Mordsmäßig unverblümt - Saskia Louis - E-Book
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Mordsmäßig unverblümt E-Book

Saskia Louis

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Beschreibung

Ein neueröffnetes Blumengeschäft, chaotische Familienbeziehungen und ein makabrer Fund im Sperrmüll – willkommen im Leben von Louisa Manu!

Wenn man innerhalb eines Tages einem Polizisten auffährt und einen Finger in einem alten Holzkästchen findet, kann das durchaus zu Stress führen. Wenn sich der leitende Ermittler aber als ebendieser Polizist herausstellt, man sich um das eigene Blumengeschäft, die verantwortungslose Schwester und die unfähige 70-jährige Mitarbeiterin kümmern muss, ist Chaos vorprogrammiert.

Doch Louisa Manu ist fest davon überzeugt, dass sie den Fall aufklären und gleichzeitig ihr Leben in den Griff kriegen wird. Schließlich ist sie neugierig, clever, motiviert – und fast nicht überfordert ...

Erste Leser:innenstimmen

„Ich spreche eine absolute Lesempfehlung für diesen lustigen und unterhaltsamen Frauenroman aus, der mit einer Prise Liebe und Krimi gewürzt ist.“
„Der Schreibstil ist grandios. Ich fühlte mich gut unterhalten und musste oft lachen.“
„Für eine so junge Autorin finde ich die Sprache wahnsinnig ausgereift.“
„Auch mir hat das Buch sehr gefallen. Endlich mal keine Ermittlerin mit High-End-Abschluss in allem Möglichem!“
„Fragen über Fragen … Und ein wunderschönes Ende.“
„Saskia, ich liebe Deinen "Frauenkrimi". Einfach "Hyvää on" auf Finnisch heißt das sehr gut! Ich kann garnicht aufhören zu lesen …“

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Seitenzahl: 409

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Über dieses E-Book

Wenn man innerhalb eines Tages einem Polizisten auffährt und einen Finger in einem alten Holzkästchen findet, kann das durchaus zu Stress führen. Wenn sich der leitende Ermittler aber als ebendieser Polizist herausstellt, man sich um das eigene Blumengeschäft, die verantwortungslose Schwester und die unfähige 70-jährige Mitarbeiterin kümmern muss, ist Chaos vorprogrammiert.

Doch Louisa Manu ist fest davon überzeugt, dass sie den Fall aufklären und gleichzeitig ihr Leben in den Griff kriegen wird. Schließlich ist sie neugierig, clever, motiviert – und fast nicht überfordert ...

Impressum

Erstausgabe April 2016

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-94529-872-5 Taschenbuch-ISBN: 978-3-94529-894-7 Hörbuch-ISBN: 978-8-72608-100-8 Hörbuch-ISBN: 978-3-98998-027-3

Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung eines Motivs von © bg242/pixabay.com Lektorat: Astrid Rahlfs

E-Book-Version 24.09.2024, 12:51:17.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Mordsmäßig unverblümt

Für Michaela, weil die Welt mehr starke Frauen braucht.

Kapitel 1

Mein Tag war scheiße.

Nein, ‚Scheiße‘ war noch ein zu positives Wort. Mein Tag war wie Big Brother im Fernsehen mit Streichhölzern, die meine Augen offen hielten, keine Schokolade mehr im Haus und die Führerscheinprüfung zusammen!

Ich hatte zweitausend Tulpen geliefert bekommen, obwohl ich Rosen verlangt hatte und war von meiner Nichte mit einem Minigolfball am Kopf getroffen worden. Ganz offensichtlich hatte ich bei dem Aufprall des Balles meine letzte aktive Gehirnzelle verloren, denn das war die einzige Erklärung dafür, dass ich meiner kleinen Schwester ohne Widerworte meine Kreditkarte überlassen hatte. Zu allem Überfluss hatte ich seit sieben Stunden nichts mehr gegessen, wurde von meiner Mutter auf meinem Handy tyrannisiert – die seit drei Tagen pausenlos anrief, um herauszufinden, wie ich mit dem Zahnarzt hatte Schluss machen können – und kam zu spät zu meinem Termin mit einem jungen Brautpaar, das die Blumenarrangements besprechen wollte! Ach ja, außerdem war heute Montag! Montag!

Vielleicht war ‚Scheiße‘ doch das richtige Wort. Man konnte es ja beliebig oft wiederholen, um ihm die nötige Stärke zu verleihen.

Ich drückte das Gas durch und mein Auto beschleunigte von Null auf Zehn in zwanzig Sekunden, während der Motor vor Anstrengung ächzte. Die Uhr zeigte fünf vor vier an und ich stöhnte laut auf, nicht zuletzt, um mein erneut klingelndes Handy zu übertönen.

Ich würde es nie rechtzeitig schaffen, dabei brauchte ich den Auftrag! Ich war noch nicht lange im Blumengeschäft und brauchte jeden Job, den ich kriegen konnte. Die blöde Tulpenstornierung würde mich für diesen Monat wahrscheinlich wieder in die roten Zahlen treiben, aber das könnte ich mit ein, zwei Hochzeiten wieder reinbekommen. Vor mir schaltete die Ampel auf Rot und ich bog spontan nach links in einen kleinen Schleichweg ab, der die meisten Ampeln der Innenstadt umging, auf dem aber nur dreißig Stundenkilometer erlaubt waren.

Na ja, die Geschwindigkeitsbegrenzung war ja wohl doch eher eine Richtlinie. Ich schaltete in den dritten Gang, nur um nach zwanzig Sekunden wieder zurückzuschalten, weil ein schickes schwarzes Auto vor mir die Idee mit den Richtlinien offenbar nicht ganz verstanden hatte.

„Komm schon! Rechts ist das Gas! Rechts!“, brüllte ich und trommelte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad. Mein Handy fing erneut an zu klingeln und fluchend tastete ich mit meiner Hand danach, um es auszuschalten, während ich den Fuß noch etwas vom Gas nahm. Wenigstens nach dem Stoppschild würde ich den Schleicher vor mir loswerden!

Ich versuchte nach dem Handy auf dem Beifahrersitz zu greifen, stieß es stattdessen aber in den Fußraum.

Gott, ich musste den Klingelton ändern. Die Titelmusik von Darth Vader war zwar am Anfang lustig gewesen, aber jetzt, da meine Mutter so oft anrief, war sie einfach unerträglich. Wann schaltete sich endlich die Mailbox ein? Ich sah auf die Straße, wurde noch ein bisschen langsamer und ließ mich dann schnell zur Seite gleiten, um das Telefon zu bergen.

Dass das Auto vor mir angehalten hatte, bemerkte ich erst, als jemand laut hupte, mein Kopf nach oben schnellte und ich panisch Bremse und Kupplung durchdrückte.

Mein Auto war zwar langsam, aber nicht langsam genug.

Der alte Passat stieß mit einem zarten Scheppern und den restlichen fünf Stundenkilometern in den Wagen vor mir.

Den schicken schwarzen, neuen Audi A5.

Oh, verdammt!

Leise fluchend schloss ich die Augen und stellte den Motor ab. Ich hätte im Bett bleiben sollen. Als die Spinne sich auf mein Kopfkissen abgeseilt hatte, hätte ich das als Omen sehen und einfach liegen bleiben sollen!

Jetzt war es zu spät.

Aber vielleicht hatte ich ja Glück. Vielleicht saß ein älterer, liebenswürdiger Herr in dem Audi, der mit einer wegwerfenden Handbewegung sagte, dass ich ihn ja nur leicht angestupst hatte.

Die Tür des Audis glitt auf und jede Hoffnung wurde zerstört. Mit zwei langen, in Jeans verpackten Beinen voran, stieg die personifizierte Wut vom Fahrersitz.

Dieser Mann war beängstigend. Beängstigend groß, beängstigend durchtrainiert und beängstigend … heiß.

Ende zwanzig, Anfang dreißig vielleicht, kurze braune Haare, hellbraune Augen … oh. Nein, jetzt waren sie wütend und dadurch vermutlich dunkelbraun geworden.

Trotzdem – seine einschüchternde Energie schadete seiner Attraktivität nicht im Geringsten.

Hitze stieg in meine Wangen und mit einem immer größer werdenden Kloß im Hals zog ich den Schlüssel ab und stieg aus. Das Handy klingelte immer noch und es war, als würde Darth Vader selbst auf mich zukommen.

„Haben Sie keine Augen im Kopf?“, brüllte er.

Blinzelnd sah ich ihn an.

Schön. Ich war abgelenkt worden und der Unfall war natürlich meine Schuld – aber deswegen musste er doch nicht gleich brüllen! Meine Mutter wäre entsetzt über dieses Verhalten. Höflichkeit war etwas, das viele Menschen verlernt zu haben schienen.

„Habe ich. Ohren übrigens auch, also, könnten Sie vielleicht Ihre Stimme senken?“

Der Mann kniff die Lippen zusammen. „Sie sind mir hinten drauf gefahren! Nur weil Sie Ihren Führerschein mit einem Rubbellos gewonnen haben, sollte ich mich nicht beherrschen müssen!“

Das reichte! Mein Tag war sowieso schon bescheiden genug und er hatte nicht das Recht mich so anzufahren, nur weil ich sein Heck ein wenig angestupst hatte! Man konnte noch nicht einmal groß was sehen! Vielleicht eine klitzekleine Einbeulung am Stoßdämpfer und ein, zwei Kratzer an den Rückleuchten.

„Zu einem Unfall gehören immer zwei!“, fauchte ich deshalb zurück.

Seine Augen wurden ungläubig groß. „Wie bitte?“

Wütend und frustriert warf ich meine Hände in die Luft. „Na ja, wer hält heutzutage noch an einem Stoppschild? Das kann ich doch nicht ahnen, dass Sie der einzige Mann auf der ganzen Welt sind, der sich an die Verkehrsregeln hält und fünf Sekunden lang vor dem Scheißding stehen bleibt!“

„Sie werfen mir vor, dass ich korrekt gefahren bin?“

Ja, genau das. Aber laut ausgesprochen hätte das bescheuert geklungen, deswegen änderte ich den Satz ein wenig ab. „Nein, ich werfe Ihnen vor, dass Sie überkorrekt gefahren sind!“

„Was reden Sie da? Man kann nicht überkorrekt an einem Stoppschild halten! Entweder man hält oder man hält nicht!“ Er machte noch einen Schritt auf mich zu und überragte mich nun um einen ganzen Kopf. „Sie haben in Ihrem Fußraum herumgewühlt!“

Ich vergaß immer, dass normale Autos tatsächlich funktionierende Rückspiegel besaßen. „Na ja … wenn Sie meine Mutter kennen würden, könnten Sie das verstehen“, verteidigte ich mich sofort und überkreuzte die Arme, „es war eine Notwendigkeit, im Fußraum nach meinem Handy zu suchen.“

Seine Miene blieb versteinert und innerlich seufzte ich tief. Mir war selbst bewusst, dass meine Argumentation ein paar gigantische Lücken aufwies.

„Schön! Ich hab einen Fehler gemacht“, lenkte ich ein, „können wir das so regeln oder wollen Sie die Polizei rufen?“

Von oben herab musterte er mich. „Ich bin die Polizei.“

Oh, verdammt. Mein Tag erreichte gerade endgültig den Nullpunkt. Das konnte ja nur mir passieren, dass ich einem Bullen reinfuhr, der auch noch seine Tage zu haben schien!

Ich rieb mir mit meiner flachen Hand über die Stirn und schloss die Augen. Wieso produzierte der Körper eigentlich nicht auf natürliche Art und Weise Aspirin, wenn man es brauchte?

„Und jetzt?“, fragte ich schließlich etwas müde. „Ziehen Sie das ganze Programm ab? Fotos, Kreidestriche und Sirenen?“ Es war vielleicht nicht die beste Idee, den Polizisten auch noch zu provozieren, aber es war meine einzige.

„Ich sollte Sie schon alleine dafür verhaften, dass Sie mit dieser Rostlaube fahren!“, knurrte er und nickte in Richtung meines Autos.

„Sie ist durch den TÜV gekommen.“ Mein Onkel arbeitete als Prüfer.

„Sie hat eine gelbe Plakette! Welches Auto hat heute noch eine gelbe Umweltplakette?“

„Klassiker?“, schlug ich vor, obwohl mir durchaus bewusst war, dass der alte VW-Passat keine zweihundert Euro auf dem Markt bringen würde.

Er verengte die Augen. „Nein, Dreckschleudern haben eine solche Plakette. Darf man damit hier in Köln überhaupt fahren? Sind gelbe Plaketten nicht mittlerweile verboten?“

Gott sei Dank handelte es sich hier offenbar nicht um einen Verkehrspolizisten. Ich räusperte mich schnell. „Also, ich müsste zu einem Termin – könnten wir das hier etwas beschleunigen? Es ist doch wirklich kein großer Schaden …“ Ich sah zu den beiden Autos und musste grinsen, als ich bemerkte, dass man dem Passat nichts ansah. Er war unzerstörbar.

Etwas genervt lenkte der Polizist ein. „Schön. Geben Sie mir Ihre Daten: Nummernschild, Name, Anschrift, Telefonnummer, Versicherungsdaten …“

„Wow, Sie gehen aber ran!“, scherzte ich, verstummte jedoch bei seinem Blick und hustete nur „sorry“, während ich ein zerknittertes Stück Papier aus meiner Handtasche zog, um seinen Anweisungen Folge zu leisten.

Auf dem eigentlich als To-Do-Liste gedachten Papier stand bereits: „Beschissene Tulpen sind keine verdammten Rosen, Beruf verfehlt? – Rede halten“ (Worte, die für meine Angestellte bestimmt waren, die die Blumen angenommen hatte), „Mutter: Definition von Privatsphäre raussuchen“ und „SCHOKOLADE!“. Na ja, jetzt standen da auch noch mein Name, Louisa Manu, und die restlichen Daten, die verlangt worden waren. Damit musste Herr Grumpig wohl zurechtkommen.

„Hier.“ Ich reichte ihm das Papier und steckte den Stift zurück in das vordere Fach meiner Tasche. „Zufrieden?“

Sein Blick war so missbilligend, dass er glatt von meiner Mutter hätte sein können. „Ich hoffe für Sie, dass das Ihre richtigen Daten sind.“

Ich stieß zischend Luft aus. „Für wen halten Sie mich eigentlich? Für eine Kriminelle, die zweimal am Tag ihre Nummernschilder austauscht?“

„Verbrecher erscheinen in den überraschendsten Aufmachungen.“

Blödmänner auch.

Zuckersüß warf ich ihm von unten herauf einen Blick zu. „Wow, Ihr Beruf hat Sie ja wirklich nicht voreingenommen werden lassen.“

„Ich bin Realist“, sagte er sachlich und zog mir das Papier aus den Fingern.

„Bescheuertist trifft es wohl eher“, murmelte ich und wandte mich zu meinem Auto um. Was für eine Schande. So eine schöne Verpackung an so einen Mann verschwendet!

„Das Einzige, was bescheuert ist, sind die Blumenaufdrucke auf Ihren Türen!“, erwiderte er trocken.

„Das ist Werbung für meinen Laden!“

„Es steht kein Name dran!“

Ja, den hatte ich mir noch nicht leisten können. „Der ist in Arbeit!“, motzte ich und öffnete die Tür.

„Sie hätten erst den Schriftzug machen sollen!“

Ich schob meine Unterlippe vor. „Und Sie sollten sich öfter einen Regenbogen anschauen, vielleicht hilft das ja Ihrer inneren Ausgewogenheit!“, rief ich, bevor er die Tür zuschlug und innerhalb von Sekunden nur noch seine von mir zerschrammten Rücklichter zu sehen waren.

Kopfschüttelnd schnallte ich mich an und steckte den Zündschlüssel ein. Wenigstens gab es jetzt einen Lichtblick: Schlimmer konnte der Tag nicht werden.

Was für eine Fehleinschätzung …

„Das Brautpaar hat nicht einmal bemerkt, dass ich eine halbe Stunde zu spät gekommen bin! Sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig mit Torte zu füttern und sich anzuschmachten.“

„Da hört sich aber jemand verbittert an“, amüsierte sich meine beste Freundin am anderen Ende der Leitung. „Darf ich dich daran erinnern, dass du diejenige warst, die mit dem Zahnarzt Schluss gemacht hat?“

Ich wechselte die Hand, in der ich das Telefon hielt, um meinen Arm auch durch den anderen Ärmel meiner Jacke zu stecken. Es war Oktober und die Tage wurden so langsam kälter. „Er hatte ein Bild von einem faulen Zahn auf seinem Nachttisch – weil es ihn daran erinnerte, gegen was er kämpfte!“

Ari kicherte. „Ich habe nicht angezweifelt, dass es die richtige Entscheidung war. Drei Monate waren eigentlich schon viel zu lang.“

„Danke!“, bestätigte ich. „Jetzt musst du genau diese Worte nur noch meiner Mutter sagen und du bist meine Heldin!“

„Ich habe es geschafft, Schokolade zu meinem Beruf zu machen, ich bin sowieso schon deine Heldin!“

Da war etwas Wahres dran. Ariane war zwar gelernte Konditorin, hatte sich aber auf Schokolade spezialisiert. Sie setzte Schokofiguren zusammen und nannte es Kunst. „Nein, ernsthaft“, stöhnte ich, „sie treibt mich in den Wahnsinn. Ihretwegen habe ich heute einen Unfall gebaut und bin einem Polizisten hinten drauf gefahren.“

„Uh, Stripperpolizist?“

Ich verdrehte die Augen. „Echter Polizist.“ Heißer Polizist. Blöder Polizist. Die Liste war lang.

„Oh, Mist. Ist es ein großer Schaden?“

„Überhaupt nicht, ich hab ihn nur leicht angestupst, aber er hat sich aufgeregt, als wäre ich mit einem Vorschlaghammer auf seine Windschutzscheibe losgegangen!“

„Männer haben eine Verbindung zu ihren Autos, das ist wie mit uns und unseren Schuhen.“

„Sprich für dich selbst. Ich besitze vier Paar und zwei davon ziehe ich nicht an … aber darum geht es jetzt auch gar nicht.“

„Worum dann, wenn schon nicht um dein besorgniserregendes Schuhverhalten?“, lachte sie durch den Hörer.

„Es geht darum, dass ich siebenundzwanzig bin und meine Mutter schon davon redet, dass meine Eizellen nur noch Walzer statt Lambada tanzen.“

Ich bog nach rechts um eine Ecke und konnte schon von weitem das Schild vom Supermarkt erkennen. Ich wollte noch schnell etwas einkaufen, bevor ich in Ruhe nach Hause fahren, mich mit meinem Kater Twinky auf die Couch legen und mir die Top Fünf der besten Wege ausdenken konnte, wie man jemanden zum Schweigen brachte, ohne in den Knast zu wandern. Vielleicht sollte ich meinen Ex anrufen und ihn fragen, ob er mir was von dem Betäubungsmittel für die Lippen verkaufen würde. Wie illegal konnte das schon sein?

„Ach, deinen Eizellen geht es fantastisch!“, widersprach Ari loyal. „Sie feiern Kölner Karneval.“

„Danke, das habe ich ihr auch gesagt. Was sie aber nicht von ihrem Telefonterror abhält! Sie … oh, wie hübsch.“ Ich blieb abrupt stehen und betrachtete den Haufen Sperrmüll vor mir, der am Straßenrand stand und einladend über mir aufragte.

Ich liebte alte, benutzte Sachen. Sie hatten eine Geschichte und warteten nur auf jemanden, dem sie sie erzählen konnten. Zersägte Stühle stapelten sich auf einer abgewetzten Polstercouch und ein rostiges Bettgestell verdeckte die Sicht auf den Rest. „Ari, ich rufe dich sofort zurück, ja? Ich sehe lauter kleine Wunder vor mir!“

Meine beste Freundin stöhnte. „Du hast wieder einen Stapel Müll entdeckt, oder? Das wird langsam zur Besessenheit. Es hat einen Grund, dass Leute die Dinge wegschmeißen!“

„Ja, sie wollen, dass ich sie finde! Bis gleich.“ Ich legte auf und ließ das Handy in meiner Jeanstasche verschwinden. Freudig klatschte ich in die Hände. Das war besser als Flohmarkt – denn hier war alles umsonst.

Sorgfältig darauf bedacht, nichts zu beschädigen – oder zumindest weiter zu beschädigen – kletterte ich in dem Berg herum und hob verschiedenste Dinge an. Nach zehn Minuten musste ich enttäuscht feststellen, dass das Meiste zu zerstört oder zu hässlich war, um ihm nähere Beachtung zu schenken. Gerade als ich aufgeben und meinen Weg zum Supermarkt fortsetzen wollte, fing mein Blick plötzlich doch etwas Interessantes ein. Ein handgroßes, quadratisches Kästchen aus Holz lugte unter einem Kissen hervor. Vorsichtig griff ich danach und strich mit der flachen Hand über die obere Seite.

Vier goldene Ornamente umschlangen sich kunstvoll und formten zwei ineinandergeschobene Unendlichkeitszeichen. Die Ränder waren mit Mandala artigen Mustern versehen, die ebenfalls mit Gold nachgezogen worden waren. Bis auf einen daumengroßen, rötlichen dunklen Fleck in der unteren linken Ecke schien es noch wie neu. Was für ein Glück musste man haben!

Ich hob es über meinen Kopf, um zu sehen, ob es von allen Seiten so gut erhalten war und runzelte die Stirn. Es roch merkwürdig. Nicht nach Holz oder Lack, sondern nach etwas, das ich nicht definieren konnte. Ich kam nicht darauf, doch der Geruch ließ merkwürdigerweise das Gesicht meiner kleinen Schwester Emily in meinem Kopf aufblitzen. Er erinnerte mich an sie oder an etwas, was ich schon einmal mit ihr gemacht hatte.

Mhm, keine Ahnung.

Ich ließ den Arm wieder sinken und spürte, wie etwas gegen die Schachtelinnenseite rollte. Überrascht ließ ich das Kästchen sinken. Hatte der Besitzer etwa vergessen hineinzusehen, bevor er es weggeworfen hatte? Vielleicht war noch ein Ring darin oder anderer Schmuck?

Ich löste den Clip, der die beiden Seiten zusammenhielt, öffnete den Deckel … und musste würgen.

Den Würgereiz unterdrückend, wandte ich mein Gesicht ab und ließ den Deckel mitsamt Kästchen fallen.

Oh Gott! Atmen. Atmen. Ich brauchte Luft! Luft und ein neues Augenpaar und vielleicht auch noch neue Nasenschleimhäute, wenn die gerade im Angebot waren.

Mir wurde schwarz vor Augen und ich beugte mich nach vorne, um den Kopf zwischen meine Beine zu stecken, so wie sie es einem immer in den Fernsehfilmen raten. Doch als mein Blick wieder auf das geschlossene Kästchen zu meinen Füßen fiel, wurde mir nur noch schwindeliger und übler.

Mit klammen Fingern zog ich mein Telefon aus der Tasche und wählte die Nummer, die mir meine Mutter seit dem ersten Jahr im Kindergarten jeden Tag aufgesagt hatte – die ich aber noch nie hatte wählen müssen.

„Polizeinotruf, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Hallo, ich glaube, ich … habe einen Finger gefunden – ohne Mensch dran!“ Das war auch alles, was ich an Worten zustande brachte, bevor ich mich in den nächstbesten Vorgarten übergab.

Kapitel 2

Es dauerte zwölf Minuten und achtzehn Sekunden bis die Polizei eintraf. Zwölf Minuten und achtzehn Sekunden, in denen ich würgte, meinen Mund abwischte und erneut würgte. Und als ich sah, was für ein Auto hinter dem Streifenwagen parkte, kam mir auf ein Neues mein Mageninhalt wieder hoch.

Es war ein Audi A5 mit einer kleinen Delle im Heck und zerkratzten Rücklichtern und heraus trat niemand anderes als Herr Grumpig persönlich.

Oh mein Gott – die Talfahrt setzte sich fort und ich schwor mir, nie wieder den Tag zu verhexen, indem ich dachte, dass es ja nicht mehr schlimmer werden konnte.

Der Finger hatte mir den Rest gegeben. Ich war selbst überrascht, dass ich nicht in Ohnmacht gefallen war.

Ich konnte kein Blut sehen. Mir wurde ja schon schwindelig, wenn ich nur daran dachte, dass jemand sich mit einer Nadel in den Finger stach. Da war es doch verwunderlich, dass abgehackte Gliedmaßen nur einen Brechreiz bei mir hervorriefen.

Ich blieb neben dem Kästchen stehen, das immer noch vor meinen Füßen lag, und sah mich um. Die letzten Minuten war ich von der irrationalen Angst getrieben worden, dass irgendjemand hier auftauchen könne, um mir das Kästchen wieder wegzunehmen. Vor der Polizei wie eine Idiotin dazustehen, die sich Dinge einbildete, wäre die Kirsche auf der Torte gewesen, mit der ich mich heute hatte rumschlagen müssen.

„Sind Sie Louisa Manu? Die Frau, die meint, sie habe einen Finger gefunden?“ Ein uniformierter Polizist war aus dem Streifenwagen gestiegen und sah mich fragend an, während er an seinem Gürtel seine Hose etwas höher zog.

Die unmännlichste Geste der Welt.

Ich presste die Lippen aufeinander und verlagerte mein Gewicht etwas nach hinten. „Sehen Sie etwa noch jemanden, der aussieht, als habe er sich gerade dreimal übergeben?“, zischte ich.

Der Uniformierte wurde rot. „Nein … natürlich nicht. Das war nur fürs … Protokoll.“

Herr Grumpig trat neben ihn und sah mich von oben herab an. Den Blick hatte er wirklich drauf. „Wenn Sie mich wiedersehen wollten, hätten Sie doch was sagen können“, grinste er. Ich schenkte ihm keinen Blick.

Der Polizist sah verwundert zwischen uns hin und her. „Sie kennen sich?“

Schnell schüttelte ich den Kopf. „Nein. Würden Sie bitte fortfahren?“

Verwirrt zog er einen Block aus seiner Gesäßtasche. „Nun ja. Mein Name ist Kramer und das ist Joshua Rispo von der Kriminalpolizei. Sollten Sie wirklich einen Finger gefunden haben …“

„Was heißt hier wirklich?“, fuhr ich ihn an und drückte meinen Zeigefinger auf seine Brust. „Es ist ein beschissener rot lackierter Ringfinger!“

Der Polizist lief puterrot an und starrte auf meinen Finger auf seiner Brust. „Nun gut, abgehackte Körperteile sind dein Fachbereich, Rispo.“ Hilfesuchend blickte er zu seinem Kollegen hoch, dessen Gesichtszüge kaum verbergen konnten, wie amüsant er die ganze Situation fand. Tatsächlich sah er viel weniger wütend aus als noch heute Mittag.

„Warten Sie dort drüben Kramer. Ich mach das schon. Und nehmen Sie es nicht persönlich: Sie ist scheinbar zu jedem so unhöflich.“

„Ich bin nicht unhöflich“, brüllte ich jetzt. „Ich bin hysterisch! Hat Ihnen denn niemand beigebracht, dass man zuerst das Opfer besänftigt, bevor man Mutmaßungen darüber tätigt, ob es einen anlügt?“

Rispo zuckte mit keiner Wimper. „Bei dem Seminar muss ich gefehlt haben.“

Mein Mund blieb offen stehen und wäre ich die Medusa, wäre Kommissar Joshua Rispo sofort zu Stein geworden.

Er seufzte. „Kommen Sie. Jetzt zeigen Sie schon den Finger.“

Ich reckte meinen Mittelfinger in die Höhe.

Düster schob er meine Hand aus seinem Gesicht. „Den anderen.“

Wortlos nickte ich zum Kästchen und sah dem Kommissar dabei zu, wie er sich bückte, ein Taschentuch um seine Hand wickelte und es vom Boden aufklaubte. Er öffnete den Deckel und verzog augenblicklich das Gesicht. „Verdammt! Das ist ja tatsächlich ein Finger!“

„Was dachten Sie denn?“, fauchte ich. „Dass es eine Speckmaus ist und ich keine Augen im Kopf habe?“

Unangenehm berührt kratzte er sich am Nacken und ließ den Deckel wieder fallen. „So was in der Art“, gab er langsam zu, während er den Polizisten heranwinkte und ihm vorsichtig das Kästchen mitsamt Taschentuch übergab. „Tüten Sie das ein, rufen Sie die Spurensicherung an und fangen Sie an abzusperren“, seufzte er und sah mich dann wieder an. „Nun Frau Manu, wo haben Sie es genau gefunden?“

Ich machte ein paar Schritte rückwärts und deutete auf das Kissen. „Es lag darunter. Ich hab den Sperrmüll gesehen, hab etwa eine Viertelstunde darin gestöbert und kurz bevor ich schon aufgeben wollte, habe ich dann das Kästchen …“ „Warten Sie“, unterbrach Rispo mich und schüttelte mit zusammengekniffenen Augen den Kopf, „wollen Sie mir allen Ernstes sagen, dass Sie den Finger erst gefunden haben, nachdem Sie alles, was sich um ihn herum befand, nicht nur angefasst, sondern auch umgestellt und es somit für die Spurensicherung fast unmöglich gemacht haben, irgendetwas Brauchbares zu finden?“ Seine Stimme war mit jedem Wort lauter geworden.

Ich biss auf meine Unterlippe und verschränkte die Arme vor meiner Brust. „Kann ich doch nicht wissen, dass ich einen Finger finden werde!“

Stöhnend fuhr er mit der flachen Hand über sein Gesicht. „Ist Ihnen denn irgendetwas aufgefallen, was uns helfen könnte? Haben Sie jemanden gesehen, etwas gehört …?“

Ich überlegte. Ich war vollkommen alleine gewesen, bis auf das ein oder andere Auto, das mal an mir vorbeigefahren war. Ich schüttelte den Kopf. „Hier war niemand.“

„Ist Ihnen denn etwas an der Box aufgefallen?“, hakte Rispo weiter nach.

Mein Gesicht erhellte sich. „Ja, sie riecht komisch.“

„Es liegt ein abgetrennter Finger drin, der Geruch wundert mich nicht.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Der ist es nicht. Es ist was anderes. Etwas, das mich an meine kleine Schwester erinnert …“

„Gott steh mir bei …“

Ich ignorierte ihn. Er hatte ja schließlich gefragt. Wenn ihm meine Antworten nicht gefielen, sollte er aufhören, Fragen zu stellen.

„Meinen Sie, die Frau ist tot?“

Er seufzte und sah mir wieder in die Augen. Seine hatten jetzt wieder diesen warmen hellbraunen Farbton. „Keine Ahnung. Aber meiner Erfahrung nach haben Menschen, die anderen die Finger abhacken, auch nicht so ein Problem damit, jemanden umzubringen.“

„Meinen Sie, es waren die Leute in dem Haus?“

„Die Leute, von denen der Sperrmüll ist? Wenn sie dumm genug waren …“

„Meinen Sie, Sie finden die Leiche bald?“

Genervt sah er mich an. „Würden Sie bitte aufhören, Fragen zu stellen, die nur der liebe Gott im Himmel beantworten kann?“

Ich zuckte die Schultern. Wenn er sich schon so verhielt, als wäre er ein Gott, warum durfte ich ihn dann nicht auch so behandeln? „Schön, kann ich dann jetzt gehen?“

Rispo prustete und grinste dann, sodass seine nächsten Worte nicht im Entferntesten zu seinem Gesicht passten.

„Ich hasse es, Ihnen das sagen zu müssen. Aber Sie haben noch einen langen Tag vor sich. Ihr Zuhause wird noch eine Weile auf Sie warten müssen.“

Wie sich herausstellte, definierte der gute Kommissar Rispo „eine Weile“ anders als jeder andere Mensch.

Für mich beinhaltete eine Weile vielleicht ein bis zwei Stunden Warterei und Kaffee trinken. Nicht jedoch vier geschlagene Stunden, in denen ich tausendmal zu Protokoll geben musste, was ich gesehen hatte, was passiert war, wie es passiert war und ob das auch wirklich der Wahrheit entspräche, was ich da von mir gab. Als wäre ich der Verrückte gewesen, der einen Ringfinger abgeschnitten hatte. Sollte die Polizei sich nicht lieber mit dem Täter beschäftigen? Oder zumindest mit dem Körper, der zu dem Finger gehörte?

Aber nein, stattdessen hielt man der Frau, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, eine Kamera ins Gesicht und bat sie, ihre Aussage noch einmal rückwärts zu wiederholen.

Als ich nach einer halben Ewigkeit endlich aus dem stickigen Büro durfte, hatten sich bereits schwarze Punkte vor meinem inneren Auge geformt, die wild vor mir her tanzten.

Den Lambada, nicht den Walzer.

Erschöpft ließ ich mich auf einen der orangenen Plastikstühle sinken, die im Eingangsbereich standen, und überschlug meine Beine.

Es war gleich vorbei. Ich musste nur auf die Bestätigung des leitenden Kommissars – also Herrn Grumpig – warten, der sich gerade noch mit der Spurensicherung unterhielt, und dann durfte ich nach Hause und ins Bett. Seit Langem hatte ich mich nicht mehr so sehr darauf gefreut.

Die Tür zur Eingangshalle wurde aufgestoßen und ein kalter Luftzug folgte einem schlaksigen, grinsenden Mann, der dunkelblonde Haare und meine grünen Augen hatte.

Wortlos ließ er sich neben mich sinken, legte einen Arm um mich und drückte meine Schulter.

Ich schniefte ein bisschen und lehnte mich an ihn, hielt mich jedoch davon ab, Tränen auf seinem teuren Anzug zu vergießen. Die Rezeptionsdame sah mich ohnehin schon merkwürdig an. Da wollte ich keine Szene machen.

„Woher weißt du es?“, fragte ich schließlich kleinlaut.

„Anwälte und Polizisten sind Klatschmäuler. Nach einer halben Stunde wurde über nichts anderes mehr geredet als über die hysterische Frau, die einen Finger im Sperrmüll gefunden hat. Es wurden Wetten darauf abgeschlossen, wie oft sie sich wohl übergeben hat, nachdem sie ihn gesehen hat.“

„Dreimal.“

„Verdammt. Fünfzig Euro verloren. Hätte ich deinen Namen mal eher gelesen. Ich weiß doch, wie schwach dein Magen ist.“

Ich schlug ihm auf die Schulter, musste aber lachen. Mein Bruder war sieben Jahre älter als ich, was man aber an seinem Benehmen oftmals nicht festmachen konnte. Die einzigen Dinge, die er ernst nahm, waren sein Beruf und seine Ehe. Mit Anwälten und Ehefrauen war nun einmal nicht zu spaßen.

Er war das Beste, das man sich als kleine Schwester wünschen konnte. Er hatte mich und Emily, die zwei Jahre jünger war als ich, immer beschützt, unsere Freunde davor gewarnt, mit unseren Gefühlen zu spielen und uns getröstet, als wir keine Konzertkarten für die Backstreet Boys mehr bekommen hatten. Da vergab man ihm auch mal, dass die eine oder andere Barbie auf mysteriöse Art und Weise ihren Kopf verloren hatte.

Seitdem er zwei Töchter, die eine acht und die andere heute fünf geworden, großzog, hatte ich auch verdrängt, dass er mich mehr als einmal dazu gebracht hatte, meine Cola-Flaschen zu schütteln, bevor ich daraus trank und mir vor meinem ersten Schultag in der Grundschule eine neue Frisur verpasst hatte.

Na ja, fast verdrängt. Solche Dinge konnte man nie ganz vergessen – dank der wunderbaren Erfindung namens Fotoapparat.

„Mein Tag war scheiße“, krächzte ich und wischte mir mit dem Jackenärmel über die Augen, die meine innere Anweisung, nicht zu weinen, offenbar ignorierten. „Ich fühle mich wie ein Eisberg. Neunzig Prozent von mir hängen unter Wasser fest.“

„Ach Lou.“ Wieder klopfte er etwas unbeholfen auf meine Schulter. „Hätte doch jedem passieren können. Kein Drama. Du hast ein paar Jungs auf der Wache den Tag versüßt, zählt das denn nichts?“

Ich stieß seinen Arm weg. „Jannis – halt die Klappe, okay? Ich bin doch bestimmt die Lachnummer vom Revier!“

„Ach was.“ Er winkte ab. „Dafür wissen es noch zu wenige – und du wirst nie den Typen vom Thron stoßen, der auf dem Flohmarkt für hundert Euro eine leere Computerspielschachtel erworben hat und dann so heftig von seiner Frau verprügelt worden ist, dass die Nachbarn die Bullen gerufen haben.“

Oh Gott. Bei diesem Satz kam mir ein furchtbarer Gedanke. Es wussten zwar wenige, aber wenn Jannis es wusste, dann …

Verängstigt riss ich meine Augen auf. „Du hast es doch nicht Mama erzählt, oder?“

Er verdrehte die Augen und stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Knien ab. „Bin ich Anfänger? Ich will doch nicht für ihren Tod verantwortlich sein, indem ich ihr berichte, dass ihre Tochter einen abgehackten Finger gefunden hat, während sie im Straßenmüll herumwühlen musste.“

Erleichtert legte ich mir eine Hand auf die Brust. „Danke. Sie muss es nie erfahren.“ Vor allem das mit dem Müll. Der Finger würde sie wahrscheinlich nicht einmal stören.

„Von mir hört sie kein Wort. Und falls es dich beruhigt: Ich habe mir den Mann von der Kripo, der diesen Fall bearbeitet, mal angesehen. Ist ein guter Typ. Hat eine Siebenundachtzig-Prozent-Rate und mehr Fälle bearbeitet als die meisten. Und das, obwohl er letztes Jahr für zwei Monate vom Dienst suspendiert war.“

Ungewollt fuhr mein Kopf in die Höhe und neugierig sah ich meinen Bruder an. „Suspendiert? Das ist aber doch nicht gut, oder? Warum wurde er suspendiert?“

Jannis zuckte die Schultern und lockerte die Krawatte um seinen Hals. „Keine Ahnung. Stand da nicht. Ist auch egal – auf jeden Fall scheint er ein kompetenter Kommissar zu sein. Ich bin mir sicher, dass er den Fall bald aufgeklärt hat und du dann wieder ruhig schlafen kannst.“

Kompetent. Leider blieb auch ein kompetenter Vollidiot ein Vollidiot.

„Okay“, seufzte ich, lehnte mich nach hinten gegen die Wand und schloss wieder die Augen. „Danke. Auch dafür, dass du gekommen bist.“

„Ist doch klar, geht es dir denn sonst gut?“

„Besser als der Frau, der der Finger gehört.“

Er lachte. „Mama wäre stolz auf dich: So konsequent die Gefühle verbergen kann nur eine Lady. Brauchst du vielleicht eine Mitfahrgelegenheit?“

„Ja, bitte.“ Der Passat stand schließlich immer noch am anderen Ende der Stadt, wo ich das Brautpaar getroffen hatte.

„In Ordnung.“ Ächzend stand er auf. „Kopf hoch, Loubalou. Ich hole den Wagen und warte draußen. Komm einfach vor die Tür, wenn du fertig bist.“ Mein Bruder gab mir einen Kuss auf den Kopf und ich hörte, wie er den Raum verließ. Ich wollte gerade zu einem kleinen Schläfchen ansetzen, als ein Schatten auf mein Gesicht fiel und ich mich gezwungen fühlte, meine Augen wieder zu öffnen. Joshua Rispo sah mich an – und er lächelte breit.

Mein Herz machte einen Satz.

Ach du liebe Güte! Wie ein Lächeln ein Gesicht verändern kann. Bei diesem Anblick wurde mir ganz anders.

„Loubalou – Manu?“, fragte er und sah aus wie ein Kind, dem soeben eine Stange Süßigkeiten versprochen worden war.

Böse sah ich ihn an und erhob mich von dem Sitz, um mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein. Ich hatte vergessen, wie groß er war und fand mich stattdessen auf Brust- und Schulterhöhe wieder. „Sie sollten still sein“, erklärte ich aufmüpfig, „Sie wurden nach Jesus benannt!“

„Nach meinem Großvater.“

„Ihr Großvater war Jesus?“, fragte ich gespielt dumm nach.

Er seufzte und verzog den Mund. „Sagen Sie eigentlich auch mal Dinge, die … einem nicht den letzten Nerv rauben?“

Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, sagen Sie auch mal Dinge, die der Situation angemessen sind?“

Sein Gesicht kam meinem unangenehm nahe. „Nein, aber dafür kann ich Auto fahren.“

Das war gemein. Ich war die Frau, die den Finger gefunden hatte. Man sollte netter zu mir sein. Ich schob meine Unterlippe etwas vor und verschränkte die Arme. „Sind Sie aus einem bestimmten Grund hierhergekommen oder wollten Sie sich einfach nur noch ein bisschen wie ein Blödmann aufführen?“

Rispo trat einen Schritt zurück. „Ich wollten Ihnen eigentlich nur sagen, dass Sie gehen dürfen.“

Erleichtert seufzte ich auf und griff nach meiner Handtasche, die immer noch auf dem Plastiksitz lag. „Gott sei Dank. Ich dachte, dieser Tag endet nie.“

„Wem sagen Sie das …“, murmelte er und wollte sich schon zum Gehen wenden, als ich ihn noch einmal am Arm packte.

Ach du liebe Pfeffermühle! So einen starken Bizeps hatte ich lange nicht mehr … nein,  hatte ich noch nie angefasst!

Er räusperte sich und ich blinzelte. Rispo sah zuerst mich an, dann meine Hand, die immer noch auf seinem Oberarm lag. Hitze stieg in meine Wangen und ich hüstelte etwas verlegen. „Äh, darf ich noch was fragen?“

„Als könnte ich Sie aufhalten.“

Er schien mich ja doch bereits ein wenig zu kennen. „Nun, was passiert mit der Box?“

Rispo hob seine Augenbrauen. „Wie bitte?“

Die Farbe meiner Wangen wurde noch intensiver. „Na ja, es ist eine sehr schöne Box und ich habe sie gefunden …“

Die Augen meines Gegenübers verengten sich zu Schlitzen. „Frau Manu. Diese Box ist Beweismittel in einem möglichen Mordfall und Sie möchten sie mit nach Hause nehmen und auf Ihren Kaminsims stellen?“

Na ja, eigentlich hatte ich sie meiner Nichte schenken wollen. Sie wäre begeistert davon, eine Box zu haben, in der schon einmal ein abgetrennter Ringfinger gelegen hatte.

„Nein, natürlich nicht! Was denken Sie denn von mir?“, ruderte ich schnell zurück. „Hat die Spurensicherung denn noch irgendetwas gefunden?“

„Diese Informationen sind nicht für Ihre Ohren bestimmt, Frau Manu.“

„Rufen Sie mich denn wenigstens an, wenn Sie die Leiche finden?“

„Mit Sicherheit nicht.“

„Und wenn Sie den Täter geschnappt haben?“

„Ebenso wenig.“

Ich runzelte meine Stirn und zog die Handtasche näher an meinen Körper. „Das heißt, ich habe nichts zu sagen, obwohl ich sozusagen der Grund bin, warum dieser Fall überhaupt ein Fall ist?“

„Das haben Sie sehr schön ausgedrückt.“

„Und Sie werden sich überhaupt nicht mehr melden? Bei gar nichts?“

Ein Mundwinkel von ihm zuckte. „Doch, natürlich. Mit einem Kostenvoranschlag für die Reparatur meines Autos. Aber falls Ihnen noch etwas einfallen sollte …“, er reichte mir eine Karte, „… dann können Sie mich selbstverständlich anrufen. Einen schönen Abend, Frau Manu. Und hören Sie auf, im Müll anderer zu wühlen.“

Ich war immer noch wütend, als ich eine halbe Stunde später durch meine Haustür trat, die Handtasche auf den Küchentresen warf und Rispos Visitenkarte an den Kühlschrank pinnte.

In den Fernsehserien wurden die Cops zwar immer mit übermäßigem Ego dargestellt, aber dass das tatsächlich der Realität entsprach, schockierte mich dann doch.

„Hey Twinky“, murmelte ich erschöpft und strich über den Rücken meines Katers, der sich behaglich schnurrend an mein Bein drückte und mir ins Schlafzimmer folgte. „Wenigstens du magst mich. Du würdest mich anrufen, wenn du die Leiche fändest, oder?“

Er rieb bestätigend seinen Kopf an meinem Fuß.

Wusste ich es doch. Kater waren die einzigen Männer, denen man noch vertrauen konnte. Ich wechselte in meinen Schlafanzug und lief noch einmal in die Küche, um Twinky ein Hundeleckerli und einen Teelöffel stark verdünnten Kaffee zu geben – er war ein Koffeinjunkie und mit Katzenfutter konnte er nichts anfangen. Er hatte einen psychischen Knacks, aber während dieser Umstand bei Menschen gruselig war, war er bei Tieren einfach nur putzig – auch wenn der Tierarzt meinte, Kaffee wäre auf Dauer ungesund. Ich musste die Koffeinzufuhr eben auf ein Minimum beschränken.

Twinky fing an zu schnurren. Egal wie schlimm ein Tag war, egal wie viele vom Körper gelöste Finger ich fand und egal wie viele emotional kalte Polizisten ich mit meinem Wagen anfuhr – das Schnurren einer Katze war wie Meditationsmusik und Schokolade für mich.

„Du würdest ihn mögen“, murmelte ich und hob meinen Kater auf den Arm. „Er ist genauso eine Diva wie du.“ Und ich fragte mich, ob sein Bart sich auf meiner Wange wohl genauso anfühlen würde wie Twinkys Fell.

Den Gedanken sollte ich wohl schnell wieder verdrängen.

Aber ich konnte ja nichts dafür. Schuld daran war mein Ex-Freund. Nach dem Weichei von Zahnarzt sahen plötzlich alle Männer extrem männlich und attraktiv aus. Und wenn ein Kerl dann auch noch eine Waffe tragen und bedienen durfte, glich meine Libido der eines errötenden Teenagermädchens. So schnell konnte Emanzipation flöten gehen.

Mein Handy klingelte und ich erwartete schon beinahe, dass es Rispo war, um mir doch zu sagen, dass die Leiche gefunden worden war – ich wurde jedoch von jemand anderem überrascht.

„Du hast nie zurückgerufen!“, beschwerte Ari sich lauthals. „Ich hoffe, du hast eine gute Begründung.“

Erschöpft lief ich zurück in mein Zimmer und ließ mich ins Bett fallen. „Du wirst es nicht glauben, aber zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die!“

Kapitel 3

„Trudi, du musst die Brille aufsetzen, wenn der Lieferant kommt, ja? Du musst dazu in der Lage sein, das, was du unterschreibst, vorher auch durchlesen zu können! Das steht nicht zur Debatte!“

Ich stand in dem beengten Hinterzimmer meines beschaulichen Blumenladens und versuchte, eine ernste Miene gegenüber meiner Angestellten aufzusetzen. Die Umsetzung gestaltete sich jedoch schwierig, da die siebzig Jahre alte Dame mich mit einem derartigen Unverständnis ansah, dass ich ihr am liebsten über den Kopf getätschelt und ihr ein Eis angeboten hätte.

Aber ich durfte nicht weich werden. Sie hatte einen Fehler gemacht und ich als Verantwortliche musste ihr dafür den Kopf geraderücken.

Ich hatte sie vor einem Monat eingestellt und im Nachhinein war es vielleicht nicht das Klügste gewesen, meine Entscheidung darauf zu basieren, dass sie mich an meine verstorbene Oma erinnerte und sie zum Vorstellungsgespräch Chocolate Chip Cookies mitgebracht hatte. Trudi hatte schließlich in ihrem gesamten Leben nicht einen einzigen Tag gearbeitet, wie sie mir verraten hatte. Sie hatte jung und reich geheiratet und nie einen Grund dafür gesehen, auch nur einen Finger zu rühren. Erst, als ihr Mann vor einem Jahr verstorben war, hatte sie daran gedacht, sich etwas für den Zeitvertreib zu suchen.

Herausgekommen war die Teilzeitstelle bei mir im Laden. Blumen hätte sie schließlich immer schon gerne gemocht.

Dass sie in ihrem Leben noch keine Pflanze angefasst hatte, war mir erst nach drei Wochen aufgefallen, als sie versuchte, eine verwelkte Blume mit Wasser und Pusten wieder zum Leben zu erwecken.

Aber ich hatte sie lieb gewonnen und sie alleine aufgrund ihrer Unfähigkeit wieder zu feuern, kam mir herzlos vor.

„Na, aber der junge Mann hat ausgeschaut, als verstünde er, wovon er spricht“, sagte sie sachlich.

Ich stöhnte innerlich auf und legte meine Hände auf die hölzerne Tischplatte. Der Schreibtisch berührte zu beiden Seiten die Wand und um hinter ihm hervorzukommen, musste ich entweder darüber oder darunter durch klettern. „Das reicht aber nicht als Garantie. Du musst auf den Lieferschein sehen, so wie ich es dir gezeigt habe. Wenn du die falschen Pflanzen annimmst, dann haben wir kein Widerrufsrecht mehr und …“

„Möchtest du ein Plätzchen?“ Die alte Frau lächelte mütterlich und reichte mir einen Teller über den Tisch.

Ich blinzelte. „Nein!“ Mein Blick fiel auf die Kekse. Erdnussbutter und Schokolade. „Also ja, schon“, korrigierte ich mich schnell, „ich würde gerne ein Plätzchen haben, aber lenk jetzt nicht ab! Ich muss mich darauf verlassen können, dass du die Lieferung doppelt und dreifach überprüfst, okay Trudi? Egal wie selbstsicher der Lieferant auch auftritt: Benutze deine Brille!“ Und deinen Verstand, dachte ich im Stillen. „Und außerdem solltest du wirklich das T-Shirt tragen, das ich dir gegeben habe.“ Ich deutete auf mein eigenes, auf dem sich das Logo des Ladens über meine Brust spannte. „Das weist uns als Mitarbeiter aus.“

„Okay“, flötete sie fröhlich und ihre stahlgrauen Locken hüpften auf und ab. „Passiert nicht noch einmal, Chef.“

Wieso hatte ich das Gefühl, sie nahm mich nicht ernst? Warm lächelte sie auf mich hinab und hielt mir den Teller mit dem Gebäck so lange vor die Nase, bis ich seufzend einknickte und mir einen Keks nahm.

Ihren braunen Daumen machte Trudi mit ihren Backkünsten wett. Sogar Ari war von Trudis Plätzchen hin und weg. Sie hatte sogar vorgeschlagen, welche auf die Verkaufstheke für die Kunden zu stellen, um so das Geschäft anzukurbeln. Vielleicht sollte ich das tatsächlich mal versuchen. Dann war Trudi zumindest in einer Hinsicht eine Hilfe.

„Die sind köstlich“, sagte ich mit geschlossenen Augen und schon konnte ich der alten Frau nicht mehr böse sein. „Du hast eine Gabe, wirklich.“

Trudi kicherte und ließ den Teller auf meinem Schreibtisch stehen. „Bediene dich! Ich werde derweil den Laden öffnen, okay?“

Ich nickte und sah auf die Uhr. Es war kurz vor zehn. „Nur diesmal nicht vergessen, das „Geschlossen“-Schild umzudrehen, okay? Es irritiert Kunden, dass ein Laden geöffnet hat, obwohl etwas anderes an der Tür steht.“

„Natürlich.“

So natürlich war es ja offenbar nicht, sonst hätte sie es letzte Woche nicht bereits dreimal vergessen. Erst eine halbe Stunde nach Ladenöffnung war mir aufgefallen, dass mögliche Kunden vor dem Schaufenster stehen blieben, die zwei Stufen zur Tür hinauf nahmen, die Stirn runzelten und dann schließlich weiterzogen.

„Ach“, fiel mir noch ein, „und weißt du, wo der silberne Draht ist, mit denen die Brautsträuße gebunden werden? Den hatte ich letzte Woche erst erneuert.“

Trudi schüttelte nur wortlos den Kopf und schloss die Tür hinter sich. Sekunden später wurde das Radio eingeschaltet und leise Popmusik drang unter dem Türspalt hindurch.

Ich nahm mir noch ein Plätzchen. Wenn ich den Draht in den kommenden Tagen an einer absurden Stelle wiederfinden würde, so hatte ich zumindest gerade diesen Moment der Vollkommenheit in meinem Mund. Ich fing an, den Papierkram für letzte Woche zu regeln und die Fehllieferung in meinen Büchern zu vermerken. Das war zwar die langweiligste Arbeit, die es auf der weiten Welt gab, aber es war schön, dass ich mein BWL-Studium wenigstens für irgendetwas gebrauchen konnte.

Keine fünfzehn Minuten und drei Kekse später kündigte die Türglocke einen Kunden an. Nach nur zehn Sekunden wurde jedoch deutlich, dass es gar kein Kunde war, der dort draußen eingetroffen war. Eine hohe Stimme, die einen Schwall von Worten losließ und an jedem Satzende in die Höhe ging, wehte durch die Tür.

Emily war pünktlich. Sollte die konservative Erziehung unserer Mutter etwa doch langsam anschlagen und sie erwachsen werden lassen?

Ich kroch unter meinem Tisch durch und öffnete die Tür zur Verkaufsfläche. „… ich hab noch nie jemanden gesehen, der so viel Gras geraucht hat, ich schwöre: Selbst der Hund war am Ende zu! Aber das war ja noch nicht einmal das Witzigste! Richtig lustig wurde es, als sie ihn auf ein Bobby Car gesetzt und dann durch das McDonalds Drive Through geschickt haben. Sie hätten das Gesicht des Kassierers sehen sollen, Trudi, zum Schreien!“

Na, vielleicht ja morgen.

Geräuschvoll ließ ich die Tür zufallen und wurde sofort von einer stürmischen Umarmung empfangen, bei der mir die blond gefärbten Haare meiner Schwester ins Gesicht klatschten. Sie hatte sich entschieden, gegen die nichtssagende hellbraune Haarfarbe, die wir beide teilten, anzugehen – und das beinahe monatlich mit einer anderen Tönung.

„Ich hab gehört, du hast einen Finger gefunden?“, fragte sie fröhlich und kramte in ihrer Handtasche nach einem Portemonnaie, aus dem sie meine Kreditkarte fischte, bevor sie sich auf den Verkaufstisch schwang und ihre Beine baumeln ließ.

Jannis, das Klatschmaul! Ich wurde nachlässig. Ich hätte ihm verbieten sollen, irgendeinem Familienmitglied etwas zu erzählen.

Interessiert sah mich nun auch Trudi an. „Das hast du ja gar nicht erzählt! War es denn ein hübscher Finger? Ich habe mal gesehen, wie mein Gärtner mit der Heckenschere nicht aufgepasst hat – dabei bringen sie einem doch schon im Kindergarten bei, nicht mit Scheren in der Hand zu rennen. Jedenfalls hatte er furchtbar viel Dreck unter den Nägeln, das war äußerst unansehnlich. Ich wäre da nicht gerne der Arzt gewesen, der ihn wieder angenäht hat.“

Etwas sprachlos blickte ich zwischen den beiden Frauen hin und her, bevor ich irritiert feststellte: „Doch, sehr hübsch. Manikürt und rot lackiert.“

„Ah, das sind doch die Finger, die man finden möchte.“

Ich für meinen Teil wäre auch sehr froh ohne diesen Fund gewesen.

„Und was ist mit dem Rest? Ich meine, man sollte denken, der Finger hing irgendwo dran, oder?“ Emily zog eine Tulpe aus dem Eimer neben ihr und roch daran. Ich lief zu ihr hinüber, nahm ihr die Blume aus der Hand und steckte sie wieder an den angestammten Platz.

„Keine Ahnung. Man hat den Körper noch nicht gefunden.“

„Mhm.“ Die Finger meiner Schwester zupften an dem Weidenkraut, das ich als Füllmaterial für meine Sträuße verwendete. „Ist doch traurig, wenn man sich vorstellt, dass jetzt eine arme Frau mit neun Fingern umherwandert und nach ihrem zehnten sucht.“

Ich schlug ihr auf die Finger und stellte auch das Weidenkraut aus ihrer Reichweite. „Ich glaube, die arme Frau läuft nirgendwo rum. Liegen trifft es wohl besser. Und musst du nicht noch wohin? In die Uni zum Beispiel?“ Emily hing verdächtig oft an Orten herum, die mindestens fünf Kilometer von der Universität entfernt waren. Ich war zwar nur zwei Jahre älter, aber das Verantwortungsgefühl einer großen Schwester hatte ich trotzdem.

Emily winkte jedoch nur ab und wickelte sich Geschenkschleifen um das Handgelenk. Großer Gott, dieses Mädchen konnte ihre Hände einfach nicht still halten. „Ach, heute läuft das anders als damals bei dir.“

Damals? Ich hatte vor zwei Jahren meinen Abschluss gemacht. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass man auch heute irgendwann hingehen muss“, bemerkte ich verkniffen und rettete das Geschenkband davor zerpflückt zu werden, während Trudi nach hinten lief und die Kekse neben Emily stellte. Keine schlechte Idee. Dann hatten ihre Finger wenigstens etwas zu tun.

Meine kleine Schwester schnalzte mit der Zunge. Nur sie allein wusste, wie man mit der Zunge ein Geräusch machen konnte, dass pure Missbilligung ausdrückte. „Ich gehe ja auch hin“, verteidigte sie sich. „Aber doch nur, wenn es interessant ist. Heute hält nur irgendein Öko-Typ einen Vortrag über die Zeit, in der er auf Neuseeland mit den Maori gelebt hat. Das ist doch langweilig. Er redet ja die ganze Zeit nur über irgendeine fremde Kultur.“

Ich faltete die Hände ineinander und sah sie mit schräg gelegtem Kopf an. „Du studierst Ethnologie.“

„Und?“

„Sollte dieser Vortrag dann nicht genau dein Ding sein?“

Emily verdrehte die Augen. „Ethnologie hat ja wohl mal gar nichts mit den Kulturen fremder Kleinvölker zu tun.“

„Ethnos, das griechische Wort, von dem Ethnologie abstammt, heißt ‚fremdes Volk'!“, sagte ich lauter als gewollt.

Verwirrt stopfte sich Emily noch einen Keks in den Mund, bevor sie mich mit ebenfalls schräg gelegtem Kopf betrachtete. „Aber in welchen Veranstaltungen war ich denn dann das ganze letzte Semester über?“

Ich unterdrückte den sehr starken Drang, mir mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen.

Emily war ein beschenktes Kind.

Sie besaß Vieles: Schönheit, Fantasie, Charme, Intelligenz und Witz – aber den Durchblick, den hatte sie meistens nicht. Nach einem Jahr als Au-pair in England, einem weiteren in Indien, um ihren Horizont zu erweitern – in dem das einzige, was sie erweitert hatte, die Liste ihrer Ex-Freunde und Gelegenheitsjobs war –, einer abgebrochenen Ausbildung zur Hotelfachfrau und einem abgebrochenem Studium wusste sie immer noch nicht, was sie vom Leben wollte. Nicht, dass sie dieser Umstand stören würde. Sie war zufrieden mit dem, was sie hatte und wenn sich herausstellen sollte, dass sie das letzte halbe Jahr über etwas vollkommen anderes studiert hatte als gedacht, dann war das eben so.

Trudi kicherte und versteckte die Arme in den weiten Ärmeln ihrer Bluse. „Hast du schon einmal überlegt, reich zu heiraten, Emily?“, fragte sie.

Ich warf meiner Angestellten einen bösen Blick zu. „Setz ihr keine Flausen in den Kopf!“ Allerdings musste ich mir darüber wohl keine Gedanken machen. Emily war seit Indien für Monogamie nicht mehr ganz so empfänglich wie die anderen Menschen in diesem Land.

Emily stieß einen Schwall Luft aus. „Du musst mich nicht mehr beschützen, Lou! Ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen.“

Ich hatte da meine Zweifel, trotzdem nickte ich nur. Doch meine Schwester kannte mich zu gut.

Sie verengte die Augen. „Du hast schon wieder diesen Blick drauf, mit dem du aussiehst wie Mama, wenn sie anfängt zu kontrollieren!“

Empört ließ ich meinen Mund offen stehen. „Das nimmst du zurück!“

Süffisant lächelnd und zufrieden mit der hervorgerufenen Reaktion band sich Emily die Haare zu einem hohen Zopf. „Tu ich nicht. Du bekommst dann dieses Zucken um deinen Kiefer herum, weil du dich davon abhältst etwas zu sagen, was du später bereuen würdest.“

Na bitte, das war doch der Beweis dafür, dass ich überhaupt nicht wie meine Mutter war. Die hielt sich nämlich nie darin zurück Fehler, die ihr bei uns aufgefallen waren, einfach auszusprechen. „Du bist fies“, murmelte ich beleidigt.

„Und du glaubst, ich bin naiv und habe keine Ahnung von nichts.“

„Du weißt nicht einmal, was du wirklich studierst!“

„Und du warst drei Monate mit einem Zahnarzt zusammen!“

Verwirrt blinzelte ich.

„Was hat denn das damit zu tun?“