Ruhe oder es knallt! - Krischan Koch - E-Book

Ruhe oder es knallt! E-Book

Krischan Koch

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Beschreibung

Wut-Life-Balance für Fortgeschrittene Klaus Richards, genannt Richy, Ex-Kunst- und Gemeinschaftskundelehrer aus Hamburg, versteht die Welt schon lange nicht mehr. Alles um ihn herum verändert sich, sein Kiez, die Kneipen, die Geschäfte, die Musik, seine Familie – das ganze Leben. Mehrmals täglich rastet Richy aus. Als er dem dauerlaubblasenden Hausmeister regelrecht an die Gurgel geht, muss Richy zu einem Antiaggressionstraining. Anfangs gehen ihm diese Anonymen Ausraster total auf die Nerven. Doch unter der sanften Anleitung von Therapeut Norbert werden sich die Gruppenmitglieder immer sympathischer und wollen das Gelernte auch in der Praxis umsetzen. Aber irgendwas scheinen sie falsch verstanden zu haben, denn es kommt dabei zu unerklärlichen Zwischen– und sogar Todesfällen ....

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Seitenzahl: 250

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Über das Buch

Klaus Richards, genannt Richy, Ex-Lehrer aus Hamburg, versteht die Welt schon lange nicht mehr. Alles um ihn herum verändert sich, sein Kiez, die Kneipen, seine Beziehungen, die Geschäfte, die Musik — das ganze Leben. Mehrmals täglich rastet Richy einfach mal aus. Als er dann dem dauerlaubblasenden Hausmeister an die Gurgel springt, wird Richy zu einem Anti-Aggressionstraining verdonnert. Anfangs gehen ihm diese »Anonymen Ausraster« total auf die Nerven. Doch unter der sanften Anleitung von Therapeut Norbert (»Mehr Mut zur Wut!«) werden sich die Gruppenmitglieder immer sympathischer und wollen das Gelernte auch in der Praxis umsetzen. Aber irgendwas scheinen sie falsch verstanden zu haben, denn es kommt dabei zu unerklärlichen Zwischen- und sogar Todesfällen …

 

Von Krischan Koch

sind bei dtv außerdem erschienen:

 

Flucht übers Watt

Venedig sehen und stehlen

 

Die Fredenbüll-Reihe:

Rote Grütze mit Schuss

Mordseekrabben

Rollmopskommando

Dreimal Tote Tante

Backfischalarm

Pannfisch für den Paten

Mörder mögen keine Matjes

Friedhof der Krustentiere

Der Weiße Heilbutt

Mord im Nord-Ostsee-Express

Schnappt Scholle

Krieg der Seesterne

Krischan Koch

Ruhe oder es knallt!

Roman

 

 

 

Für Gaby und die Fluglärmschutzbeauftragte

»Wut ist ein Geschenk.«

Mahatma Gandhi

 

 

 

»Ich bin der Hans-Peter …« Der schwergewichtige Hüne mit dem schütteren, in die Stirn gekämmten Haar und einem Gesicht wie ein weißer Pfirsich kämpft mit den Worten. »… und … ich raste manchmal aus.«

Die im Kreis versammelten Teilnehmer der Therapiesitzung nicken verlegen.

»Hallo, Hans-Peter.« Eine der Frauen lächelt milde, ohne ihn richtig anzusehen.

»Sehr schön, Hans-Peter.« Workshop-Leiter Norbert wirft ihm durch die Gläser seiner schwarzgeränderten Riesenbrille einen aufmunternden Blick zu.

»Hallo, Hans-Peter«, murmelt der Rest der Gruppe.

»Hans-Peter, wie geht es dir?« Norbert nimmt die Brille ab und setzt sie in Zeitlupentempo wieder auf.

»Ach, eigentlich ganz gut.« Ein paar Haare kleben verschwitzt auf seiner Stirn. »Ich habe es jetzt schon geschafft, mich an der Supermarktkasse extra an der falschen, zu langen Schlange anzustellen, bei der Kassiererin, die sämtliche Preise nicht weiß …« Über das Pfirsichgesicht geht ein Zucken »Ich hab mich da angestellt, ohne der Kundin, die mir immer den Einkaufswagen in die Hacken schiebt, die auf ihrem Einkauf thronenden Schokoküsse ins Gesicht zu drücken, und ohne den Rentner, der zehn Stunden im Portemonnaie nach Cent-Stücken kramt, anzuschreien.« Er kommt immer mehr in Rage. »Und ich habe dieser Kassiererin mit den vielen Ringen in der Nase und den Lippen …«

»… die du vor zwei Wochen noch eine gepiercte Pissnelke genannt hast, bevor du ihr einen vollen Bierkasten in ihre Kasse geworfen hast …«, rekapituliert Norbert mit sanfter, verständnisvoller Stimme.

»… einfach Hallo gesagt … und meinen Einkauf aufs Kassenband gelegt und … bezahlt … Aber als ich dann aus dem Laden raus war, hab ich mich auf der Straße umgedreht und doch noch mal gepiercte Pissnelke gesagt. Nur so für mich.«

»Das ist vollkommen in Ordnung, Hans-Peter.« Er wendet sich der nächsten Teilnehmerin zu.

»Und wie geht es dir, Tatjana? Vor allem, wie geht es deiner Freundin …?«

»Freundin?«, protestiert sie. »Hallo! Das ist die Geliebte meines Mannes. Die beiden hab ich zusammen in unserem Schlafzimmer erwischt!« Tatjana schießt kurz die Wut in den Kopf, dann hat sie sich wieder gefangen. »Es geht ihr schon viel besser. Der Oberarzt im Krankenhaus ist ganz zufrieden.«

»Denn Brandwunden sind nicht ganz ohne.« Der Norbert setzt eine mitfühlende Miene auf. »Und auch du arbeitest daran?«

»Ja, ich habe auch schon wieder gebügelt. Und wenn ich das heiße Bügeleisen in der Hand habe … also das, das ich Charline neulich voll ins Gesicht gedrückt …« Tatjana wirkt plötzlich erregt. »Also, das macht schon etwas mit mir …« Was genau, weiß sie im Augenblick auch nicht so recht.

»Bügeln, ah, ja.« Norbert nickt. »Du hast das richtige Gespür. Wut hat eine enorme Kraft, du musst sie konstruktiv nutzen.« Er harkt sich die Haare aus der Stirn. »Leider gibt es in unserer Gesellschaft keinen gesunden Umgang mit diesem kraftvollen Gefühl. Die meisten haben destruktive Mechanismen verinnerlicht, um damit umzugehen. Die wenigsten wissen dieses Gefühl zu schätzen. Wut ist eine wichtige innere Kraft, die wir für ein erfülltes Leben brauchen. Eine gute Wut-Life-Balance sozusagen.«

»Einfach mal rauslassen«, platzt Henry unvermittelt und laut dazwischen.

»Henry?!« Norbert blickt ihn auffordernd an.

»Ja, ich bin Henry, und … wie gesagt …«

»Du hast da ja einen sehr offenen, zupackenden Umgang mit dem Thema gewählt. Und du bist dabei bereit, Grenzen zu überschreiten. Darüber werden wir noch gemeinsam sprechen.«

Einige nicken, ein paar andere blicken verlegen zu Boden.

Norbert wirft einen Blick in die Runde. »Ihr habt schon gesehen, wir haben ein neues Gesicht in unserer Gemeinschaft«, raunt der Antiaggressionsguru mit gedämpfter, aber eindringlicher Stimme. Er streicht sich die wirren Haare wieder zurück, einmal quer über die Stirn. Sein Blick bleibt bei Richy hängen. Er nickt ihm aufmunternd zu. Doch der reagiert nicht.

»Also, das ist der Klaus.« Norberts Nicken wird deutlicher, sodass ihm die schwere Brille halb von der Nase rutscht.

Richy zuckt zusammen, als habe es ihm die Sprache verschlagen. Aber dann scheint er sich darauf zu besinnen, warum er hier ist.

»Ja, ich heiße Klaus, Klaus Richards … Aber die meisten nennen mich Richy.«

»Sehr schön, Richy.«

»Hallo, Richy«, raunt die Runde im Chor.

Norbert strahlt ihn durch seine Riesenbrille an. »Richy, magst du uns erzählen, warum du hier bist?«

TEIL EINS

1

Das durchdringende Heulen lässt ihn hochschrecken. Richy sitzt sofort aufrecht im Bett, und er weiß, dass da draußen eine feindliche Welt wartet. Automatisch wirft er einen Blick auf die Uhr. Halb sieben, danach kann er die Uhr stellen. Er reißt das Fenster auf und blickt aus dem zweiten Stock nach unten. Da steht er, sein Intimfeind Kevin Knappek, inmitten der verwelkten, über den kleinen Hof wirbelnden Lindenblüten. Den Echo PB8010, genannt The Beast, den Power-Bläser für den rauen Dauereinsatz im freien Gelände, hat er auf den Rücken geschnallt. Mit dem dicken Rohr wedelt er unter den Müllcontainern herum.

»Weißt du, wie spät das ist!?«, schreit Richy zu ihm hinunter.

Knappek reagiert nicht. Er zieht den Gashahn auf, das »Beast« brüllt, unter den Müllbehältern stäuben die Lindenblüten heraus.

»Vor sieben ist das verboten!« Richy muss gegen den Bläser anschreien. »Lärmschutzgesetz! Und mit dem Monster darfst du auch zwischen sieben und neun noch nicht!«

»Willst du mir etwa sagen, wann ich meine Arbeit zu machen hab?«, brüllt Knappek zurück und verzieht dabei keine Miene. Er blickt teilnahmslos aus müden Augen in einem, wie ein Nappaleder-Rucksack, schlapp und großporig braungegerbten Gesicht zu ihm hoch.

Richy knallt das Fenster zu. Für einen ausgiebigeren Disput mit Kevin ist es noch zu früh. Aber in ihm kocht es bereits. Kevin und sein Echo PB sind für ihn ein rotes Tuch, eines von vielen. Für Klaus Richards hängt der ganze Stadtteil voll roter Tücher. In dem Moment schrillt von der Straßenseite schon das metallene Ächzen und Kratzen eines Schaufelbaggers vom Stromnetz Hamburg in die Wohnung herauf, und beim ersten Airbus im Sinkflug ist Richy auf Betriebstemperatur.

Noch vor dem Zähneputzen und dem ersten Kaffee greift er zum Handy und ruft die Nummer von Frau Ölmann-Rust auf. Früher hatte er die Nummern seiner Frau, seines Sohnes und seines besten Freundes als Favoriten auf dem Handy gespeichert. Inzwischen findet sich dort nur noch die Nummer der Hamburger Fluglärmschutzbeauftragten. Doch Frau Ölmann-Rust ist noch nicht am Platz. Richy schreit ihr aufs Band.

»Verdammte Scheiße. Ich halte das nich mehr aus!«

2

Richy nimmt für eine Weile die Ohrstöpsel heraus. Für alle Aktivitäten außer Haus nimmt er schon seit längerem Ohrstöpsel, mittlerweile braucht er sie auch zuhause. Er fährt sich durch die angegrauten, immer noch kräftigen Haare, die widerspenstig vom Kopf abstehen, auch wenn er sich gekämmt hat, und dreht sich die erste Zigarette des Tages. Das Formen des Tabaks in dem dünnen Zigarettenpapier und das Drehen mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger lassen ihn wenigstens für einen Moment runterkommen. Richy leckt das Papier an. Noch während er den bittersüßen Geschmack der Gummierung auf der Zunge hat, schallt der nächste Airbus über den Block. Das Grollen fängt sich in der engen Straßenzeile, als wolle die Maschine zur Landung auf der Ottenser Hauptstraße ansetzen. Und dann erkennt er die bullige Delphinschnauze einer Beluga XL. Der unverkennbare Sound dröhnt ihm in den Ohren, aber der erste tief inhalierte Zug aus dem etwas zu stramm gedrehten Halfzware dämpft das Geräusch in seinem Kopf.

Gegen die ersten beiden Betonlaster, die an der Baustelle für die szenigen Townhouses vorfahren, hat die Selbstgedrehte aber keine Chance mehr. Im Duo mit dem Schaufelbagger vom Stromnetz Hamburg bringt der Betonmischer sämtliche Wände der Umgebung zum Vibrieren. Das gesamte Viertel ist schon mal wach, bevor die Bauarbeiter in die ausgedehnte Frühstückspause gehen.

Dann ist es auf einmal ruhig. Richards öffnet eines der Fenster zur Straße. Die Wohnung hat sich in den letzten, viel zu heißen Juniwochen aufgeheizt. Aber jetzt kommt von draußen ein angenehmer Luftzug herein. Richy bläst den Zigarettenrauch in den kühlen Morgen, streicht sich über das unrasierte Kinn und sieht hinunter. Der orangene Schaufelbagger steht mit abgeschaltetem Motor ein Stück von seinem Hauseingang entfernt. Das Frühstücksvolk, das tagsüber unten im Café »Die Milchmädchen« mit ihren Kinderwagen zwischen den Sitzgruppen den Fußweg versperrt, ist noch nicht angerückt. Die Helikoptermütter und -väter sind noch damit beschäftigt, die Kinder in die Schule zu karren.

Auch Angie schraubt auf dem Hinterhof zu früher Stunde noch nicht am Schalldämpfer ihrer Moto Guzzi herum. Das museumsreife Motorrad schlummert still in der Garage. Und von Fricco ist ebenfalls nichts zu hören. Der reizende Pitbull des Vermietersohnes kläfft sonst ganze Nachmittage im Hof und verrichtet dabei gleich noch sein Geschäft. Beim Müllherunterbringen tritt Richy regelmäßig in die Haufen, die sich dann den direkten Weg in die Sohlenprofile seiner alten Tennisschuhe suchen. Und beschweren mag man sich bei dem Tier auch nicht, wenn es einen aus seinen kleinen Augen in dem kahlen Kopf mit der fliehenden Stirn provozierend und angriffslustig angafft.

In der Wohnung unter Richy ist es ebenfalls noch ruhig. Dort wohnt die schwerhörige Rentnerin Frau A. Horn, so steht es auf dem polierten Messingtürschild, weshalb Richy sie seit Urzeiten Frau AHorn nennt. Von Frau AHorn ist den Tag über nichts zu hören, bis sie am Nachmittag den Fernseher anschaltet. Dann scheinen sich die alten Holzdielen in Richys Wohnung ein Stück zu heben, wie die Membranen einer Lautsprecherbox. Der Sound ihres Fernsehers ist beachtlich, sodass auch Richy nach Folge fünfhundertdreißig über die Entwicklungen in ›Rote Rosen‹ immer auf dem Laufenden ist. Bis zu ihrer Rente hatte Frau AHorn die kleine Filiale der Hamburger Volksbank direkt unter ihrer Wohnung im selben Haus geleitet. Im Grunde war sie die einzige Mitarbeiterin dieser Zweigstelle mit der nostalgischen Ausstattung der frühen neunzehnhundertsechziger Jahre, noch ohne Panzerglas vor dem Schalter. Für den Fall der Fälle hatte sie angeblich eine Pistole unter dem Geldfach liegen. Richy hatte dort in WG-Zeiten sein stets leicht überzogenes Konto. Mit Frau AHorns Renteneintritt war die Volksbankfiliale in der Ottenser Hauptstraße geschlossen worden. Jetzt residieren die »Milchmädchen« dort.

Auch aus der Wohnung über ihm ist noch nichts zu hören. Jürgen schläft gern etwas länger. Doch wenn er nachmittags und gern auch in den Abendstunden seiner Profession nachgeht, wird es ungemütlich. Bei einer Studienreise durch Westafrika hat Jürgen sich in einem Workshop in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou in die Technik der Djembe-Trommel einweisen lassen. Nach ein paar dürftig besuchten Soloabenden in verschiedenen Kulturzentren der holsteinischen Provinz hat er sich umorientiert und veranstaltet jetzt bestens gebuchte Events: »Mobiles Trommeln für Kind und Kegel«. In der Regel trommelt Jürgen auswärts, aber manchmal findet die Session auch zuhause statt. »Ein Wahnsinn, was da so abgeht«, schwärmt der Djembe-Virtuose. Auch zwischen Richy und Jürgen ist schon ein paarmal der Wahnsinn abgegangen. Als Gegenmaßnahme legt Richy nachts mal die Sex Pistols auf, was wiederum bei den Trommlern gar nicht gut ankommt. Jürgen wohnt mit zwei Frauen zusammen, die normalerweise sanft und etwas weggetreten lächeln. Aber an der einfelligen Bechertrommel verwandeln sie sich in Furien. »Eigentlich schade, dass der Klaus nicht mittrommelt«, findet die blondere der beiden. Da könnte Richy gleich wieder ausrasten. Dass sie ihn Klaus nennt, ist schon schlimm genug, aber der Klaus, das ist zu viel.

Für einen Moment könnte Richards die Ruhe genießen. Aber er traut dem Frieden nicht. Alles still, verdammt noch mal, das gibt es doch nicht. Er bläst den Rauch nach draußen und drückt die Filterlose aus. Er hat keine Lust, sich zu rasieren, rasiert sich aber trotzdem. Er putzt sich die Zähne, duscht und präpariert die italienische Espressokanne. Und dann hört er schon durch das offene Fenster zur Straße, dass er beim Espresso nicht allein ist.

»Carlotta, für dich ’ne Latte?«, schallt es von den »Milchmädchen« nach oben durch Richys offenes Fenster. »Mit Hafer? Oder mit Erbsenmilch? Hast du doch neulich probiert und hast du gemocht.«

»Ja, mega lecker. Und Kuhmilch ist doch voll der Klimakiller. Genau!« Dieses übereifrige, ständig eingestreute »Genau« bringt Richy sofort auf die Palme. Und dann auch noch der darunterliegende, zur rosa Wand passende Musikbrei wie aus einer Nicholas-Sparks-Verfilmung. Er muss diesen Mix nur hören und hat schon keine Lust mehr auf einen morgendlichen Kaffee. Die Latte-Macchiato-Helikopter-Mütter gehen ihm schon lange auf den Geist. Die Väter mit den Wollmützen im Sommer und ihren stolz vor den Bauch geschnallten Kleinkindern sind fast noch schlimmer. Und dann erst die Großmütter, die sich die auf Saallautstärke gestellten Videos ihrer Enkel zeigen und damit alle Gespräche an sämtlichen Cafétischen ersticken.

»Na, Carlotta, hast du Heinrich gut in der Schule abgeliefert?« Ober-Milchmädchen Sabrina serviert offenbar gerade den Erbsen-Macchiato. »Wollte er nicht mit dem Rad fahren?«

Richys Espressokanne beginnt derweil leise zu röcheln.

»Oh nee, das ging gar nich, ich musste das Auto rausholen und Heinrich fahren. Meine Wetter-App hat vierzig Prozent Regen angezeigt.« Die Mutter klingt regelrecht aufgebracht.

Warum bitte soll es heute auf einmal regnen? Es hat seit Wochen nicht geregnet, brummt Richy zu sich selbst. Und wenn schon, dann macht das Kind mal die spannende Erfahrung von Regentropfen auf der Haut. Er nimmt die Espressokanne vom Herd, während der nächste Airbus die Ruhe durchschneidet. Er stürzt zum Fenster und sieht nach oben. Ein A350.

Mittlerweile hat sich die nächste Mutter bei den »Milchmädchen« eingefunden. Richy kann die Frauen mit den einheitlich langen blonden Haaren, den gestylten Augenbrauen und den Sportklamotten aus recycelter Baumwolle kaum mehr auseinanderhalten. Na ja, Carlottas Haare sind eher rotblond, und sie sieht besser aus als die anderen, findet Richy. Doch deshalb geht sie ihm nicht weniger auf die Nerven.

»Was ist mit deinen Augenbrauen, Carlotta?«, fällt einer Freundin auf. »Du hast was gemacht?«

»Fluffy Brows, genau. Jetzt ist der natürliche Look angesagt.«

Und dann wird die Augenbrauendiskussion auch schon von einer anderen Mutter unterbrochen. »Hat der Heinrich vielleicht Lust, am Sonntag zum Marmelade-Einkochen in den Schrebergarten zu kommen?«

»Marmelade?!« Carlotta klingt alarmiert. »Oh nee, voll schade, aber am Sonntag hat er ein Hockeyspiel. Außerdem ist Marmelade für den Heinrich ein No-Go, genau.«

»Marmelade?« Arglos nimmt die Freundin das böse Wort in den Mund.

»Du weißt doch, wir achten auf die Ernährung. Kein Zucker und kein Gluten.« Der Ton der alleinerziehenden Carlotta wird strenger.

»Gluten, safe.« Die andere Mutter nickt und schüttet ein ganzes Tütchen braunen Zucker in ihre Latte.

»Sorry wegen des Marmeladensonntags.« Carlotta klingt schon wieder versöhnlicher. »Eigentlich total süß von dir die Idee.«

»Alles gut.« Obwohl er sie gar nicht sehen kann, hat Richy gleich den angespannt relaxten Gesichtsausdruck der Freundin vor Augen.

»Nix ist gut!«, ruft er zum Café hinunter. »Macchiato-Schnepfen!«, brummt er in sich hinein. Speziell die Stammgäste Carlotta und ihren verzogenen Sprössling Heinrich hat er gefressen. Und vor allem dieses ewige »genau« und »alles gut«. Nein, eben nicht! Nichts ist gut!

Dann haben die Jungs vom Stromnetz Hamburg die Frühstückspause beendet und den Schaufelbagger angeworfen. Gebaggert wird noch nicht, aber der Motor läuft schon mal. Der Fahrer zündet sich in aller Ruhe eine Zigarette an und wartet auf die Kollegen. Zur Abwechslung dröhnen der nächste A320 und eine Beluga über das Viertel und setzen zur Landung an. Von allen Seiten schallt es auf ihn ein. Richy könnte ausrasten. Er weiß nicht, wo ihm der Kopf steht.

»Wie stellen Sie sich das eigentlich vor?« Diesmal hat er Frau Ölmann-Rust gleich dran. »Heute ist es besonders schlimm. Mehrere A350, ein 320 und schon die dritte Beluga. Dabei haben wir leichten Südostwind, da gibt es keinen Landeanflug über Altona. Wissen Sie, was B-e-l-u-g-a bedeutet?« Richy wechselt allmählich in den Schreimodus.

»Beluga? So nennt man den Weißwal, der dem Flugzeug den Namen gegeben hat. Wegen der typischen Schnauze.« Die Fluglärmschutzbeauftragte klingt freundlich routiniert.

Das bringt Richy erst richtig in Wallung. »Und wissen Sie, was es für den Weißwal bedeutet, wenn Sie die ganzen Maschinen kreuz und quer durch die Welt fliegen lassen?«

»Herr Richards, ich lasse hier gar nichts fliegen.« Sie wird im Ton jetzt auch etwas bestimmter.

»Verdammte Scheiße, Frau Ölmann!« Das »Rust« unterschlägt er, als könne er ihr damit eins auswischen. »Wir reden täglich von einer Energiewende … in allen Medien. Und diese Idioten müssen nach Mallorca fliegen oder zum Businessmeeting nach Frankfurt. Sollen sie doch mit der Bahn fahren. Und die Ballermann-Proleten können sich zuhause besaufen!« Richy kommt immer mehr in Fahrt. »Wenn ihr noch mehr Belugas durch die Gegend fliegen lasst, können wir bald einpacken. Die Weißwale sind durch den Klimawandel bedroht! Die fliegenden Belugas killen die echten Belugas … und mich bald auch!«

»Herr Richards, ich habe Ihre Einwände dokumen…« Dann bricht die Verbindung ab. Richy hat wütend den roten Button gedrückt.

3

Klaus Richards lebt seit Jahrzehnten in der großen Ottenser Altbauwohnung. Viele Jahre hatten er, Marion, Armin und Anja sich die geräumigen Zimmer mit den hohen Stuckdecken geteilt. Da war er noch ein umgänglicher, geselliger Typ. Die politischen Initiativen im Stadtteil und die nächtlichen Küchensitzungen bei einem Rotwein namens »Maître Simon« hatten die vier WG-Mitglieder zusammengeschweißt. Sie hatten Konzerte, Kunstausstellungen und Lesungen organisiert und Initiativen gegen die Umwandlung der Altbauten in Eigentumswohnungen gestartet. Seit etlichen Jahren besitzen die Mitkämpfer von einst selbst so eine Wohnung.

Irgendwann wurden Marion und er ein Paar, und nachdem ihr gemeinsamer Sohn Lars zur Welt gekommen war, verließen die beiden anderen nacheinander die WG. Armin hatte danach auf dem Land eine Werkstatt für edle, handgefertigte Schaukeln aus heimischen Hölzern betrieben. Inzwischen sind die Kids in den Elbvororten und den Alstervillen ausreichend mit Kirschholzschaukeln versorgt, und Armin hat auf edle Weine umgesattelt. Zwischenzeitlich hatte er sich als Autor für die Kulturnotizen lokaler Anzeigenblätter über Wasser gehalten. Seine beiden, in sehr kleiner Auflage erschienenen Gedichtbände waren auch im Freundeskreis auf verhaltene Resonanz gestoßen. Im fortgeschrittenen Alter hat er jetzt sein Metier gefunden, die Wein-Journaille, in Verbindung mit einem exquisiten Weinhandel und Verkostungsabenden, bei denen in Geschmacksassoziationen von rotem Schiefer, Löss-Lehm, Leder und Petroleumnoten geschwelgt wird. Armins prägnante Nase prädestiniert ihn für große Weine und große Visionen. Seine poetischen Ambitionen hat er deswegen noch nicht ganz aufgegeben. Anja hat derweil von der Physio- auf Tanztherapie umgesattelt und wechselt im Semestertakt ihre Liebhaber, die von Workshop zu Workshop immer jünger werden.

Auch Marion und ihr gemeinsamer Sohn Lars hatten die Lebensgemeinschaft mit Richy vor etlichen Jahren verlassen. Zum Schluss hatte es nur noch Streit gegeben. Richy waren Marions politisch überkorrekte Pedanterie und Lars’ permanente Brotbackerei auf den Geist gegangen. Überall in der Wohnung gärte ein Sauerteig vor sich hin, ständig klingelten die Eieruhren. Marion wiederum konnte Richys Nörgeleien und zunehmende Wutanfälle schlicht nicht mehr ertragen. »Unsere Beziehung ist toxisch«, hatte sie gesagt. Alle schwadronieren inzwischen über toxische Beziehungen. Richy schüttelt den Kopf. Inzwischen lebt Marion mit einem neuen Partner in einem Halstenbeker Reihenhaus, und Lars hat gerade ein Maschinenbaustudium in Hannover begonnen.

Der Kunst- und Gemeinschaftskundelehrer Klaus Richards ist nach einem Wutanfall vor versammelter Klasse auf Anraten der Behörde vorzeitig aus dem Schuldienst ausgetreten. Nach einer endlosen Zensuren-Diskussion über eine dilettantisch zusammengehauene Plastik aus Ton hatte er dem schnöseligen Schüler den klebrigen Klumpen auf sein gebügeltes Poloshirt gepfeffert. Immerhin fünfundzwanzig Jahre hatte er es als Lehrer in dem renommierten, ehemals altsprachlichen Gymnasium drei Kilometer westlich von seiner Wohnung ausgehalten. Nach eindringlichem Rat des verständnisvollen Schulleiters und nach Feststellung der Dienstunfähigkeit durch Amtsarzt Doktor Dohse, einem alten Klassenkameraden, ist er jetzt in Frühpension mit deutlich reduzierten Bezügen. Seitdem hat Richy seine Aktivitäten auf Beschwerden und Beschimpfungen verlegt.

Eigentlich hatte er seinen Job immer gemocht. In den ersten Jahren hatte er sich von seinen Altonaer Freunden vorhalten lassen müssen, dass er nicht in einem der Hamburger Problemstadtteile unterrichtete. Aber das Referendariat in dem sozialen Brennpunkt Mümmelmannsberg hatte ihm gereicht. Die verwöhnten Gören in den Elbvororten fand er zwar auch oft genug zum Kotzen. Aber sie waren pflegeleicht, und manche zeigten wirklich Interesse. Ein paar der Mädchen hatten die schräge Type aus Altona mit den verstrubbelten Haaren und der immergleichen speckigen Fliegerjacke aus dem Zweiten Weltkrieg, die er von seinem Großvater geerbt hat, sogar ein bisschen angehimmelt. Er sieht ja auch nicht schlecht aus, findet Richy. Und er ist immer noch ganz gut in Form, auch wenn er kein Judo mehr machte. Zumindest seine ausgelatschten Adidas »Stan Smith« aus den Neunzigern hatten bei den Schülerinnen stets für Beachtung gesorgt. In der angesagten makellos weißen Retroversion trägt diese Tennisschuhe heute jeder männliche Talkshowgast. Seine dreißig Jahre alten Dinger sind dagegen wirklich cool. Allein die Hundescheiße in den Profilsohlen schmälert die Coolness etwas.

Bei den Schülerinnen und Schülern hatte er keine schlechte Figur gemacht. Nein, in seiner Schule waren die Eltern das Problem. Sobald einer ihrer hochbegabten Sprösslinge nur eine mehr als wohlwollende Zwei in Kunst für eine verunglückte Kollage bekommen hatte, tanzten die aufgebrachten Eltern bei ihm an und drohten erst mit der Schulbehörde und anschließend mit dem Anwalt. Die Kids durften keinen Schritt alleine machen. Er hat den Eindruck, seitdem er den Schuldienst quittiert hat, ist es noch schlimmer geworden. In seiner Schule haben sie deshalb eine Kiss-and-Go-Zone eingerichtet, um die übermotivierten Eltern wenigstens aus dem Klassenzimmer fernzuhalten. Mit dem Thema ist Richy durch. Doch das stimmt eigentlich nicht. Diese Helikopter-Eltern schwirren ständig bei den »Milchmädchen« vor seiner Nase herum.

Carlotta versetzt ihn fast täglich in seine alte Schule zurück. Heinrichs Mutter befindet sich offenbar in einem erbitterten, immer mehr ausufernden Krieg mit dem nicht mehr ganz jungen Doktor Dreesen, Chemie und Biologie, den Richy aus seinem Schuldienst noch bestens kennt. Nachdem Dreesen den dreisten Täuschungsversuch des sensiblen Kindes mit einer Fünf quittiert hatte, drohte die aufgebrachte Mutter mit Dienstaufsichtsbeschwerde und anlässlich eines wenig klärenden Gesprächs schließlich sogar mit Handgreiflichkeiten. Vor ewigen Zeiten hatte Carlotta mal die chinesische Kampfkunst Tai-Chi, und zwar in der Version mit der Stockwaffe, praktiziert. Sollte Carlotta auf dem Weg von der Helikopter- zur Rasenmäher-Mutter sein? Am liebsten würde sie auch beim Hockey für ihren Sohn die gegnerischen Spieler umsäbeln. Heinrich hat sowieso wenig Lust zum Hockey. Er verbringt die Tage und neuerdings auch die Nächte lieber vor dem Computer.

Nicht nur Richys Leben, auch sein ganzes Viertel hat sich verändert. Nichts ist mehr, wie es war. In seiner alten Kneipe, gegenüber der Kita »Wurzelwichtel«, residiert eines der unzähligen hyggeligen Cafés mit jährlich wechselnder Bewirtung, neuen Tapeten in Pastelltönen und neuem Namen. Momentan heißt es »Waffelwahn«. Im Sommer ist der Gehweg mit Tischen aus Rohholzkisten, Kinderwagen und Fahrrädern mit Anhänger zugeparkt, sofern zwischen den rot-weiß gestreiften Baustellenbarken und Schrankenzäunen überhaupt noch Platz bleibt. Vor zwanzig Jahren hatte Richards ja selbst für eine Verkehrsberuhigung gekämpft, aber dies hat er so nicht gewollt.

Die alten Geschäfte sind verschwunden. Es gibt keinen Schlachter mehr, der Fischladen, in dem seine Eltern und Großeltern schon eingekauft haben, ist lange weg. »Schirm-Ehlers« und »Waffen-Ritter«, wo er als Jugendlicher im Schaufenster die Messer und Kleinkaliberwaffen bestaunt hat, haben dichtgemacht. Inzwischen hätte Richy Bedarf. Und die ganzen alten Kneipen, »Vogel« oder »Subotnik« und vor allem die Malocher-Pinten wie »Min Jung« oder »Bei Irmi«, die es früher an jeder Ecke gab, sind alle nicht mehr da. Stattdessen gibt es jetzt fünf Friseursalons, die hippe Backmanufaktur »Zeit für Brot«, die »Weingarage«, wo Armin ab und zu seine Verkostungen veranstaltet, und »Schönes aus Papier und Filz«. In dem Nuss-Shop mit dem oberwitzigen Namen »Kernenergie« kosten die gerösteten Erdnüsse das Sechsfache einer »Ültjes«-Tüte, die Differenz muss der Kunde für die Erzählung von Nachhaltigkeit und geheimnisvollen Röstprozessen bezahlen. »Tauch ein in die Welt der (Ge)Nüsse.« Allein schon bei diesem Wortspiel würde Richy, statt in die Nussmischung »Indian Dream«, lieber in die nächste Tischkante beißen. Dafür reicht ihm schon der Begriff Nachhaltigkeit. Alles ist nachhaltig inzwischen, sogar Flugreisen und Aktienfonds.

Klaus Richards fühlt sich wie ein Fremder in seinem Viertel. Er muss sich beherrschen, nicht eine Bombe in diese hippen Schuppen zu werfen. Nur bei dem vor wenigen Wochen neu eröffneten Klamottenladen »Fein und Ripp« hat er dann doch gestutzt. »Modisch können sich Feinripp und Doppelripp sehen lassen. Angenehm auf der Haut, ermöglicht eine Luftzirkulation und ist deutlich bewegungsgerechter.« Ein bisschen Zirkulation in Hemd und Hose ist ja nicht verkehrt, brummt Richy. Fein- und Doppelripp der Firma Schiesser, in seiner Kindheit das Synonym für Schrebergärtner im Unterhemd, hat offenbar den perfekten Trend-Turnaround geschafft. Und die Aura des Afghanen-Mantels, den Klaus in seiner Jugend ein paar Häuser weiter erstanden hatte, war tatsächlich nicht unbedingt frischer und vermutlich nicht halb so nachhaltig.

Im Laden fällt ihm gleich das buntkarierte Flanellhemd für »Malocher im Herzen« auf. »Aus strapazierfähigem Twill, der gern rücklings über den Werkzeugkasten scheuert, als habe das Hemd schon Garagenluft geschnuppert.« Durch die offene Ladentür hört er das Ächzen des Schaufelbaggers.

»Jetzt wird gehobelt.« Der Servicekraft klebt das Grinsen wie aufgebügelt im Gesicht. Dabei hat der Hänfling in Tischlerhose mit dem »richtigen Tiefgang« garantiert noch nie einen Hobel in der Hand gehabt. Richy wirft ihm einen missbilligenden Blick zu. Einen Moment zögert er, aber dann ringt er sich zu zwei grauen T-Shirts in Doppelripp durch.

»Voll die gute Wahl«, flötet der Tischler. »Sehr nice, auch gerade für deine Generation.«

Dafür würde Richy ihm passend zum Gewerk am liebsten gleich eine reinzimmern. Stattdessen pfeffert er übellaunig seine EC-Karte auf den Rauspund-Tresen.

4

Seit zwei Monaten wird in der Straße wieder gegraben, gefräst und verdichtet. Das Verlegen der neuen Stromkabel zieht sich. Das ist nichts Besonderes, vor zwei Jahren hatten sie neue Wasserleitungen verlegt, drei Jahre davor Abwasserrohre. Immer war die Straße aufgerissen und erneut geschlossen worden. Richy ist im Daueralarm.

Vor zwei Wochen hatte er sich bei dem Baggerfahrer erkundigt, wann denn mit den Grabungsarbeiten direkt vor seiner Tür zu rechnen sei. Zu der Zeit will er das Weite suchen und sich vielleicht für ein paar Tage bei Armin in seinem Weinlager auf dem Lande einmieten. »Keine Panik!«, hatte der Mann von seinem Fahrersitz heruntergeschrien, als könne Richy es gar nicht abwarten, dass der Bagger endlich auch zu ihm kommt.

Der Dicke in Orange und sein Minibagger bilden eine harmonische Einheit. Auch zum Bäcker fährt er im Raupenfahrzeug, er frühstückt, raucht, liest Zeitung und diskutiert den letzten, in der Nachspielzeit verpassten Sieg des HSV auf dem Sitz seines Fahrzeugs. Er hat sich hier bestens eingelebt und scheint den Stadtteil gar nicht mehr verlassen zu wollen. Kürzlich hat Richy ihn in angeregtem Gespräch mit Angie von seinem Hinterhof gesehen. Angie saß auf ihrer Moto Guzzi und »Keine Panik« auf seinem Bagger. Er rauchte, sie lachte, die beiden verstanden sich offensichtlich bestens. Hier formiert sich eine Verschwörung gegen ihn, da ist sich Richy sicher.

Er steht mit beiden auf Kriegsfuß. Angie hat er früher des Öfteren immer mal im Viertel gesehen, aber auf die Nerven geht sie ihm erst seit zwei Jahren, seit sie die Garage im Hinterhof gemietet hat und nach Feierabend und an den Wochenenden an ihrer Moto Guzzi mit abgenommenem Schalldämpfer herumschraubt. Sie haben sich alle gegen ihn verbündet. Angie, »Keine Panik« und vor allem Kevin und das »Biest«. Auch heute waren die beiden wie jeden Morgen in Aktion, und dabei war diesmal auch noch der Hausbesitzer Herr Hermann mit im Spiel.

»Ja, ja, Herr Hermann, schlimm is dat mit der Linde. Jedes Jahr dasselbe.« Der Vermieter war nicht zu verstehen. Gegen das Gebläse konnte man nur Kevin hören.

Richy weiß gar nicht, was er schlimmer findet, den Sound des Laubbläsers oder das servile »Alles klar, Herr Hermann.« In Kevins breitestem Hamburgisch klingt es wie »Hä Hämann«. Vor ein paar Jahren noch hat Knappek den Hof gefegt. Das Schüüh-schüüh-schüüh der harten Besenborsten auf dem Asphalt begleitet von dem wiederholten »Ja, ja, Hä Hämann« hatte Richards fast genauso aufgeregt wie jetzt der Laubpuster. Dabei ist der ältere Hausbesitzer im Grunde genommen ein ganz verträglicher Typ. Wenn er nur nicht dieses Faible für heilpraktizierende oder trommelnde Mieter oder Frauen mit einer alten Moto Guzzi hätte. Aber bei Mieterhöhungen hält er sich netterweise zurück. Sonst könnte Richy sich mit seiner reduzierten Lehrerpension die große Wohnung gar nicht mehr leisten. Nur bei den Lindenblüten und Blättern kennt Hermann kein Pardon. Und sein Sohn, der seinen SUV in einer der Garagen parkt und jetzt eine zweite Garage für seinen neu erstandenen Oldtimer beansprucht, sorgt für neue Probleme. Mit seinem geländegängigen Vierradantrieb hat er schon ein neben den Garagen abgestelltes Fahrrad plattgefahren, und Herrchen kümmert es nicht im Geringsten, wenn sein kläffender Pitbull sämtliche Geschäfte auf dem Hof erledigt. Die Töle scheint sich dafür alles aufzusparen.

Jetzt braucht sein edles Mercedes Cabriolet, Baujahr 1969, mit dem er abends durch Ottensen und die Elbvororte cruist, unbedingt eine Garage. Und zwar die Garage, in der Angie ihre Guzzi stehen hat. Am letzten Wochenende schraubte sie gerade an ihrem Motorrad herum. Der Motor lief mal wieder den halben Vormittag ohne Schalldämpfer zur Probe, da donnerte auch der Vermietersohn mit dem silbergrauen SE in überhöhter Geschwindigkeit auf den Hof. Gleich darauf waren die beiden in heftigem Disput. Das war so laut, dass Richy es zwangsläufig mitbekam. Alles verstehen konnte er nicht, nur einzelne Sätze. Die Motoren der beiden Oldtimer liefen die ganze Zeit weiter. Das rhythmische Hämmern der alten Maschinen hallte durch den Hof. Es ging natürlich um die Garage, die Angie räumen sollte.

»Ich hab einen Vertrag mit deinem Vater!«, schrie sie ihn an.

»Den kann man bei einer Garage jederzeit kurzfristig kündigen!«, moserte er. »Garage ist keine Wohnung. Oder wohnst du hier in der Garage? Dann fliegst du Rockerbraut hier gleich raus.«

»Ich soll hier rausfliegen? Du Schnösel hast hier gar nichts zu melden«, motzte sie zurück.