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Band sieben bis neun der kultigen Krimi-Komödie aus dem Hohen Norden Mörder mögen keine Matjes: Der Herbststurm schwemmt einen Container mit Elektroschrott an Fredenbülls Küste: Zwischen Kabelsalat und ausrangierten Bildschirmen taucht ein Toter auf! Alles weist auf Mord hin – und darauf, dass die Tat in Hamburg begangen wurde. Für seinen siebten Fall muss Dorfpolizist Thies Detlefsen also in die Elbmetropole. Und die gesamte Belegschaft aus der ›Hidde Kist‹, inklusive Imbisshund Susi, kommt natürlich mit. Gemeinsam ermittelt es sich einfach besser auf dem gefährlichen Großstadtpflaster. Fredenbüll goes Reeperbahn ... wenn das mal gut geht. Friedhof der Krustentiere: Ein Herbststurm fegt durch Fredenbüll und weht nichts Gutes in den nordfriesischen Küstenort: Schimmelreiter Hauke Schröder findet Tante Telse tot im Ford Mustang, eine Einbruchserie verunsichert die Dorfbewohner, und auf der gegenüber liegenden Hallig Westeroog gehen unheimliche Dinge vor sich. Dort versetzt eine gruselige Gestalt die wenigen Gäste des Hallig-Hotels, in dem Polizistentochter Tadje gerade ihr Praktikum absolviert, in Angst und Schrecken. Als aus der Hotelküche das größte Messer verschwindet und die Telefonverbindung abreißt, wird die Lage mehr als brenzlig. Dorfpolizist Thies Detlefsen und ganz Fredenbüll durchleben eine wahre Horrornacht. Der weiße Heilbutt: Ein Bilderbuchsommer auf Amrum. Halb Fredenbüll und die komplette »Hidde Kist« machen dort Urlaub. Am trubeligen Strand spült eine Welle dem kleinen Finn plötzlich einen abgetrennten Frauenfuß auf seine Schaufel. Alle starren gebannt aufs Wasser, wo ein riesiger Fisch gerade eine Luftmatratze rammt. Statt ausgelassener Ferienstimmung herrscht jetzt Massenpanik. Hat der Killerfisch bereits eine Frau getötet? Das eingespielte Duo Detlefsen & Stappenbek ermittelt in alle Richtungen. Zwischen Touristenhorden, demonstrierenden Umweltaktivisten, exzentrischen Starköchen, rachsüchtigen Immobilienmaklerinnen und einem verirrten Riesenraubfisch suchen sie fieberhaft nach einem Frauenmörder.
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Seitenzahl: 856
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mörder mögen keine Matjes: Der Herbststurm schwemmt einen Container mit Elektroschrott an Fredenbülls Küste: Zwischen Kabelsalat und ausrangierten Bildschirmen taucht ein Toter auf! Alles weist auf Mord hin – und darauf, dass die Tat in Hamburg begangen wurde. Für seinen siebten Fall muss Dorfpolizist Thies Detlefsen also in die Elbmetropole. Und die gesamte Belegschaft aus der ›Hidde Kist‹, inklusive Imbisshund Susi, kommt natürlich mit. Gemeinsam ermittelt es sich einfach besser auf dem gefährlichen Großstadtpflaster. Fredenbüll goes Reeperbahn ... wenn das mal gut geht.
Friedhof der Krustentiere: Ein Herbststurm fegt durch Fredenbüll und weht nichts Gutes in den nordfriesischen Küstenort: Schimmelreiter Hauke Schröder findet Tante Telse tot im Ford Mustang, eine Einbruchserie verunsichert die Dorfbewohner, und auf der gegenüber liegenden Hallig Westeroog gehen unheimliche Dinge vor sich. Dort versetzt eine gruselige Gestalt die wenigen Gäste des Hallig-Hotels, in dem Polizistentochter Tadje gerade ihr Praktikum absolviert, in Angst und Schrecken. Als aus der Hotelküche das größte Messer verschwindet und die Telefonverbindung abreißt, wird die Lage mehr als brenzlig. Dorfpolizist Thies Detlefsen und ganz Fredenbüll durchleben eine wahre Horrornacht.
Der weiße Heilbutt: Ein Bilderbuchsommer auf Amrum. Halb Fredenbüll und die komplette »Hidde Kist« machen dort Urlaub. Am trubeligen Strand spült eine Welle dem kleinen Finn plötzlich einen abgetrennten Frauenfuß auf seine Schaufel. Alle starren gebannt aufs Wasser, wo ein riesiger Fisch gerade eine Luftmatratze rammt. Statt ausgelassener Ferienstimmung herrscht jetzt Massenpanik. Hat der Killerfisch bereits eine Frau getötet? Das eingespielte Duo Detlefsen & Stappenbek ermittelt in alle Richtungen. Zwischen Touristenhorden, demonstrierenden Umweltaktivisten, exzentrischen Starköchen, rachsüchtigen Immobilienmaklerinnen und einem verirrten Riesenraubfisch suchen sie fieberhaft nach einem Frauenmörder.
Von Krischan Koch sind bei dtv außerdem erschienen:
Flucht übers Watt
Venedig sehen und stehlen
Rote Grütze mit Schuss (Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek 1)
Mordseekrabben (Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek 2)
Rollmopskommando (Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek 3)
Dreimal Tote Tante (Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek 4)
Backfischalarm (Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek 5)
Pannfisch für den Paten (Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek 6)
Mord im Nord-Ostsee-Express (Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek 10)
Schnappt Scholle (Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek 11)
Krieg der Seesterne (Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek 12)
Das Schweigen der Kegelrobben (Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek 13)
Ruhe oder es knallt!
Krischan Koch
Mörderisches Nordfriesland III
Buch 1: Mörder mögen keine MatjesBuch 2: Friedhof der KrustentiereBuch 3: Der weiße Heilbutt
Zwei Küsten-Krimis und ein Insel-Krimi
Für Vops und Wothi und unseren alten Freund Simon Callaghan
»Ich bin ein ruppiger Bursche und berüchtigt dafür, dass ich Wiener Hörnchen mit bloßen Händen zerdrücke.«
Philip Marlowe in ›Tote schlafen fest‹
»So gründliche Arbeit sieht man selten.« Phil Krotke erkennt sich im Spiegel seines schäbigen kleinen Bürobadezimmers kaum wieder. Er zieht mit der Rasierklinge eine Schneise durch den Schaum auf seinem lädierten Kinn. Sein linkes Auge ist geschwollen. Auf dem Hämatom schillern die ersten zarten Regenbogentöne. Die Augen sind blutunterlaufen. In der Nase kratzt verschorftes Blut. Das Kinn schmerzt bei jeder kleinsten Berührung mit der Rasierklinge. Unter seiner Schädeldecke spürt Krotke ein rhythmisches Hämmern, als wäre dort eine Party im Gange. Er betastet seinen Hinterkopf. Eine Weile wird die Feier wohl noch weitergehen.
Phil Krotke hat eine böse Nacht hinter sich. Die beiden Schläger im Freihafen hatten ihn ordentlich in die Mangel genommen. Der kurzsichtige kleine Dünne mit den dicken Brillengläsern war vor ihm umhergetänzelt und hatte mit dem Springmesser hektisch vor seiner Nase gefuchtelt. Phil war so abgelenkt gewesen, dass er die fleischige Faust des Dicken gar nicht hatte kommen sehen. Dann hatte er sich nur auf dessen platte, schiefe Nase und sein Ohr, das wie ein Mettbrötchen aussah, konzentriert. Erst hatte der Typ ihm einen Dampfhammerhaken in den Magen gerammt und dann sein Gesicht mit ein paar satten Geraden verarztet. Phil konnte nur noch zusehen, wie die regenglänzende, gepflasterte Straße hochklappte und ihm entgegenprallte.
Dabei hatte er nur wissen wollen, wo sein Partner Ray Kröger abgeblieben war. Kröger ist seit drei Tagen verschwunden, und Phil hat keinen blassen Schimmer, wohin. Als er Ray das letzte Mal zu Gesicht bekommen hat, war ihm nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen. Er trug wie immer seinen kobaltblauen zerbeulten billigen Anzug und hatte eine nicht angezündete Filterlose zwischen seinen Lippen hängen. Er hatte telefoniert, seine Achtunddreißiger in seinem Jackett verstaut, ihm kurz zugenickt und sich durch die Glastür ihrer gemeinsamen Detektei Richtung Treppenhaus verdrückt. Ray hatte nicht den Eindruck gemacht, dass er auf dem Sprung in den Urlaub war, und Gepäck hatte er auch nicht dabeigehabt. Wo ist sein Partner bloß abgeblieben?
Der Regen schwimmt an den Fenstern herunter. Durch die schlierigen Scheiben sind die Kräne am Hafen und die »Tanzenden Türme« am Ende der Reeperbahn kaum zu erkennen. In den Schlieren scheinen sie tatsächlich zu tanzen. Krotke massiert sich die Schläfen. Dann streicht er sich mit dem Handrücken vorsichtig über das scharfrasierte, lädierte Kinn. Das Rasierwasser brennt auf der Haut, und die Party unter seiner Schädeldecke ist immer noch in vollem Gange.
Er hängt mit einem heißen Kaffee in dem Drehsessel hinter seinem Schreibtisch, auf dem ein halbgegessenes Matjesbrötchen den herumliegenden Fotos und Notizen eines ungelösten Falles Gesellschaft leistet. Draußen herrscht die Sintflut. Phil pustet in seinen Kaffeebecher, als er im Treppenhaus auf einmal das Klackern von Pumps hört. In der Milchglasscheibe zum Flur mit dem spiegelverkehrten Schriftzug »Kröger & Krotke – Private Ermittlungen« erscheint die Silhouette einer Frau. Sie ist groß, hat lange gewellte Haare, und ihre Figur ist nicht zu verachten. Dafür hat Krotke einen Blick.
Vor zwei Tagen war ein erster schwerer Herbststurm über Nordfriesland hinweggefegt. Heute ist noch einmal ein milder Tag. Über den Wiesen am Deich liegt ein leichter Nebelschleier. In der anderen Richtung, über dem Watt, tropft die rote Sonne jetzt fast violett in die See. Die in den Rippelmarken stehenden Pfützen blinken wie rote Lichterketten. An der Badestelle Neutönninger Siel ist die Saison längst vorbei. Der Ausguck des weißen DLRG-Häuschens ist verrammelt. Die meisten Strandkörbe sind bereits für den Winter eingelagert. Tadje und ihr Freund Lasse haben es sich in einem letzten zurückgebliebenen Strandkorb gemütlich gemacht. Ihre beiden Fahrräder liegen daneben im Gras. Tadje ist zu ihrem Freund unter den großen Parka gekrochen. Die beiden küssen sich schon eine ganze Weile ausgiebig. Aber Tadje ist nicht recht bei der Sache.
Die Tochter des Fredenbüller Polizeiobermeisters und ihre Zwillingsschwester Telje machen im nächsten Sommer an der Husumer Theodor-Storm-Schule ihr Abitur. Während Telje Medizin studieren will und in den Herbstferien gerade ein Praktikum in einem Hamburger Krankenhaus macht, jobbt Tadje in Lara Brodersens Bioladen und hat noch keine Ahnung, was sie nach der Schule weiter vorhat. Der Bereich Wellness würde sie interessieren oder auch eine Ausbildung zur Tourismuskauffrau. »Und dann ins Reisebüro nach Husum oder in die Touri-Info nach Sankt Peter, oder was?« Telje hält nicht viel von den beruflichen Ambitionen ihrer Schwester. Und ihr Freund Lasse hat zu dem Thema gar keine Meinung und deshalb auch keine Lust, darüber zu reden. Lasse hat sich offenbar vorgenommen, den Nachmittag mit Küssen zu verbringen. Und Tadje küsst gedankenverloren einfach weiter mit. Doch dann löst sie sich plötzlich von ihrem Freund und deutet aufgeregt zum Wasser.
»Ey, Tadje, was is los?« Lasse ist vollkommen verdattert.
Seine Freundin ist unter dem Parka hervorgekrochen.
»Guck mal, was is das denn?«
»Hallo?! Vielleicht küssen wir uns gerade?« Lasse ist beleidigt.
»Is da ’n Schiff gekentert?« Tadje starrt fasziniert auf das Watt, wo keine hundert Meter vom Ufer entfernt ein großer Gegenstand im ablaufenden Wasser dümpelt. Es ist kein Schiff, sondern eine riesige Kiste aus Stahl, die in der Ebbe innerhalb kürzester Zeit immer deutlicher sichtbar wird.
»Das is ’n Container.« Auch Lasses Interesse ist jetzt geweckt. »Mega.«
Der letzte Rest einer romantischen Stimmung ist dahin. Der rotviolette Ball ist endgültig am Horizont abgetaucht. Im letzten Gegenlicht des rötlichen Himmels ist der Container jetzt immer deutlicher zu erkennen. Die großen Buchstaben einer Aufschrift ragen halb aus den müden Wellen heraus. Telje meint »HAN« und »MIN« entziffern zu können. Die beiden Jugendlichen rätseln über den Inhalt des großen Stahlbehälters, der irgendwo auf der Nordsee von Bord eines Frachters gefallen sein muss.
»Han Min? Das ist irgendwelche Plastikscheiße aus China«, überlegt Lasse. »Spielzeug … oder technische Geräte.«
»Technische Geräte? Vielleicht ’n ganzer Container voll mit dem neuen iPhone X?« Tadje ist gleich Feuer und Flamme. »Das wird doch auch alles in China produziert.«
»Ich weiß nicht.« Lasse ist skeptisch. »Ich tippe eher auf Plüschhasen, vollgepumpt mit irgendwelchen Giftstoffen.«
»Ach, hör doch auf! Dat wissen wir doch nich.«
»Doch! Hast du das nicht gelesen? Voll übel! Von dem Zeug werden die Kinder echt krank.« Aber auch Lasse möchte jetzt wissen, was sich in dem Container befindet.
Das Wasser ist inzwischen so weit abgeebbt, dass die große angerostete grüne Stahlkiste auf dem Watt steht. Es wird von Minute zu Minute dunkler. Nur im Westen glimmt noch ein letztes dunkelviolettes Schimmern. Über der See liegt jetzt ebenfalls ein Nebelschleier, der auch den Container umhüllt. Es regnet nicht, aber die Luft ist feucht.
Die beiden Jugendlichen ziehen sich ihre Schuhe aus und laufen durch das feuchte Watt.
»Voll nass«, jammert Lasse und zieht sich seine Wollmütze tief in die Stirn, als würde das etwas gegen kalte, nasse Füße nützen. Zuerst stapfen sie mutig auf den Container zu, dann nähern sie sich ihm mit vorsichtigen Schritten. Jetzt ist die übergroße Schrift deutlich zu erkennen. Lasse lässt den Lichtkegel seiner Handytaschenlampe über die großen Buchstaben HANMINSHIPPING streifen. Beide gehen prüfend einmal um die Stahlkiste herum. An den meterhohen Klappen an der schmalen Seite tropft das Wasser herunter. Tadje, die jetzt ebenfalls ihr Handy gezückt hat, leuchtet auf ein Schild, auf dem »Hamburg« und darunter »Blankenhorn Shipping« zu lesen ist. Der Name kommt den beiden irgendwie bekannt vor. An dem großen Riegel, mit dem die beiden Türen verschlossen sind, können sie kein Schloss entdecken und auch keine Plombe oder etwas Ähnliches. Die Lichtkegel der beiden Taschenlampen tanzen über die gewellten, giftgrünen, mit Roststellen übersäten Stahlwände.
Tadje rüttelt an dem Riegel. »Das ist nicht verschlossen … aber das Ding klemmt.«
»Meinst du, dass wir das echt öffnen sollen?«
»Mann, Lasse, ich glaub’s nicht. Sei nich so’n Schisser!« Tadje zerrt weiter an dem Schloss herum. »Wir brauchen irgendetwas, womit wir das Ding aufhebeln können.« Die Polizistentochter ist voll bei der Sache.
So stapft Lasse noch einmal schnell zu seinem Fahrrad und holt sein dürftiges Werkzeug aus seiner Fahrradtasche. Der billige Schraubenzieher verbiegt gleich. Aber die Metallschieber lösen sich trotzdem. Mit vereinten Kräften können die beiden die Verriegelung lösen. Als sie an einem der Türflügel ziehen, kommt ihnen aus dem Inneren des Containers sofort ein Schwall Wasser entgegen. Beide haben augenblicklich durchnässte Hosenbeine. Aber dadurch lassen sie sich jetzt nicht mehr aufhalten. Lasse öffnet die Tür einen Spalt, während Tadje ihm mit ihrem Handy leuchtet. Die dicke Stahlklappe lässt sich nur schwer bewegen. Lasse zerrt mit beiden Händen daran. Als er sie ein weiteres Stück geöffnet hat, werden mit einem letzten Wasserschwall Blech und Plastikteile aus dem Inneren herausgespült. Verrostete Elektroteile, Glassplitter eines alten Fernsehers, mehrere zerdrückte VHS-Cassetten, eine Fernbedienung und zum Schluss zwei alte Mobiltelefone.
»Nach dem iPhone X sieht das nich aus«, bemerkt Lasse knapp. »Eher nach ein paar hundert Jahre alten Nokia-Knochen.« Beide leuchten das Innere des Containers ab.
Die Herkunft der meisten Teile lässt sich nicht mehr bestimmen. Es sind nur noch Kabel, Blechplatten mit Transistoren, das zerrupfte Innenleben ausrangierter Geräte, vorsintflutliche Videorecorder, zerschlagene Bildschirme und mehrere Kanister mit Flüssigkeiten, die durch die Dreckspuren auf dem Kunststoff verdächtig giftgelb hindurchschimmern. Die Lichtkegel der beiden Handylampen huschen über das Chaos aus Elektroschrott.
Plötzlich springt aus einer ausgedienten Musiktruhe, die ganz oben auf dem Müllberg unter der Containerdecke klemmt, etwas hervor. Ein seltsames Lebewesen, das Tadje und Lasse einen Riesenschreck einjagt. Sie können es in der Dunkelheit zuerst gar nicht erkennen. Aber dann hat Tadje das Tier im Lichtkegel ihrer Taschenlampe. Es ist ein kleiner Affe, der im kaltweißen Gegenlicht erstarrt stehen bleibt. Er sieht die beiden aus großen gelben Augen halb entsetzt, halb erstaunt und irgendwie interessiert an. Der Affe stößt ein kurzes »Uh-uh« aus. Dann springt er auf allen vieren von dem Schrottberg herunter und hüpft an den beiden Jugendlichen vorbei aufs Watt. Er wundert sich über den feuchten Sand. Irritiert schüttelt er eine Muschel von seiner Hand. Erst will er in den Container zurück. Aber dann überlegt er es sich anders und springt an Tadje hoch. Er klammert sich an sie, dann hat sie ihn gleich auf dem Arm. Für den kleinen Affen scheint das ganz selbstverständlich. Er blickt sie aus dem grauhaarigen Gesicht mit der weißen Zeichnung über den Augen freundlich an.
»Voll süß«, findet Tadje, nachdem sie den ersten Schreck überwunden hat. Zaghaft berührt sie den braunen Streifen längerer Haare mitten auf dem Kopf.
»Dieselbe Frisur wie Ove«, bemerkt Lasse.
»Du hast recht. Echt wie Oves Teppichfliese.« Die Ähnlichkeit mit der Frisur ihres Mitschülers, die wie der Rest einer Teppichfliese auf seinem ansonsten kahlrasierten Kopf klebt, ist unübersehbar.
Lasse nimmt Tadje das Handy mit der Taschenlampe ab. Während Tadje mit dem Affen auf dem Arm dasteht, leuchtet er noch einmal alles ab. Und dann bleibt der Lichtkegel auf einmal an einem menschlichen Körperteil hängen. Es sieht aus wie eine Hand und ein Arm in einem durchnässten blauen Jackett. Mitten aus zerschredderten Festplatten und einem wüsten Kabelcocktail starren zwei aufgerissene Augen aus einem bläulich fahlen Gesicht heraus.
»Die OP ist gut verlaufen!«, verkündet Antje euphorisch. »Piet muss natürlich noch liegen, aber er konnte schon wieder telefonieren.«
»Dat is ’n gutes Zeichen«, findet auch Klaas und lässt sich von Antje zur Feier des Tages ein Pils über den Glastresen reichen. »Denn Knie is nich so ganz ohne … wat man so hört.«
Die Stammbesetzung der »Hidden Kist« ist erleichtert. Die Operation in der Hamburger Endoklinik hatte Piet Paulsen auf die lange Bank geschoben. Doch zuletzt hatte er den täglichen Weg von seiner Wohnung zum Imbiss nur unter größten Schmerzen und mit einer Gehhilfe zurücklegen können. Paulsens Abwesenheit hinterlässt eine schmerzliche Lücke an Stehtisch Zwei. Postbote Klaas und Polizeiobermeister Thies Detlefsen wissen mit dem vielen Platz gar nichts anzufangen. Auch Antjes Grill läuft nur noch auf halber Flamme. Mit traurigem Blick stopft sie Putenfleischwürfel in eine Plastikdose. Bounty sieht ihr interessiert zu.
»Ja, muss ich einfrieren«, erklärt die Imbisswirtin. »Putenschaschlik ›Hawaii‹ hab ich praktisch nur für Piet auf der Karte. Wird ansonsten wenig genommen. Aber er is ja hoffentlich bald wieder da.« Mit einem Seufzer schiebt Antje die Tupperdose ins Gefrierfach. Imbisshündin Susi, auch kein großer Schaschlik-Fan, gibt ein missbilligendes Knurren von sich.
»Wir wollen mal hoffen, dat er wieder der Alte wird.« Klaas macht sich offenbar doch Sorgen.
»Freunde, nu mal ganz relaxt.« Althippie Bounty hebt beschwichtigend die Hände. »Es ist eine Knie-Op. Und selbst wenn er mit dem neuen Knie nich ganz so gut unterwegs ist, das Sitzen auf dem Barhocker im Imbiss wird er ja wohl noch hinkriegen.«
»Ja, Piet is ’n Fighter«, davon ist Thies überzeugt. »Aber vielleicht gefällt ihm dat in Hamburg so gut, dass er dableiben will. Telje ist ja auch grad wegen Praktikum unten.«
»Hamburg is doch keine Stadt für Piet«, wendet Antje ein.
»Nee, Piet is Fredenbüller durch und durch.« Klaas kennt seinen Imbissfreund. »Vor allem is er kein Stadtmensch … als ehemaliger Landmaschinenvertreter.«
»Damit er sich in der großen Stadt nich so einsam vorkommt, besuchen wir ihn morgen im Krankenhaus. Ich mach ihm ’n schönes Lunchpaket.« Antje sorgt sich immer, dass ihre Stammgäste außerhalb der »Hidden Kist« nichts Richtiges zu essen bekommen.
»Wir brauchen nur noch ’n fahrbaren Untersatz«, bemerkt Bounty. Antje und Klaas sehen zuerst Thies und dann den Schimmelreiter auffordernd an, der auf einem Barhocker vor dem neuen Spielautomaten sitzt und das Gerät mit Geldmünzen füttert.
Den Flipper, den Piet im letzten Jahr bei einer Pokerrunde im Hinterzimmer des Bredstedter Spielsalons gewonnen hatte, hat Antje nach zähem Ringen aus dem Imbiss verbannt und gegen einen »Action Star Explosion Compact« eingetauscht. Seitdem bringt der Schimmelreiter die Walzen mit den Dollarzeichen, Ananas und Kleeblättern zum Rotieren, begleitet von einem durchdringenden »Dadadüdadadüdüdüda«. Sehr viel seltener klimpern dann auch mal ein paar vereinzelte Zehn-Cent-Stücke in die dafür vorgesehene Münzmulde.
»Im Grunde genommen rentiert sich dat nicht«, hatte Paulsen gleich zu bedenken gegeben. »Da lohnt sich Pokern schon eher.« Aber da war der »Explosion« schon an der Wand zwischen Doppelkühlschrank und Garderobenhaken montiert.
»Alles klar, ich fahr euch!« Für eine Spritztour in seinem tiefergelegten Mustang ist Schimmelreiter Hauke Schröder immer zu haben.
Antje will den Imbiss für einen Tag schließen. Nur Thies weiß noch nicht recht, ob er überhaupt mitfahren kann. Der Fredenbüller Polizeiobermeister ist schließlich immer im Dienst. Aktuell macht er sich Hoffnungen auf einen neuen Fall. Vor der Küste von Kampen und St. Peter-Ording sind zwei Container angespült worden, einer mit Salzwiesenlamm, Lübecker Marzipan und Labskaus in Dosen und ein weiterer mit Elektroschrott. Thies findet das irgendwie verdächtig. Vielleicht sollte er doch besser vor Ort bleiben.
Bei der Planung des morgigen Ausflugs nach Hamburg ist es spät geworden. Antje belegt gerade noch einen Croque »Störtebeker« mit Hering und Krabben. Die Kühltasche mit ein paar Bieren ist bereits fertig gepackt. Die Imbissrunde ist gerade im Aufbruch, als Tadje und ihr Freund Lasse in »De Hidde Kist« stürmen. Tadje hat den kleinen Affen auf dem Arm.
»Echt, Papa, wieso hast du dein Handy wieder nich an?! Akku leer, oder was?« Tadje ist vollkommen außer Atem, und Lasse, der Blasse aus ihrer Klasse, ist um die Nase herum mal wieder kalkweiß mit einem Stich ins Grünliche. Der Affe lässt seinen Blick interessiert über Glastresen, Fritteusen und das gesamte Interieur und die Gäste des kleinen Imbisses schweifen.
»Wat ist dat denn?«, staunt Thies. Den anderen hat es ganz die Sprache verschlagen. Antje, Bounty, Klaas, der Schimmelreiter und auch Schäfermischling Susi starren den Affen ungläubig an. Das Tier blickt aus seinen wachen gelben Augen erwartungsvoll zwischen Stehtisch Eins und Zwei hin und her. Dann springt es Tadje unverhofft vom Arm, schwingt sich behände über den Glastresen und stürzt sich gierig auf den Croque »Störtebeker«. Er schnappt sich das große Fischbrötchen und bringt sich mit seinem Imbiss auf dem Spielautomaten, dem »Action Star Explosion«, in Sicherheit.
»Wo kommt der denn her?«, will Bounty wissen.
»Haben wir hier neuerdings ’n Urwald, oder wat?«, fragt sich der Schimmelreiter.
»Neeee!« Tadje schüttelt den Kopf. »Badestelle Neutönninger Siel.«
Phil Krotke wusste gar nicht, dass die Fahrt von Sankt Pauli zum Falkensteiner Ufer eine halbe Weltreise ist. Auftraggeber aus Blankenese hat er eher selten. Und diese vornehme Familie Steenwoldt ist eigentlich auch gar nicht sein Kunde. Sie hatten seinen Partner Ray Kröger beauftragt. Worum es dabei wirklich geht, weiß Krotke immer noch nicht. Die junge Vivian Steenwoldt hatte sich am Vortag bei dem Besuch in seinem Büro reichlich nebulös ausgedrückt. Und dann hatte sie ein Kuvert mit zwanzig druckfrischen gelben Zweihunderteuroscheinen aus ihrer Handtasche gezaubert. Ihre Schwester habe sich wieder eingefunden. Für sie sei der Auftrag erledigt und die ganze Sache abgeschlossen.
Phil kann die Scheine verdammt gut gebrauchen. Aber er weiß nicht recht, was er von der ganzen Sache halten soll. Er war gestern auch nicht gut in Form gewesen, und dann hatte die großgewachsene Lady in ihrem perfekt sitzenden Kostüm ihm zusätzlich die Sinne geraubt. Als die Frau mit den hohen Wangenknochen, dem blassen Teint und dem leicht asiatischen Einschlag ihm rauchend am Schreibtisch gegenübersaß, war alles nur noch an ihm vorbeigerauscht. Eigentlich wollte sie Ray sprechen, und dann hatte sie vage etwas von ihrer Schwester und von Drogen angedeutet. Ray habe möglicherweise noch Unterlagen und Fotos, die sie jetzt zurückhaben wollte. Phil war gestern nicht in der Verfassung gewesen, sich näher damit zu beschäftigen. Doch dass Ray heute immer noch nicht aufgetaucht ist, gibt ihm allmählich zu denken.
Viel schneller als Schritttempo kann er kaum fahren. Der Regen trommelt mit schweren Tropfen auf das Autodach seines alten Ford Capri. Phil hängt an der Kiste mit der mintgrünen Metalliclackierung und der Zweikommadreilitermaschine.
Auf der Elbchaussee sieht es aus, als würde gerade die Welt untergehen. Immer wieder kommen ihm Scheinwerfer entgegen. Die Autos dahinter sind kaum zu erkennen. Das spritzende Wasser unter den Kotflügeln beim Durchfahren der Pfützen ist lauter als das Motorengeräusch. In Teufelsbrück steht das Wasser mehr als eine Hand breit auf dem Asphalt. Auch von oben schüttet es unaufhörlich. Es kommt ihm vor, als würde er durch ein Aquarium fahren. Die Scheibenwischer des Fords klatschen wie ein müdes Publikum. Gegen die Regenmassen haben sie keine Chance. Für einen Sekundenbruchteil sind immer mal wieder die Lichter oder eine über die Straße hetzende Gestalt mit Regenschirm schemenhaft zu erkennen, dann verschwimmt alles sofort wieder in diffusen Schlieren.
Nach einer halben Ewigkeit biegt Krotke in das Falkensteiner Ufer ein. Hier kommt ihm kein einziges Auto mehr entgegen. Es ist erst Nachmittag, aber die Dämmerung stülpt sich bereits über die Stadt. Die Lichter der Straßenlaternen spiegeln sich auf dem regennassen Pflaster. Die Gegend ist wie ausgestorben. Für einen Moment bleibt Krotke im Wagen sitzen. Dann fischt er sich ein Regencape von der Rückbank des Capris und läuft über den von riesigen Rhododendren gesäumten Kiesweg zur Villa der Steenwoldts. Im Vorüberlaufen sieht er in einer erleuchteten Garage den Chauffeur mit einem überdimensionierten Lappen an einem silbernen Bentley herumwischen, der neben einem italienischen Sportwagen und einer Mercedes-Limousine neueren Datums parkt. Neben der Garage leuchtet ein Gewächshaus mit einem Kuppeldach durch die Dämmerung. Krotke meint, hinter den beschlagenen Scheiben ein paar Vögel und einen Affen zwischen den tropischen Pflanzen herumturnen zu sehen. Davor leuchten kurz mehrere Koikarpfen orangefarben aus einem Teich, über den eine Regendusche mit dicken Tropfen platschend hinwegfegt. Phil sieht das nur aus dem Augenwinkel. Er hat es eilig, schnell ins Trockene zu kommen.
Auf sein Läuten hin öffnet ein Mann, der wie ein Butler aussieht und vermutlich auch einer ist. Krotke kommt sich vor wie in einem Detektivfilm aus den Neunzehnhundertvierzigerjahren. Er ist ja auch Detektiv, aber die Vierzigerjahre sind ein Weilchen her. Der Mann bittet ihn in eine Halle, die über zwei Stockwerke der Villa reicht. In ihrer Mitte schwebt ein überdimensionierter Kronleuchter. Die geschwungene Marmortreppe, die an einem schmiedeeisernen Jugendstilgeländer ins Obergeschoss führt, ist mit einem schon recht mitgenommenen roten Läufer ausgelegt. An den holzvertäfelten Wänden hängen Ölporträts von Männern mit Nickelbrillen und Monokeln, die Ahnengalerie der Familie Steenwoldt, nimmt Krotke an.
»Sie möchten zu Frau Vivian Steenwoldt, vermute ich. Wen darf ich melden?«, fragt der Butler in altmodischem Hamburgisch.
»Das vermuten Sie ganz richtig.« Phil überreicht ihm seine Visitenkarte.
»Private Ermittlungen«, liest der Typ in der gestreiften Weste laut vor. Er platziert Phil, während er ihn bei Vivian Steenwoldt anmeldet, auf einem durchgesessenen Samtsofa. Von hier hat Krotke eine Glasmalerei auf einem hohen Fenster, ebenfalls im Jugendstil, im Blick. Sie zeigt einen Jüngling in Lendenschurz, der seiner Freundin mit graziler Geste offenbar aus einem Teich heraushelfen möchte, in dem fünf weitere Mädchen baden. Die Ladys tragen lediglich ihr wallendes Haar. Auf Badebekleidung hat die Damenriege verzichtet. Eigentlich müsste man dem jungen Mann etwas zur Hand gehen, überlegt Krotke, denn allein scheint der Junge mit den Mädchen nicht recht weiterzukommen.
Mitten in diese Überlegungen stolpert, statt der eleganten Vivian Steenwoldt von gestern, ein junges Mädchen von der Galerie die Treppe herunter. Sie trägt zerrissene Vintage-Jeans und ein weites weißes, nicht besonders zugeknöpftes Herrenoberhemd. An ihrem Nacken lugt ein Tattoo mit japanischen oder chinesischen Schriftzeichen heraus.
»Nanu, wen haben wir denn da?«, flötet sie und wirft die blondierten Haare in den Nacken, sodass sie im Licht des Kronleuchters gleißen.
»Ich warte auf Ihre …« Weiter kommt Phil, der sich aus dem Samt erhoben hat, gar nicht, da torkelt ihm das Mädchen auch schon direkt in die Arme. Damit sie nicht auch noch bei der Badegesellschaft im Jugendstilfenster landet, fängt Krotke sie lieber auf.
»Hoppla, Sie kommen ja gleich zur Sache.« Sie hängt sofort an seinen Schultern. Phil lässt sie wieder aus seinem Arm. Einen besonders sicheren Stand hat sie allerdings nicht. Dass sie außer Butterkeksen zum Fünfuhrtee noch etwas anderes genascht hat, sieht er auf den ersten Blick. Sie hält sich an ihm fest.
»Sie sind nett«, zirpt sie lallend. »Ein richtig netter Junge …«
Krotke sieht tatsächlich immer noch recht gut aus mit seinem markanten Kinn, den kurz geschnittenen Haaren und dem teuren Jackett, das er sich vor Urzeiten nach einem lukrativen Auftrag mal geleistet hat. Inzwischen ist das Sakko wie auch sein Besitzer deutlich in die Jahre gekommen. Aber Phils abgetragener Charme hat immer noch eine gewisse Wirkung auf die Damenwelt. Dass er laufend seinen berühmten Kollegen Philip Marlowe zitiert, finden sie schrullig charmant. Manche halten ihn für einen dieser Typen, die beim Küssen die Zigarette nicht aus dem Mund nehmen. Aber das scheint einigen Ladys sogar zu gefallen.
»Richtig süß«, zwitschert das Mädchen. »Vielleicht ein bisschen klein geraten.«
»Das nächste Mal komme ich auf Stelzen und mit einem Tennisschläger unterm Arm.«
Sie kichert. »Haben Sie eine Zigarette für mich?«
Krotke schüttelt eine filterlose Chesterfield aus der Schachtel. »Dürfen Sie denn überhaupt schon rauchen?«
»Wenn Sie es meiner großen Schwester nicht verraten.«
Der Detektiv bemerkt zuerst gar nicht, dass plötzlich ein Affe am Geländer aus dem ersten Stock herunterturnt. Er stürzt sich auf die Zigarettenpackung, reißt Phil die Schachtel aus der Hand und pest die Treppe wieder hinauf.
»Hier sind scheinbar alle knapp mit Zigaretten«, knurrt Krotke und zupft sich am Ohrläppchen.
»Mister Wong!«, quiekt das Mädchen schrill. »Gib das sofort wieder her!« Der Affe stößt ein kurzes »Uhh-uhh« aus. Er nimmt eine Zigarette, die aus der Packung herausguckt, zerbröselt sie zwischen den Fingern, dann wirft er die Schachtel von der Galerie haarscharf an dem Kronleuchter vorbei nach unten.
»Gewöhnt er es sich gerade ab?« Der Detektiv sammelt seine Chesterfield wieder ein. Das Mädchen in den Vintage-Jeans sieht ihn an. Eben hat sie noch durch ihn hindurchgesehen. Jetzt begutachtet sie prüfend sein in allen Farben schillerndes Veilchen.
»Sind Sie Boxer?«
»Wie kommen Sie denn darauf?« Krotke grinst müde, gibt ihr Feuer und zündet sich selbst eine an. »Aber ich muss Sie enttäuschen, so schnell geh ich vor Ihnen nicht auf die Bretter.«
»Wie süß«, zwitschert sie. »Sie sehen wirklich nett aus. Ohne das blaue Auge wären Sie richtig ansehnlich.«
»Da müssen Sie mich erst mal in Badehose sehen.« Er linst zu dem Badenden im Fenster hinüber und nimmt einen tiefen Zug.
In dem Moment kommt der Butler in die Halle zurück. »Frau Steenwoldt erwartet Sie.« Er verzieht keine Miene. Wortlos reicht er Phil einen Aschenbecher, in dem er seine Zigarette ausdrücken kann. »Wenn Sie mir folgen mögen.«
Das Mädchen torkelt hinter ihnen her, und auch der Affe ist wieder zur Stelle.
»Der scheint ja zur Familie zu gehören«, bemerkt der Detektiv.
»Nein, der hat seine eigene Familie.« Der Butler rümpft kaum sichtbar die Nase. »Die Steenwoldts besitzen vier Javaneraffen … das heißt, zurzeit sind es nur drei.«
»Die kleine Mai-Li ist weggelaufen«, lallt das Mädchen mit trauriger Stimme.
»Und Mister Wong, Sie haben zum Salon keinen Zutritt.« Der strenge Diener verzieht keine Miene.
Der Butler führt Krotke in einen großzügigen Raum mit einem spektakulären Blick auf die Elbe. Hinter der zum Fluss abfallenden, parkähnlichen Gartenanlage, die von der aufkommenden Dunkelheit verschluckt wird, schiebt sich gerade ein beleuchteter Containerriese, begleitet von zwei Schleppern, durchs Bild. Der Raum ist mit dicken asiatischen Teppichen, mit Stilmöbeln und allerlei asiatischen Kunstgegenständen eingerichtet. Es duftet penetrant nach Orchideen, die in einer chinesischen Vase auf einem Beistelltisch stehen. An einer Wand hängt ein historischer Gobelin mit zwei asiatischen Edelmännern in langen Gewändern. Auf einem alten chinesischen Schrank droht eine kleinere Elefantenherde aus Ebenholz einen Samurai aus Porzellan über den Haufen zu rennen. In dem hohen Raum schwebt der nächste Kronleuchter. Die Stühle mit den roten Sitzpolstern und der fernöstlichen Ornamentik in der filigranen Rückenlehne sehen nach teuren Antiquitäten aus. Aber wirklich beurteilen kann Krotke das nicht. Er sammelt keine Antiquitäten, abgesehen von den alten Rechnungen, die sich auf seinem Schreibtisch stapeln.
»Wie ich sehe, haben Sie sich bereits mit meiner Schwester Carmen angefreundet.« Vivian Steenwoldt trägt heute statt Kostüm eine Hausjacke aus Samt mit asiatischen Stickereien und einem gesteppten Inlay.
»Ihre Schwester? Ja, wir haben uns schon kennengelernt.« Phil blickt zwischen den beiden hin und her. Auch heute Nachmittag, im Licht des Kronleuchters, ist Vivian Steenwoldt einen Blick wert. Sie ist auch zu Hause sorgfältig geschminkt, die gewellten, strähnig blondierten Haare sehen aus wie frisch frisiert, und sie duftet, wie der Taj Mahal im Mondlicht aussieht. An ihrer rechten Hand stecken gleich mehrere Karat.
Sie sieht anders aus als die Frauen, mit denen Phil sonst zu tun hat. Aber sie sieht umwerfend aus, findet er. Die Schwestern, die aparte Blankeneser Kaufmannstochter und die deutlich jüngere durchgeknallte Göre auf Kokain, Crack oder sonst was, könnten unterschiedlicher kaum sein. Aber bei dem asiatischen Einschlag mit den hohen Wangenknochen und den leicht schrägstehenden Augen ist die Ähnlichkeit unübersehbar. Und beide haben für eine Asiatin ungewöhnlich blonde Haare.
Carmen pustet ihm eine Lunge voll Rauch ins Gesicht. »Ist er nicht süß?«, lallt sie kichernd.
»Carmen, lässt du mich mit Herrn … ähhh … Krotke mal allein.« Ihr Ton ist bestimmt.
»Vivian möchte Sie ganz für sich haben. Wieder wichtige Geschäfte, oder was?« Sie wirft ihrer Schwester einen beleidigten Blick zu und schwirrt aus dem Raum.
Vivian bietet ihm einen Platz auf einem der altenglischen Stilsessel an. »Gibt es etwas Neues, Herr Krotke? Haben Sie etwas von Ihrem Partner gehört? Wohl nicht, sonst würde vermutlich Herr Kröger hier sitzen, oder?«
»Hat er sich bei Ihnen gemeldet?« Krotke kommt gleich zur Sache. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« Phil streicht sich mit der Innenseite des Daumens über seine geschwollene Unterlippe.
»Das ist eine Weile her. Aber wir haben vor ein paar Tagen telefoniert. Er behauptete, er habe neue Erkenntnisse.« Vivian schlägt die langen Beine übereinander. »Dann ist er zu unserem Treffen nicht erschienen.« Sie hält kurz inne. »Und wenig später musste er auch gar nicht mehr erscheinen. Sein Auftrag hatte sich erledigt.«
»Womit hatten Sie ihn denn beauftragt? Ich war wohl gestern nicht so ganz aufnahmefähig.« Aber sobald er der attraktiven Reederstochter gegenübersitzt, hat Krotke schon wieder Probleme, sich zu konzentrieren. »Sie sagten, die Geschichte hat etwas mit Ihrer Schwester zu tun …?«
»Ja, mein Vater und ich hatten Ihren Partner beauftragt. Meine Schwester war verschollen …« Sie macht eine Pause. »Sie ist da ganz offenbar in die falschen Kreise geraten.«
»Die falschen Kreise. Soso.« Krotke versucht ein müdes Grinsen. Er fingert im Jackett nach seinen Chesterfield. »Darf man hier rauchen?«
Sie reicht ihm wortlos einen Aschenbecher aus Jade. Er zündet sich eine Filterlose an. »So ganz verstehe ich das immer noch nicht.«
Ihr Blick gibt ihm zu verstehen, dass er wohl auch nicht so ganz zu den richtigen Kreisen gehört. Sie windet sich. »Wissen Sie … es geht auch um … Drogen.«
»Der Zusammenhang ist nicht zu übersehen«, stellt Phil fest. »Aber Kröger und ich, wir sind keine Drogentherapeuten, wir sind Privatdetektive.«
»Wie gesagt, meine Schwester hat sich wieder eingefunden und …« Die schöne Vivian ist inzwischen noch etwas blasser geworden.
»… und hat immer noch ein Drogenproblem«, brummt der Detektiv. »Hat sie sich mit Drogen vielleicht selbst ein paar Euros dazuverdient, weil Papa mit dem Taschengeld so knauserig ist?« Könnte Vivian das mit den falschen Kreisen gemeint haben?
»Wie Sie ganz richtig sagen, das ist nicht Ihr Metier.« Vivian sieht Phil an, dass der sich schon wieder kaum konzentrieren kann. Dann wird sie sehr geschäftsmäßig. »Ihr Partner hatte den Auftrag, sie wieder aufzutreiben. Das ist ihm, wie Sie sich eben überzeugen konnten, gelungen.«
»Oder ist die Kleine in den zerrissenen Jeans von selbst wieder aufgetaucht?«, fragt Krotke dazwischen.
Vivian hebt die Augenbrauen. »Das restliche Honorar plus Spesen haben Sie gestern von mir erhalten. Über die Höhe können Sie sich nicht beklagen, oder?« Sie verzieht ihre roten Lippen zu einem süffisanten Lächeln. »Für mich ist der Fall erledigt.«
Krotke nimmt einen Zug aus seiner Chesterfield und zupft an seinem Ohrläppchen. »Für mich fängt der Fall gerade erst an. Ihre Schwester mag ja wieder da sein, dafür ist mein Partner jetzt von der Bildfläche verschwunden.«
Nachdem Tadje und Lasse aufgeregt in die »Hidde Kist« gestürmt sind und von ihrem Fund an der Badestelle Neutönninger Siel berichtet haben, schreitet Thies sofort zur Tat. Zusammen mit seiner Tochter und ihrem Freund fährt er zu dem Fundort des Toten. Klaas, Bounty und Imbisshund Susi, die bei der Ermittlungsarbeit schon oft wertvolle Dienste geleistet hat, sind mit von der Partie. Antje und Hauke Schröder haben in der »Hidden Kist« derweil ein Auge auf den kleinen Affen, der es sich zusammen mit dem Schimmelreiter vor dem »Explosion Compact« gemütlich gemacht hat. Hauke füttert den Spielautomaten mit ein paar Zwanzigcentstücken. Die Walzen rotieren kaum, schon drückt der kleine Affe in Windeseile hintereinander die leuchtenden Tasten des Gerätes. Prompt bleiben nebeneinander drei Ananas, drei Palmen und immer wieder drei Bananen stehen, worauf eine wahre Münzflut aus dem Gerät herausrasselt. Der Affe gibt ein begeistertes »Uh-uh-uh-uh« von sich. Der Schimmelreiter bringt nur ein knappes »Scheiße, is dat geil« heraus. »Wenn du so weitermachst, haben wir den Explosion heute Abend noch leer geräumt.«
Die anderen sind mittlerweile in Neutönninger Siel eingetroffen. Der kleine Ort liegt wie ausgestorben da. Er besteht ohnehin nur aus der Badestelle mit der DLRG-Bude, einem Schleusenhaus und dem Ausflugslokal »Café Wattblick«. Auch in dem Lokal ist heute Nacht alles dunkel. Im Augenblick wirft der Mond ein letztes fahles Licht über das Watt, das jetzt wie eine Mondlandschaft aussieht. Vom Süden kommt Wind mit ein paar Regentropfen auf. Wolken schieben sich allmählich über den ganzen Himmel. Thies hat sich seine Öljacke übergezogen und zieht sich die Polizeimütze tief in die Stirn.
Der Container steht gespenstisch mitten im Wattenmeer. Das Wasser hat sich so weit zurückgezogen, dass demnächst Niedrigwasser sein müsste. Thies und die anderen laufen mit Taschenlampen zu dem Container. Der Tote liegt unverändert zwischen dem Elektroschrott. Der kobaltblaue Ärmel seines Anzuges leuchtet im Schein des Lichtkegels von Thies’ Taschenlampe. Die toten Augen starren aus einem aufgedunsenen kalkweißen Gesicht ins Leere. Die Haare kleben nass an der Stirn. Im Gesicht und am ganzen Kopf sind undeutlich Verletzungen, Hämatome und im Wasser aufgeweichte Schnitte und Platzwunden zu erkennen. Der Rest des Körpers liegt verborgen unter einem Berg von Elektroschrott.
Thies, Klaas, Tadje, Lasse, Bounty und Susi stehen konsterniert vor dem Container. Lasse tendiert unter seiner Wollmütze schon wieder verdächtig ins Grünliche. Kurz verschlägt es allen die Sprache.
Der Fredenbüller Polizeiobermeister findet sie als Erster wieder. »Han Min? Dat liegt irgendwo in China, oder?« Die anderen zucken die Schultern.
»Komisch, wat hat er zwischen den ganzen technischen Geräten zu suchen?«, fragt sich der Postbote.
»Wahnsinn«, entfährt es Bounty. »Echt der Wahnsinn, was der Spätkapitalismus alles an Schrott produziert.«
»Ja, Schrottplatz auf See«, konstatiert Klaas.
Susi schnüffelt an verrosteten Transistoren und einem in seine Einzelteile zerlegten Röhrenfernseher. Sie bleibt kurz in einem Knäuel aus Kabeln hängen, schnauft verärgert und wendet sich dann angeekelt ab.
»Ich kann den Hund verstehen.« Bounty nickt dem Schäfermischling zu.
»Dat ist doch alles Sondermüll«, überlegt der Postbote.
»Nee, Klaas, dat is Mord«, stellt Thies unmissverständlich klar. »Oder sollen wir wegen falscher Mülltrennung ermitteln.«
Der blasse Lasse muss sich jetzt doch ein Grinsen verkneifen. Tadje verdreht die Augen. »Mann, Papa.«
»Thies, wat sollen wir machen?« Klaas wartet auf klare Anweisungen, und auch Bounty und Susi signalisieren Einsatzbereitschaft.
»Recyclinghof Bredstedt, oder?« Lasse zieht die Kapuze seines Anoraks enger.
»Erst mal müssen wir den Toten da rauskriegen, bevor die Flut kommt.« Der Fredenbüller Polizeiobermeister überlegt. »Eigentlich muss die KTU da vorher mal ran. Aber ich fürchte, die Flut is schneller als die Kieler Spusi.« Auf seinen speziellen Freund Börnsen, mit dem Thies regelmäßig aneinandergerät, hat er ohnehin keine sonderliche Lust.
»Willst nich Nicole anrufen?«, schlägt Bounty vor.
»Die is doch nich mehr in Kiel, hast das gar nich mitgekriegt?« Thies blickt einigermaßen ratlos. Er ist regelrecht ein bisschen beleidigt, dass die von ihm so verehrte Kollegin nicht mehr zuständig ist.
Früher hätte er einfach bei Kriminalhauptkommissarin Nicole Stappenbek in der Mord Zwei in Kiel angerufen. Aber Nicole, mit der er mittlerweile schon etliche Fälle zusammen gelöst hat, ist nicht mehr in Kiel. Wegen ihres neuen Freundes hat sie sich vor einem halben Jahr nach Hamburg versetzen lassen. Thies findet das gar nicht komisch. Nicole und er waren ein tolles, eingespieltes Team. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass er für die blonde Kieler Kommissarin schwärmt, sehr zur Begeisterung seiner Frau Heike. Beim Fredenbüller Feuerwehrfest hatten Thies und Nicole sich sogar mal geküsst. Aber das ist auch schon ein Weilchen her. Und jetzt war sie zu ihrem Tischler nach Hamburg gezogen.
Thies hatte ihn einmal kurz gesehen, als Nicole mit ihm in der »Hidden Kist« aufgekreuzt war, um ihren kleinen Finn abzuholen. Piet Paulsen, der für den Dreijährigen so etwas wie ein inoffizieller Patenonkel ist, hatte mal wieder das Babysitten übernommen, verbunden mit einem gemeinsamen Fußballnachmittag. Nicoles neuer Freund hatte sich in dem Imbiss mächtig aufgespielt mit seinem Dutt, dem Hipsterbärtchen und der blöden Zimmermannshose mit den hundert Taschen, Gurten und Schlaufen für alles erdenkliche traditionelle Werkzeug. Er hatte die Fredenbüller deutlich spüren lassen, dass er sie für zurückgebliebene Provinzler hält, was bei der Imbissrunde natürlich glänzend ankam.
»Pass mal bloß auf, dass du mit deiner schicken Büchs hier nirgendwo in den Möbeln hängen bleibst«, hatte Paulsen dem hippen Handwerker mit auf den Weg gegeben. Was bildete er sich eigentlich ein mit seiner Werkstatt »Der Tischler«, die er auf einem Hinterhof in Altona betrieb. Die blöde Visitenkarte in brauner Packpapieroptik hatte eine ganz Weile auf Antjes Glastresen gelegen. »Lass mal liegen«, hatte Antje gemeint. »Falls die Stehtische mal repariert werden müssen.« Ihre Gäste hatten nur mit den Köpfen geschüttelt. »Dat kannst du vergessen, für unsern Stehtisch is sich der Herr zu fein«, hatte Klaas die Wirtin gewarnt. »Der Tischler«, das passt doch gar nicht zu Nicole, findet Thies.
Der Fredenbüller Polizeiobermeister steht mit seiner Taschenlampe vor dem Container.
»Papa, Nicole hat doch bestimmt eine Nachfolgerin«, überlegt Tadje. »Oder einen Nachfolger.«
Thies will gerade die Nummer der Kieler Kriminaltechnik drücken, als Tadjes Freund Lasse auf das Schild an der Tür des Containers zeigt.
»Hier, haben Sie schon gesehen, Herr Detlefsen?« Im Lichtkegel seiner Taschenlampe ist die Aufschrift deutlich zu erkennen.
»Blankenhorn Shipping. Hamburg«, liest Thies laut vor. »Dat gibt’s doch nich! Wat machen die denn hier schon wieder in Nordfriesland?« In dem Polizeiobermeister arbeitet es. Vor zwei Jahren hatten Nicole und er in einem Mordfall mit der Hamburger Reederei Blankenhorn zu tun. Der Junior war damals ermordet worden. Und jetzt taucht ein Container von Blankenhorn hier auf. Sehr seltsam.
Ist Kiel möglicherweise gar nicht zuständig? Ist das eventuell sogar ein Hamburger Mordfall? Falls die Tat in Hamburg verübt wurde, müsste Hamburg ermitteln. Denn um Mord handelt es sich auf jeden Fall, da ist sich Thies sicher. Der Fundort der Leiche ist Fredenbüll, aber wenn der Mord in Hamburg passiert ist, dann haben Thies und Nicole vielleicht doch wieder einen gemeinsamen Fall. Er wählt ihre Handynummer. Als das Telefon abgenommen wird, hört Thies laute Kneipengeräusche im Hintergrund. Nicole ist kaum zu verstehen.
»Nicole, bist du gerade in einer von diesen Hamburger Szenekneipen, oder wat?« Er hält den anderen kurz das Telefon hin. »So hört sich die Großstadt an«, flüstert er ihnen zu.
»Mann, Papa!« Tadje ist ihr Vater mal wieder schrecklich peinlich. Lasse muss grinsen.
Thies steigt in Polizeiuniform und mit eilig gepackter Reisetasche im Altonaer Bahnhof aus dem Zug aus. Den Escort hat er zu Hause stehen lassen. »Die Autobahn ist eine einzige Baustelle, und Parkplätze sind knapp«, hatte Nicole gemeint. »Außerdem haben wir hier genügend Dienstfahrzeuge.« Im Loft hinter der Werkstatt ihres neuen Freundes, mit dem sie und der kleine Finn seit einem halben Jahr zusammenwohnen, gibt es ein Schlafsofa, auf dem er fürs Erste nächtigen kann. Thies soll doch einfach erst mal vorbeikommen, hatte Nicole ihm am Telefon gesagt, dann würden sie mit dem Fall schon weitersehen. In dem Mordfall »Blankenhorn« hatten sie schließlich schon erfolgreich zusammengearbeitet.
Nach dem Telefonat mit der Kollegin hatte Thies zunächst dann doch noch die Kieler Kollegen informiert. Seine alten Bekannten, KTU-Mann Mike Börnsen und Gerichtsmediziner Carstensen, waren noch in der Nacht angereist und hatten den Toten in die Kieler Gerichtsmedizin verfrachtet. Endgültig sind die Zuständigkeiten noch nicht geklärt. Die Kommissariate in Kiel und Hamburg streiten sich noch, wer zuständig ist. Das heißt, eigentlich wollen beide am liebsten nichts mit dem Fall zu tun haben. Die Kieler Mord Zwei ist nach Nicoles Weggang bisher noch nicht wieder neu besetzt. Der Leiter der Mord Eins ist hoffnungslos überlastet und kann zusätzliche Fälle gar nicht gebrauchen. Und Nicoles neuer Chef in Hamburg fühlt sich für an der Nordseeküste angespülte Container eigentlich auch nicht zuständig.
Bei den ersten Untersuchungen der Kieler Gerichtsmedizin konnten eine Vielzahl von Verletzungen festgestellt werden. Der Tote wies etliche Hämatome, Schwellungen durch die Einwirkung eines stumpfen Gegenstandes und vom Wasser ausgewaschene Stichwunden auf. Dem Mann war ganz offenbar übel zugesetzt worden. Aber das alles war nicht tödlich gewesen. »Tod durch Ertrinken«, hatte der Gerichtsmediziner lapidar festgestellt. Seine Lungen waren mit Wasser gefüllt. Aber wo das passiert war und vor allem wann, darauf mochte der Mediziner sich nicht festlegen. Der Todeszeitpunkt ließ sich aufgrund des längeren Aufenthaltes im Nordseewasser nicht so genau feststellen. Dass der kleine Affe die Reise in dem Container überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. Er hatte sich wohl in eine Luftblase über dem Schrotthaufen gerettet.
Die Leute auf dem Bahnsteig und im Bahnhof laufen Thies glatt über den Haufen oder ziehen ihm ihre Trolleys über die Füße. Vor der Bahnhofshalle schlägt ihm sofort der Regen entgegen. Thies trägt immer noch seine Öljacke über der Uniform. Er hat die Polizeimütze tief in die Stirn gezogen. Irgendwie fühlt er sich in der Uniform auf einmal ein bisschen unwohl. Als Fredenbüller ist er hier in Hamburg schließlich gar nicht zuständig, fällt ihm plötzlich ein. Die vielen Menschen rücken ihm ein bisschen zu sehr auf die Pelle.
Heike ist ja immer mal zum Shopping oder zum Musical in Hamburg. Aber Thies ist ewige Zeiten nicht mehr hier gewesen. Die Stadt hat sich seitdem verändert. In den Straßen reiht sich ein Café ans andere, Cafés mit eigener Rösterei, Imbissläden und alle Lokalitäten sind proppenvoll. Deutlich mehr Kundschaft als in der »Hidden Kist«, denkt Thies. Trotz des strömenden Regens sind massenhaft Leute unterwegs. Thies läuft an den Schaufenstern vorüber, an Bäckereien, die nicht einfach Bäckerei, sondern »Zeit für Brot« heißen, an Auslagen mit fair gehandelten, aber unförmigen Wollpullovern, Kindermode zu eher unfairen Preisen. Eine Herrenboutique hat außerdem Gin- und Wodkaflaschen im Schaufenster, und der »Shop for Sweets« kombiniert Süßigkeiten mit Damendessous. Mancher Ladenbesitzer konnte sich offenbar nicht entscheiden.
Jeden Augenblick kommt er an einem Café, Imbiss oder Friseurladen vorbei. So viele Cafés und Friseure auf hundert Meter hat Thies noch nicht gesehen. Dabei dachte er immer, sie seien in Fredenbüll mit dem »Salon Alexandra« schon überversorgt. Im Vorbeilaufen und durch den Regen nimmt er alles nur flüchtig wahr. Die Schaufenster und auch die Einrichtungen der Läden und Cafés sind, so weit Thies das erkennen kann, ausnahmslos mit rohem ungehobeltem Holz eingerichtet. Es sieht nach Obstkisten und Bretterbuden aus, im Vergleich zur »Hidden Kist« recht spartanisch. Aus der Werkstatt von Nicoles tollem Tischler stammt das Bretter-Mobiliar vermutlich nicht. Die Ladenschilder ziehen an dem nordfriesischen Polizeiobermeister vorüber: »Friends and Brgs«, »Veggi World«, »Urban Foodie« und »Zweite Heimat«. Thies dachte ja, durch Heikes wechselnde Küchenmoden halbwegs auf dem Laufenden zu sein. Aber jetzt versteht er kein Wort mehr. Ihm schwirrt der Kopf, als er sich durch den strömenden Regen zu der Adresse von Nicoles Freund durchgekämpft hat.
Das unübersehbare Schild »Der Tischler« in der obligatorischen Rohbretteroptik über dem Eingang versteht er wenigstens. Auf dem regennassen Kopfsteinpflaster des kleinen Hofes wackeln ihm mehrere Hühner entgegen, die gleich fröhlich auf sein Hosenbein einpicken. Im ersten Moment ist sich Thies gar nicht sicher, ob es sich wirklich um Hühner handelt. Die Vögel gackern und scharren verzweifelt auf dem Kopfsteinpflaster, aber sie sehen aus wie Plüschtiere oder flauschige Fellhausschuhe, die man unter Strom gesetzt hat. Die weichen weißen Haare stehen ihnen wie elektrisiert vom Körper, dass Augen, Schnabel und Krallen in dem weißen Flaum verschwinden.
Aus der Werkstatt schreit eine Kreissäge heraus. Als Thies seinen Kopf in die Tür hält, verstummt sie sofort. Der Typ hinter der Säge sieht zu ihm herüber. Er trägt eine große Schutzbrille und eine Wollmütze, unter der ein Ohrring und ein paar lange graublonde Haarsträhnen herausgucken.
»Hi«, ruft er Thies mit einem kaum sichtbaren Nicken zu.
»Ach so, ja, moin.« Fast hätte Thies auch »Hi« gesagt.
»Wir haben uns ja schon mal kurz kennengelernt«, erklärt der Tischler und grinst überheblich. »… in eurem Imbiss … wie heißt die Kiste?« Er gibt sich alle Mühe, arrogant zu klingen.
»›De Hidde Kist‹«, stellt Thies unmissverständlich klar. Angesichts des Besuchs mit Polizeimütze und gelber Öljacke wird das Grinsen des Tischlers immer breiter. Thies lässt derweil seinen Blick durch die Werkstatt schweifen, über Werkbank, Holzleisten, Tischlerplatten, einen halbfertigen Schrank und mehrere antike Stühle mit aufwendiger asiatischer Ornamentik in den Rückenlehnen, auf denen mehrere Schraubzwingen klemmen.
Nicole kommt hinter ihm in die Werkstatt. Thies nimmt die Mütze ab, und sie begrüßt ihn mit Küsschen auf beide Wangen.
»Ihr kennt euch ja, oder?« Sie blickt zwischen den beiden hin und her. »Thies, das ist Andrew. Andrew, Thies.«
»An …« Thies zögert eine Sekunde. »Andy?« Er sieht beide fragend an.
»Andrew!«, berichtigt der Tischler ihn. Er nimmt die Schutzbrille ab und richtet seine Wollmütze. Das überhebliche Grinsen ist aus seinem Gesicht gewichen.
»Ach so, Ändru.« Thies sieht Nicole an. Sie grient leicht verlegen.
Nicole hat sich verändert. Thies weiß zunächst gar nicht, was es überhaupt ist. Die Haare? Die Klamotten? Eigentlich alles. Und sie benimmt sich auch anders. Irgendwie ist sie Thies auf einmal ein bisschen fremd. Sie hat nicht mehr ihren blonden Pferdeschwanz, sondern trägt die Haare offen und leicht fransig. In den engen Hosen hat sie plötzlich so auffällige Waden. Darüber trägt sie ein kurzes Hängerkleid in Pastellfarben und dazu außerdem noch eine Art Trainingsjacke. Die Fransen an der alten Lederjacke statt in der Frisur hatten Thies irgendwie besser gefallen. Aber eigentlich sieht sie immer noch toll aus, findet er.
Nicole macht mit Thies einen kurzen Rundgang durch das kleine Stadthaus im Hinterhof neben der Werkstatt. Bei dem trüben Wetter fällt kaum Licht in die Räume. Die ausufernden Holzeinbauten, Treppen, Podeste, Raumtrenner und Einbauschränke machen die Räume nicht unbedingt heller. Sie zeigt ihm Küche, Badezimmer und seinen Platz auf dem Schlafsofa.
»Na, Nicole, kommst klar hier?« Thies blickt sie prüfend an.
»Ja, Hamburg ist toll. Endlich eine richtige Stadt. Wir fühlen uns hier echt wohl. Die Kita für Finn ist nebenan. Gleich um die Ecke gibt es die besten Restaurants, nette Cafés und sogar einen Imbiss … es ist natürlich nicht ›De Hidde Kist‹, aber nicht schlecht.« Nicole grinst.
»Ich hab schon gesehen. Die haben alle so eine … Holzeinrichtung. Sieht eigentlich eher nach Land aus als nach Großstadt.«
»Nee, Thies, das is New Urban Style.«
»Ach so, ja … ja ….« Thies tut so, als wäre »New Urban Style« für ihn ein alter Hut. »Gehören die weißen Plüschteile, die da draußen rumtigern, auch zu dem Style dazu?«
Nicole muss grinsen. »Das sind polnische Haubenhühner. Ganz was Edles. Andrews ganzer Stolz. Er baut auch ganz tolle Spezialkäfige für die Hühnerhaltung in der Stadt.«
»Käfige für Hauben … hühner?« Irgendwie hatte Thies eine andere Vorstellung vom Leben in der Stadt. »Kann man damit Geld verdienen?«
»Na ja, geht so. Im Augenblick ist es ein bisschen schwierig.« Nicole wechselt lieber schnell das Thema. »Willst du noch ’n Coffee to go, bevor wir ins Präsidium fahren?« Nicole kennt Thies’ Kaffeetrinkgewohnheiten. »Die ›Zweite Heimat‹ ist hier gleich nebenan.«
»Zweite Heimat?«
»Aber ich muss dich warnen, es ist nicht Antjes italienische Kaffeemaschine. In Hamburg wird der Kaffee wieder mit dem Filter gebrüht. Fair-Trade-Bohnen und slow brewed – ganz langsam und sanft gebrüht.«
»Aber den können wir heute noch trinken, oder?«
Tadje weiß heute überhaupt nicht, wo ihr der Kopf steht. Ihr Vater hatte jede Verantwortung für den Affen abgelehnt. »Tadje, wir ham hier ’n Mordfall. Da hab ich keine Zeit, den Wildhüter zu machen. Wir sind hier nich im Dschungelbuch.« Auch Heike war bedient, als Thies und seine Tochter nachts auf einmal mit dem kleinen Affen in der Küche standen. Für eine Nacht sollte er dann bei Tadje im Zimmer auf der eiligst aufgeblasenen Luftmatratze nächtigen. Stattdessen turnte er am frühen Morgen aber schon im Wohnzimmer auf dem schicken neuen Dreisitzer herum, um sich anschließend mit Heißhunger über Heikes, von der Familie wenig geliebtes Dinkelmüsli mit Bananen herzumachen. Heike war empört. »Aber nach ’m Frühstück macht der Affe sofort wieder den Abflug. Der bringt mir hier den ganzen Haushalt durcheinander.«
»Mama, wo soll ich denn mit ihm hin? Der ist doch voll süß!«
»Tadje, das musst du jetzt regeln. Du kannst auch mal Verantwortung übernehmen.« Heike ließ keine zwei Meinungen aufkommen. »Dir ist der Affe schließlich zugelaufen.«
»Mama, der Affe war in Seenot. Es ist ein Wunder, dass er nich ertrunken is.«
Notgedrungen hat Tadje, die grade ihr Praktikum im Biohof macht, ihn daraufhin zur Arbeit mitgenommen. Die Kunden im Salon »Alexandra« hatten sich die Köpfe aus den Trockenhauben heraus verrenkt, als sie die Tochter des Polizisten mit ihrem Schützling auf dem Arm die Dorfstraße entlanglaufen sahen.
Im Gegensatz zu ihrer Mutter ist Biobäurin Lara Brodersen gleich ganz begeistert. Verzückt blickt sie dem Äffchen hinterher, als es sich durch das Dachgebälk des historischen großen Reetdachhofes schwingt und nach der Turnübung ein paar Dinkelkissen anknabbert. »Das Tier hat eine ganz tolle Aura«, haucht Lara, die den Affen am liebsten gleich zum abendlichen Trance-Tanzen auf dem Heuboden mitnehmen möchte.
Tadje ist reichlich unsicher. Sie weiß einfach nicht, was sie mit ihrem neuen Freund machen soll. Die Luftmatratze zu Hause, der Biohof und auch der Daddelautomat in der »Hidden Kist« sind keine Dauerlösung. Aber der nächste Zoo ist weit weg. Und mit dem Affen in der Nordostseebahn nach Hamburg zu reisen, hat sie wenig Lust. Außerdem hatte die Frau am Telefon bei »Hagenbecks Tierpark« ziemlich arrogant reagiert. Die Frau hatte ihren Anruf für einen Telefonstreich gehalten. Daraufhin war Tadje auf die Idee gekommen, ihre Biologielehrerin anzurufen.
Frau Doktor Jacoby ist sofort begeistert zur Stelle. Bei der Artenbestimmung hat die Lehrerin keinen Zweifel. Es handelt sich um einen jungen, noch nicht ausgewachsenen Javaneraffen. »Auch Langschwanzmakak genannt. Ja, ganz eindeutig, das graue Fell, die gelben Augen und der lange Schwanz«, führt Frau Jacoby aus. »Lebt in Regen-, Bambus- und Mangrovenwäldern.«
»Regen gibt es bei uns ja immer mal, aber Bambus haben wir hier nich am Deich.« Tadje sorgt sich um eine artgerechte Haltung.
»Südostasien«, doziert die Lehrerin unbeirrt weiter, als müsse sie ihren Unterrichtsstoff vor dem Pausenläuten schnell durchziehen.
»Mein Vater meint ja, er kommt aus Hamburg.«
»Sie! Es ist eine Sie!«, stellt Doktor Jacoby fachkundig fest. »Der Javaneraffe ist ein Allesfresser. Vor allem aber liebt er Schalentiere und Krabben, deshalb heißt er auch ›Krabbenesser‹!«
»Krabbenesser? Echt jetzt? Das passt doch hier voll an die Küste!« Tadje hofft gleich wieder, dass sich der Affe vielleicht doch noch in die Fredenbüller Dorfgemeinschaft integrieren lässt.
Nach längerer Beratung sind sich alle dann aber nicht so sicher, wo man mit dem Tier bleiben soll. Die Biolehrerin schlägt fürs Erste die Seehundstation auf Eiderstedt vor. Schließlich handelt es sich um einen Krabbenesser. Aber ob er sich mit gestrandeten Seehundheulern verträgt, wissen Lara, Tadje und Fachfrau Doktor Jacoby auch nicht. Der kleine Affe ist währenddessen von der Klettertour durch die Tenne erschöpft auf einem Biodinkelkissen selig eingeschlummert.
Nicht nur Thies, auch die versammelte Mannschaft der »Hidden Kist« ist mittlerweile in der Hansestadt eingetroffen. Antje will den Krankenhausbesuch mit einem Musicalabend verbinden. Außerdem möchte sie sich über die neusten Imbisstrends informieren. »Mannis Matjeshalle« steht ganz oben auf ihrer Liste. Und Bounty will endlich mal in das legendäre China-Restaurant »Silver Palace« auf Sankt Pauli, wo die lackierten Pekingenten erst tagelang im Fenster hängen, bis sie der internationalen Kundschaft serviert werden, und wo es die besten »Dim Sums« außerhalb Chinas geben soll.
Als die Imbisstruppe im vierten Stock der Endoklinik mit regennassen Jacken aus dem Fahrstuhl steigt, staunen Antje, Klaas und Bounty nicht schlecht. Imbissfreund Piet Paulsen sitzt im nagelneuen Trainingsanzug mit Bügelfalte, den Antje ihm besorgt hat, schon wieder recht munter auf einem der Besucherstühle vor der Station »Michel«. Den fahrbaren Infusionsständer fest umklammert, ist Piet mit zwei Mitpatienten, ebenfalls in Trainingsanzügen, in hitziger Diskussion über die neusten Entwicklungen beim HSV und die alles entscheidende Frage, wo man hier im näheren Umfeld mal ungestört eine rauchen kann. Das Bein mit dem operierten Knie hält er von sich gestreckt. Paulsen entdeckt seine Freunde aus dem Imbiss sofort.
»Da seid ihr ja.« Piets krächzende Stimme klingt fast vorwurfsvoll. Er hat die Runde offenbar schon schmerzlich vermisst. »De Hidde Kist« ist schließlich sein Leben.
»Na, Piet, schon wieder auf Achse.« Klaas wirft einen interessierten, leicht sorgenvollen Blick auf die Infusionsschläuche.
»Ja, wieso nich. Ich hab ja jetzt schließlich ’n neues Knie.«
»Musst du gar nich mehr im Bett liegen?«, fragt Antje besorgt.
»Nach der OP nich erst mal ’n bisschen relaxen?« Bounty klingt, als wäre Piet hier zu einem Wellnesswochenende.
»Die kennen hier kein Pardon. Nach einem Tag holen sie dich gleich raus aus’m Bett.« Der ehemalige Landmaschinenvertreter blickt unternehmungslustig über seine Gleitsichtbrille hinweg. »Auf Toilette musst du selber.«
»Hat man früher auch nich gemacht«, schaltet sich der Mitpatient in die Diskussion ein. »Meine Frau hat schon beide Knie neu.«
»Mein Zimmernachbar«, stellt Paulsen ihn den anderen vor.
»Rechts is bei meiner Frau schon das zweite. Der Professor hier is ’ne Konifere«, verkündet er mit wichtiger Miene.
»Konifere? Is ja geil«, gackert Bounty, der sich schließlich in der Welt der Grünpflanzen auskennt.
Und dann fällt Piet plötzlich auf, dass ein wichtiges Mitglied der Imbissrunde fehlt. »Wo habt ihr Susi eigentlich gelassen?«
»Die wartet mit Hauke zusammen unten in der Empfangshalle«, bedauert Antje. »Na ja, Krankenhaus und so ….«
»Haben sie den Schimmelreiter nicht reingelassen?«, fragt der Frischoperierte mit todernster Miene. Die anderen grinsen breit. Paulsen fasst sich mit großer Geste an das operierte Knie und macht vorsichtige Andeutungen einer Kniebeuge im Sitzen. Klaas nickt anerkennend.
Der Zimmernachbar schaltet sich mal wieder ein. »Dat ist wichtig, dass man das neue Knie immer bewegt, sagt der Professor.«
»… die Konifere wird es wissen.« Bounty und auch Antje haben sofort wieder das Bild des immergrünen Strauches vor Augen und kichern.
»Bewegung is dat A und O!« Paulsen, dessen sportliche Aktivitäten sich bisher im Wesentlichen auf das samstägliche Fußballgucken in der »Hidden Kist« beschränkten, ist offenbar fest entschlossen, seine Lebensgewohnheiten zu ändern.
»Demnächst Halbmarathon, oder wat«, flachst Klaas.
»Vielleicht Achtelmarathon, mal gucken.«
»Sieh man erst mal zu, dass du wieder halbwegs unfallfrei auf deinen Barhocker kommst«, grinst Bounty.
»Ich hätte ihm diesen Trainingsanzug gar nich kaufen dürfen«, sinniert Antje mit besorgtem Blick auf die Bügelfalte der Sporthose. »Piet, kannst stattdessen nich lieber mit dem Rauchen aufhören?«
»Wollen wir mal nix überstürzen.«
»Bekommst du hier denn wat Vernünftiges zu essen?« Noch während sie das sagt, kramt Antje bereits in ihrer Kühltasche und zieht einen Croque »Störtebeker« hervor.
»Kühles Pils dazu wär jetzt auch nich verkehrt«, kräht Paulsen.
»Ich hab was viel Besseres dabei. Wir müssen ja wenigstens mal auf dat neue Knie anstoßen.« Antje zaubert fünf kleine Flachmänner aus der Kühltasche. »Sie auch ’n Lütten?«, bietet sie Piets Bettnachbarn an, der bereitwillig zugreift.
»Da sag ich nich Nein.«
Im Kreise seiner Freunde fühlt sich Piet fast wie zu Hause. Als sie sich gerade fröhlich zuprosten, öffnet sich die Fahrstuhltür und Telje kommt im blauen OP-Kittel heraus.
»Meine Güte, Telje, ich erkenn dich ja gar nich wieder.« Antje ist ganz aus dem Häuschen.
Die anderen versuchen die kleinen Schnapsflaschen verschämt in der hohlen Hand oder hinter dem Rücken verschwinden zu lassen. Nur Antje hat es in ihrer Überraschung vergessen.
»Du siehst ja toll aus … wie ’ne richtige Ärztin.«
»Hast du Piet etwa operiert?«, will Klaas gleich wissen.
»Telje hat dem Professor die Schraubenzieher gereicht«, krächzt der Rentner. »Und sie besucht mich jeden Tag.«
»Ja nee, Praktikum. Das ist voll interessant.« Thies’ Tochter ist das alles ein bisschen peinlich.
»Ganz Fredenbüll trifft sich ja wohl in Hamburg wieder«, bemerkt Bounty.
»Wieso? Wer denn noch?«, will Telje wissen.
»Ja, dein Vater ist ja angeblich auch nach Hamburg los«, sagt Antje.
»Echt jetzt? Wegen dem Toten mit dem Affen, den Tadje gefunden hat? Ich hab schon gehört, mega unheimlich! Obwohl, der Affe soll ja voll süß sein.«
Nach einer kurzen Führung durch das Polizeipräsidium sind Thies und Nicole gleich zur Reederei Blankenhorn gefahren. Nicoles Hamburger Assistent ist gar nicht böse, durch den Fredenbüller Kollegen etwas entlastet zu werden. Und wo »Blankenhorn Shipping« residiert, wissen Thies und Nicole seit einem ihrer letzten Fälle schließlich am besten. Sie haben das altehrwürdige Kontorhaus gegenüber der Speicherstadt mit den bronzenen Elefanten vor dem Eingang und dem rumpelnden Paternoster sofort wiedergefunden. Inzwischen scheint sich allerdings einiges verändert zu haben. Das Schild »Blankenhorn Shipping« hängt noch am Eingang. Aber im Büro in der Belle Etage öffnet niemand. Der distinguierte Senior und seine resolute, wie schwerhörige Vorzimmerdame sind offenbar ausgezogen. Stattdessen treffen die beiden Polizisten einen Hausmeister in einem taubenblauen Kittel an. In der einen Hand hält er einen Eisenring mit unzähligen Schlüsseln, in der anderen eine Saugglocke zur Beseitigung von Verstopfungen in Abflüssen.
»Blankenhorn? Nee, die sind nich mehr da.«
»Was heißt das jetzt?«, will die Kommissarin wissen.
»Ja, Konkurs, nä.« Er nimmt den Pümpel von einer Hand in die andere. Nicole rümpft etwas die Nase. »Über den Tod seines Sohnes ist der Alte nie drüber weg. Ab da ging es abwärts.« Er deutet mit dem Pümpel Richtung Kellergeschoss. »Jo, und dann hat er irgendwann an die Chinesen verkauft. Inzwischen is er tüdelig und lebt in der Seniorenresidenz mit Blick aufn Hafen.«
»Sie sagen Chinesen?«, fragt Nicole.
»Heißen die Han Min, oder so?«, will Thies sofort wissen.
»Ja genau! Han Min … Schibbing! Ganz so seriös wie Blankenhorn ist dat bei den Chinesen nicht mehr. Früher Kaffee und Kakao …«
»Und jetzt haben wir ’n Toten im Container gefunden«, stellt der Fredenbüller Polizeiobermeister lapidar fest.
Der Mann im blauen Kittel hört gar nicht hin. »Mit Kaffee und Kakao geben sich die Chinesen nich ab. Obwohl, sie fahren wohl immer noch die Afrikaroute. Die schippern jetzt alte Kühlschränke und so ’n Kram nach da unten. Die haben aber ’n deutschen Geschäftsführer, de Vries oder so, könnt auch ’n Holländer sein, irgendwie unangenehmer Typ. Sieht eher nach Zuhälter aus als wie nach ’m Kaufmann.« Der Mann ist gar nicht mehr zu stoppen.
»Wo sitzt dieses Han Min Shipping?«, unterbricht Nicole seinen Redeschwall. »Die haben hier doch sicher ein Büro?«
»Jo, Shanghaiallee, gleich am Brooktorhafen.« Der Hausmeister deutet mit dem Pümpel jetzt Richtung Hafencity. »Wat anderes als Hafencity kommt ja nich mehr in Frage.«
Mit dem Besuch bei Han Min Shipping wird es allerdings zunächst nichts. Auf dem Weg zu ihrem Wagen bekommt Thies einen Anruf aus Kiel. Um nicht nass zu werden, stellen sie sich kurz in einem Hauseingang unter. Neben dem Regen kommt jetzt auch noch die Zugluft dazu. Die Kollegen aus Schleswig-Holstein haben neue Erkenntnisse. »Tod durch Ertrinken hat sich bestätigt«, mault Gerichtsmediziner Carstensen ins Telefon. »Aber Salzwasser war das nicht.«
»Fundort ist also nicht gleich Tatort«, kombiniert Thies.
»Es spricht alles gegen Nordsee und tatsächlich für Hamburger Hafen, oder so.« Carstensen klingt so, als wäre er froh, den Fall los zu sein.
»Ich bin schon da.« Thies nickt Nicole zu.
»Wo bist du?«, will Carstensen wissen.
»Na ja, Hamburger Hafen. Und rat mal, wer hier neben mir steht.«
»Nicole?«
»Ja, ich soll auch schön grüßen.« Thies will gerade schon wieder auflegen, als der Gerichtsmediziner ihn unterbricht. »Thies, das Wichtigste hast du noch nicht gehört. Wir wissen inzwischen, wer der Tote ist. Mit seinen Fingerabdrücken sind wir bei uns in der Datei fündig geworden. Kleine Einbrüche, Erpressung, Körperverletzung. Keine ganz großen Sachen …«
»… nichts, weswegen man unbedingt tot im Container landet?«, bemerkt Thies.
»Weiß man nicht. Er heißt Raimund Kröger. Er hatte in Hamburg auf Sankt Pauli eine Detektei. Kröger und Krotke.«
»Kröger und Krotke, Sankt Pauli«, wiederholt Thies.
»Wir sind schon unterwegs«, ruft Nicole Richtung Thies’ Handy, während sie auf ihrem Smartphone gerade die Adresse heraussucht.