Der weiße Heilbutt - Krischan Koch - E-Book
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Der weiße Heilbutt E-Book

Krischan Koch

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Beschreibung

Ein Bilderbuchsommer auf Amrum. Halb Fredenbüll und die komplette »Hidde Kist« machen dort Urlaub. Am trubeligen Strand spült eine Welle dem kleinen Finn plötzlich einen abgetrennten Frauenfuß auf seine Schaufel. Alle starren gebannt aufs Wasser, wo ein riesiger Fisch gerade eine Luftmatratze rammt. Statt ausgelassener Ferienstimmung herrscht jetzt Massenpanik. Hat der Killerfisch bereits eine Frau getötet? Das eingespielte Duo Detlefsen & Stappenbek ermittelt in alle Richtungen. Zwischen Touristenhorden, demonstrierenden Umweltaktivisten, exzentrischen Starköchen, rachsüchtigen Immobilienmaklerinnen und einem verirrten Riesenraubfisch suchen sie fieberhaft nach einem Frauenmörder.

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Über das Buch

Ein Bilderbuchsommer auf Amrum. Halb Fredenbüll und die komplette »Hidde Kist« machen Urlaub auf der Insel. Am trubeligen Strand spült eine Welle dem kleinen Finn plötzlich einen abgetrennten Frauenfuß auf seine Kinderschaufel. Zwei Strandkörbe weiter starren alle gebannt aufs Wasser. Ein riesiger weißer Fisch ist vor der Küste aufgetaucht und will gerade die Luftmatratze eines Mädchens rammen. Statt ausgelassener Ferienstimmung herrscht jetzt Massenpanik. Hat der Killerfisch bereits eine Frau getötet? Aber wo ist dann deren Leiche?

Zwischen Touristenhorden, demonstrierenden Umweltaktivisten, exzentrischen Starköchen, rachsüchtigen Immobilienmaklerinnen und einem verirrten Riesenraubfisch nimmt das eingespielte Team Thies Detlefsen & Nicole Stappenbek unverzüglich die Ermittlungen auf.

 

 

 

 

Für Gudi und Matthias auf dem Törn durch die Dänische Südsee

 

 

 

 

»Wir werden ein größeres Boot brauchen.«

Martin Brody in Steven Spielbergs ›Der weiße Hai‹

1

Über dem Wasser liegt ein sommerliches Flirren. Die müde warme Meeresbrise verweht in einem Duftcocktail verschiedener Sonnenöle. An dem Aufgang in Nebel stehen dicht gedrängt die Strandkörbe. Dazwischen pesen dünne Jungen mit Keschern hindurch. Einem kleinen Mädchen rutscht das Eis vom Stiel in den Sand. Ihr Schluchzen geht in dem Johlen anderer Kinder unter. Das Klackern vom Strandtennis und Boccia mischt sich mit den Kommandos des Surflehrers, dessen Schüler mit ihren Brettern auf dem Wasser dümpeln. Rufen, Lachen und Kinderschreien verbindet sich mit dem Klatschen gebaggerter Volleybälle und dem trägen Flattern eines Drachen zu einer Toncollage. Es klingt wie in einem überfüllten Freibad. Auch im Wasser sieht es aus wie in der Badeanstalt. Das flache Ufer ist dicht bevölkert von Kindern mit Taucherbrillen, von Familienvätern, die mit kalkweißen Beinen im knietiefen Wasser verharren, von riesigen, auf den Wellen schaukelnden Gummischwänen und Sonnenbadenden auf Luftmatratzen, die mit den Surfschülern kollidieren. Weiter draußen treibt eine Gummibadeinsel, von der zwei Jungs immer wieder johlend herunterspringen. Und noch ein Stück weiter pflügt kraulend ein betagter Fahrtenschwimmer mit Badekappe und Nasenklammer durchs Wasser.

Die Flagge am DLRG-Häuschen hängt schlapp am Mast herunter. Die beiden Bademeister stehen mit verspiegelten Sonnenbrillen auf ihrem Beobachtungsstand. Einer blickt gebannt in die weite Ferne, als würde vor Helgoland gerade jemand ertrinken. Der andere sieht den vorbeilaufenden Mädchen hinterher, die sich kichernd nach ihm umdrehen.

Die Fredenbüller Imbisswirtin Antje und ihr Stammgast Piet Paulsen beobachten die Sommerszenerie von ihrem Strandkorb aus. Finn, der kleine Sohn der Husumer Kriminalhauptkommissarin Nicole Stappenbek, verbringt mit Quasi-Patenonkel Piet und Antje vor seiner Einschulung eine Ferienwoche an der See. Während Finn mit ein paar anderen Kindern zusammen begeistert im nassen Sand buddelt, döst Imbisshündin Susi im Schatten des Strandkorbs vor sich hin. Die blonde Frau im benachbarten Strandkorb dagegen hält ihr glänzendes Gesicht der gleißenden Mittagssonne entgegen. Ihr schwitzender Gatte daneben beschränkt das Sonnenbad auf den bereits dunkelbraun gerösteten Bauch. Über den Beinen liegt ein Badehandtuch und auf dem Kopf die Titelseite der Zeitung mit der Schlagzeile »Schon wieder Jahrhundert-Sommer!«.

Während Antje für Piet ein Krabbensandwich und ein kühles Getränk aus der schicken neuen Kühltasche mit dem Kirschmuster zaubert, schaufelt Finn zusammen mit Emma, August und seinem neuen Freund Karlchen aus dem Kinderheim freudestrahlend einen Kanal in den Sand. Finn und August schwingen die Kinderschaufeln. Der nasse Sand fliegt durch die Luft.

Die Mutter von Emma und August kann das gar nicht mit ansehen. »Auuuugust! Achtung! Die Schaufel! Das ist gefääährlich!« Es sieht tatsächlich aus, als würde die überbesorgte Helikoptermutter aus ihrem Strandkorb herausfliegen. Aufgebracht zeigt sie auf die Kinderschaufel. Am liebsten würde sie Finn die gefährliche Waffe gleich aus der Hand reißen.

»Seid ihr verrückt? Damit könnt ihr euch verletzen!«

Antje und Paulsen drehen sich staunend zu ihr um. Die Kinder bekommen es in ihrem Eifer gar nicht mit.

»Abenteuerurlaub mit August«, raunt Antje mit einem Grienen.

»Schon komisch.« Piet wischt sich mit dem Handtuch ein paar Schweißperlen von der Stirn. »Emma und August, dat waren doch früher die Namen von den Großeltern.«

»Stimmt. Und die haben ihre Kinder dann Piet und Antje genannt …« Die Imbisswirtin reicht Piet das Krabbensandwich. »… oder nachher auch Janine und Kevin.«

»Dann können ja die Enkel August und Emma demnächst mit Opa Kevin an den Strand losziehen.«

Jetzt widmen sich Antje und Piet erst mal ihrem Imbiss und genießen mit Blick aufs Wasser ihr Krabbensandwich. So voll haben sie den Amrumer Badestrand noch nie erlebt. Es gibt keinen freien Meter. Zwischen den plantschenden Kindern mit Schwimmflügeln stelzen die Sonnenbadenden, die sich nur kurz abkühlen wollen, in geschlossener Formation ins auflaufende Wasser. Für die Boards der Windsurfer gibt es kaum ein Durchkommen. Überall spritzt das Wasser, und in den Tropfen glitzert die hochstehende Sonne.

Die beiden Lifeguards von der DLRG lassen ihren Blick gelangweilt über das ausgelassene Badeleben schweifen und reiben sich ihre trainierten Waschbrettbäuche mit Sonnencreme ein. Sie fühlen sich im Augenblick wenig gefordert. Jan, der große Dunkelhaarige, der mit seinem Undercut wie ein GI aus den Sechzigern aussieht, nimmt aus lauter Langeweile das Fernglas zur Hand. Langsam fährt er damit den Horizont ab und bleibt dann an einem weißen Etwas im Wasser neben der Badeinsel mit den beiden Jungs hängen. Was ist das? Ein weißer Fisch? Er sieht riesengroß aus. Die aufgeblasene Gummibadeinsel kommt gefährlich ins Schwanken. Die badenden Jungs haben es noch gar nicht mitbekommen. Aber ein Wal kann es doch nicht sein, oder?

»Hörbi, was is ’n das für ’n Fisch?«, nuschelt der Dunkelhaarige. »Du kennst dich doch aus. Wat is dat?«

Der zweite Bademeister greift jetzt ebenfalls zum Fernglas

»Keine Ahnung.« Hörbi stellt sein Fernglas scharf.

»Du hast doch diese Fisch-App.« Dabei behält Jan den weißen Fisch immer im Blick.

Hörbi hat sofort sein Handy gezückt und die Fischbestimmungs-App aufgerufen. »Ich muss was eingeben … Gruppe, Größe oder Vorkommen … Keine Ahnung.«

»Ja … Nordsee. Gib schon ein!«

»Da kommt gleich Scholle.«

»Verdammt, Hörbi, das is keine Scholle.« Der Rettungsschwimmer mit der modischen GI-Frisur ist nervös. Er sieht, wie der große Fisch unter die Badeinsel taucht und sie zum Kippen bringt.

»Na ja, dat meiste hier im Wattenmeer sind Schollen, Sandschollen … ich kann hier die Größe eingeben.«

»Ja, mach hin! Gib die Größe ein!« Jan sieht jetzt, wie die beiden Jungs neben der Badeinsel und dem weißen Fisch im Wasser zappeln.

»Wie groß?« Hörbi tippt und streicht weiter auf seinem Smartphone herum. »Steinbutt? Bis zu siebzig Zentimeter?«

»Größer!« Jan sieht gebannt durch sein Fernglas. »Er kommt jetzt auf das Ufer zu. Verdammt, was ist das?« Er sieht eine dreieckige Schwanzflosse aus dem Wasser ragen.

»Hier steht auch was von Laichzeit und den passenden Ködern zum Angeln.«

»Scheiße, Hörbi, uns interessiert nicht die Laichzeit. Wir wollen wissen, was das ist und wie gefährlich dieser weiße Monsterfisch ist.«

»Ein bis zwei Meter?« Hörbi ist in der nächsten Kategorie gelandet.

»Größer. Wesentlich größer!« Mit Entsetzen beobachtet Jan, wie der Fisch jetzt auf die Luftmatratze mit einem Mädchen zusteuert. »Der ist dreimal so groß wie das Mädchen auf der Luftmatratze. Mindestens.«

»Hier … der Weiße Heilbutt.« Hörbi ist fündig geworden. »Wird bis zu fünf Meter groß. Der König der Raubfische. Gehört nicht zur Familie der Butte, sondern der Schollen. Wat hab ich gesagt.« Er zeigt seinem Kumpel das Foto des Fisches.

»Scheiße, was ist das denn? Abartig. Sieh dir dieses riesige Maul an!« Und dann sieht Jan wieder aufs Wasser. »Neiiin, er hat das Mädchen von der Luftmatratze geworfen! Ich bin mir nicht sicher, ob die schwimmen kann. Sieht mir nicht danach aus.«

Auch Hörbi zückt wieder sein Fernglas. »Der Monsterbutt nimmt Kurs auf die Windsurfer. Was hat der vor?«

»Verdammt, wir müssen die Leute aus dem Wasser holen.« Den beiden coolen DLRG-Jungs steht die Panik im Gesicht.

»Erst mal die rote Flagge hissen«, stammelt Hörbi.

2

»Hörbi, einer von uns beiden muss da raus, das Mädchen ersäuft uns.« Der athletische Jan mit der Militärfrisur ist unter der Sonnenbräune blass geworden.

»Das Mädchen hol ich raus.« Hörbi sieht aufs Wasser und zögert. »Aber der Fisch …«

»Okay, ich schwimm raus.« Jan nimmt seine Spiegelsonnenbrille ab, und die beiden verlassen hektisch das DLRG-Häuschen. »Aber dann musst du die anderen Leute hier aus dem Wasser holen.« Hörbi sieht ihn fragend an. »Und zwar möglichst ohne dass eine Panik entsteht.«

»Ja, Scheiße, was soll ich den Leuten erzählen, warum sie bei dem Wetter nich baden dürfen?«

Die Badenden und auch die Leute am Strand haben von dem großen Fisch weiter draußen tatsächlich noch nichts mitbekommen. Und Hörbi ist sich nicht so sicher, ob sie wirklich gleich Alarm schlagen sollen und damit möglicherweise eine Panik auslösen. »Ich wart noch mal und behalt unseren Freund im Auge.« Hörbi hat das Fernglas dabei und die Fisch-App aufgerufen, während Jan sich in die Fluten stürzt und zu dem Mädchen hinauskrault, dessen Kopf immer wieder unter der Wasseroberfläche verschwindet.

Währenddessen geht der Strandbetrieb unbeirrt weiter. Finn und August sind nicht zu bremsen. Wie besessen schaufeln sie an ihrem Kanal. Die Sandspritzer landen in Emmas und Karlchens Gesicht. Die Mutter ist dem Nervenzusammenbruch nahe. Dann füllt sich die ausgehobene Rinne mit Wasser. Die Kinder juchzen. Emma setzt sofort ihre Plastikente auf den kleinen Kanal. Finn gräbt derweil immer weiter. Antje und Paulsen beobachten amüsiert das Spektakel und beißen genüsslich in ihre Krabbenbrötchen.

»Wo will ihr Kollege denn hin?«, fragt ein Mann Baywatcher Hörbi.

»Der sieht nur mal nach dem Rechten … bei der Luftmatratze dahinten. Keine Panik.« Dabei steht Hörbi die Panik mittlerweile deutlich im Gesicht.

Eine Frau zeigt ebenfalls aufs Wasser. »Was ist das Weiße da? Delfine? Die sind doch gar nicht weiß … und auch nicht so groß.«

Jetzt deuten schon mehrere Leute nach draußen aufs Wasser und rufen aufgeregt durcheinander.

Bei Finn und seinen Freunden dagegen wird es plötzlich ganz still. Das auflaufende Wasser spült ein seltsames Etwas in die ausgehobene Rinne. Emmas kleine Gummiente gerät sofort in Turbulenzen. Das schüchterne Karlchen zeigt erschrocken auf das merkwürdige Teil. Finn unterbricht sofort die Grabungsarbeiten, um das Ding näher zu untersuchen. Was ist das? August fischt neugierig mit der Schaufel danach. Das ist keine Qualle, kein angeschwemmtes Stück Zellophan oder Plastik und auch kein toter Fisch. Den Kindern ist es ein Rätsel, was da in ihrem Kanal schwimmt. Mit der Schaufel bekommt August das Ding nicht zu fassen. Finn hüpft kurzentschlossen in den selbstgebauten Wassergraben und greift sich mutig das geheimnisvolle Objekt.

Mittlerweile deuten immer mehr Leute zu dem weißen Riesenfisch und dem Rettungsschwimmer, der das Mädchen jetzt erreicht hat. Auch die Volleyballer sind ans Wasser gelaufen. Alle zeigen und rufen durcheinander. Sie wissen gar nicht, wo sie zuerst hinsehen sollen. Und auf einmal hat Finn ihre ganze Aufmerksamkeit.

Fassungslos hält der Kleine das nasse Fundstück in beiden Händen vor seinem schmächtigen Oberkörper. Die anderen Kinder starren jetzt gebannt darauf. Der neugierige Blick schlägt augenblicklich in blankes Entsetzen um. Sie können nicht fassen, was sie da in Finns Händen sehen. Es sieht aus wie ein menschlicher Fuß, ein abgetrennter Frauenfuß mit einer ausgewaschenen zerfransten Wunde. Die rosalackierten Fußnägel leuchten unwirklich auf den Zehen des bleichen Körperteils.

Finn möchte es am liebsten sofort wieder fallen lassen, aber irgendwie traut er sich nicht. »W-w-was is das?«, stammelt der Junge. Er streckt das Ding noch ein Stück weiter von sich, behält es aber tapfer in den Händen.

»Das ist ein Fuß«, stellt Karlchen aus dem Kinderheim mit staunendem Blick fest.

»Mama«, ruft der eben noch so unternehmungslustige August.

Die überbesorgte Mutter stößt einen spitzen Schrei aus, der über den breiten Strand gellt und sofort alles übertönt. Für einen Wimpernschlag scheint alles erstarrt, dann bewegen sich die Dinge für einen Moment wie in Zeitlupe, der Aufschlag beim Beachvolleyball, der mit seinem Board unter dem Arm vorbeilaufende Surfer, das Mädchen, das seine blonde Mähne durch die sonnendurchflutete Luft wirft. Entsetzensschreie hallen verzerrt wie in einer zu langsam abgespielten Tonspur über den Strand.

»Aaaantjeeee«, ruft Finn, und Emmas Ente nickt dazu wie in Trance.

Und dann geschieht auf einmal alles ganz schnell, so als müsse die verlorene Zeit aufgeholt werden. Die Mutter greift sich ihre beiden Kinder Emma und August und zerrt sie ein Stück von Finn und dem Frauenfuß weg, nur so weit, dass sie selbst alles weiter im Blick hat. Aus den anderen Strandkörben und aus dem Wasser, vom ganzen Strand strömen Schaulustige heran und wollen den spektakulären Fund bestaunen. Andere wiederum zeigen aufs Wasser. Mehrere junge Leute und auch eine nicht mehr ganz so junge Frau haben sofort ihre Smartphones gezückt und machen Fotos und Videos. Die Menschen schreien durcheinander.

»Das war der Fisch dahinten«, stammelt eine Frau. »Der weiße Fisch. Was ist das?«

»Verdammt, die Kinder müssen aus dem Wasser, schnell!«, ruft eine der Volleyballerinnen. »Mach was!«, pflaumt sie Hörbi an.

»Ja wat denn? Die rote Flagge ist oben.« Aber dann schreitet Hörbi zur Tat. »Keine Panik!«, ruft er über das Wasser und dann im amtlichen Ton. »Bitte alle langsam und geordnet aus dem Wasser kommen. Dies ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Also, keine Panik!«

Jetzt watet auch Rettungsschwimmer Jan mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm zurück ans Ufer. Die Kleine hat blaue Lippen, sagt keinen Piep, ist aber ansonsten wohlauf.

»Ihr müsst den Strand sperren«, ruft jemand. »Das ist ein Wahnsinn!«

Finn stapft mit zittrigen Knien, aber unbeirrt weiter zum Strandkorb von Antje und Piet Paulsen und präsentiert ihnen stolz seinen Fund. Augenblicklich kommt es vor dem Strandkorb zu einem Menschenauflauf.

»Das war der Weiße Heilbutt«, konstatiert ein Nackter, der sich vom FKK-Strand verlaufen hat. »Einige Exemplare werden bis zu fünf Meter lang und vierhundert Kilo schwer.«

»Ja, dat ist uns auch bekannt!«, schnauzt Hörbi ihn an.

»Der große Räuber der Nordsee«, weiß der Nackte, der als einziges Textil eine Schirmmütze aus hellblauem Frottee trägt.

»Ziehen Sie sich doch erst mal etwas an«, faucht die Mutter von August den Nackten an. Irgendwie findet sie die fehlende Bekleidung angesichts des Damenfußes pietätlos.

»Achtung! Lebensgefahr!«, ruft ein anderer Mann, ebenfalls mit Sonnenhut, aber mit Hose. In Panik läuft er vor den Strandkörben hin und her und stolpert dabei kurz über eine Sandburg.

Die Badenden kommen nur zögernd aus dem Wasser. Ein Kleinkind mit Schwimmflügeln wird aus den Wellen gehoben. Ein paar Luftmatratzen und ein Gummidino werden enttäuscht an Land gezogen. Aber der weiße Monsterfisch hat sich mittlerweile Richtung Sylt verzogen. Alles schreit hysterisch durcheinander.

»Achtung! Schnell raus aus dem Wasser!«

»Wo ist der Fisch denn? Ich seh gar nichts!«

»Keine Panik!«

Überall klicken die Handys. Vor Antjes und Piets Strandkorb stehen die Urlauber inzwischen in mehreren Reihen. Paulsen fällt in dem Tohuwabohu sein Krabbenbrötchen in den Sand.

»Mensch, Piet, dat schöne Brötchen!« Antje sieht ihn tadelnd an.

»Ja, jetzt is dat tatsächlich ’n ›Sand-witsch‹«, bemerkt Piet.

Aber Antje überhört das Wortspiel. Sie widmet sich gleich wieder Finn und dem unheimlichen Frauenfuß, den der Junge immer noch angeekelt, aber auch irgendwie stolz vor sich hält. Eine junge Frau bannt das in Großaufnahme auf ihr Handy.

»Wat machen wir denn jetzt nur?« Antje ist ratlos und besorgt. »Finn, igitt, lass dat mal los …« Aber wo er mit dem Fuß bleiben soll, weiß die Imbisswirtin auch nicht. »Ich hab mal gehört, so wat muss kühl gehalten werden.« Antje zückt kurzentschlossen die hellgrüne Kühltasche mit dem Kirschmuster. Sie öffnet die Tasche.

Piet Paulsen klappt den Sonnenaufsatz seiner Gleitsichtbrille hoch und wirft Antje einen kritischen Blick zu. »Antje, aber nich zusammen mit den Krabbenbrötchen!«

3

»Ganz langsam und tief einatmen … und jetzt genauso langsam, entspannt und beiläufig wieder ausatmen«, säuselt Birte mit monotoner Stimme. »Hier passiert gar nichts, alles ist ruhig, und es interessiert uns auch gar nicht.«

Sie blickt bedeutsam, aber gleichzeitig auch ein bisschen gelangweilt. Die um sie in einer Dünenmulde versammelten Frauen in luftiger Sommergarderobe sind kurz davor, einzuschlafen.

»Nicht einnicken, nur alles ausschalten und laaangweilen«, ermahnt Birte die Teilnehmer ihres Kurses. »Dasein, einfach nur Dasein … ohne jede Absicht.«

Die zwanzig Frauen mittleren Alters blicken im Augenblick noch eher fasziniert als gelangweilt. Für die Mehrzahl ist es nicht die erste Veranstaltung bei Birte Birkenstolz. Die gestressten Großstädterinnen, Smartphone- und Social-Media-Junkies stürmen ihre Veranstaltungen zu den Themen Achtsamkeit und Kontemplation.

Der Hit der letzten Workshop-Saison waren ihre legendären mehrtägigen Kartoffelschälkurse im Hamburger Karoviertel. »Eine fantastische Entschleunigungsübung und spirituelle Erfahrung«, raunt eine der Damen einer anderen zu. Die Übung zeigte erstaunliche Resultate. Die Teilnehmer waren tiefenentspannt und hatten Blasen an den Händen. Die eimerweise geschälten Kartoffeln lieferte Frau Birkenstolz an die Hamburger Gastronomie, eine klassische Win-win-Situation.

Nach den Kartoffeln kam die Kakao-Zeremonie. Der neuste Trend heißt Lange-Weile. Nach sehr erfolgreichen Workshops in Hamburg bringt Birte Birkenstolz die Langeweile jetzt nach Amrum. Die Intensivwoche war sofort ausgebucht, dass sie gleich einen Zusatzkurs anbieten musste. In der Stille des einladenden Sitzens zwischen den Dünen will Birte ihren Kursteilnehmerinnen das absichtslose Dasein, die Balance zwischen Langeweile und Achtsamkeit näherbringen.

Auch Tadje, die Tochter des Fredenbüller Polizisten Thies Detlefsen, hat sich am heutigen Vormittag dem Kurs angeschlossen. Tadje und Telje sind beide auf der Insel. Die Zwillingsschwestern sehen sich immer noch täuschend ähnlich, sind aber durch ihr Outfit gut zu unterscheiden. Tadje lässt ihre langen mittelblonden Haare offen über das geblümte Sommerkleid im Grunge-Style fallen. Teljes kurzer Pferdeschwanz zeigt übermütig in die Landschaft. Außerdem hat sie sich von ihrer Schwester ein zu großes dunkles Männerjackett aufschwatzen lassen.

»Muss sie noch ’n büschen reinwachsen«, meint Thies.

»Nee, oversized ist angesagt«, korrigiert ihn Tadje, die ihre Jeansjacke über dem Blümchenkleid ebenfalls ein paar Nummern zu groß trägt.

Telje, die im Losverfahren einen Medizinstudienplatz ergattert hat und seit einem Semester in Essen studiert, jobbt während der Semesterferien in der Kinderklinik Satteldüne. Und die angehende Tourismuskauffrau und Eventmanagerin Tadje arbeitet diesen Monat an einem Projekt: »Neue touristische Konzeptionen und Marketingstrategien für die Nordseeinseln«.

Mit den bisher geposteten Fotos vom Strand, von Reetdachhäusern und den Schafen am Deich werden sie keine jungen neuen Touristen anlocken. Bei den Influencern war die Insel Amrum bisher eine Wüste, hat der Tourismusverbund Nordfriesland festgestellt. Das will Tadje jetzt ändern. Und dabei steht das Thema Wellness bei ihr sowieso ganz oben. Kartoffelschälen als Workshop findet sie so richtig krass, eine geniale Verbindung origineller Aktivitätsangebote mit neuerdings angesagtem »Joy of missing out«, dem Glück des Verpassens. Das ist eigentlich ein ideales Konzept für die beschauliche Nordseeinsel Amrum. Tadje ist selbst schon so relaxed, dass sie kaum zum Überlegen neuer Konzeptionen kommt. Ihr Freund, der blasse Lasse aus ihrer Klasse, ist auch mitgekommen und hängt die Tage in den Dünen ab. So blass ist er im Augenblick gar nicht. Lasse hat sich am Strand einen hübschen Sonnenbrand eingehandelt.

Tadje sieht kurz auf ihr Handy. Sie muss einfach auf dem Laufenden bleiben, was diese neue Bloggerin, die offenbar auch auf der Insel ist, gerade so postet. Doch von ›Bibi Barrakuda‹ und ihren tausenden Followern gibt es nichts Neues. Selig glucksend vor Glück schmiert sie sich eine angeblich nach Kokos und Vanille duftende Sonnenschutzlotion namens »Joy of Sun« ins Gesicht.

»Krass cremig, das ist See und Sommer pur«, säuselt Bibi in die Kamera. Das Video, auf dem im Hintergrund recht eindeutig der Amrumer Leuchtturm zu erkennen ist, steht schon seit zwei Tagen online. »Joy of Sun« wäre vielleicht auch was für Lasse gewesen, denkt sie. Wegen des Handys erntet sie ein paar böse Blicke der Langweilerinnen.

»Lasst uns das Nichtstun annehmen«, raunt Birte Birkenstolz. »Wir wollen uns Zeit nehmen. In der Langweile steckt so viel kreatives Potential.«

Auch in dem sommerlichen Trubel haben die zwanzig Frauen ein ruhiges Plätzchen in den Dünen gefunden, »A quiet place«, haucht Birte in einem Ton, als befände sie sich im Nirwana statt am Strand. Die Gruppe hat sich nur ein paar hundert Meter von den Strandaufgängen entfernt, wo sich die Badegäste tummeln, schon sind sie weitgehend ungestört.

Es ist erstaunlich, denn der Strand auf Amrum ist dicht bevölkert wie noch nie. Sämtliche Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen auf der Insel und auch der Campingplatz am Leuchtturm sind ausgebucht. In den Dünen haben sich ein paar wilde Camper versteckt, und dann kommen noch etliche Tagestouristen hinzu. Zurzeit haben alle Bundesländer Ferien. Es herrschen Temperaturen wie an der Adria. So einen heißen Sommer hat die Nordsee noch nicht erlebt. Auch der kleine Hafen in Steenodde ist völlig überlastet. Die Segelboote liegen in mehreren Reihen an der Mole. Für den morgigen »Dienstag für Dorsche« sind hunderte von Aktivisten angereist, natürlich nicht mit der Fähre, sondern im CO2-neutralen Segelboot.

Von dem Trubel bekommen die Teilnehmerinnen von Birte Birkenstolz’ Kurs kaum etwas mit. Sie lassen den Atem fließen und sind voll darauf konzentriert, einfach nur da zu sein. Doch dann werden mehrere der Frauen auf die Menschenansammlung am Strand einen halben Kilometer Richtung Süden auf der Höhe des Nebeler Aufgangs aufmerksam.

»Was ist los mit euch?« In Birtes Hauchen mischt sich ein vorwurfsvoller Unterton. »Da ist nichts. Das alles interessiert uns nicht.«

Doch da sind die Teilnehmerinnen ihres Kurses plötzlich ganz anderer Meinung. Mit der Langeweile und dem ruhigen Atmen ist es schlagartig vorbei. Die Gruppe wird unruhig.

»Dahinten ist irgendetwas passiert«, meint eine der Frauen.

»Ein Badeunfall vielleicht«, vermutet eine andere.

»Was ist da los?« Der Frau steht der Schrecken im Gesicht.

Auch Tadje blickt zum Strandaufgang hinüber, kann jedoch kaum etwas erkennen. Sie wählt Antjes Handynummer, aber bekommt keinen Anschluss. Birte Birkenstolz straft sie mit einem bösen Blick. Dann ploppt auf Tadjes Handy ein Post von ›Bibi Barrakuda‹ auf. Es ist ein Foto. Tadje kann gar nicht glauben, was sie da sieht. Rote Kirschen auf hellgrünem Grund. Das ist Antjes neue Kühltasche, die sie ihr gerade gestern stolz präsentiert hat. Aber was guckt da aus der Tasche heraus? Nach einem Krabbenbrötchen oder Croque »Störtebeker« aus der »Hidden Kist« sieht das nicht aus. Es wirkt wie der Teil eines Fußes, wie Zehen, lackierte Zehen. Das kann nicht sein. Darunter steht die Internetadresse www.beach-and-bags.com, über die man die Kühltasche mit den Kirschen bestellen kann. Das alles ist doch nur eine abgefahrene Werbeaktion.

»Krass«, murmelt die angehende Touristikmanagerin leise vor sich hin. Und dann sieht sie, dass Antjes Kühltasche und die rosalackierten Fußnägel bereits viral gehen. Auf ihrem Display kann Tadje die Klicks im Sekundentakt auflaufen sehen.

4

Thor Skorgaard ist elektrisiert, seit die Meldungen vom Weißen Heilbutt über die Inseln kursieren. Der Weiße Heilbutt lebt normalerweise in kälteren Regionen des Atlantiks und der Nordsee bei Grönland oder Island und verirrt sich eher selten an die deutsche oder dänische Nordseeküste. Der bis zu fünf Meter lange Fisch ist eine besondere Delikatesse. Die skandinavischen Steinzeitmenschen haben ihn bereits als heiligen Fisch und Geschenk der Götter verehrt.

Skorgaard hatte ihn in seinem früheren Restaurant in Dänemark schon mal auf der Karte gehabt. Roh oder mit Birkenrinde angeräuchert. Aber jetzt hat er die Chance, ein Riesenexemplar ganz frisch direkt aus dem Meer zu bekommen. Er hat sich mit seinem speziellen Freund, dem Nordseeangler Boy Boyksen, hier auf der Insel schon verständigt. Auch Boyksen ist ganz wild auf den Weißen Heilbutt. Für den besessenen Fischer, der auch als aktiver Rentner immer noch mit seinem kleinen Boot zum Hochseeangeln hinausfährt, ist es wahrscheinlich die letzte Chance, so einen spektakulären Fang zu machen. Boyksen muss den Weißen Heilbutt erlegen, und Thor Skorgaard will den vom Aussterben bedrohten und als besondere Delikatesse geltenden Fisch unbedingt seinen Restaurantgästen servieren. Leicht mariniert mit Queller und unter einem angerösteten Krabbenschalen-Granulat.

Der dänische Koch ist erst seit dieser Saison auf der Insel. Er ist wie aus dem Nichts aufgetaucht. Seitdem pilgern die Anhänger des New Nordic Food nach Amrum. Angeblich war Skorgaard in seiner dänischen Heimat ein gefeierter Star. Aber im Internet lässt sich über seine Vergangenheit wenig finden, eigentlich nichts. In Dänemark hat er sich aus dem Staub gemacht. Ihm blieb gar nichts anderes übrig. Offenbar will er hier noch einmal ganz von vorne anfangen, sich neu erfinden. Auch äußerlich hat sich der dänische Starkoch verändert. Die Haare auf seinem Kopf rasiert er sich neuerdings. Er hat jetzt einen kahlen Schädel. Dafür hat er sich einen gewaltigen struppigen Bart wachsen lassen. Es sieht ein bisschen so aus, als würde sein Kopf falsch herum auf dem Hals sitzen, als hätte man oben und unten vertauscht. Das enigmatische Tattoo aber prangt unverändert auf seinem Unterarm. »Vegvísir«, der Wikingerkompass mit den sternenförmig angeordneten Runen, umkränzt von einem Ring buchstabenähnlicher, unverständlicher Hieroglyphen symbolisiert die persönliche Reise, die jeder Mensch in seinem Leben unternimmt. Skorgaard pflegt die nordischen Mythen, wobei er dänische, norwegische und nordfriesische Legenden durcheinanderwirbelt, wie es ihm gerade in den Kram passt.

In dem spartanisch eingerichteten ehemaligen Bootslager am Seezeichenhafen wird im »Thor« auf schwarz gebeizten Holztischen die pure authentische neue nordische Küche serviert: dampfgegarte Seeflechten und frittierte Farntriebe im Tempura-Teig, in Seewasser eingelegter Kohlrabi unter Lauchasche und mit Birkensaftessig aromatisierter Salzwiesengräser-Salat. Die nicht gerade preiswerten Menüs heißen dann auch einfach nur »Salzwiese«, »Meer« oder, noch geheimnisvoller, »Nordwest«. Die kargen Rezepturen halten sich streng an das Manifest der neuen nordischen Küche, die Reinheit, Schlichtheit und Ethik propagiert.

»Den Hornhecht haben wir ganz sanft mit Holzkohle von der Amrumer Strandkiefer angeräuchert. Da nehmen wir Holzkohlereste vom traditionellen Biikebrennen Anfang des Jahres«, erklärt Servicechefin Giselle, die eigentlich Gisela heißt, aber tatsächlich nicht wie Gisela aussieht. Giselle ist etliche Jahre älter als Thor. Mit ihren angegrauten Strähnen in den leicht gelockten dunklen Haaren, der schlichten wuchtigen Silberkette im Ausschnitt der weißen Bluse und ihrem grünen Pantherblick zieht sie sofort alle Blicke auf sich. Sie verleiht dem nordischen Lokal kosmopolitisches Flair. Die Restaurantbesucher fressen Giselle die Salzwiesengräser und die Inselholzkohle aus der Hand. Etliche Gäste kommen nicht wegen der dampfgegarten Seeflechten und des reichlich sauren norwegischen Rieslings, sondern wegen Giselle ins »Thor«.

Thor Skorgaard und Giselle sind nicht nur Partner im Restaurant, sondern auch privat liiert. Doch momentan kriselt es. Thor hat Giselle mit seinem Souschef Marko auf der Küchenanrichte zwischen den Salzwiesengräsern in eindeutiger Situation ertappt. Sein junger Koch ist sofort Giselles Pantherblick verfallen, und Giselle gefällt es, von einem so jungen Spund begehrt zu werden. Inzwischen ist daraus offenbar eine richtige kleine Affäre geworden. Aber rauswerfen kann Thor den Jungkoch Marko nicht und Giselle erst recht nicht. Die beiden schmeißen den Laden. Auf sie kann er unmöglich verzichten. Giselle hat die organisatorischen Abläufe, die Reservierungen, das Aufnehmen der Bestellungen und die Weinempfehlungen lässig charmant und gleichzeitig sehr effizient im Blick. Und Marko ist bei den Soßen und beim Abschmecken in der Küche mittlerweile nicht zu ersetzen. Marko ist seine Rettung. Denn auf seine ehemals feine Zunge kann sich Thor immer weniger verlassen, was ihm große Sorgen bereitet. Früher hatte er einen genauen Sinn für die feinen Nuancen und Aromen der nordischen Kräuter und Meeresfrüchte. In letzter Zeit schmeckt er manchmal gar nichts mehr.

5

»Der Strand muss gesperrt werden! Unbedingt!«, echauffiert sich der Nackte mit dem hellblauen Sonnenhut.

»Wir haben dat schon an die Touristik gemeldet!«, schreit Bademeister Hörbi zurück. Jan, der Kollege mit dem Sixpack, hat währenddessen das Wasser im Blick.

»Unmöglich! Das ist ein Skandal!« Der Kopf des Nackten leuchtet tiefrot unter dem Hellblau des Frottees hervor. »Leeebensgefährlich!«

»Ziehen Sie sich bitte erst mal eine Hose an«, ereifert sich erneut die Helikoptermama von August und Emma.

Die Stimmung am Strand ist hektisch. Aber Piet Paulsen bewahrt die Ruhe. Er hat sofort seinen Freund Knut Boyksen alarmiert, den früheren Leiter der Fredenbüller Wache und Chef von Thies, der seit seiner Pensionierung wieder auf seiner Heimatinsel Amrum lebt. Wenn auf der Insel Not am Mann ist, springt Knut immer noch gern mal ein, bei dem heißen Sommerwetter auch schon mal in Shorts und kurzärmeligem Hemd. Die Schippermütze behält Boyksen angesichts der offiziellen Rolle auf dem Kopf.

»Mensch, Piet, zur Feier des Tages in Tennishemd und Badehose«, begrüßt Knut seinen Freund.

»Na ja, is ja warm heute.« Es klingt fast wie eine Entschuldigung.

»Gestern hat Onkel Piet sogar gebadet«, berichtet Finn stolz, der mit Emma, August und Karlchen um Antjes Kühltasche herum steht.

»Ja, wieso denn nich.« Paulsen klappt den Sonnenaufsatz zurück auf seine Gleitsichtbrille.

»Piet, ich musste Jahrzehnte warten, um dich mal in Badehose zu erleben«, stellt Antje klar.

»Wieso, Neutönninger Siel war ich immer mal baden … in den Neunzigerjahren waren dat auch heiße Sommer.« Wie zur Bestätigung tupft er sich mit einem Taschentuch Schweiß von der Stirn. »Aber hier, zwischen den angespülten Füßen, kann einem der Badespaß ja auch vergehen.« Paulsen wirft einen verächtlichen Blick auf die Kühltasche mit dem Kirschmuster.

Piet und Antje wissen nicht recht, wie sie mit dem grausigen Fuß in ihrer neuen Kühltasche weiter verfahren sollen. Zum Glück hat die Imbisswirtin immer einen Gefrierbeutel dabei. Auch Knut Boyksen ist ratlos. Aber jetzt sind Thies und Nicole mit dem Schnellboot der Küstenwache angereist. Die beiden müssen sich durch eine Menschentraube drängeln, die sich um den Strandkorb von Antje und Piet, die Kinder und die Kühltasche gebildet hat. Gerichtsmediziner Carstensen und KTU-Mann Börnsen sind auf dem Festland geblieben.

»So einen Fuß werdet ihr ja wohl noch alleine von der Insel herunterbekommen«, hatte Börnsen gemault.

Bevor sie sich den angespülten Fuß ansieht, kümmert sich Nicole erst mal um ihren Sohn. Finn hat noch gar nicht realisiert, was er da gerade aus seinem Kanal gefischt hat.

»Deine letzten Ferien an der See vor deiner Einschulung hast du dir auch anders vorgestellt, oder?« Sie nimmt Finn in den Arm und drückt ihn fest an sich. Ihr Sohn weiß gar nicht, wie ihm geschieht.

»Ist doch cool, dann hab ich in der Schule gleich was zu erzählen.«

»Mein schönstes Ferienerlebnis«, kräht Paulsen. Nicole und Antje werfen ihm tadelnde Blicke zu.

»Sind Sie die ermittelnde Kommissarin?«, meldet sich die nackte Frotteemütze aus dem Hintergrund.

Nicole wendet sich stattdessen den Kindern zu. »Wie habt ihr diesen … dieses …«, sie windet sich, »… dieses Ding …«

»Wer von euch hat den Fuß aus’m Wasser geholt«, springt Thies ein, der in kurzen Hosen und T-Shirt nicht unbedingt als Polizist zu erkennen ist. Daran kann auch die Aufschrift des Shirts »Polizei Fredenbüll, Sie sind verhaftet!«, das seine Freunde aus der »Hidden Kist« ihm geschenkt haben, nichts ändern.

»Der ist durch den Kanal geschwommen.« Die blondgelockte Emma und auch Karlchen sehen den Polizisten mit großen Augen an.

»Wat denn für ’n Kanal?«, will Thies wissen.

»Na, den Kanal, den Finn und August gebaut haben.« Emma klingt leicht bockig.

Aus der Menschentraube schält sich jetzt ein Kamerateam heraus, das gerade zu einem Dreh für die Serie ›Europas schönste Strände‹ auf der Insel ist. Mehrere lokale Radio- und Fernsehsender sind ebenfalls in Windeseile angereist. Die Kameraleute laufen zwischen den Strandkörben, zwischen schreienden Kindern und eingeölten Rentnern hindurch. Ein Tontechniker bekommt fast ein Surfbrett vor den Kopf. Ein anderer hält der kleinen Emma bereits sein Mikrofon vor die Nase.

»Die hat den Fuß doch gar nicht gefunden«, ruft die sonnenölglänzende Frau, die ihren Strandkorb jetzt verlassen hat, dazwischen.

»Das war eindeutig der Weiße Heilbutt«, ruft der nackte Mann, der auf keinen Fall etwas verpassen will.

»Seien Sie doch still! Nun lassen Sie Emma doch mal zu Wort kommen«, giftet die Helikoptermutter gleich zurück.

Nicole hält ihren Sohn immer noch fest an sich gedrückt. Finn findet das peinlich. Er möchte eigentlich viel lieber auch ganz normal von der Polizei verhört werden. Aber ein bisschen stolz ist er auch auf seine Mutter, die Kommissarin.

Und dann hat der Reporter Antjes Kühltasche entdeckt, und die ist auf einmal viel interessanter. Er winkt sofort seinen Kameramann heran, der Antje und ihren Strandkorb ins Visier nimmt.

»Wollen Sie so mit ins Bild? Ich frag nur«, wendet er sich an den hosenlosen Heilbutt-Spezialisten, der darauf nur seine Frotteemütze zurechtrückt. Dann drängelt sich das Fernsehteam zur Kühltasche durch. Aber Thies geht sofort dazwischen.

»Dat hier is ’n Tatort!«, blafft er den Fernsehfritzen an.

»Wieso Tatort?« Der Reporter will sich an ihm vorbeidrängeln. »Ich seh keinen Toten.«

»Wonach sieht dat denn aus?« Thies wirft einen Blick auf den Fuß im Gefrierbeutel, den die Kommissarin gerade mit spitzen Fingern in Einmalhandschuhen aus Antjes Kühltasche herauszieht und in der professionellen Iso-Box der Kriminaltechnik verstaut. »Dat is mindestens ’n tödlicher Unfall«, schnauzt Thies den Mann an. »Und für mich sieht dat nach Mord aus.«

»Ich sehe nur einen Fuß«, wendet der Reporter ein.

»Und der Rest läuft hier noch lebendig rum, oder was?« Der Fredenbüller Polizeihauptmeister schüttelt den Kopf.

»Wo denn?«, will der etwas dusselige August gleich wissen. Seine blondgelockte Schwester Emma, die ihre Gummiente wieder an sich genommen hat, und ihre Mutter stehen inzwischen ein paar Meter weiter bei einem jungen Radioreporter vor dem Mikrofon, der live auf Sendung ist.

»Wie hast du den Fuß denn gefunden?« Der Reporter beugt sich zu dem Mädchen herunter und hält ihm den riesigen Schaumgummiaufsatz vor die Nase.

»Den hat Finn gefunden.« Das Mädchen sieht ihn mit großen Augen an.

»Und wo war der Fuß?«, will der Radiopraktikant weiter wissen.

»Emma, nun erzähl doch mal«, wird sie von ihrer Mutter ermuntert. »Du warst doch dabei.«

»In dem Kanal, den hat Finn gegraben … und August und Karlchen haben auch mitgeholfen.« Mehr ist aus Emma nicht herauszubekommen. Jetzt will sich Finn aus Nicoles Arm befreien und auch vors Mikrofon. Aber seine Mutter schnappt ihn sich gleich wieder und liefert ihn bei Antje und Piet ab. Thies und Rentnercop Boyksen warten auf Instruktionen. Aber die Hauptkommissarin weiß auch nicht so recht, was sie mit dem Fuß jetzt anstellen soll. So einen Fall hat sie bisher noch nicht gehabt. »Vielleicht könnt ihr in Kiel rausbekommen, wie der Fuß abgetrennt wurde, und dann sollten wir auf alle Fälle die DNA bestimmen. Zuallererst müssen wir mal die Vermisstenmeldungen durchgehen«, gibt sie ein paar Anweisungen für die Kieler Kollegen in ihr Handy. Mehrere Schaulustige, einschließlich des Nackten, rücken den Ermittlern schon wieder auf die Pelle. Thies, dem in der Situation der Schweiß ausbricht, versucht sie zu verscheuchen.

»Schlimm, die Gaffer«, findet die eingeölte Frau aus dem Nebenstrandkorb. Sie steht jetzt direkt neben der Box mit dem Fuß und tut so, als würde sie zum Team gehören.

Jetzt drängelt sich auch Tadje zusammen mit einer Frau aus dem Langweiler-Workshop durch die Menschenmenge am Strand.

»Papa, du bist ja auch schon da«, stellt sie fest. »Und du auch, Nicole. Ist der echt, der Fuß?« Sie sieht sich um, kann aber keinen Fuß entdecken.

»Woher weißt du dat denn jetzt schon wieder?« Thies wundert sich.

»Mann, Papa, aus’m Internet, da ist der Teufel los.« Sie verdreht die Augen. »Im Netz geht es voll ab.«

»Min Deern, hier bei uns am Strand geht dat auch … voll ab.« Piet Paulsen klappt den Sonnenaufsatz seiner Gleitsichtbrille hoch. »Was, Finn?!«

»Ihr müsst euch mal ansehen, was in dem Blog von Bibi Barrakuda los ist.« Tadje sieht auf ihr Smartphone, das sie ohnehin schon die ganze Zeit in den Händen hält. Antje und die Strandkorbnachbarin zücken ebenfalls ihre Handys.

»Wegen des Fußes sind mega viele Kommentare gepostet. Hier zum Beispiel: ›Voll grumpy! Wie krass echt sieht das denn aus? In welchem Kostümversand gibt es das Teil? Und was ist das für eine geile Nagellackfarbe? Ist das Pink oder Orange?‹«, liest Tadje vor. »Das ist doch krank.«

»Dat gibt’s doch nich.« Auch Antje findet das überhaupt nicht komisch.

Über die Nagellackfarbe herrscht in der Gemeinde von ›Bibi Barrakuda‹ noch Ratlosigkeit. Die Hauptaufmerksamkeit richtet sich zurzeit auf Antjes schicke Kühltasche. »Der Fuß ist hier tatsächlich angespült worden«, hat ›Bibi Barrakuda‹ gepostet. »Und die Kühltasche gibt es bei … ›Beach and Bags‹, die haben auch noch andere voll süße Taschen.«

»Die Bloggerin kriegt von dieser Kühltaschenfirma die Mega-Kohle«, klärt Tadje die anderen auf. »Tausende, glaube ich, keine Ahnung. Das ist doch schizo.«

»Tausende? Für meine Kühltasche?« Antje ist von den Socken.

»Ja, die müsstest du eigentlich kriegen«, findet Tadje.

6

Der »Lustige Seehund« platzt aus allen Nähten. In der schummrigen Kneipe am Steenodder Hafen stehen sich die Besucher gegenseitig auf den Füßen. In dem mit allerlei Strandgut, verrosteten Schildern, Schiffsleuchten und Fischernetzen dekorierten Raum steht der Rauch. Und es riecht nicht nur nach Zigarettentabak. Kneipenwirt Raik Rettmer, der seinen Wohnsitz vorübergehend für ein paar Jahre in den Knast verlegt hatte, hält nicht viel vom Rauchverbot und vom Betäubungsmittelgesetz auch nicht. Aber deswegen lassen die Behörden seine Bewährung nicht platzen. Auf der Insel gibt es ohnehin keine Polizeistation mehr. Und im »Lustigen Seehund« gelten Rettmers eigene Gesetze. Die Lokalität, die wie eine Piratenspelunke aus der ›Schatzinsel‹ aussieht, gehört mittlerweile zu den ersten touristischen Attraktionen.