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Sterben, wo andere Urlaub machen Für Dorfpolizist Thies Detlefsen aus dem nordfriesischen Örtchen Fredenbüll steht der Sommerurlaub an. Wie jedes Jahr geht es mit der ganzen Familie nach Amrum rüber. Ehefrau Heike freut sich auf die Wellness-Pension, doch dort entdecken die Zwillingsmädchen gleich mal einen toten Golfspieler im blau-weißen Friesenbett ihres Zimmers. Noch ehe Thies die Dienstmütze aufsetzen kann, ist die Leiche wieder verschwunden. Gibt es den Toten wirklich oder regt die Hitchcock-Reihe im Inselkino die Fantasie zu sehr an? Da tauchen zwei weitere Tote auf: Touristikchef Heiner Griepenstroh und der reiche Bauunternehmer Pohlmann überleben die feuchtfröhliche Stammtischrunde in der Edelkneipe »Kombüse« nicht. Das kann nur eines bedeuten: Ein Serienmörder geht um auf der Nordseeinsel!
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Seitenzahl: 262
Krischan Koch
Mordseekrabben
Ein Insel-Krimi
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe 2014
© 2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978-3-423-42270-3 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21515-2
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Für Mia, Nora, Leoni und die Zwergseeschwalben
»Als er noch lebte, hatte ich nicht halb so viel Ärger mit ihm.« Alfred Hitchcock, ›Immer Ärger mit Harry‹
»Bounty spielt mit seiner Band drüben auf der Insel.« Imbisswirtin Antje zieht energisch einen Frittierkorb mit Pommes aus dem heißen Fett. »Solidaritätskonzert für die Löffelente.«
»Löffel…ente?« Piet Paulsen, Landmaschinenvertreter im Ruhestand und einer der drei Stammgäste in dem Stehimbiss »De Hidde Kist«, wundert sich. »Is mal wat anderes.«
»Hast nich in der Zeitung gelesen, auf der großen Salzwiese auf Amrum is ’ne Löffelente vom Golfball getroffen worden – tödlich!«
»Wat?«, krächzt Paulsen und schiebt sich die Gleitsichtbrille auf die Nase zurück. »Auf Amrum gibt’s doch gar keinen Golfplatz.«
»Eben! Is doch komisch.«
Das rötliche Blitzen der Radarfalle zuckt kurz auf. Für einen Moment scheint alles stillzustehen. Der grüne Jaguar-Oldtimer wirkt wie auf dem Asphalt festgeklebt. Sogar der Schwarm Eiderenten scheint im Flug erstarrt. Es ist nur der Bruchteil einer Sekunde. Dann rast die englische Limousine weiter die Küstenstraße hinunter und die Enten flattern lärmend über den Deich unter dem knallblauen Himmel hinweg Richtung Wattenmeer und Inseln davon.
»Hundertdreiundfünfzig! Alle Achtung!«, sagt Thies Detlefsen. »Tagesbestzeit.« Das sind zwei Punkte in Flensburg, mindestens, rechnet Thies. »Und der Führerschein ist erst mal für ’n Weilchen weg.« Der Fredenbüller Dorfpolizist kann sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Postbote Klaas, der seinen Freund im Einsatzfahrzeug gerade mit einem Kaffee aus dem Imbiss versorgt, nickt anerkennend.
Groß und deutlich zeigt der Monitor des Traffipax die gemessene Geschwindigkeit und ein gestochen scharfes Foto des Temposünders, der lässig, einen Arm aus dem Seitenfenster gehängt, hinter dem Steuer sitzt. Der Mann trägt Sonnenbrille und längeres, mit Brillantine nach hinten gekämmtes Haar. Auf der Rückbank des vorbeiflitzenden Oldtimers sieht Thies ein Bündel Golfschläger ins Heckfenster ragen. Neben dem Hamburger Nummernschild prangt unübersehbar ein Aufkleber: »Golfers do it on the Green«.
»Wenn er seinen Lappen los ist, darf er noch öfter ins Grüne«, sagt Klaas. »Auf’m Fahrrad mit seine Golftasche immer schön am Deich lang.«
Zum Ferienbeginn hat Thies Detlefsen wieder seinen Radarblitzer an der Landstraße hinter dem Ortsausgang von Fredenbüll aufgestellt, wo so mancher Autofahrer auf dem graden Stück wieder kräftig Gas gibt. Der Polizeiwagen steht ein Stück weiter versteckt hinter dem Reklameschild vom Geflügelhof Dossmann: »Freiheit, die man schmeckt«.
Thies Detlefsen braucht dringend neue Kundschaft. Nach den spektakulären Mordfällen ist es in dem nordfriesischen Örtchen bedenklich ruhig geworden. Und schon dringen aus dem Kieler Innenministerium wieder alarmierende Gerüchte, dass die Polizeinebendienststelle in Fredenbüll dichtgemacht werden soll.
Mit der Kriminalität stand es in den letzten Wochen tatsächlich nicht zum Besten. Sogar der Eppendorfer HNO-Professor in seinem schnieken Reetdachhaus am Deich hat seine Beschwerden über den Jauchemief eingestellt. Den Geflügelhof von Dossmann hatten sie schließlich wegen eines Dioxinfunds in seinen »Fredenbüller Landeiern« vorübergehend geschlossen. Außer ein paar Falschparkern am Deich war in letzter Zeit nicht viel gewesen. Für Thies ist es sonnenklar: Nach dem Urlaub muss was passieren.
»Aber Mord ist eben Glückssache«, sagt er zu Klaas, wischt sich resigniert den Schweiß von der Stirn und richtet den blonden Frontigel.
»Ja, dat muss schon irgendwie passen«, weiß inzwischen auch der Postbote, der Thies, wenn Not am Mann ist, immer mal als Assistent zur Hand geht.
Der Bettenwechsel auf den Inseln am Samstag hilft ein bisschen, über die flaue Zeit zu kommen. Urlauber aus dem Süden, die den halben Tag vor dem Hamburger Elbtunnel im Stau gestanden haben, versuchen auf den graden Strecken am Deich entlang die verlorene Zeit wieder einzuholen, um die gebuchte Fähre noch zu erwischen. Das ist die Chance für Thies. Dafür hat er sogar seinen ersten Urlaubstag geopfert. Seine Frau Heike ist mit den Zwillingen schon nach Amrum vorgefahren.
Nach einem weiteren Hamburger mit Golfschlägern im Heck tappt ein bis unters Dach mit Zeltplanen und allerlei Krempel vollgepackter und mit seltsamen Symbolen wie aus einem Fantasy-Comic besprayter VW-Bus mit defektem Auspuff und vergleichsweise müden hundertzwanzig in die Radarfalle. Alles dabei, aber bestimmt kein Warndreieck, denkt Thies noch. Plötzlich wird das Geknatter des Kleinbusses durch das Röhren eines aufdrehenden Motors aus Richtung Fredenbüll übertönt. Dann zuckt ein Blitz über die Deichlandschaft, sofort darauf ein zweiter.
»Die Hamburger bringen deinen Blitzer hier gleich zum Glühen.« Klaas wird vom Zugucken schon warm und knöpft sich die Postjacke auf.
»Ja, der Umsatz stimmt heute. Bettenwechsel auf den Inseln, dat is für mich wie verkaufsoffener Sonnabend vor Weihnachten.«
»Saisongeschäft, nä.«
»Wir haben auch übers Jahr im ganzen Kreis Nordschleswig nirgends so viele Tempoverstöße wie bei uns in Fredenbüll.«
»Na ja, Thies, finden aber auch nirgends so viele Kontrollen statt wie in Fredenbüll.«
Das erste der beiden Autos – der Monitor des Traffipax zeigt hundertsechsundsechzig km/h – ist ein silberner italienischer Sportwagen mit Hamburger Kennzeichen und einer blonden Frau am Steuer. Thies hat das Modell bisher nur in der Autozeitung gesehen, aber er erkennt es sofort: ein neuer Maserati Gran Tourismo. Unglaublich! Davon sind gerade mal hundert Fahrzeuge in Deutschland zugelassen, weiß Thies. Auf dem Heck erkennt er wieder diesen Aufkleber »Golfers do it on the Green«. Hinter dem Maserati klebt ein Alfa-Coupé, dessen Fahrer sich von dem Blitzen der Radarfalle überhaupt nicht beeindrucken lässt. Er setzt mit einem Seitenhüpfer zum Überholen an. Seite an Seite schießen die beiden Autos nebeneinander den Deich entlang, ehe sie sich mit einem fernen Röhren in der Weite der Küstenlandschaft verlieren.
Das Bild des Alfa-Fahrers kann Thies auf seinem Monitor nur undeutlich sehen. Hinter den dunkel getönten Scheiben meint er einen südländischen Mann im dunklen Anzug mit Sonnenbrille zu erkennen. Aber das italienische Kennzeichen der dunkelblauen Alfetta ist deutlich zu sehen.
»PA?«
»Pisa?« Klaas zieht seine Postjacke aus.
»Pisa?« Thies überlegt. »Nee, Palermo!« Er ist sich auf einmal ganz sicher. »Na, Klaas, klingelt da wat?«
»Komm, Thies, hör auf, nich schon wieder Selbstmordattentäter.« Hinter jedem Falschparker am Deich wittert Thies immer gleich einen terroristischen Hintergrund.
»Klaas! Überleg doch mal! – Palermo! – Mafia!«
»Komm, Thies, der hat ’ne Pizzeria auf Föhr, oder so.«
»Alles nur Tarnung.« Thies Detlefsen ist jetzt voll in seinem Element. »Palermo! Dat is einer von der Mafia. Ganz klar!«
»Meinst du?« Klaas blickt ungläubig. »Wat will die Mafia denn bei uns in Nordfriesland? Dat bringt doch nichts.«
Während der Reiseverkehr auf der Landstraße vorbeirauscht, bleibt das nordfriesische Örtchen Fredenbüll an diesem sonnigen ersten Ferientag davon weitgehend unbeeindruckt. Vor dem Schaufenster des Frisiersalons »Alexandra«, der vor Kurzem erst Schauplatz eines grauenhaften Mordes war, sonnen sich Lehrling Janine und Chefin Alexandra gleich neben dem Schild »Neu: Chinesische Kopfmassage«. Edeka-Mann und Bürgermeister Hans-Jürgen Ahlbeck schiebt ratternd eine Palette mit Leergut über den kaum besetzten Parkplatz seiner kleinen Filiale und kommt dabei mächtig ins Schwitzen.
Nur in dem Fredenbüller Imbiss »De Hidde Kist«, wo Wirtin Antje »Internationale Spezialitäten« von der berühmten Roten Grütze bis zum »Putenschaschlik Hawaii« serviert, herrscht Hochbetrieb. Neben der Stammbesetzung an Tisch zwei, Piet Paulsen, Postbote Klaas und Dorfpolizist Thies Detlefsen, die ihren Beobachtungsposten hinter dem Dossmann’schen Reklameschild mittlerweile aufgegeben haben, ist ausnahmsweise auch der andere Stehtisch besetzt. Ein Elternpaar aus dem Schwäbischen, das die gebuchte Fähre verpasst hat, versucht seine beiden quengelnden Kinder mit einer dreifachen Portion Pommes ruhigzustellen. Die Eltern teilen sich nach eingehendem Preisvergleich eine »Riesenknacker mit Kartoffelsalat«.
»Mr sotts ned denga. Fascht vier Euro für so a Würschtle.«
Piet Paulsen mustert die Durchreisenden über seine Gleitsichtbrille hinweg. »Dat is aber auch die Riesenknacker«, krächzt der Landmaschinenvertreter im Ruhestand und zerlegt fachkundig sein Putenschaschlik. Imbisshund Susi wendet sich angeekelt ab. Seit einer Fleischvergiftung nach einer Großpackung Paprikaknacker mit abgelaufenem Verfallsdatum ist der Schäfermischling Vegetarier.
»Heute ordentlich was los hier bei dir, Antje.« Zwischen zwei Fähren genehmigt sich Thies einen Latte Macchiato und Croque »Störtebeker«, die neusten Errungenschaften in »De Hidde Kist«.
»Wie immer, Thies, Coffee to go?«, fragt die vollschlanke Imbisswirtin.
»Ja, Antje, aber einen zum Hiertrinken.«
In der einen Hand eine Schale mit Kartoffelsalat, bedient Antje mit der anderen die neue italienische Kaffeemaschine. »Und morgen wollt ihr mich alle verlassen und nach Amrum rüber?«
»Wieso, wer denn noch?«, wundert sich Thies.
»Piet hab’n sie nach zehn Jahren jetzt endlich seine Kur genehmigt.«
»Eigentlich wollte ich ja nach Davos runter«, erklärt Paulsen und pult sich die Reste des Putenschaschliks Hawaii aus den zu groß geratenen dritten Zähnen. »Und jetzt is wohl spontan im ›Mutter-und-Kind-Heim‹ auf Amrum wat frei geworden.« Wie zur Begründung seiner Kurmaßnahme lässt Paulsen die Zahnpflege in ein Husten übergehen.
»Piet bei den jungen Müttern, wenn dat man gut geht«, feixt Postbote Klaas.
»Mal was anderes.« Paulsen lässt den Verschluss zweier kleiner Jägermeisterfläschchen knacken und reicht Klaas eine.
»Prost Piet. Auf deinen Kuraufenthalt.«
»Ich hoffe mal, dass ich dat überleb. So ’n Putenschaschlik wie bei Antje kriegst du auf den ganzen Inseln nich.«
Mischlingshündin Susi sieht traurig zu ihm hoch.
»Und teuer is dat Essen dort«, sagt Klaas.
Dem schwäbischen Familienvater bleibt vor Schreck das letzte Stück Riesenknacker im Hals stecken.
Antje serviert Thies seinen Kaffee. »Statt Scampis machen die auf Sylt jetzt wieder Currywurst und dazu Schampus.«
»Auf den Inseln drehen sie langsam durch.« Der kleine Postbote streicht sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht.
»Und statt Geländewagen fahren sie auf einmal alle Oldtimer. Hinten drin alle so ’ne Golftasche«, sagt Thies.
»Wo die mit ihre Golfschläger bloß auf einmal alle hinwollen?« Paulsen nimmt zur Feier des Tages ein zweites Jägermeisterfläschchen in Angriff.
In Thies’ eng sitzender Polizeijacke vibriert es. Er kramt das Handy heraus. Am anderen Ende meldet sich Knut Boyksen, sein alter Kollege, der seit der Pensionierung wieder auf seiner Heimatinsel Amrum lebt.
»Thies, du musst sofort die nächste Fähre nehmen.« Boyksen klingt für seine Verhältnisse seltsam aufgeregt.
Eine laue Brise pustet von Nordost müde ein paar Wellen über die See. Zwischen den Möwen brummt wie ein Spielzeug eine kleine Propellermaschine Richtung Sylt über den Himmel. Alles strahlt an diesem Sommertag in sattem Blau. Nur der Kniepsand ist als leuchtend goldener Strich einmal durchs Bild gezogen. Wie daraufgestellt wirkt der rot-weiß gestreifte Amrumer Leuchtturm. Heike Detlefsen hält ihr Gesicht mit der neuen Gucci-Riesensonnenbrille, die sie zum Sonderpreis auf der letzten Shoppingtour in Hamburg erstanden hat, ins gleißende Licht. Ihre Zwillinge Telje und Tadje haben sich die Zeit auf der Fähre mit dem neuen Spielzeug-Polizei-Set, den Oma und Opa zum Ferienbeginn spendiert haben, vertrieben. Jetzt turnen sie mit Polizeimütze und Kelle unter den bewundernden Blicken eines blassen Jungen auf der Reling herum. Tadje hat ihre Schwester mit Handschellen ans Geländer gekettet und hält sie mit einer babyblauen Erbsenpistole in Schach.
Die »Utlande« ist noch ein ganzes Stück vom Anleger entfernt, schon drängeln die Urlauber mit ihren Rollkoffern nervös gen Ausstieg im Bug. Die ersten Autofahrer lassen bereits die Motoren an. Die Tagesausflügler satteln ihre Rücksäcke und blockieren die Treppen zum Unterdeck. Stammgäste drängen den Mitreisenden die ultimativen Geheimtipps für die Insel auf. Protestierenden Kindern wird die erste Ölung mit Sonnenmilch verabreicht. Auf dem Autodeck zwängen sich zwei agile Rentnerinnen mit Baseballkappe und Walkingstöcken durch Familien mit Kleinkindern hindurch, an Sackkarren, Bobby Cars und Riesenrucksäcken vorbei auf die Rampe.
»Na, ihr Süßen, schon vorher von Bord oder erst mal warten, bis wir anlegen?«, blafft der Fährmann der »Wyker Dampfschiff Reederei« die beiden provozierend an und verzieht dabei keine Miene. Die sportlichen Seniorinnen stoßen ein kleinlautes Juchzen aus. Doch nachdem die Fähre mit einem stählernen Rumpeln angelegt hat, staksen sie als Erste im Walkingschritt mit einem kleinen Mann um die Wette über die Anlegebrücke. Das Männchen zieht seinen Rollkoffer nicht, sondern wird von dem übermächtigen Gepäckstück zum Bus geschoben und stolpernd als Erster durch die sich schnaufend öffnende Bustür geschubst.
Vor dem Anleger wartet der Kleinbus des Norddorfer Hotels auf Hausgäste. Auf den Anschlagtafeln vor dem Tourismusbüro hängen neben Ankündigungen zur nächsten Wattwanderung und den heutigen Wassertemperaturen mehrere Filmplakate. Im Inselkino läuft während der Ferien eine Reihe mit Hitchcock-Klassikern: ›Immer Ärger mit Harry‹, ›Die Vögel‹, ›Cocktail für eine Leiche‹. Daneben der Schaukasten des Hamburger Großmaklers »Jungius & Schacht« mit den neusten Eigentumswohnungen unter Reet zu Schnäppchenpreisen ab einer halben Million. Unmittelbar darunter hängt ein Poster: ROCK DIE DÜNE – Solidaritätskonzert für die Löffelente mit »Stormy Weather«.
»Mama, guck mal, Bounty tritt hier auf!«, rufen die Detlefsen-Zwillinge, die auch von ihren Eltern kaum auseinanderzuhalten sind, voller Stolz im Chor.
Ein bisschen mehr als in Fredenbüll ist ja los, stellt Heike Detlefsen fest. Aber um den Fredenbüller Althippie Bounty und seine Band »Stormy Weather« zu erleben, hätte sie nicht unbedingt in Urlaub fahren müssen. Bounty geht ihr mit seinen Stones-Klassikern aus den Siebzigern bei jedem örtlichen Feuerwehrfest gehörig auf die Nerven. Irgendwie hatte Heike sich ihre Ferien sowieso anders vorgestellt. Während sie im Bus eingezwängt zwischen hektischen Urlaubern, einen Rucksack vor dem Gesicht und ein Surfbrett in den Rippen, die Insel Richtung Norddorf hinaufschaukelt, träumt Heike von Kokospalmen an weißen Stränden, vom Käpt’ns-Dinner in Abendgarderobe, von exotischen Früchten und feurigen Salsatänzern unter nachtblauem Karibikhimmel.
»Leuchtturm! Campingplatz!«, plärrt die Durchsage aus dem Buslautsprecher. »Blaue Maus!«
»’ne blaue Maus? Das gibt’s doch gar nich!«, ruft die dösige Tadje durch den ganzen Bus.
»So heißt die Kneipe hier. Hat über hundert Whiskeysorten«, doziert ein Stammgast mit Schiffermütze aus Frottee, ebenfalls blau.
»Wissen wir«, sagt Heike genervt. »Wir sind von hier… das heißt vom Festland.« Sie drängelt sich mit Gepäck und Kindern Richtung Tür, um auszusteigen. Bei der Gelegenheit schmiert ihr ein fremdes Kind den öligen Belag eines Fischbrötchens auf die neuen Shorts.
»Passen Sie doch auf!«, ranzt sie die Mutter des Kindes an.
»Mama, ich will auch so ’n Fischbrötchen«, quakt Telje, wobei ihr im Gedrängel die weiße Polizeimütze ins Gesicht rutscht.
Es ist ein strahlender Sommertag an der See. Der Wetterbericht für die nächsten Tage ist allerdings katastrophal. Heikes Stimmung verfinstert sich zusehends. Seit einem ganzen Jahr hat sie Thies nun bearbeitet, um ihn zu einer Kreuzfahrt zu überreden. Sie hatte ganze Stapel von Prospekten durchforstet, bis sie dieses tolle Sonderangebot gefunden hatte: »Auf den Spuren von Odysseus«. »So ’n büschen Kultur würd uns auch nich schaden«, hatte Heike gemeint. So lange auf See herumzuirren wie dieser Odysseus, das könne er sich schon rein beruflich nicht erlauben, war Thies’ lapidare Antwort gewesen.
Es ist immer dasselbe. Heike liebt die Abwechslung. Alle paar Monate wechselt sie mit tatkräftiger Unterstützung des Fredenbüller »Salons Alexandra« ihre Frisuren. Jetzt gerade hat sie ihren üblichen blonden Heuwagen auf dem Kopf mit ein paar orangenen Strähnchen veredelt. Und ab und an muss es ein schicker neuer Dreisitzer fürs Wohnzimmer oder wenigstens ein Windlichtset aus dem Dekoshop im fernen Flensburg sein.
Thies kann damit gar nichts anfangen. Er will, dass alles so bleibt, Fredenbüll, seine Polizeistation und das sommerliche Grillen am Deich. Statt auf die Malediven oder nach Griechenland fährt Thies im Urlaub am liebsten einfach mit der Fähre nach Amrum rüber. Dort sitzt er dann mit seinem alten Kollegen und früheren Chef Knut Boyksen am Steenodder Hafen, pult Krabben und diskutiert den rasanten Anstieg der Kriminalität in Nordfriesland. Heute Morgen, allerdings, hat er sich doch tatsächlich noch mal die Uniform angezogen, weil er ja unbedingt noch Jagd auf Raser machen wollte.
Heike ist immer noch sauer. Wieder ein Sommer mehr, in dem es, statt kühler Drinks an Bord eines Kreuzfahrtschiffes, morgendliche Krabbenkutterfahrten zu den Seehundbänken geben wird. Sie seufzt. Wenigstens hat sie Thies noch zu dieser neuen Wellnesspension überreden können.
Als Heike und die Zwillinge mit ihren Rollkoffern im Friesenhof »Pidder Lyng« vorfahren, hellt sich die schlechte Laune schon merklich auf. Die drei neuen, im traditionellen Stil gebauten Friesenhäuser machen schon was her. Auf den Terrassen stehen Deckchairs in Teak und Strandkörbe mit blau-weiß gestreiften Markisen. Zwischen den gewaltigen Reetdächern mit den majestätisch geschwungenen Gauben glitzert das Wattenmeer. An den gepflasterten Wegen zu den einzelnen Häusern stehen schmiedeeiserne Windlichter. Genauso schick wie auf Sylt, findet Heike. Die Besitzerin, Hannelore von Puttkammer, ist ja schließlich Sylterin, keine echte zwar, aber sie hat immerhin dreißig Jahre dort gelebt und eine Anlage mit Ferienapartments betrieben, bevor sie jetzt nach Amrum gewechselt ist.
Man kann noch erahnen, dass »Happy« Puttkammer, wie sie von allen genannt wird, in den Siebzigern auf Sylt ein echter Feger war. Ein Schwarzweißfoto der langbeinigen jungen Happy in Kampen mit Gunter Sachs auf dem Motorrad hängt gerahmt in der Rezeption des »Pidder Lyng«, daneben ein zweites, offensichtlich aus einem alten Modemagazin: Happy im Lack-Mini am Strand. Inzwischen haben die Sylter und Amrumer Sommer und etliche Gin Fizz ihre Spuren hinterlassen. Aber sie sieht immer noch gut aus in ihrem weißen Sommeranzug. Vielleicht ist sie eine Spur zu schlank gehungert und duftet eine Spur zu sehr nach Chanel. Die gegerbte braune Haut und die unzähligen Silberringe verleihen ihr etwas Indianisches. In der kunstvoll gestrubbelten Kurzhaarfrisur mischen sich blonde und graue Strähnen. Heike ist irgendwie beeindruckt. Die Sylter Haarstudios haben eben doch noch ein paar andere Frisuren drauf als der »Salon Alexandra« in Fredenbüll.
»Willkommen bei uns an der Nordsee auf Amrum«, sagt Hannelore Puttkammer mit kehliger Stimme. »Hier sagen alle ›Happy‹ zu mir.« Sie überreicht Heike und den Mädchen kleine aus Papier gefaltete Seeschwalben.
»Na ja, wir kommen auch von der Nordsee.«
»Aus Fredenbüll«, verkünden die Zwillinge im Chor.
»Hier gleich auf dem Festland?«, fragt Happy Puttkammer mit angedeutetem Naserümpfen. »Auch schön, so ganz urig, nich.«
»Urig? Na ja.« Heike weiß nicht recht, was sie sagen soll.
»Mein Papa is Polizist in Fredenbüll«, verkündet Tadje voller Stolz und kontrolliert den Sitz der Erbsenpistole in der Seitentasche ihrer Jeans. Telje klimpert mit den Handschellen, die sie am Gürtel trägt.
»Dann kann uns hier ja nichts mehr passieren«, sagt die Vermieterin und stößt einen theatralischen Lacher aus. »Wo ist er überhaupt?«
»Mein Mann wurde noch beruflich aufgehalten.«
»Oh, was Dramatisches?«
»Nö, nur Raser blitzen«, erklärt Telje.
»Das Wetter soll ja wohl nich so doll werden«, mault Heike.
»Ach was, heute Abend soll es mal einen Schauer geben, aber dann wird es wieder gut«, verspricht Happy Puttkammer. »Dann will ich euch mal in unsere Wohlfühloase einführen. Wir wollen hier ›Verwöhnmomente‹ schaffen, das ist mein Motto, und vor allem Momente der Entschleunigung.«
Heike blickt fragend.
»Ohmmmm …«, summt die Pensionswirtin und lacht. Die Zwillinge starren sie mit offenen Mündern an. »Und besonders stolz sind wir natürlich auf unseren neuen Wellnessbereich.«
»Wellness?!« Schon bei dem Wort fühlt sich Heike gleich viel besser.
Sie steigen ein paar Treppen ins Kellergeschoss. »Alles unterirdisch«, verkündet Happy stolz, als hätte das Saunen im Keller besonderes Flair. Auf den Stufen kommt ihnen ein nach Kräuterölen duftender Dreizentnermann im hauseigenen Bademantel mit Möwenaufdruck und hochrotem Kopf entgegen.
»Na, Herr Schulze-Rohr, wie war die Aroma-Massage?«
»Ich bin ein neuer Mensch«, japst der Dicke. Die Zwillinge sehen ihn staunend an.
»Wieso, wie sah er denn vorher aus?«, will Tadje wissen.
»Tadje!«, ermahnt ihre Mutter sie.
Während Happy Puttkammer eine Einführung in das »Erlebnisduschen«, die Klangschalenmassage und die Bio-Sauna mit Farblichttherapie gibt, turnen Telje und Tadje bereits auf dem Crosstrainer und der beheizbaren Ruhebank herum.
In ihre Ausführungen über die beim Ganzkörperwohlfühlen frei werdenden Energien klimpert der Klangschalen-Klingelton ihres iPhones, der bestens zu der Farblichttherapie passt.
»Einen Moment«, raunt Happy mit heiserer Stimme in ihr Telefon. Dann wendet sie sich an Heike. »Darf ich Ihnen einfach den Schlüssel für Ihr Apartment geben. Sie haben das ›Studio Rungholt‹. Sie wissen ja, das ist dieses versunkene Inselreich, ein nordfriesisches Altlantis, richtig spooky!« Sie macht eine Grimasse und schüttelt die Strubbelfrisur. »Aber keine Angst, bei mir gibt es keine Geister.« Happy Puttkammer lacht exaltiert. »Sie werden sehen, das Studio ist richtig schnuckelig.«
Die Ferienwohnung ist tatsächlich schnuckelig, findet Heike auch. Schon das gemalte Schild mit den über einen Nachthimmel springenden Schäfchen und der Aufschrift »Bitte nicht wecken!«, das an der Tür hängt, sieht aus wie aus der neusten »Landlust«. Gestreifte Polstersessel, geölte Holzböden, eine Küchenzeile in weiß gebeiztem Holz mit Blick auf Reetdächer, auf der Fensterbank Holzmöwen und dahinter das Wattenmeer. Das ist was anderes als der Dreisitzer aus dem Möbelcenter und ihr Teppichboden aus dem Baumarkt zu Hause, findet Heike. Tadje und Telje toben einmal durch das gesamte Apartment.
»Mama, Mama, im Schlafzimmer liegt ’n Mann im Bett«, ruft da Tadje quietschvergnügt, während Heike voll und ganz damit beschäftigt ist, die schweren Rollkoffer halbwegs unfallfrei über die dänischen Webläufer zu bugsieren.
»Na ja, wenn’s weiter nix is.« Sie ist diese Spielchen inzwischen gewohnt. Seit bei Tadje im Zeugnis stand, sie solle sich am Unterricht lebhafter beteiligen, geht mit dem dösigen Kind gerne mal die Fantasie durch. »Mama, wirklich, da liegt einer im Bett.« Zwillingsschwester Telje klingt nicht halb so begeistert und lässt verschreckt die Spielzeug-Polizeikelle hängen. »Er hat noch seine ganzen Klamotten an.«
»Und er hat seine Schuhe gar nich ausgezogen«, petzt Tadje. »So ganz komische Fußballschuhe.«
Heike stürzt ins Schlafzimmer mit dem Himmelbett. Sie traut ihren Augen nicht. Ist das ein Gag des Hauses, eine neue Form des Erlebnistourismus, versteckte Kamera oder so etwas? In dem Bett mit der friesisch-blauen Bettwäsche liegt ein Mann. Kein Zweifel. Ein fremder, auffallend ruhiger Mann. Er trägt einen gelben Sportpullunder mit einem aufgestickten Golfschläger. Die Beine der karierten Hose sind ein Stück hochgerutscht und geben den Blick frei auf blau-gelb karierte Burlington-Socken und auffällige Schuhe, weiß-braune Schuhe mit einem Lochmuster und seltsamen Stollen. Golfschuhe, vermutet Heike.
»Moin.« Mehr bekommt Heike nicht heraus.
Sie muss sich zwingen, hinzusehen. Eine längere Haarsträhne, die der Fremde normalerweise wohl von einem Ohr zum anderen einmal quer über den Kopf gelegt trägt, ist unschön verrutscht. Und noch etwas fällt Heike sofort auf. Für einen golfenden Nordseeurlauber zur Hauptsaison ist der Mann bemerkenswert blass.
Plötzlich wird Heike schwindelig und es sieht aus, als würde vor der Szenerie ein schwarzes Rollo heruntergezogen werden. Nacheinander verschwinden der duftige Himmel des Bettes, die Holzmöwen auf der Fensterbank und die friesische Bettwäsche – und schließlich auch die gelben und hellblauen Rhomben der Burlington-Socken. Heike wird unsäglich müde und fällt augenblicklich in einen tiefen angenehmen Schlaf. Einen letzten Gedanken hat sie noch: Bitte nicht wecken!
Mit einem dreckigen Grinsen schiebt sich Raik Rettmer die monströse Schutzbrille auf die Nase und wirft seine Motorsense an. Er lässt sie lautstark aufheulen und schwingt das sperrige Gerät einmal durch die Luft über das Gras – wie ein Golfspieler seinen Schläger vor dem Abschlag. Das Grinsen ist jetzt aus seinem Gesicht gewichen. Mit grimmiger Miene geht Raik Rettmer auf struppige Grasbüschel und ein paar widerspenstige Strandastern am Rand des kleinen Deiches los, der die Wellnesspension »Pidder Lyng« zum Wattenmeer hin schützt. Er rasiert die Gräser bis auf die Narbe herunter, bis die Messer der Sense nur noch Sand aufwirbeln. Er muss mit dem Mähen in der nächsten Stunde durch sein. Pünktlich zum Ferienbeginn ist Tief »Helga« angekündigt worden, für den späteren Nachmittag ist heftiger Regen vorhergesagt. Und dann hat er abends schließlich noch einen anderen Job.
Raik genießt es, die Touristen zu nerven, diese Schnösel vom Festland ordentlich zu ärgern. Wenn die neuen Feriengäste sich zum ersten Frühstück auf der Terrasse niederlassen, dann wirft Raik Rettmer regelmäßig den Rasenmäher an. Oder er gönnt sich einen morgendlichen Gang mit dem Laubpuster über die Gartenwege, so lange, bis Happy Puttkammer ihn zurückpfeift.
»Raik-Darling, bist du von allen guten Geistern verlassen?«, wettert sie dann. Dieses »Raik-Darling« bringt ihn regelmäßig zur Weißglut, dass er am liebsten mit einem seiner Gartengeräte auf die Sylter Schnepfe losgehen würde. Aber in der Regel ist die Dame des Hauses gar nicht anwesend, sondern sitzt bei einer »Latte« im Strandcafé oder in der »Kombüse« an der Bar beim Krabbencocktail. Raik kennt die Reihenfolge ihrer Lebensphasen ganz genau. Erst Modeln, dann kam Yoga, Häusereinrichten, Weine, Tabletten, Entzug, Fitness, und jetzt ist sie wieder beim Häusereinrichten angekommen.
Happy Puttkammer und Raik Rettmer haben das Talent, sich gegenseitig an den Rand des Nervenzusammenbruchs zu bringen. Und das hat seine Gründe. Rettmer hatte auf dem Land, auf dem jetzt die Häuser der neuen Wellness-Oase von Hannelore Puttkammer stehen, seit seiner Kindheit in einem kleinen alten Reetdachhäuschen gewohnt, die meiste Zeit zusammen mit seiner Mutter. Sein Vater, der zur See fuhr, war in Raiks früher Kindheit mit einem Fischkutter beim Kabeljaufang im Nordmeer verunglückt. Seine Mutter schlug sich auch noch im höheren Alter im Sommer als Serviererin durch. Außerdem wurden die beiden Schlafzimmer unter dem Dach in der Saison an Feriengäste vermietet. Raik schlief solange auf dem Sofa in der Stube, seine Mutter in der Küche.
Nach einer Jahrzehnte zurückliegenden Kochlehre auf dem Festland war er gleich wieder nach Hause zu seiner Mutter gezogen. Er hatte in verschiedenen Lokalen auf der Insel als Koch gearbeitet, war aber immer wieder aus seinem Job geflogen. Raik kann ordentlich anpacken. Aber seine Beliebtheit hält sich in Grenzen. Schon als Jugendlicher war er gefürchtet. Er hatte eines von dreien und eindeutig das lauteste Moped der Insel. Die gleichaltrigen Jungen hatten Respekt vor ihm. Bei den Amrumer Mädchen kam der Rüpel mit den schwarzen, immer etwas fettig ins Gesicht hängenden Haaren und den damals schon schlechten Zähnen nicht ganz so gut an. Bis heute ist er allein geblieben.
Vor vier Jahren war seine Mutter beim »Großen Galaabend der Volksmusik« vor dem Fernseher eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Das hatte Raik nachhaltig aus der Bahn geworfen. Danach stapelten sich in der Küche der Abwasch und vor allem das Leergut. Überall in dem kleinen Haus tummelten sich nicht nur Woll-, sondern auch echte Mäuse. In den niedrigen engen Räumen roch es spakig. Zwei Stammgäste aus dem Ruhrgebiet, die seit Jahrzehnten bei den Rettmers Urlaub machten, verließen fluchtartig das Ferienquartier. Das Touristikbüro strich Raik Rettmer relativ schnell aus dem Gastgeberverzeichnis.
Die alte Kate war schon vorher in keinem guten Zustand gewesen. Im Winter kroch Feuchtigkeit die Wände hoch. Im Sommer roch es aus dem Ofen nach Ruß. Durch das über die Jahrzehnte dünn und brüchig gewordene Reet regnete es immer wieder. Das Haus war dringend renovierungsbedürftig. Aber für eine grundlegende Sanierung fehlte Rettmer das Geld. Als Hannelore Puttkammer ihm neunzigtausend Euro für das marode Haus bot, akzeptierte Raik, ohne lange zu überlegen. Vorher hatte Happy ihm noch vorgesäuselt, wie »süß« und »schnuckelig« sie die alte Kate finde. Doch keine Woche nach der Eintragung ins Grundbuch rückte das Bauunternehmen Pohlmann vom Festland mit einem Abrissbagger an. Nach einer weiteren Woche stand von Raik Rettmers Elternhaus kein Stein mehr auf dem anderen.
Nachdem Happy Puttkammer dann auf dem großen Wiesengrundstück, das vorher angeblich immer unter Naturschutz gestanden hatte, die drei großen Reetdachhäuser hingebaut hatte, war Raik mit einem Schlag klar, dass die blonde Happy ihn eiskalt über den Tisch gezogen hatte. Und von den neunzigtausend Euro war praktisch nichts mehr übrig. Es ist nicht so, dass Raik das Geld auf den Kopf gehauen hätte. Viel schlimmer. Er hat es seinem Bankberater anvertraut und in der sicheren Erwartung auf eine schnelle Vermehrung in verschiedenen Aktienoptionen und Derivaten angelegt. Die Optionsscheine auf chinesische Solaraktien und der in der Karibik gemanagte Shipping-Fonds hatten allerdings ins Minus gedreht, wie der Flensburger Bankfritze es formulierte. Dass schon seinem Vater die See zum Verhängnis geworden war, hätte Raik eine Warnung sein können. Mit den im Depot verbliebenen Fünftausend wartete er jetzt auf eine Erholung der chinesischen Solarbranche.
Dass dieselbe Bank, die sein Geld in den Sand gesetzt hat, ihm jetzt einen Kredit verweigert, bringt Raik gewaltig in Rage. Schon seit Längerem träumt er von einem kleinen Strandkiosk in den Dünen, wo er im Sommer Eis, kalte Getränke und »Fish and Chips« an die Badegäste verkaufen könnte. Aber auch die Frau der Hamburger Privatbank, die neuerdings wegen irgendwelcher Immobiliendeals auf der Insel unterwegs ist, hat Raiks Kreditanfrage nur mit einem lächelnd arroganten »Sorry« beantwortet.
Seine jetzige Arbeit ist eine zusätzliche Demütigung. Auf dem Grund und Boden, der ihm einmal gehört hat, darf er freundlicherweise jetzt noch den Rasen mähen und den Feriengästen die Fahrradreifen aufpumpen. Der schlechtbezahlte Job als Hausmeister bei Happy Puttkammer ist für Raik Rettmer eine einzige Zumutung. Aber was bleibt ihm in seiner jetzigen Situation schon übrig. Selbst wenn er die traurigen Reste seiner Solaraktien verkaufen würde, käme er damit kaum über den Sommer. Gerade haben sie wieder die Miete für seine Einzimmerwohnung im Gewerbegebiet erhöht. Er braucht das Geld, dringend. Aber deswegen kriecht er diesem zerknitterten Sylter Exmodel und ihren schnöseligen Hausgästen noch lange nicht in den Hintern. Ganz im Gegenteil, er denkt sich immer wieder neue kleine Gemeinheiten aus, mit denen er die von Happy zitierten »Wohlfühlmomente« sabotieren kann. Ein effektvoller Kurzeinsatz der Kreissäge zu früher Morgenstunde oder das Verbrennen von Gartenabfällen neben dem Parkplatz mit den blankgeputzten Oldtimern bringt die »entschleunigten« Wellnessjünger schnell wieder auf Trab. Auf diesem Gebiet sind Rettmers Fantasie keine Grenzen gesetzt. Das sind die kleinen Freuden, die er sich gönnt.
Raik Rettmers Markenzeichen ist das Möwenschiss-T-Shirt. Das Hemd mit der Möwe, die gerade einen satten Klecks hinterlassen hat, besitzt er gleich in mehreren Ausführungen. Die in verblichenem Blau scheißende Möwe schlabbert ihm um seinen schmalen Oberkörper. Aus den Ärmeln staksen die sehnigen Arme. Raik hat wirklich keine furchteinflößende Statur. Aber sein provozierender Blick aus den stahlblauen Augen signalisiert die Bereitschaft, jeden Baum, der den Blick aufs Meer stört, kurzerhand umzusägen, und keiner Schlägerei aus dem Weg zu gehen.
Der Wind hat gedreht. Vom Meer kommt eine kühle Brise, von Westen zieht Bewölkung auf. Raik gibt noch einmal richtig Gas, dann schaltet er seine Motorsense aus. Er schiebt sich die Schutzbrille in die Haare und wischt sich mit dem Ärmel seines Möwenschiss-Hemdes die Graskrümel aus dem Gesicht. Als er das Gerät in das reetgedeckte Gartenhaus zurückstellen will, stellt er fest, dass die Tür seltsamerweise verschlossen ist. Er rüttelt ein paarmal daran.
»Stell die Sense einfach vor die Tür, ich pack sie gleich weg«, ruft ihm Happy Puttkammer, die aus ihrer Rezeption herausgetreten ist, zu. »Ich hab versehentlich deinen Schlüssel eingesteckt.«
»Gib mir einfach den Schlüssel«, grölt Raik zurück.
»Nee, ich mach das schon… muss ihn verlegt haben… weiß auch nicht.«
Irgendwie wirkt die Sylter Lady etwas von der Rolle, denkt Raik. Dieser Vorfall eben mit dem neuen Feriengast, dieser Frau, die im Apartment »Rungholt« umgekippt ist und dann vom Roten Kreuz abgeholt wurde, hat sie offensichtlich etwas durcheinandergebracht. Und dann rannten da noch diese beiden durchgedrehten Zwillinge mit Erbsenpistole und Polizeikelle herum und faselten etwas von karierten Socken. Es war schon ein seltsamer Nachmittag.
»Und lass den Pick-up bitte da!«, ruft Happy. »Ich muss wahrscheinlich gleich noch was besorgen.«
»Was fährst du auch so ’n alten Porsche, in den nichts reinpasst«, mosert Rettmer.
»Raik-Darling, sei ein Schatz, lass einfach den Schlüssel stecken.«
Da war es schon wieder, dieses blöde »Darling«. Raik spürt, wie ihm das Blut in den Kopf steigt. Ärgerlich nimmt er das alte Fahrrad und radelt den Weg Richtung Dorfzentrum zu seinem nächsten Job in der »Kombüse«.
»Alle Achtung, Thies. Du bist noch gar nich auf der Insel, schon ham wir hier ’n Toten«, ruft ihm Knut Boyksen lachend entgegen, als Thies mit seinem altersschwachen Escort von der Fähre fährt.
Die ehemaligen Kollegen begrüßen sich mit kräftigem Handschlag. In Thies’ Zeit als PMA