemerkt Magnus ausnahmsweise mal ohne Zischen. »Da gibt es noch offene Rechnungen.«

»Mit dem haben manche von uns ein Hühnchen zu rupfen«, tönt Schmattke.

»Was heißt das jetzt?« Nicole hat keine Ahnung.

»Vielleicht ist er doch schon wieder auf den Cayman Islands?«, überlegt Melanie, die auch einen kleinen im Tee hat.

»Auf den Caymans? Warum das denn?« Nicole wundert sich.

»Na ja, geschäftlich. Oliver ist doch Investment- und Immobilienberater«, klärt Melanie sie auf. »Und diese Beratungen haben wohl einige von uns … ach, ich weiß nicht so genau.«

»Faule Papiere und Schrottimmobilien!«, platzt es aus Torben Schmattke heraus. Er verzieht dabei den Mund und sein Tonfall wird scharf. »Isso!«

5

»Moorgeen! Aufstehen, Onkel Piet! Frühstück. Over!« Der kleine Fiete stürmt mit dem Walkie-Talkie in der Hand zu Paulsen ins Schlafzimmer. »Handy hat geblubbert. Over!« Schnauzer Kuddel pest auch gleich einmal quer durchs Zimmer.

»Meine Güte, Fiete, wat is denn hier heute Morgen schon los? Ich bin ja noch gar nicht richtig wach … ach so … Over.« Paulsen tastet nach seiner Gleitsichtbrille und steigt mit steifen Gelenken aus dem Bett. Fiete streckt ihm die Hand mit dem zweiten Funkgerät entgegen.

»Min Jung, Onkel Piet is noch gar nich auf Sendung. Lass mich erst mal aus dem Bett kommen und Zähne putzen. Dann macht Antje uns ’n Kaffee, und anschließend sehen wir mal weiter.«

»Och, nee …« Fiete zieht eine enttäuschte Schnute, etwas verzögert kommt ein beleidigtes, kaum vernehmbares »Over« hinterher.

»Piet, deine Trink-App gurgelt nich mehr«, empfängt Antje ihn. »Da gibt’s Überschwemmung und ein rotes Signal.«

»Ja, hat sich wahrscheinlich verschluckt.« Er zuckt mit den Achseln.

Antje reicht ihrem Imbiss-Stammgast ein großes Glas Wasser, das Piet hastig, aber etwas widerwillig in sich hineinschüttet.