Mörderisches Traunviertel - Astrid Miglar - E-Book

Mörderisches Traunviertel E-Book

Astrid Miglar

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Ein Kriminalroman voller Charme, Humor und skurriler Charaktere. Gerade will Gruppeninspektor Georg Hammerschmied seine wohlverdiente Ruhe genießen, da wird im Nationalpark Kalkalpen am Fuße der Burgruine Losenstein ein Toter gefunden. Und zu seinem Unmut bleibt es nicht bei einem Todesfall. Es erweckt zunächst den Anschein, als seien die Personen verunglückt, doch Hammerschmied kommt das gehäufte Sterben im Ort mehr als eigenartig vor. Zumal alle Opfer eines gemeinsam haben ...

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Seitenzahl: 430

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Astrid Miglar, geboren 1970 in Steyr (Österreich), lebt im oberösterreichischen Reichraming. Schreiben ist für sie ein Abenteuer, aber auch eine große Freude. Würde ihr das Erdenken ihrer Geschichten keine Freude bereiten, gäbe es diese Texte nicht. So einfach ist das Schwierige.

www.astridmiglar.at

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: dreamstime.com/Uta Scholl

Umschlaggestaltung: Conny Laue, Editorial Design & Artdirection, Bochum, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Julia Lorenzer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-120-1

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Dieses Buch wurde für Manuela und alle Frauen geschrieben, die fallweise daran denken, sich ihrer Männer zu entledigen. Aber bedenkt auch: Wer mäht am Ende den Rasen oder montiert den neuen Lampenschirm?

Und es ist Christian und allen Männern gewidmet,

1

Oberösterreichisches Ennstal. Losenstein. Burgruine. Das Panorama war sagenhaft. Nun ja, in Wahrheit hätte es sagenhaft sein können, wäre nicht gerade der Mond hinter den Wolken verschwunden und hätte dafür gesorgt, dass sich die Finsternis über das Land legte. Die Zeit zwischen ein und drei Uhr morgens war der ruhigste Abschnitt der Nacht. Es herrschte Totenstille. Die Menschen lagen im Tiefschlaf. Die wenigen Aktiven, umtriebige Zeitungsboten beispielsweise, waren noch nicht unterwegs. Lkw-Fahrer schliefen in ihren Fahrerhäusern. Alkoholisierte Fahrzeuglenker waren entweder schon zu Hause, einer Polizeikontrolle zum Opfer gefallen oder noch nicht alkoholisiert genug, sodass, Sperrstunde hin oder her, noch ein paar ordentliche Halbe Bier ausgetrunken werden mussten.

Die Frau atmete die frische Nachtluft wie im Rausch ein, während ihr Begleiter den düsteren Ausblick zu genießen schien. Der Geruch von feuchtem Erdboden hing in der Luft. Es war vorfrühlingshaft kalt. Wären sie beide jünger und verliebter gewesen, wäre diese Nacht vermutlich nicht nur eine sagenhafte, sondern vor allem auch eine romantische geworden. Keiner hätte gefroren. Sie hätten sich eng umschlungen aneinandergedrängt, sich keinen Deut um die nicht vorhandene Aussicht geschert. Mit Lust im Blick und Feuer in allen Körperteilen. So aber standen sie mit gehörigem Sicherheitsabstand hier oben und blickten auf schmale Linien, die sich durch das nächtliche Gemeindegebiet zogen, auf denen im Abstand von wenigen Metern Straßenlaternen ihr fahles Licht durch die Nacht schickten.

Rosa fühlte sich alt und erschöpft. Sie war an einen Mann gebunden, vor dem ihr grauste. Dessen Finger sie nicht mehr auf ihrer Haut ertragen konnte. Dem sie ihren Leib nach und nach entzogen, schließlich verweigert hatte. Ihre Liebe ebenso. Ekelschauer fluteten ihren Körper. Wie schön wäre die Welt doch ohne ihn. Sie kam sich genauso verbraucht vor wie die verzweifelt funkelnden Straßenlampen dort unten, die sich kaum gegen die nächtliche Finsternis wehren konnten. Die in die Jahre gekommene Ortsbeleuchtung unterschied sich deutlich von den neuen Lampen. Weiches orangegelbes Flackerlicht kämpfte erfolglos gegen hartes weißes Licht an. Nur jede zweite Lampe war aktiv, was daran lag, dass Lichtverschmutzung der Kampf angesagt wurde. Zum Ärger einzelner Gemeindebürger, die jegliche Kriminalitätsstatistik in der Schwärze der Nacht in die Höhe schnellen sahen. Völlig grundlos, wie statistische Quellen bewiesen.

Fehlendes Licht, fand die stille Beobachterin, hatte seine angenehmen Seiten. Willkommene Schattenseiten sozusagen. Rosa mochte die samtige Dunkelheit, die ihr heute Nacht zugutekommen sollte. Ihr Herz klopfte. Es wäre blöd, wenn sie vor Aufregung einen Herzinfarkt erleiden würde, noch bevor sie zur Tat schreiten konnte. Ihm wäre das wahrscheinlich gleichgültig. Nur der unnötige Ärger, wenn er einen Rettungswagen hier herauflotsen müsste, würde ihm zu schaffen machen.

Rosa warf neuerlich einen Blick in den Abgrund. Die ruhig dahinfließende Enns wand sich als silbern glitzerndes Band durch Losenstein. Ihr Blick glitt über den Fluss. Noch nie hatte Warten etwas derart Endgültiges gehabt. Sie fror und wurde ungeduldig. Es wurde Zeit. Seit etwa zehn Minuten hatte kein Fahrzeug mehr die Bundesstraße passiert. Der Zeitpunkt – es war jetzt kurz vor zwei Uhr morgens – war bestens geeignet, um sich endgültig von ihrem Mann zu trennen. Ihr Mann ahnte es noch nicht, doch sein Ablaufdatum war inzwischen deutlich überschritten. Heute war die perfekte Nacht für eine mörderische Scheidung, ausgeführt durch einen beherzten Stoß.

»Was ist jetzt? Gibt’s noch was Flüssiges?«, drang seine Stimme unangenehm laut durch die Nacht. Er forderte mehr von dem Glühwein, den sie in gehaltvoller Variante zubereitet hatte. Es duftete nach Zimt, Nelken und Orangen, nach klebriger Süße und Glühweingewürzen, die unbedingt mit in den Rotwein gewollt hatten. Schnaps auch. Deutlich mehr als ein anständiger Schuss. Das plätschernde Geräusch des Glühweins, der in die Tasse floss, befriedigte seinen Wunsch nach Nachschub. Genüsslich schlürfte er das heiße Getränk.

»Perfekt!«, lobte er die süße, würzige Flüssigkeit und schmatzte genießerisch.

Ihr Plan war einfach. Idiotensicher eigentlich. Aber wie war das noch mit idiotensicheren Plänen? Kleinigkeiten konnten zur Stolperfalle werden. Es war daher unumgänglich, dass sich Anton aktiv an seinem Ableben beteiligte. Zuallererst musste er sich nahezu ins Koma saufen, wofür sie sorgen würde. Unumgänglich war auch, dass sich Antons Fingerabdrücke auf der mit Glühwein gefüllten Thermoskanne nachweisen ließen. Nicht vorhandene Fingerabdrücke auf der Thermoskanne würden bedeuten, dass er mit Handschuhen an seinen Händen gefunden werden müsste, was ausgeschlossen war, denn Anton hasste Handschuhe. Wiederholte er doch ständig, dass Handschuhe nur etwas für Waschlappen seien. Er dagegen sei ein richtiger Mann. Mit Ecken und Kanten, mit stinkenden Schweißfüßen und fallweise Mundgeruch. Ihr Mann musste also die Thermoskanne vor seinem Tod in Händen halten, denn Rosa wollte keinesfalls Ungewissheit herrschen lassen, was das Ableben ihres Mannes betraf. Ihr stand nicht der Sinn danach, als Hauptverdächtige ins Kreuzverhör genommen und mit der Frage konfrontiert zu werden, wer ihm das stark alkoholhaltige Getränk eingeschenkt habe. Also hatte sie ihm die Thermoskanne bereits zu Beginn ihres Treffens in die nur widerwillig ausgestreckte Hand gedrückt. Sie wusste, es war weit unter seiner Würde, solch niedere Handreichungen selbst zu verrichten, dennoch musste er die Kanne auf dem steinernen Tisch abstellen, der hier oben bereits seit Ewigkeiten als Jausentisch diente. Wahrscheinlich hatten darauf sogar schon die Losensteiner Raubritter ihre Fleischstücke zerlegt und mit Mädesüß gewürzten Wein getrunken.

Anschließend lief der persönliche Service genau so ab, wie er es seit jeher gewohnt war. Es gab Alkohol. So viel er wollte. Rosa beteuerte zudem, dass er sich nicht mehr hinters Steuer setzen müsse, was seinen Promillepegel eifrig nach oben trieb. Dass er das Lenkrad seines heiß geliebten Jeeps nie mehr in die Finger bekommen würde, musste sie ihm ja nicht unbedingt unter die Nase reiben.

Rosa trug Handschuhe. Eine vernünftige und praktische Entscheidung. Seine Finger dagegen waren eiskalt. Stumm, jeder mit einer Tasse Glühwein in der Hand, lehnten sie am Geländer, dessen vordringliche Aufgabe darin bestand, sie vor dem Abgrund zu schützen. Hinter ihnen ragten die Reste der Hauptburg auf. Atemwölkchen und der heiße Dampf des Getränks bildeten einen ungewöhnlichen Kontrast zum düsteren Hintergrund. Gerade beschien wieder helles Mondlicht die Ruinen, die ebenso aus der Szenerie eines Gespensterfilms hätten stammen können.

»Eine mondbeschienene Nacht ist wirklich etwas Schönes«, flüsterte er, was auf den Alkoholgehalt des Weins zurückzuführen war, denn Romantik lag ihm nicht im Blut.

Rosa zögerte. Sie überlegte, ob es nicht eine andere Lösung für ihr Problem gab. Scheidung? Nein, diese Variante der Trennung lehnte sie strikt ab. Hieß es denn nicht: »Bis dass der Tod uns scheidet …«?

Der kalte Schein des Todes beleuchtete die Szenerie malerisch, als er sich zu ihr umwandte. Lässig stand er am Geländer, das ihn davor bewahrte, in die Tiefe zu stürzen.

»Nachfüllen«, befahl er nuschelnd. Ergeben folgte sie seinem Wunsch. Das Geräusch des Glühweins, der aus der Thermoskanne in seine Edelstahltasse plätscherte, war deutlich hörbar und wirkte eigenartig bedrohlich. Viel zu laut, dachte sie und schraubte den Verschluss wieder auf die Thermoskanne, worauf ihr auch noch das bei der Drehbewegung entstehende Schaben auf die Nerven ging. Trotz Daunenjacke schien er zu frieren. Er klemmte sich eine Hand unter die Achsel und suchte ganz offenbar dort jene Wärme, die sie ihm eisern verweigerte. Schweigend wandte er sich schließlich ab, taumelte dabei ein wenig, was er mit einem »Hoppala« kommentierte, fing sich jedoch rechtzeitig am Geländer, das sein Gewicht sicher abstützte, und betrachtete die still dahinfließende, das Mondlicht reflektierende Enns, deren träge Ruhe ein Gefühl von Beständigkeit vermittelte. Antons Hand, in der er die zwischenzeitlich erfolgreich geleerte Tasse hielt, spreizte sich nach links ab. In den langen Jahren ihres gemeinsamen Lebens hatte sie gelernt, auf diese Zeichen zu achten. Für sie war seine Handbewegung ein überdeutlicher Hinweis darauf, dass sie ihm die Tasse abnehmen durfte. Durfte? Falsch: Musste! Und zwar rasch, weil es ihn nervte, einen überflüssigen Befehl zu erteilen, wenn doch deutlich erkennbar war, was er von ihr wollte. Zumindest hatte sie seine Tasse bis zum nächsten Auffüllvorgang an sich zu nehmen. Ob es noch zu einer weiteren Auffüllung kommen würde? Fürsorglich griff sie nach dem Becher, stellte ihn auf dem Tisch ab und trat dicht an Anton heran. Rosa küsste ihren Mann behutsam auf den Hinterkopf. Ein Abschiedskuss. Sie wartete. Irritiert darüber, dass er ihren Kuss nicht bissig kommentierte, trat sie einen Schritt zurück. Er ließ sich ihr Tun ohne übliche Widerworte oder Gehässigkeiten gefallen. Das war ungewöhnlich. Sein Alkoholpegel schien also höher zu sein als gedacht. Der vorangegangene Stammtischabend hatte sicher dazu beigetragen. Anerkennend registrierte Rosa seine Trunkenheit, rümpfte die Nase und schnüffelte angewidert an seinem Kopf. Seine Haare rochen fettig, was sowohl an den kalten Temperaturen als auch seiner häufig getragenen Haube lag. Oder auch einfach an seiner Faulheit, was Körperhygiene betraf.

»Höchste Zeit für eine Haarwäsche«, murmelte sie und zuckte zusammen, entsetzt über ihren Übermut. Offener Widerspruch war bei Anton noch nie gut angekommen. Beweise dafür hatte es während ihrer Ehe genug gegeben. Tiefblaue. Grüngelb schillernde. Mit Schmerzen verbundene Tätscheleien, die er stets als »zurechtweisende Streicheleinheiten« bezeichnet hatte.

Wind kam auf. Sie musste sich beeilen, bevor er der Kälte wegen zurück zum Auto und nach Hause wollte. Gerade setzte er seine Mütze auf, die er mit einem Seufzer aus der Innentasche seiner Jacke gezerrt hatte. Sein Autoschlüssel schepperte gedämpft in der Jackentasche. Das Geräusch schien ihn zu stören. Er zog an seinem Schlüsselbund, fischte ihn heraus und reichte ihn ganz selbstverständlich nach hinten, damit auch er auf dem Tisch abgelegt werden konnte. Rosa nahm sich seines Wunsches an. Schließlich war es sein letzter, den konnte sie ihm zweifellos ohne Widerworte erfüllen. Dem Tode geweiht, lehnte er an der Brüstung und ahnte nichts vom kommenden Unglück. Ein letztes Mal betrachtete sie konzentriert seinen Rücken, analysierte seine Haltung und setzte sich bedacht in Bewegung.

Rosa zählte einen stummen Countdown: Drei. Zwei. Eins. Sie bückte sich. Unvermutet kam der Tod. Mit einem heftigen Ruck riss sie seine Beine nach oben. Diese leidenschaftlich und beherzt ausgeführte, für ihn völlig unerwartete Bewegung hatte tatsächlich genügt. Rosa war angenehm überrascht über die zuverlässig eintretende Wirkung. Wie in Zeitlupe verlagerte sich Antons Körpergewicht nach vorn. Er kam aus dem Gleichgewicht, ruderte mit den Armen, gab verblüffte Laute von sich und kippte in Richtung des schwarzen Abgrunds. Schließlich ging die gefühlte Zeitverzögerung wieder in Normalzeit über. Anton verschwand über das Geländer in die Finsternis. Weg war er. Im freien Fall stürzte er am Klettergarten vorbei den Burgfels hinunter. Seinem harten Ziel entgegen. Dem Aufprall. Wo er genau landete, war unwesentlich, denn dort unten wartete felsiger Boden, der sein Leben abrupt abbremsen und damit beenden würde. Sein Schrei, der überraschend schrill klang, verhallte. Der Mond versteckte sich, wie passend, in genau jener Sekunde hinter einer Wolke und hielt damit diese letzte Szene eines geplanten Hinscheidens diskret geheim. Der von Rosa entwickelte Plan zum vorzeitigen Ableben ihres Mannes war beinahe unanständig einfach zu bewältigen gewesen.

»Im Abgang herrlich«, kicherte sie erlöst.

2

Rosa prüfte den Sitz ihrer Handschuhe. Sie machte sich nicht die Mühe, die Thermoskanne einer Reinigung zu unterziehen, es sollten sich ja Antons Abdrücke auf dem glänzenden Edelstahl nachweisen lassen. Und sollte dennoch ein Abdruck ihrer Fingerlinien darauf gefunden werden, so wäre dies nicht ungewöhnlich, war die Kanne doch Bestandteil ihrer Kücheneinrichtung. Rasch warf sie ihre eigene Tasse in die Tasche und noch einen letzten Blick zurück, bevor sie den Burgberg verließ, um mit raschen Schritten der Vorburg entgegenzueilen. Thermoskanne, Antons Tasse und der Autoschlüssel blieben zurück. So würde es wie Selbstmord aussehen. Irgendjemand würde seinen zerschmetterten Körper entdecken, ebenso die wenigen Hinterlassenschaften auf dem wuchtigen Steintisch. Auch sein Auto, das er verbotenerweise am Beginn des Weges zum Burgaufstieg abgestellt hatte, würde gesichtet werden. Das dortige Zufahrtsverbot wurde von neugierigen Augen heikel überwacht.

Rosa hatte bereits Wochen zuvor jede ihrer Bewegungen überdacht, um ihr Vorhaben planmäßig ausführen zu können. Sie wagte nicht, die mitgebrachte Taschenlampe zu verwenden. Die würde ihr zwar die Wegfindung erleichtern, womöglich aber auf ihre nächtlichen Aktivitäten aufmerksam machen. Der Gehweg war ohnehin gut erkennbar, dennoch tückisch. Mehrmals rutschte sie auf dem Schotter aus, fing sich jedes Mal in letzter Sekunde und vermied so einen Sturz. Panikartig kam ihr in den Sinn, dass es äußerst ungünstig wäre, sich hier zu verletzen. Energisch rief sie sich zur Ordnung, lief an Antons widerrechtlich abgestelltem Wagen vorbei, wandte sich nach links in Richtung Alpenvereinshaus, wo hinter einem Holzstoß das E-Bike versteckt war. Unter ihren Schuhsohlen knirschten Steine. Rosa empfand ihre Schritte als unangenehm laut. Kunststoff knisterte. Jemand hatte hier wohl Müll entsorgt. Sie schob das Rad auf die Straße, legte die ersten Meter im Dunkeln zurück, fuhr die steile Burgstraße hinab, schaltete endlich das Licht an, passierte Siedlungshäuser und Gärten. Zuletzt bremste sie am steilen Endstück zwischen Friseur und ehemaliger Apotheke und rauschte den Berg hinunter, um wenig später den Weg über die Ennsbrücke zum Bahnhof einzuschlagen.

Die Strecke war rasch geschafft. Wirtshaus und Bahnhof ließ Rosa links liegen. Mit leisem Surren erreichte sie die Bahnunterführung, folgte der Dirnstraße. Holzstöße bäumten sich am dort befindlichen Lagerplatz vor ihr auf. Ihr Herz pochte unnatürlich heftig. Sie atmete zu schnell, rang nach Luft. Außerdem war ihr speiübel. Von Anfang an hatte sie geplant, vor der Fahrt nach Hause eine Pause zu machen, um sich zu beruhigen. Rosa führte ihr Rad zwischen die hohen Holzstapel und setzte sich auf den eiskalten Boden. Sie senkte den Kopf zwischen die Knie, übte sich in konzentrierter Atmung. Es war nicht das erste Mal, dass sie eine Fahrt mit diesem Rad unternahm. Schon in den vergangenen Wochen hatte sie Antons E-Bike heimlich benutzt. Sogar eine nächtliche Runde hatte sie während eines seiner Wirtshausabende gewagt, um die Ausführung ihres Plans perfekt vorzubereiten. Schließlich musste sie sein Rad auch in der Dunkelheit souverän beherrschen. Ja, womöglich hätte Anton an ihrem neu entfachten Ehrgeiz tatsächlich Gefallen gefunden.

Nach den abgeschlossenen Vorbereitungen hatte sie Anton zu einem nächtlichen Ausflug nach Losenstein eingeladen. Überrascht war sie gewesen, als ihr Vorschlag auf offene Ohren stieß. Insgeheim hatte Rosa Widerstand erwartet und bereits über Plan B nachgedacht. Völlig unnötig. Ihr Mann hatte nur die Augen verdreht, als sie ihn um Stillschweigen zum heimlichen Treffen gebeten hatte.

»Glaubst du wirklich, ich gebe damit an, dass ich mich auf der Losensteiner Ruine mit meiner eigenen Frau treffe, um auf diese Weise unser Sexleben wieder in Schwung zu bringen?«, hatte er sie zynisch gefragt.

Seine Worte hatten sie tief verletzt.

Sie hatten sich nicht gemeinsam wie ein frisch verliebtes Paar, das einen ungewöhnlichen Ort für ein heimliches Treffen aufsuchte, auf den Weg gemacht. Rosa hatte Anton erzählt, sie werde eine abendliche Wanderung unternehmen und am Ziel auf ihn warten. Er dagegen war direkt vom Stammtischtreffen im Wirtshaus an den vereinbarten Ort gefahren. Grundbedingung für ihr Rendezvous war eine gewisse Geheimniskrämerei gewesen, die zudem Antons Lust steigern sollte. Wobei sich Rosa nicht sicher war, ob Lust für ihn nicht schon allein im Trinken von klebrig-süßem Glühwein bestand, den sie ihm als Köder hingeworfen hatte. Was hatte sie ihm nicht alles eingeflüstert, was sie heute mit ihm anstellen würde. Wie früher. Als sie noch verliebt miteinander geturtelt hatten. Verliebte waren sie allerdings längst nicht mehr. Zuneigung war nicht mehr Bestandteil ihrer Beziehung und auch Pünktlichkeit keine von Antons Stärken.

Für Rosa war es ein Leichtes gewesen, rechtzeitig vor Ort zu sein und die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Glühwein und sein Trinkbecher waren bereitgestanden. Alles hatte auf Antons Eintreffen gewartet. Für manche Dinge gab es keine zweite Chance. Ein höfliches »Spring doch bitte mal kurz da runter« wäre eher nicht in Frage gekommen.

Rosa stemmte sich vom Boden hoch, lehnte sich an den Holzstapel und sog den würzigen Harzgeruch der Bretter ein. Gut roch das. Nur noch ein paar Atemzüge, bevor sie die Herrschaft über Antons E-Bike wieder an sich reißen wollte. Am liebsten hätte sie geweint. Vor Freude. Vor Erleichterung. Endlich war es vollbracht. Nachdem sie eine gefühlte Unendlichkeit lang den dunklen Nachthimmel betrachtet hatte, schwang sie sich aufs Rad. Der Weg nach Hause lag vor ihr.

3

Mit ihrem eigenen Fahrrad hätte sie mindestens eine halbe Stunde nach Hause gebraucht. Mit dem E-Bike dagegen war sie in einer Viertelstunde in Reichraming. Bevor sie die letzten Meter in Angriff nahm, entledigte sich Rosa im Schutz eines Gebäudeeingangs ihrer Kleidung. Sie schälte sich aus der Jacke, zog die Handschuhe, ihre Haube und den Schal aus, faltete alles zusammen und steckte es in einen mitgebrachten Kunststoffsack. Auf dem dunklen Parkplatz eines Firmengebäudes wartete ein Spendencontainer darauf, von ihr gefüttert zu werden. Quietschend und gähnend öffnete er sein metallenes Maul und empfing die Spende dankbar. Die letzten Minuten legte Rosa frierend zurück.

Das alte Haus im Ortsteil Obere Schallau, das Endziel ihrer Fahrt, war bisher von einem Ehepaar bewohnt worden. Von Rosa und Anton Flieder. Künftig würde dieses Haus nur mehr eine Bewohnerin beherbergen. Eine Witwe, deren Mann viel zu früh aus dem Leben geschieden war.

»Wunderbar«, flüsterte Rosa der Straße zu, die mit einem leisen Reiben der Reifen auf Asphalt antwortete.

Ihr Haus war ein Sanierungsfall gewesen und hatte dringend Zuwendung gebraucht. Schon lange hatte die Bruchbude leer gestanden und verzweifelt neue Besitzer gesucht. Anton Flieder hatte sich erbarmt und das Gebäude gekauft. Anfangs war die Renovierung zügig vorangegangen, zuletzt allerdings ins Stolpern geraten, was am versiegenden Geldfluss lag. Die Freude über den Kauf des Hauses hatte also einem gewissen Frust Platz gemacht.

Rosa Flieders Wohnsitz befand sich in der Hammerschmiedstraße, die zufällig genauso hieß wie ein Reichraminger Polizist, mit dem sie wohl demnächst Kontakt haben würde. Spätestens in ein paar Stunden. Sie durchdachte bereits jetzt etliche frühmorgendliche Gespräche. Eines davon würde sie mit einem Beamten der Großraminger Polizeiinspektion führen, wenn sie ihren Mann als vermisst meldete, sollte er bis dahin noch nicht gefunden worden sein. Schließlich war sie eine liebende Ehefrau, die sich um ihren Mann sorgte.

Zitternd ließ Rosa Wasser in die Wanne laufen. Während diese sich füllte, warf sie ihre Kleidung in die Waschmaschine, reinigte ihre Schuhe, besonders deren Sohlen. Rosa stellte das Paar zum Trocknen vor den Wärmestrahler, der das nach Norden ausgerichtete, schäbige Badezimmer mit Wärme versorgte. Mit einem zufriedenen Seufzer glitt sie ins Wasser. So hässlich das Haus auch war, die Stromleitungen und die Wasserrohre waren neu. Rosa entspannte sich. Das monotone Geräusch der Waschmaschine ließ sie in einen seichten Schlaf fallen, aus dem sie erst aufwachte, als ihr die Kälte des Badewassers eine Gänsehaut über den Körper jagte. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie sich erfolgreich zur Witwe befördert hatte. Sie hatte sich emanzipiert. Oder hieß das, weil sie nun ohne Mann dastand, efrauzipiert?

Was nun wohl geschehen würde? Sie musste sich auf jeden Fall auf die Todesbotschaft vorbereiten. Schauspielerische Leistungen wären gefragt, denn irgendwann würde jemand Anton am Fuß des Burgbergs finden. Zerschmettert. Tot. Nach der Ausforschung der Identität des Verstorbenen würde die Polizei anrufen oder ein Beamter an der Türglocke läuten, um ihr die schlechte Nachricht direkt zu überbringen. Dies galt es abzuwarten. Würde das Geschehen als Unfall oder als Selbstmord gewertet werden? Eine Verzweiflungstat würde sie, heftig schluchzend, mit Schulden begründen, zumindest entsprechende Worte fallen lassen. Der Umbau ihres Hauses war ins Geld gegangen, das entsprach immerhin der Wahrheit. Günstig für sie war, dass Anton eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte, damit sie abgesichert wäre, sollte der schlimmste Fall eintreten. Rosa fand, dass der schlimmste Fall, der nun eingetreten war, gar nicht so schlimm war. Dass die monatlichen Zahlungen an die Versicherung regelmäßig und garantiert von seinem Konto abgebucht worden waren, darauf hatte sie immer ein Auge gehabt. Sicherheitshalber.

Rosa rieb sich mit einem fadenscheinigen, aber wunderbar weichen Handtuch trocken, schlüpfte in ihr Nachthemd, legte die Wäsche in den Trockner, stellte die gesäuberten Schuhe zurück in den Schuhschrank, ganz nach hinten, wo sie unauffällig auf künftige Verwendung warten durften, und fiel ins Bett. Ein drückend schlechtes Gewissen wollte sich nicht einstellen. Sekunden später war Rosa eingeschlafen.

4

Gruppeninspektor Georg Hammerschmied hatte ein neues Hobby, eine Leidenschaft, die er bis vor Kurzem nie für sich in Betracht gezogen hätte. Schuld an seinem neuen Verlangen war ein Haufen grün gewandeter Männer eines Stammtischs im neu eröffneten Hotel-Restaurant Dachs & Donaulachs. Das Lokal und die dort häufig verkehrende noble Klientel, gute und zahlungskräftige Bekannte der Gastwirtsfamilie, hatten Reichraming zur City werden lassen. Das ehemalige Wirtshaus Kirchfels war aber auch mordsmäßig aufpoliert worden. Zuvor ein bodenständiger Gasthof, hatte es sich zu einem eleganten Treffpunkt gemausert, was vor allem an den neuen Besitzern, dem Ehepaar Sofie und Maximilian Wildenberg, lag.

Neben schmackhafter Hausmannskost servierte man im »D & D« Feinheiten, die Hammerschmied bisher nur aus dem Fernsehen kannte: Lachsgerichte, Hecht, Seeforelle, Zander, Saibling, sogar Aal und Wels, Scampi, Kaviar und Trüffel.

Das Gasthaus und dessen Stammgästeschar waren jedenfalls wieder innig miteinander verbunden. Zu den ortsüblichen Trinkern (gemischtgeschlechtlich), den örtlichen Weidmännern und Weidfrauen, den Gärtnerinnen (reine Frauengemeinschaft) und Bäuerinnen (auch die wollten den Stammtischabend männerfrei genießen) war der Stammtisch der Fischer dazugekommen. Ein reiner Männerverein, der von den Frauen argwöhnisch beäugt wurde. Die Stammtischrunde der Ennstaler Ennsfischer war im Wintergarten untergebracht. Dort durften sie sich entfalten.

Was war Georg also anderes übrig geblieben, als sich dem Fischerstammtisch anzuschließen und sich mit den künftigen Kollegen, die zunächst noch nichts von ihrem Neuzugang geahnt hatten, über Fische, Boote, Angelverbote, bestimmte Verhaltensweisen, Kleidungsvorschriften, vergangene Saisonen und die perfekten Köder für die Enns zu unterhalten? Schließlich kapitulierten die Fischer vor Georgs Wissbegierde. Sie erkannten, dass der Mann, in dem sie anfangs nur einen ihre Trinkgewohnheiten ausspionierenden Polizisten gesehen hatten, echtes Interesse zeigte. Nach langen Abenden und weitaus zäheren Nächten gaben sie klein bei und integrierten Georg in ihr Vereinsleben. So wurde er also in der Stammtischrunde der Reichraminger Fischer willkommen geheißen, mit dem Zusatz, dass seine Mitgliedschaft natürlich nur Bestand hätte, sofern er die Fischerprüfung bestünde. Ein besonderer Bonus wurde ihm hinter vorgehaltener Hand mitgeteilt, nämlich dass der Stammtisch eine absolut frauenfreie Zone sei, er also niemals befürchten müsse, glockenhelle Stimmen am Tisch zu vernehmen, ausgenommen die einer Kellnerin, die sich nach ihren Wünschen erkundigte, oder die eines Jungfischers, der noch nicht in den Stimmbruch gekommen sei.

Wenig später hielt Georg seine höchstpersönliche Fischerkarte in Händen. Jene ersehnte Karte, die ihm die Genehmigung zum Fischen beschied.

Mit wohligem Seufzen gab sich Georg an der Bar des D & D seinen Träumereien hin.

»Künftig wird täglich frischer Fisch gegessen«, flüsterte er seinem Bierglas zu, was mit einem fröhlichen »Petri Heil!« kommentiert wurde.

Nicht Georgs Bier hatte geantwortet, sondern ein neben ihm sitzender Fremder, dessen Trachtenjanker so neu war, dass man meinen konnte, der Preiszettel hinge noch daran. »Die Zimmer hier haben originelle Namen. Eines heißt Wolfskopf, eines Bärenmauer, ein nächstes Ochsenkogel, eines Schleierfall, eines Fliegenlucke, oder war das Fliegenspucke?« Er kratzte sich am Kinn und zuckte mit den Schultern.

»Katzenhirn«, schnaubte Georg, was dem Fremden ein zustimmendes »Kann schon sein« entlockte.

»Sofie Wildenberg«, verkündete der Trachtenjankerträger mit glänzenden Augen, »hat mich durchs Haus geführt. Schön ist es geworden.«

Hammerschmied nickte. Er rutschte vom Barhocker, schlenderte zu einem Ecktisch und ließ sich auf der gemütlich gepolsterten Bank nieder. »So stell ich mir mein Morgengrauen an einem Sonntag vor«, seufzte er zufrieden und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als der Wirt auf ihn zutaumelte. Dem jungen Mann stand der Schlaf ins Gesicht geschrieben.

»Ist wohl eine lange Nacht gewesen?« Georg lächelte den Schlaftrunkenen an, der seine Gliedmaßen noch nicht unter Kontrolle zu haben schien.

»War viel los gestern«, meinte der. »Bis weit nach Mitternacht. Dein Fischerkollege Anton Flieder hat zuerst aufgegeben. Er müsse ein böses Weib zu Hause haben, hat ihn Gretzinger gepflanzt. Die hartnäckigsten Gäste sind noch eine Weile in der Stube gesessen und haben mich beinahe leer getrunken.« Wildenberg stützte sich mit seinen Händen am Tisch ab. »Schwarzer Kaffee? Cremeschnittchen?«

Georg nickte und schmunzelte in Gedanken an Gretzingers Kommentar. Matthias Gretzinger war vom Leben gestraft. Zwar nicht mit einer Frau, denn Gretzinger war single, sondern was den Genuss von Alkohol betraf, den er nur in sehr geringen Mengen konsumieren konnte. Der arme Gretzinger litt unter einer massiven Alkoholunverträglichkeit, die sich vor allem darin äußerte, dass er nach dem Genuss weniger Schlückchen in den unmöglichsten Situationen einschlief. Auch sein Magen und der Darm vertrugen den Alkohol nicht. Dennoch wollte er nicht auf seine tägliche kleine Menge verzichten.

Georg fegte ein Brösel vom Tischtuch und wandte sich anderen Gedanken zu. Sein Plan für den heutigen Tag war einfach: Er würde mit aller Gewalt seinen freien Tag genießen. Sonntag und ein zeitiges Frühstück beim Wirt seines Vertrauens, eine perfekte Kombination. Angenehmer könnte der Tag nicht beginnen.

Minuten später stand frischer Kaffee vor ihm. Außerdem würde ihm gleich eine Cremeschnitte serviert werden, über die er sich hermachen wollte. Es würde ein Gemetzel werden. Georg warf einen Blick hinüber zum gähnend leeren Versammlungstisch der Ennstaler Ennsfischer. Er gehörte nun dazu. Er schmunzelte und seufzte wohlig, weil in diesem Augenblick die Cremeschnitte vor ihm abgestellt wurde. Georg griff in seine Jackentasche und förderte ein Messer zutage. Ein Zauckerl. Perfekt geeignet für den Kampf gegen die verschiedenen Schichten einer schwer zerteilbaren Cremeschnitte. Georg säbelte und quetschte und scheiterte. Schließlich legte er sein cremeverschmiertes Zauckerl zur Seite.

»Gut, dann fress ich dich eben schichtweise«, verkündete er halblaut, was ihm die Aufmerksamkeit des Nachbartisches einbrachte. Eine Frau schüttelte ihren Kopf, sodass ihre dichten Locken wie Schlangen auf einem Medusenhaupt herumwirbelten. Georg lächelte die Frau an, leckte sich die Finger ab, wischte sie an seiner Hose trocken und betrachtete zufrieden das Dessertteller-Massaker, das er angerichtet hatte. Es gab schlechtere Sonntage. Eindeutig.

Gerade hatte sich Georg dem Wirt in Erinnerung gerufen und um eine weitere Tasse Kaffee gebeten – ein Kopfnicken hin zum leeren Häferl hatte genügt –, als sein Handy klingelte. Verärgert warf er einen Blick auf das Display. Die seinem Frühstückstisch gegenübersitzende Medusa-Touristin runzelte ihre Stirn und deutete mit dem Finger auf sein Handy, das immer noch vor sich hin plärrte.

»Abheben, das nervt«, flüsterte sie verärgert und wandte sich wieder ihrem Gesprächspartner zu.

»Hammerschmied«, meldete sich Georg kurz angebunden.

»Hammerschmied?«, drang es laut an sein Ohr. »Hier Röschl. Moment …«

Gesprächsunterbrechung. Hammerschmied hörte ein abgehacktes Knarren, das nach der Durchsage eines Funkgeräts klang. Röschl, der stellvertretende Bezirkspolizeikommandant, schien schwer beschäftigt, schrie dann erneut ins Telefon: »Hammerschmied! Ich bin in Losenstein! Nicht Ihr Revier, das ist mir klar. Aber der Tote, den wir hier am Fuße des Burgfelsens gefunden haben, ist Reichraminger. Zumindest meint das eine Rechnung der Firma Großauer in seiner Jackentasche. Irgendwas mit Sand, Kies, Schotter.« Röschl räusperte sich. »Weil Sie ortsansässig sind, bitte ich Sie um Ihre Unterstützung. Postenübergreifende Zusammenarbeit«, fügte Chefinspektor Röschl hinzu, »wirklich wichtig.«

Letzteres konnte Hammerschmied nur undeutlich hören, denn im Gasthaus war es laut geworden. Ein Ziehharmonikaspieler sorgte für Stimmung. Doch auch in Losenstein schien sich einiges abzuspielen. Röschls Stimme klang verärgert. Hintergrundgeräusche lähmten erneut den Gesprächsfluss.

»Hammerschmied, hören Sie mich?«, brüllte der Chefinspektor.

»Natürlich. Laut und deutlich«, knurrte Hammerschmied ins Handy und wartete. Er war nicht gerade scharf darauf, seinen freien Tag abzublasen.

»Gut, wir sehen uns in zehn Minuten in Losenstein. Beim ehemaligen Gasthaus am Fuß der Burgruine, der Schlosstaverne.«

Bevor Georg etwas erwidern konnte, war das Gespräch zu Ende. Freizeit war Freizeit, und bis vor wenigen Sekunden hatte sich Georg angenehm frei gefühlt. Jetzt war Schluss mit Gemütlichkeit. Genervt stopfte er sich die Reste der Cremeschnitte in den Mund und zahlte.

Er öffnete die Tür zum Innenhof, durchquerte ihn, trat durch das Hoftor auf die Straße und schritt auf sein Auto zu, einen dunkelblauen Ford Puma. Er hatte sich schon seit einer Weile einen Neuwagen zulegen wollen. Der Anlass hätte nicht passender sein können, denn nachdem er Gretzingers Wagen konfisziert und während eines Einsatzes zerstört hatte, hatte ihn sein schlechtes Gewissen dazu veranlasst, seinen alten Boliden zu verschenken. Der Freundschaft zu Gretzinger hatte das Geschenk gutgetan. Georg warf einen Blick in den Himmel. Es war noch recht frisch und versprach, ein grauer Tag zu bleiben. Von Frühling keine Spur.

5

»Sieben Minuten?« Diese Feststellung, die anstelle eines Grußes erfolgte, klang vorwurfsvoll. Chefinspektor Röschls Stirn runzelte sich wie eine Ziehharmonika, allerdings quer anstatt längs.

»Sieben Minuten. Wunderbar. Während der Fahrt habe ich kein einziges Mal gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen, dabei wimmelt es hier von Geschwindigkeitsbegrenzungen.« Georg bemühte sich um einen entspannten Gesichtsausdruck, nickte dem Chefinspektor höflich zu und stellte sich direkt neben ihn, wonach sie gemeinsam gebannt auf einen Fleck in der Landschaft starrten.

Dieser Punkt, erhöht über der Straße gelegen, wirkte überbevölkert. Geschäftig wuselten weiß gekleidete Schutzanzugträger herum. Georg vermutete, dass dort oben der Leichnam lag. Direkt am Fuße der Wand, verborgen zwischen den noch kahlen Sträuchern. Der Boden würde intensiv abgesucht werden, jedes entdeckte Futzerl der Wahrheitsfindung dienen, und am Schluss würde die Stelle sauberer sein als ein rasierter Männerrücken. Oder ein Männerarsch.

Georg grinste, riss sich zusammen, wandte sich an Röschl und fragte: »Wer hat die Leiche gefunden? Wozu werde ich hier gebraucht?«

Seine Fragen wurden von einem krächzenden »Nichts!« aus dem Funkgerät unterbrochen.

Röschl kommentierte das mit einem knappen »Danke«, bevor er sich wieder Georg zuwandte: »Wir wissen noch nicht, ob wir es mit Mord oder Selbstmord zu tun haben. Die eben eingegangene Meldung hat sich auf einen Abschiedsbrief bezogen. Der Tote wurde vom Hund eines Mieters aus dem Haus hinter uns aufgestöbert. Mann und Tier befanden sich auf Gassirunde. Das Herrchen sitzt im Rettungswagen und ist nicht besonders fit. Der junge Welsh Terrier, der eine Nase wie ein Bluthund haben muss, schläft den Schlaf des Gerechten. Dort oben, am Fuß der Kletterwand, hätte der Leichnam auch noch eine Weile unbemerkt liegen können. Ist noch nicht der perfekte Zeitpunkt für den Start in die neue Klettersaison.«

Der Chefinspektor schien Sinn für Humor zu haben, zumindest einen heftigen Ansatz von schwarz gefärbtem Galgenhumor. Diese Art des Kurzberichts, den Röschl hier ablieferte, war jedenfalls ungewöhnlich.

Unwillkürlich schüttelte Hammerschmied den Kopf. Seit er sich auf die Polizeiinspektion nach Großraming hatte versetzen lassen, standen Leichen aufdringlich häufig am Programm. Ganz so, als ob sein Auftauchen hier den Anstoß dazu gegeben hätte. Die Toten störten seine Ruhe. Seine Linzer Kollegen, mit denen er gelegentlich zu tun hatte, konnten sich spöttische Bemerkungen kaum mehr verkneifen. »Gestorben wird immer«, hatte kürzlich einer übermütig an Georgs dienstlichen Mailaccount geschickt und dann noch hinzugefügt: »Dort, wo du bist, ist echt was los.«

»Hammerschmied!«, Röschl bellte, sodass Georg zusammenzuckte. »Absolute geistige Präsenz. Wir haben hier vermutlich einen Springer. Oder einen, der gestoßen wurde.« Röschl sah sich hektisch um. In den umliegenden Häusern blieb es zwar ruhig hinter den Fensterscheiben, dennoch waren ihm vereinzelte Zuhörer nicht entgangen. »Lauscher«, seufzte der Chefinspektor, nickte in Richtung der Gebäude und setzte seinen Bericht gedämpft fort.

»Der Mann hatte neben einer Schotterrechnung auch einen Führerschein in der Jackentasche. Reichraminger. Anton Flieder. Sein Gesicht kann nicht mehr der Identifizierung dienen. Es sieht nicht schön aus.« Röschl hielt inne. Er schien noch nicht am Ende mit seinen Erklärungen. »Wir können davon ausgehen, dass wir Flieder vor uns haben, aber sein Körper ist völlig zertrümmert, der Kopf Matsch. Standardmäßig wurden Fingerabdrücke genommen, die wir mit Reisepassdaten abgleichen werden – wenn es Daten dazu gibt. DNA wurde auch sichergestellt.« Er lächelte Georg eigenartig an. »Zum Gegenvergleich brauchen wir Haare, Blut, eine benutzte Zahnbürste, ein angerotzeltes Taschentuch, gebrauchte Wattestäbchen. Suchen Sie sich was aus, das kennen Sie ja.« Röschl kratzte sich am Ohr und betrachtete prüfend seinen Finger, bevor er sich wieder Wesentlichem widmete. »Einfacher wäre es, wenn wir besondere Körpermerkmale, Operationsnarben, Muttermale, etwas in der Art, hätten, oder den Zahnstatus. Jedenfalls ist es Ihre Aufgabe, die potenzielle Witwe zu besuchen, um sie um entsprechende Informationen beziehungsweise Dinge zu bitten. Vielleicht vermisst die Frau ihren Mann bereits, wenn auch derzeit noch keine Meldung in dieser Richtung vorliegt. Der Tote ist noch nicht lange hier. Gerade mal ein paar Stunden, meint Pathologe Letinowsky. Die Totenstarre ist noch nicht vollständig eingetreten.«

Der Chefinspektor hatte sich während des Gesprächs in Bewegung gesetzt. Hammerschmied folgte ihm. Der Weg, der zum Kletterfelsen führte, war schmal und rutschig. Die Stauden und Büsche rundum wehrhaft. Ein Körper lag verdreht am Fuß des Burgfelsens. Georg fühlte Unbehagen. Das war also der erste Eindruck gewesen, den der Hund gewonnen hatte. Dass es für den Terrier eine Freude gewesen sein musste, etwas so Interessantes zu erspähen, war Hammerschmied klar. Dass sein Besitzer damit keine Freude gehabt hatte, konnte er ebenso gut nachvollziehen. Aufgeregte Ermittler umrundeten den Leichnam wie die Fliegen ein Stück Fleisch. Hammerschmied schwirrte der Kopf. Er sollte sich also flott zur Witwe begeben und Hinweise zu Flieders Körpermerkmalen oder Hygieneartikel erbitten. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust.

»Sie bekommen Verstärkung. Kollegin Klingenberg ist gleich hier. Eine Frau ist in einer derartigen Situation hilfreich, nicht nur als Chauffeurin. Wenn ich auch sonst der Meinung bin, dass Frauen in unserem Berufsstand nichts zu suchen haben.«

Georg ignorierte Röschls Anmerkung zu weiblichen Kolleginnen. Die Art, wie Röschl zu Polizistinnen stand, war allgemein als antiquiert bekannt, was vermutlich weniger an den Beamtinnen, sondern vielmehr an der teuren Scheidung lag, die Röschl vor ein paar Jahren hatte erdulden müssen.

Hammerschmied verdrehte die Augen. Ein alter Bekannter hatte sich in sein Sichtfeld gedrängt. Dr. Michael Letinowsky, ortsbekannter Leichendoktor, war bereits mit dem Toten beschäftigt. Der Typ war ihm ein Gräuel. Anstatt in der Linzer Rechtsmedizin zu bleiben und dort die Toten auseinanderzunehmen, fand sich Letinowsky überraschenderweise immer wieder an hiesigen Tatorten ein. Entweder war er zufällig zu einer Wanderung aufgebrochen, hatte sich auf sein Mountainbike geschwungen oder war in der Nähe, weil er im Erholungsgebiet des Nationalparks Kalkalpen einen Luchsfurz riechen wollte, kaum dass dieser das Tier verlassen hatte. Allgemein wurde der Mann wegen seiner Flexibilität geschätzt, Georg dagegen konnte mit ihm und seiner oftmals pietätlosen Arroganz nichts anfangen. Inzwischen hatte Letinowsky den Leichnam zum Abtransport freigegeben. Lächelnd wandte er sich Röschl und Hammerschmied zu, als quietschende Reifen die Stille störten.

»Maria kommt«, verkündete der Gerichtsmediziner, was unnötig war, denn Hammerschmied kannte Marias Fahrstil, konnte ihn blind und rein nach Gehör bestimmen. Insgeheim fürchtete er um seinen Mageninhalt, der in wenigen Minuten argen Strapazen ausgesetzt wäre.

»Ewig schade um die Cremeschnitte«, seufzte er, was ihm ein Stirnrunzeln Röschls einbrachte, während sich Letinowsky zu den beiden Polizisten gesellte und etwas über mangelnde Sauerstoffversorgung, ausbleibende Atmung und niedrige Außentemperatur murmelte. Gerade laut genug, dass Röschl und Hammerschmied seine Anmerkungen hören, sich jedoch nur wenig Reim darauf machen konnten.

Hammerschmied kannte derartige Texte von Letinowsky zur Genüge. Heimlich unterstellte er dem Gerichtsmediziner, sich damit wichtigmachen zu wollen. Leider hielt Kollegin Klingenberg viel von dem Mann. Und noch viel mehr hielt sie von ihm, seit sich die beiden Turteltäubchen regelmäßig trafen. In der Inspektion wurden bereits Wetten abgeschlossen, wann Maria und Michael (»M&M’s« wurden sie hinter vorgehaltener Hand genannt) ihre Beziehung offenbaren würden. Hammerschmied hatte es vorgezogen, keine Wettabgabe zu machen. Nicht nur, weil er die Kollegin schätzte, sondern auch, weil er fand, dass derartige Mutmaßungen für die gemeinsame Arbeit nicht förderlich waren. Außerdem war er eifersüchtig. Georg warf einen finsteren Blick in Letinowskys Richtung.

»Maria kommt.« Letinowsky wiederholte lächelnd seine Ankündigung. Dabei strahlte er sowohl Röschl als auch Hammerschmied großzügig an. Ein Strahlen, das noch zunahm und dümmlich wirkte, als sein Blick auf den Einsatzwagen fiel. Hin zu Maria, die sich vergangene Woche von einer dunkelhaarigen Kollegin mit hellen Strähnen im Haar in eine blonde Marilyn verwandelt hatte. Diese Typveränderung war in der Inspektion nicht ohne Kommentare über die Bühne gegangen.

Letinowsky startete seine Berichterstattung. Hammerschmied fand, dass der Mann unpassend munter klang. Sogar unheimlich glückselig, was doch hoffentlich nicht an der Leiche lag. Konnte es sein, dass der Arzt ungewöhnliche Todesfälle liebte?

»Der Mann ist seit ein paar Stunden tot.« Letinowsky betrachtete das Ziffernblatt seiner Uhr. »Die Totenstarre ist noch nicht voll ausgebildet. Ich konnte seine Extremitäten bewegen.« Er sah zur Ruine hoch, ließ seinen Blick den Burgfels entlanggleiten und gab währenddessen ein pfeifendes Geräusch von sich, das wohl einen Sturz nachahmen sollte, dem ein Händeklatschen und ein unpassendes »Platsch« folgten. »Er ist wohl eine gute Weile nach Mitternacht dort hinten gelandet.«

Mit diesen Worten setzte sich der Gerichtsmediziner lässig in Bewegung und strebte auf Maria zu. Ihr hastiges »Bleib mir vom Leib mit deinen Patschhändchen«, das Letinowskys liebevollen Begrüßungsversuch abwehrte, freute Georg.

Der Totenarzt grinste fröhlich weiter und riss seine Arme in die Luft. »Hände hoch!« Er küsste Maria auf die Wangen. Links. Rechts. Links. Noch mal rechts.

Röschl schüttelte angewiderte den Kopf. »Der benimmt sich wie ein Südfranzose. Die können von der Abbusselei auch nie genug bekommen. Unter vier Mal und einem Ausschlag auf jeder Wange kommst du da nicht davon.«

»Keine Übergriffe auf die Staatsgewalt«, hörte Hammerschmied Maria raunzen.

Georg räusperte sich übertrieben laut. »Anton Flieder und seine Frau bewohnen ein Haus in der Hammerschmiedstraße.«

»Hammerschmiedstraße?« Röschl klang belustigt. »Etwa nach Ihnen benannt?«

Georg ignorierte die Anspielung auf seinen Namen. »Rosa Flieder«, er rieb nachdenklich seinen Nasenrücken, »sympathische Frau. Hat mir vor ewigen Zeiten erzählt, dass sie nie wisse, ob die Menschen bei der Nennung ihres Namens aus Belustigung oder Mitleid lächelten.«

Letinowsky zuckte mit den Schultern. »Sobald ich Hinweise zu Körpermerkmalen oder entsprechende DNA-Vergleichsspuren von euch erhalten habe, kann ich dem Toten einen Namen geben. Oder auch nicht.« Schließlich nickte er bekräftigend zu seinem Statement, drehte sich zu Maria und verabschiedete sich mit unpassenden Kussgeräuschen von ihr.

Maria warf dem davoneilenden Letinowsky einen eigenartigen Blick zu, während Hammerschmied seinen Magen um Beherrschung bat. Nur vier Minuten. Länger würde die Fahrt von Losenstein nach Reichraming nicht dauern. Zumindest dann nicht, wenn er seinen Wagen in Losenstein stehen ließ und Maria hinterm Steuer des Einsatzwagens saß. Ihm war bereits prophylaktisch übel. Ein Blick auf seine Uhr zeigte ihm, dass es kurz vor zehn war.

Nur Sekunden später machte sich sein Handy bemerkbar. »PI Großraming«, las Georg am Display, dann wurde er vom Heulen einer Sirene abgelenkt. Ein Fahrzeug der Feuerwehr schoss aus dem Tunnel, der unter dem Burgberg hindurchführte. Irgendwo würde jemand panisch auf die Helfer warten. Hier dagegen half nur mehr ein Bestatter. Der würde den Leichnam in die Gerichtsmedizin bringen. Diese Fahrt musste nicht im Eiltempo geschehen, nur noch mit angemessener Zuverlässigkeit.

»Tote haben es nicht eilig, nur Lebende messen noch ihre Zeit«, philosophierte Georg und warf Maria einen verzweifelten Blick zu. Die schwenkte schmunzelnd den Autoschlüssel des Dienstfahrzeugs vor seinen Augen. Der Anruf, den Georg eigentlich hätte beantworten wollen, war plötzlich vergessen.

6

Wenig später standen Georg Hammerschmied und Maria Klingenberg vor dem Haus in der Hammerschmiedstraße. Georg konnte sich nur unter Aufbietung jeglicher Körperbeherrschung aufrecht halten. Was er jetzt benötigt hätte? Nussschnaps. Dem sagte man doch nach, den Magen wieder einzurenken. Er hatte sich ordentlich verschätzt, was Marias Tempo anbelangte. Viereinhalb Minuten. Neuer Rekord.

Georg warf einen Blick zur Eingangstür. Am hölzernen Türstock war ein Zettel festgetackert worden, darauf war ein verblasster Schriftzug zu lesen. Vermutlich der Familienname. Sein Seufzer wehte zu Maria. Georgs Finger näherte sich zögernd dem schmutzigen gelben Klingelknopf. Schon wollte er die Hand wieder zurückziehen, da hob Maria ihre und drückte mit ihrem Zeigefinger auf Georgs Zeigefinger. Ein dadurch ausgelöstes energisches Schrillen bohrte sich unharmonisch in Georgs Ohren.

»War das nötig?«, erschrocken reagierte Georg auf den tätlichen Übergriff auf seinen Zeigefinger.

Er trat zur Seite, sodass Maria das Kommando übernehmen musste. Mit einem Kopfschütteln fügte sich die Kollegin in ihr übliches »Wir haben schlechte Nachrichten für Sie«-Schicksal.

»Ich komme«, tönte es vernehmbar aus dem Hausinneren. Die Tür wurde aufgerissen.

Eine Frau mittleren Alters stand vor ihnen, bekleidet mit Jeans und einem verwaschenen langärmligen Shirt. Sie wirkte verlegen. Rasch band sie das verwuschelte Haar mit einem Haargummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihr fragender Blick verwandelte sich in einen misstrauischen, während er auf den Beamten ruhte.

»Anton ist immer noch nicht zu Hause«, begann sie, bevor die Polizisten sich vorstellen konnten. »Ich habe vor einer Viertelstunde mit dem Wirt und danach mit jemandem von der Polizeiinspektion Großraming telefoniert, weil ich mir Sorgen mache. Mein Mann ist gestern ins Wirtshaus gegangen und noch nicht zurückgekommen.« Die Frau ließ ihre Hände sinken. Ihr Gesicht nahm einen bettelnden Ausdruck an. »Was ist mit Anton? Ist was passiert?«

»Frau Flieder, Rosa Flieder?« Maria wartete, während Georg verstohlen sein Handy prüfte und die vor wenigen Minuten eingetroffene Nachricht las, die ihm mitteilte, dass ein Reichraminger als abgängig gemeldet worden war. Anton Flieder.

Die Frau nickte, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und rieb ihre bloßen Füße an ihren Hosenbeinen warm.

»Dürfen wir ins Haus kommen?«

Eine Träne lief der Frau über die Wange und wurde rasch mit dem Handrücken abgewischt. Sie führte die beiden Beamten in einen Raum, der vermutlich das künftige Wohnzimmer werden sollte. Hell war es hier. Glasfronten, die von der Decke bis fast zum Boden reichten, ließen reichlich Licht herein und boten gleichzeitig einen großzügigen Ausblick in den Garten. Georg wunderte sich über das Mobiliar, das aus vier umgedrehten Bierkisten bestand, auf denen Bretter lagen, die als Sitzflächen dienten. Spartanisch improvisierte Bänke. Wenig einladend. Auf dem staubigen Estrichboden sah er vielerlei Abdrücke von Schuhsohlen.

»Das Wohnzimmer ist noch nicht fertig. Mein Mann wünscht sich einen Boden aus Wohnbeton. Das Hausinnere soll modern werden.« Die Worte kamen zaghaft, wirkten wie eine Entschuldigung für die vorgefundene Situation. »Die Küche ist auch noch nicht fertig. Überhaupt ist das Haus eine einzige Baustelle.« Verlegen zuckte Rosa Flieder mit den Schultern. »Wir wohnen im Obergeschoss, da ist es wohnlicher, wobei das übertrieben ist. Wenn wir mit der Sanierung dieser Etage fertig sind, braucht es auch im Obergeschoss noch etliche Verbesserungen.« Rosa Flieder fischte dicke Wollsocken aus einem Paar staubiger Holzpantoffeln und zog sie an.

Hammerschmied, der in Zivil unterwegs war, setzte sich auf eine der Bierkistenbänke. Seine Hose würde Dreckflecken wahrscheinlich besser vertragen als Marias dunkelblaue Uniformhose. »Frau Flieder, wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«

Georgs Tonfall schmeichelte sich behutsam in Rosas Ohren, die daraufhin ihren Blick hob und mit zitternder Stimme erwiderte: »Gestern. Gestern am Abend ist er ins Dachs & Donaulachs gefahren. Er hat sich mit Freunden getroffen. Ich habe mir bis zum frühen Morgen keine Sorgen gemacht, weil es häufig spät wird, wenn der Männerclub tagt. Eigentlich«, sie lachte unsicher, »ist ›spät‹ der falsche Ausdruck, denn normalerweise wird es früh. Manchmal sogar so früh, dass er und seine Freunde gleich bis zum Frühschoppen bleiben. Ich bin erst nach Mitternacht schlafen gegangen. Später als üblich, weil ich versucht habe, ein Mindestmaß an Ordnung in unseren Sanierungssaustall zu bekommen. Danach habe ich geschlafen wie eine Tote.« Sie zuckte mit den Schultern. Ihr Langschläferverhalten war ihr erkennbar peinlich. »Jedenfalls ist mir Antons Abwesenheit schlussendlich komisch vorgekommen. Ich habe im Dachs & Donaulachs angerufen. Der Wirt hat gesagt, dass mein Mann kurz vor zwei in der Früh gegangen ist. Mein nächster Anruf galt einem seiner Stammtischfreunde, der hat aber nicht abgehoben. Und dann habe ich in der Polizeiinspektion Großraming angerufen, weil ich dachte …« Sie blickte zu Boden, schob mit einer Schuhspitze Putzbröckelchen zur Seite und sah dann zu Georg hin. »Was ist passiert?«

Hammerschmied dachte an den Entsorgungsmüll, den er auf dem Weg zur Haustür gesehen hatte. In der angebauten Garage waren mehrere Haufen aufgestapelt worden. Kunststoff- und Kartonberge, Kabelmüll, Installationsrohre. Er ließ Rosas Worte nachklingen. Zusammengeräumt habe sie, sich nicht gewundert, dass ihr Mann noch nicht nach Hause gekommen war. Für einen Augenblick hatte Rosas Stimme bei der Erwähnung des Männerclubs spöttisch geklungen.

Georg blickte zum Fenster hinaus. Er würde sich einfach um die Ankündigung der schlechten Nachricht schrauben, schließlich hatte der Tote nicht eindeutig identifiziert werden können. Erleichtert hörte er Marias genervtes Seufzen.

»Frau Flieder, es ist möglich, dass Ihr Mann heute Nacht tödlich verunglückt ist.« Sie suchte nach den passenden Worten. »Der Tote hatte eine Rechnung und einen Führerschein bei sich …«

Georg betrachtete Rosa Flieder, bei der der Groschen zu fallen schien.

»Es tut mir leid, dass wir Sie mit dieser Nachricht überfallen«, fügte Maria hinzu. »Der Tote wurde am Fuß der Burgruine Losenstein gefunden. Er muss von dort oben hinuntergefallen sein. Wir ermitteln noch.«

Die letzten Worte hatte Maria regelrecht herausgesprudelt. Hammerschmied wunderte sich über Marias »von oben hinuntergefallen«, schließlich konnte man schlecht von unten hinauffallen. Eindringlich betrachtete er Rosa, deren Gesicht blass geworden war. Sie taumelte und ließ sich dann mit einem Plumps auf die Bierkistenbank neben Georg fallen.

»Wasser«, forderte Maria.

Hammerschmied flüchtete aus dem Raum, dankbar für eine klare Anweisung. Er machte sich auf die Suche nach einem Zimmer im Erdgeschoss, das ansatzweise nach Küche aussah, und stellte fest, dass die Küche keine Küche im herkömmlichen Sinn war. Immerhin entdeckte er aber eine Wasserflasche und einen halbwegs sauberen Becher. Mit diesen Fundstücken bahnte er sich den Weg zurück ins Pseudo-Wohnzimmer.

»Mein Mann lebt nicht mehr?« Dankbar nahm Rosa den Becher entgegen. Sie trank in kleinen Schlucken. Schließlich blickte sie zu Maria und sagte: »Kann das nicht alles ein furchtbarer Irrtum sein?«

Georg setzte der Funken Hoffnung zu, den die Frau in sich trug. Es gab kaum Zweifel an der Identität des Toten. Zumindest keine berechtigten. Er wollte der Frau jedoch die Information ersparen, dass das Gesicht des Mannes durch den Aufprall derart zerschmettert worden war, dass aktuell noch keine gesicherte Aussage zu dessen Identität gemacht werden konnte. Die Annahme, dass der Tote und der Führerschein zusammengehörten, war sachlich betrachtet mehr als realistisch. Zudem war sein Auto gefunden worden. Abgestellt im Halte- und Fahrverbot, direkt am Zugang zum Burgberg. Dennoch galt es, die Identität des Verstorbenen endgültig zu bestätigen. Dazu musste der zweite unangenehme Teil des heutigen Morgens in die Wege geleitet werden. Brauchten sie doch Haare, Blut, Speichel, Hautpartikel oder Spermaspuren von Anton Flieder. Eine ungewaschene Unterhose. Irgendetwas.

»Frau Flieder?«

Maria verdrehte die Augen. Noch tiefer konnte sich Georgs Stimme beinahe nicht mehr schrauben. Gerade deswegen fielen Frauen häufig wie hypnotisiert auf diese Klangfarbe herein. Nicht nur einmal hatte Maria die Wirkung miterleben dürfen. Scherzhaft behaupteten die Kollegen, dass Hammerschmieds Stimme auch am Telefon der Hammer sei. Jede Sexhotline hätte Freude an seinem Timbre, so die allgemeine Ansicht. Daraufhin hatte Georg angekündigt, demnächst vermehrt Nachtschichten einlegen zu wollen, um in Ruhe seinem künftigen Doppelberuf nachgehen zu können, auch sein Verdienst würde sich dadurch außerordentlich verbessern.

Rosa Flieders Augen wurden groß und rund wie die eines Kleinkindes. Es schien, als wartete sie nur darauf, Georgs Wunsch zu erfüllen. Sehnsuchtsvoll blickte sie ihn an, bereit für den Gefallen, um den er sie gleich bitten würde.

»Frau Flieder, wir brauchen etwas von Ihrem Mann.«

»Aber Sie haben doch schon meinen ganzen Mann, was brauchen Sie noch von ihm?«

Punkt für Rosa Flieder, notierte Hammerschmied innerlich. Völlig richtig, wir haben den ganzen Kerl. Blöde Bemerkung, Hammerschmied. Minus.

Er setzte neu an: »Sie kennen doch sicher diese amerikanischen Serien? ›CSI‹ und so.« Georg warf Rosa einen durchdringenden Blick zu, worauf diese zustimmend nickte. »Gut, dann sind Sie vertraut mit polizeilicher Ermittlungsarbeit und wissen, dass ich etwas brauche, auf dem sich DNA-Spuren Ihres Mannes finden lassen. Oder helfen Sie mir mit Äußerlichkeiten. Vielleicht hatte Ihr Mann ein besonders auffälliges Muttermal, eine Operationsnarbe, ein künstliches Knie, Besonderheiten an den Zähnen.« Er betrachtete Rosa auffordernd. »Natürlich gehen auch Haare oder Speichel, also zum Beispiel die Haar- oder Zahnbürste Ihres Mannes oder eine ungewaschene Unterhose.« Hammerschmied griff nach der Hand von Rosa Flieder, nahm sie beschwichtigend in seine und tätschelte ihren Handrücken.

Rosa rang sich ein Lächeln ab und wisperte: »Ja natürlich. Mein Mann hatte etliche Goldinlays in den Zähnen. Der Zahnarzt in Losenstein sollte Ihnen weiterhelfen können. An seinem rechten Bein befindet sich eine lange Narbe im Bereich des inneren Unterschenkels. Von einem Motorradunfall in seiner Jugend. Die Narbe ist dunkel und sieht aus wie ein Adler mit weit gespreizten Schwingen.« Rosa warf Georg ein zögerndes Lächeln zu und stemmte sich hoch. »Zahnbürste«, flüsterte sie und verließ den Raum, um das Gewünschte zu holen.

Marias Blick, den Georg während seiner Handtätschelei kassiert hatte, ging mit ebenso weit aufgerissenen Augen einher wie zuvor der Blick der Flieder. Ihre Darbietung war jedenfalls bühnenreif. Sie legte ihre Hände an die Brust und seufzte theatralisch, während sie Georg nicht aus den Augen ließ. Schließlich streckte sie eine Hand aus, worauf Georg sein Pfötchen reflexartig in ihres legte. Maria tätschelte seine Hand und grinste ihn übermütig an.

»Na du? Was ist los mit dir? Wirst du Gigolo jetzt zum Frauenversteher? Da sitzt der Herr Inspektor auf einer Bierbank, macht stimmlich auf Schmusebär, lässt den verständnisvollen Typen heraushängen, und die Frau hüpft los. Wow!«

Verlegen zog Georg seine Hand zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich lässig grinsend nach hinten. Mit einem unterdrückten Schrei fiel er auf den schmutzigen Boden. Verdutzt rappelte er sich hoch und rieb sich den schmerzenden Hinterkopf.

Gerade als Rosa die Treppe herunterpolterte, hatte sich Georg wieder in seine Ausgangsposition befördert. Maria zupfte Asservatenbeutel aus der Oberschenkeltasche ihrer Hose und gab Rosa mit einem Kopfnicken zu verstehen, was sie mit der Zahnbürste zu tun hatte. Eine Unterhose des Toten befand sich nicht unter den Accessoires, dafür ein angeschnäuztes Baumwolltaschentuch. Ein Klassiker, blau-weiß kariert.

»Danke, Frau Flieder.« Georg nickte und betrachtete die Frau, die sich offenbar zurechtgemacht hatte. Sie trug ihr Haar nun offen. Ihre Lippen glänzten feucht. Lipgloss. Dieses Verhalten war nur wenig passend für eine Witwe.

»Wann ist es passiert?« Rosa Flieder sah Maria leidend an.

»Ihr Mann hat das Gasthaus verlassen. Wir nehmen an, dass er danach …«

Rosa schluchzte. »Und ich war allein zu Hause, habe währenddessen seelenruhig geschlafen.«

Hammerschmied trat nachdenklich an eines der hohen Fenster. Er warf einen Blick in den rückwärtigen Garten. Dort bot sich ihm ein trostloser Anblick. Matschiger Boden. Sträucher, die dringend einen Schnitt benötigten. Eine Hütte, die wie ein zu klein geratener Autostellplatz aussah.

»Pseudo-Carport«, entfuhr es ihm. Das Hütterl sank auf einer Seite deutlich erkennbar in den Untergrund ein, was die windschiefe Optik nur noch verstärkte. Feuerholz war in den instabil wirkenden Unterstand geschlichtet worden. Am Holzstapel lehnte ein verschmutztes E-Bike. Schwarz mit goldenem Schriftzug. Maria, die neben ihn getreten war, kniff die Augen zusammen.

»LIN«, las sie laut vor, »was ist das denn für eine Marke?«

»Da fehlt ein Teil der Beklebung, das ist ein LINEA, nicht unbekannt in der E-Bike-Welt. Ein Männerfahrrad.« Georg wandte sich begeistert Rosa Flieder zu, die ihn verständnislos anstarrte.

Schließlich zuckten ihre Mundwinkel, Röte zog über ihr Gesicht. »Das Rad gehörte meinem Mann. Kaum benutzt. Sinnlose Anschaffung.«

»Mit wem war Ihr Mann gestern unterwegs?«, unterbrach Maria das Gespräch, während Rosas Blick noch an Georgs Gesicht klebte. Sie schien die Narbe über seiner rechten Augenbraue faszinierend zu finden. Schließlich hefteten sich ihre Augen an seine. Georg wurde nervös, er blinzelte. So war das nicht geplant.

»Stammtisch«, kam die sparsame Antwort von der offenbar frisch verliebten Frau.

»Wer sind die Mitglieder dieses Stammtisches, liebe Rosa? Ich darf doch Rosa sagen?«

Hammerschmied übte den Kaninchen-Schlange-Blick, worauf die liebe Rosa ergeben nickte, bevor sie schließlich die gewünschten Namen herunterratterte: »Matthias Gretzinger, Kurt Braunstingel, Alois Grundinger, du weißt schon, der Yoga-Alois. Außerdem Seppi Haidlinger, und oft ist auch Franz Meisinger dabei. Dann noch Horst Seitenschneider und der Glatzkopf-Hansi. Eigenartigerweise lässt sich auch Alfred-Willi Wolfinger gelegentlich bei der Stammtischgesellschaft sehen, obwohl der doch so ein komischer Kerl ist und gar nicht zur Gruppe passt. Ich glaube«, sie zögerte und nickte dann bekräftigend, »ich habe alle aufgezählt.«