Morgen der Entscheidung - Lynn H. Blackburn - E-Book

Morgen der Entscheidung E-Book

Lynn H. Blackburn

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Beschreibung

Der dritte Roman in der "Raleigh-Serie" von Lynn H. Blackburn vereint wieder Romantik, Spannung und Glaube und nimmt die Leser mit in die Ermittlungsarbeit des Secret Service in North Carolina. Freunde, mehr nicht darauf haben sich Tessa und Zane geeinigt, nachdem sie beim Secret Service in Raleigh Höhen und Tiefen miteinander erlebt haben. Da Zane vor kurzem ins Weiße Haus befördert wurde, funktioniert das auch ganz gut. Doch dann soll der Präsident nach Raleigh kommen und Tessa wird als Verbindungsglied zwischen den Geheimagenten eingesetzt. Schnell merken Tessa und Zane, dass ihre Gefühle mehr sind als nur Freundschaft. Doch eine Begebenheit in Tessas Vergangenheit, die sie damals längere Zeit aus dem Verkehr zog, steht zwischen ihnen und nun wird auch noch ihr Leben bedroht! Was bedeutet das für Zane und Tessas Zukunft? Und für den Besuch des Präsidenten?

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LYNN H. BLACKBURN

Morgen der Entscheidung

Deutsch von Dorothee Dziewas

Copyright © 2023 by Lynn H. Blackburn.

Originally published in English under the title Under Fire by Revell,a divison of Baker Publishing Group, Grand Rapids,Michigan, 49516, U.S.A.

All rights reserved.

Die Bibelverse aus 5. Mose 20,3.4 folgen dem Wortlaut der Übersetzung Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblia Inc.®

Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.

© 2023 Brunnen Verlag GmbH

Redaktion: Alexandra Eryigit-Klos

Umschlagfoto: stock.adobe.com

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

ISBN Buch 978-3-7655-3668-7

ISBN E-Book 978-3-7655-7666-9

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Glossar

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Habt keine Angst! Fürchtet euch nicht!

Der HERR, euer Gott, zieht mit euch.

5. MOSE 20,3.4

1

1 JAHR, 3 MONATE UND 27 TAGE FRÜHER

Es war nicht das erste Mal, dass US-Secret-Service-Agentin Tessa Reed einen Kater hatte. Ihr Kopf hämmerte im Takt mit ihrem Herzschlag. Am liebsten hätte sie die Augen gar nicht aufgemacht. Sie wollte dem Tag nicht ins Angesicht sehen. Als sie ein Auge vorsichtig öffnete, sah sie, dass es noch dunkel war. Tessa hatte keine Ahnung, wie lange die Nacht noch dauern würde, aber sie kämpfte nicht gegen den Sog des Schlafes an, sondern ließ sich noch einmal davon überwältigen.

Als sie schließlich wieder wach wurde, waren ihre Kopfschmerzen noch viel schlimmer. Durch die Lider nahm sie Licht wahr und ein ekliger Gestank stieg ihr bei jedem Atemzug in die Nase.

Sie konnte sich zusammenreißen. Das hatte sie schon oft gemacht. Zu oft. Aber so heftige Schmerzen, dass ihr Schädel schon bei der kleinsten Bewegung dröhnte, fand Tessa in der weiten Landschaft ihrer Erinnerungen nicht.

Noch ein paarmal Luft holen und dann würde sie –

Kalte Erkenntnis packte sie, als ihr in einem Tsunami des Entsetzens drei unterschiedliche Empfindungen bewusst wurden. Sie lag auf der Bettdecke und … Tessa riss die Augen auf und kniff sie dann sofort wieder zusammen, um die Wirkung des Lichts zu minimieren, das zwischen den Gardinen hindurchdrang. Sie drehte sich langsam um und fand das bestätigt, was sie bereits wusste.

Ihre Bluse war nicht mehr da.

Nein! Nein! Das durfte nicht wahr sein! Bitte, Jesus, mach, dass es nicht wahr ist!

Tessa zwang sich, die Augen wieder aufzumachen und ihre Umgebung wahrzunehmen. Allem Anschein nach befand sie sich in einem billigen Motelzimmer. Ihre Bluse war weg, aber ihre restliche Kleidung trug sie noch, auch die Schuhe.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, wie sie dorthin gekommen war, wer bei ihr gewesen war, was sie getan hatten oder wann dieser Jemand zurückkommen würde.

Tessa kämpfte gegen ihre Übelkeit an und setzte sich mit Mühe auf. Dann saß sie mit dem Kopf in den Händen da und atmete flach ein und aus, bis der Angriff des imaginären Eispickels auf ihr Gehirn etwas nachließ.

Obwohl sie noch lange nicht bereit dazu war, hob sie den Kopf und sah sich im Zimmer um. Ihre Handtasche lag auf einem niedrigen Nachttisch. Von ihrer Bluse weit und breit keine Spur.

Was war gestern Nacht geschehen?

Als Nächstes untersuchte Tessa ihren Körper. Keine Prellungen. Keine sichtbaren Spuren einer Verletzung. Keine Schmerzen außer diesen höllischen Kopfschmerzen. Nichts fühlte sich gestaucht oder empfindlich an.

Sie nahm ihre Tasche und öffnete sie in der Erwartung, dass sie leer sein würde.

Handy und Schlüssel waren genau dort, wo Tessa sie hingetan hatte.

Wenn jemand sie entführt hatte, war es die schlimmste Entführung in der Geschichte der Menschheit.

Wenn sie freiwillig hierhergekommen war – nein. Das wäre sie nicht. Oder? Könnte sie aus freien Stücken hier sein – wo auch immer hier war? Das ergab keinen Sinn.

Tessa versuchte, sich zu erinnern. Sie war im Gino’s gewesen. Sie hatte an der Bar gesessen. Und dann? Sie hatte eine vage Erinnerung an etwas, aber als sie nach konkreteren Anhaltspunkten suchte, entglitt sie ihr.

Dies war kein normaler Kater.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche.

Tot.

Wenn sie diesen Raum verließ, würde sie in völlige Ungewissheit treten und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in eine feindliche Umgebung – unbewaffnet und auf das, was dort draußen wartete, in keiner Weise vorbereitet. Und das Ganze ohne Bluse.

Aber wenn sie hierblieb, war völlig offen, wer oder wie viele Leute demnächst durch diese Tür kommen würden.

Tessa konnte auf sich aufpassen. Viel besser als die meisten Frauen. Oder Männer. Aber sie hatte eben keine Waffe. Und auch wenn sie Kampftechniken beherrschte, war es möglich, dass jemand sie überwältigte.

Jedenfalls konnte sie nicht in diesem Raum bleiben. Jeder Schritt jagte einen Stoß durch ihren schmerzenden Schädel, aber Tessa zwang sich, unter dem Bett und in den Schubladen nachzusehen. Ihre Bluse war eindeutig nicht mehr da. Vorsichtig trat sie ans Fenster und spähte an der Gardine vorbei auf einen Parkplatz. Sie sah nichts, was ihr einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort hätte geben können.

Ein uraltes Telefon mit Wählscheibe stand auf der Kommode. Sie schob sich rückwärts zu dem Apparat, die Tür immer im Blick. Dann nahm sie den Hörer ab und lauschte.

Ein Freizeichen. Danke, Jesus. Danke!

Drei Atemzüge lang überlegte sie, was für Optionen sie hatte, und dann wählte sie die Nummer.

Ihr blieb nichts anderes übrig.

Sie wartete darauf, dass er abnahm, wohl wissend, dass durch dieses grandiose Versagen die dunkelsten Seiten ihrer Seele ans Tageslicht gezerrt werden würden.

*

Secret-Service-Agent Zane Thacker warf einen Blick auf das Display seines Smartphones. Es war eine Nummer mit der lokalen Vorwahl, aber keine, die er erkannte. Er ließ die Mailbox anspringen.

Seine Beziehung zu Handys war eine Art Hassliebe, allerdings mit Schwerpunkt auf dem Hass. Trotzdem hatte er sein Telefon 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr bei sich. Dafür hatte er seine Gründe. Die meisten davon waren deprimierend. Und deshalb konnte nicht jeder, der ihn anrief, ihn auch erreichen, obwohl das Handy immer in seiner Nähe war. Vor allem jetzt nicht.

Zane hätte nichts dagegen gehabt, nie im Leben von einem trauernden, rachsüchtigen Attentäter angeschossen zu werden. Aber das Leben hatte es ihm in der Vergangenheit nicht gerade leicht gemacht. Warum also sollte es jetzt damit anfangen?

Der Arzt hatte ihm erlaubt, wieder arbeiten zu gehen, aber er bewegte sich noch immer langsam, seine Reaktionen blieben träge und die Schmerzen weigerten sich einfach zu verschwinden. Und deshalb war er an einem Samstag noch vor acht Uhr morgens wach, angezogen und dabei, seinen zweiten Kaffee zu trinken. Er hatte den Versuch weiterzuschlafen, schon vor Stunden aufgegeben.

Wieder klingelte das Telefon.

Niemand, der ihn kannte, würde so früh anrufen.

Es sei denn, die Person war in Schwierigkeiten.

Zane nahm den Anruf an. „Thacker.“

„Zane“, erklang Tessas zitternde Stimme. „Kannst du mich bitte abholen?“

Er hatte Schlüssel und Waffe schon in der Hand, noch bevor sie den Satz beendet hatte. „Wo bist du?“

„Ich … ich weiß nicht.“

Er schaltete die Alarmanlage aus. „Bist du verletzt?“

„Nein. Aber ich kann nicht weg.“

Zane spürte, wie eine eisige Hand nach ihm griff. „Wo ist dein Handy?“

„Das habe ich hier, aber der Akku ist leer. Ich rufe vom Telefon im Zimmer an.“

„Warte.“ Er war schon beim Wagen und schob sich hinters Steuer seiner neuen Limousine. Wenn er zu schnell machte, würde es wehtun, und das würde ihn aufhalten. Besser, sich so zu bewegen, dass sein Körper nicht protestierte.

Als er auf dem Fahrersitz saß, öffnete er das „Freundefinder“-Programm, das alle Agenten beim amerikanischen Geheimdienst von Raleigh vor ein paar Monaten nur zu gerne installiert hatten. Wenn jemand versucht, dein ganzes Team auszuschalten, ist es ein gewisser Trost zu wissen, dass die anderen dich finden können. Ein Blick verriet Zane, was er längst wusste. Alle waren dort, wo sie sein sollten. Alle außer Tessa.

Tessa Reed war nicht in ihrer eleganten Wohnung. In der Wohnung mit Überwachungskameras in allen Hausfluren und auf dem gut beleuchteten Parkplatz. Der zuletzt angezeigte Standort ihres Handys befand sich in einem Stadtteil, in dem niemand sich aufhalten sollte. Schon gar nicht jemand, der aussah wie Tessa.

„Das letzte GPS-Signal zeigt an, dass du im Motel Tropische Oase bist.“

„Okay. Dann bin ich wahrscheinlich dort. Obwohl nichts hier darauf hinweist. Und niemand, der bei Verstand ist, würde diesen Ort als Oase bezeichnen.“

„Ich bin unterwegs. Wie es aussieht, werde ich zwanzig Minuten bis zu dir brauchen.“

„Okay“, flüsterte Tessa, aber weder Erleichterung noch Gewissheit schwangen in dem Wort mit.

„Gibt es einen speziellen Grund, warum du dort bist?“

„Ich … ich weiß nicht.“

Zane schlug mit der flachen Hand auf sein Lenkrad. Es gab so viele Dinge, die er sagen wollte. Aber er war klug genug, um zu wissen, dass nichts, was er sagte, helfen würde. Tessa hatte ein Problem. Und zwar ein riesiges. Es würde sie alles kosten.

Vielleicht hatte es sie schon viel mehr gekostet, als sie zu zahlen bereit war.

Dieser Gedanke ließ seine Wut verfliegen. Übrig blieb eine kraftvolle Mischung aus schwelendem Frust und herzzerreißendem Mitgefühl. „Gibt es einen Grund, warum du noch dort bist, Tess?“

„Ich habe keine Bluse.“ Ihre Stimme war so leise, dass er sie kaum hören konnte.

„Wie bitte?“

„Meine Bluse ist weg. Ich habe überall im Zimmer geguckt. Unterm Bett. Sie ist nicht da. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich hierhergekommen bin. Ich weiß nicht, wie oder warum. Ich weiß nicht, wo ich bin und was um mich herum ist.“ Ihre Worte hatten einen panischen Unterton, der sofort von Zanes Ohr in seinen Fuß wanderte. Er trat das Gaspedal durch.

Zane umklammerte das Lenkrad fester. Bitte hilf mir, Jesus. „Tess, ich frage noch mal: Bist du verletzt? Hat jemand dir was getan?“

„Nein.“ Kein Zögern und keine Unsicherheit. „Mein Kopf bringt mich um, aber abgesehen von der fehlenden Bluse bin ich angezogen, meine Handtasche ist noch da und niemand hat mich körperlich angegriffen.“

Zane fehlten vor Erleichterung die Worte. Also sprach er über das leichtere Thema. „Deine Handtasche hast du noch? Du bist nicht ausgeraubt worden?“

„Nein. Aber ich habe kein Bargeld. Überhaupt kein Portemonnaie. Das habe ich zu Hause gelassen.“

Das alles ergab keinen Sinn. „Tessa, du musst versuchen, dich zu erinnern. Gestern Abend. Wo warst du? Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?“

„Ich bin was trinken gegangen.“

„Ja. Das war mir klar.“ Aber so was von.

„Bei Gino.“ Gino’s war eine relativ neue Bar in der Nähe von Raleigh. Dort ging ein gehobenes Publikum ein und aus. Es war ein Ort, an den Tessa hervorragend passte. Ein Ort, an dem eine Frau davon ausging, dass sie ein Glas Wein trinken konnte, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass jemand etwas in ihr Getränk tat.

Jedenfalls dachten die Leute das.

„Erzähl mir, woran du dich erinnerst, von dem Augenblick an, als du die Bar betreten hast, bis zu dem Moment gerade, als du mich angerufen hast.“ Das tat sie. Es dauerte nicht lang.

„Hast du dich im Zimmer umgesehen, ob die Person, mit der du dort warst, etwas zurückgelassen hat?“

„Nein, eigentlich nicht. Ich habe meine Bluse gesucht, aber als mir klar wurde, dass ich nicht einfach gehen kann, habe ich dich angerufen. Ich habe kein Geld und mein Handy funktioniert nicht, also konnte ich mir kein Taxi nehmen. Und selbst wenn, hätte ich keine Bluse gehabt. Vermutlich hätte ich mir ein Laken oder Handtuch überwerfen können, aber ich hatte ja kein Geld und kein Handy. Es schien mir kein guter Zeitpunkt, um draußen rumzulaufen, an irgendwelche Türen zu klopfen und fremde Leute um Hilfe zu bitten.“

„Das sehe ich auch so. Während du auf mich wartest, musst du im Zimmer nach irgendwelchen Hinweisen suchen, die uns verraten können, was geschehen ist.“

„Mach ich, aber dieses Telefon ist am Tisch festgeschraubt. Das Kabel ist keine 2 Meter lang. Dann muss ich auflegen.“

„Nein! Leg stattdessen den Hörer auf den Tisch. Und sag immer mal wieder was, damit ich dich hören kann.“

Tessa folgte seinen Anweisungen. Er hörte, wie sie Schubladen aufzog und etwas zurückzog, das wie ein Duschvorhang klang. Zwei Minuten später war sie wieder am Apparat. „Ich habe einen Manschettenknopf gefunden.“

„Wo war der?“

„Unterm Bett.“

„Irgendwas Besonderes daran?“

„Ich bin noch ziemlich benommen, aber ich glaube, es ist ein Bild von Janus.“

Zane hatte keine Ahnung, wer oder was Janus war. Und es war ihm im Moment auch völlig egal. „Kommt das Ding dir bekannt vor? Weißt du, ob du es vorher schon mal gesehen hast?“

Tessas Schweigen war wie ein Stich in sein Herz. „Nein. Zane … ich … ich kann nicht …“

„Ich bin gleich da. Kopf hoch.“

Als er schließlich auf den Parkplatz des Motels fuhr, bebte Zane vor Wut und Angst und dem Verlangen, eigenhändig Gerechtigkeit zu üben. Er stellte sich nicht in eine Parkbucht und ließ den Motor laufen, während er das Gebäude musterte. „Alle Zimmer sind ebenerdig. Mach nicht die Tür auf, sondern beweg die Gardine, damit ich weiß, in welchem Zimmer du bist.“ Er musste ihr nicht sagen, dass dies kein Etablissement war, in dem die Eigentümer zu schätzen wussten, wenn ein Polizeibeamter an ihre Tür klopfte. Also musste er sicher sein, dass er vor dem richtigen Zimmer stand, damit die Lage nicht eskalierte. Oder nicht noch mehr eskalierte.

Zane suchte die Fenster rechts und links von ihm ab. Nichts. Er fuhr ein Stück weiter, bis er ein weiteres Gebäude sah. „Beweg noch mal den Vorhang.“

Diesmal sah er die Bewegung.

„Okay, ich hab’s gesehen. Jetzt lege ich auf. Mach die Tür erst auf, wenn ich klopfe.“ Er stellte den Wagen ab und öffnete den Kofferraum. Dreißig Sekunden später ging er zu dem Motelzimmer, ein T-Shirt aus seinem Klamottenvorrat, den er immer im Wagen hatte, in einer Hand, während die andere auf der Waffe an seiner Taille lag. Er trat zu der Tür und klopfte. „Tess? Mach die Tür auf.“

„Em. Zane. Ich –“

„Schließ auf und geh dann ins Bad. Ich gebe dir das T-Shirt, wenn ich drin bin.“

„Okay.“

Zane wartete zehn Sekunden und öffnete dann die Tür, bevor er mehrere Wörter unterdrückte, die er seit zehn Jahren nicht mehr benutzte. Das Zimmer war ein verdrecktes Loch. Der Teppich war bestimmt so mit Bakterien verseucht, dass ihm sogar seine Schuhsohlen zu schade dafür waren. Tessa hatte Hand und Unterarm zur Badezimmertür herausgestreckt. Er drückte ihr das T-Shirt in die Hand. „Wir sollten die Poliz–“

„Nein! Zane! Bitte!“ Tessa kam aus dem Bad. „Ich bin sicher, dass nichts passiert ist.“

„Nichts passiert?! Du bist ohne deine Bluse in einem dreckigen Hotelzimmer aufgewacht!“

Tessa machte einen Schritt zurück. „Bitte.“

Er sollte die Polizei anrufen. Damit sie Fingerabdrücke sammelten. Irgendwas. Aber Tessas Situation war prekär. Sie war in Schwierigkeiten. Ernsthaften Schwierigkeiten. Und sie hatte ihn angerufen. Er konnte ein Beamter sein oder ein Freund. Aber wenn er darauf bestand, die Polizei einzuschalten, würde sie ihn das nächste Mal nicht anrufen.

Und wenn sie nicht bald etwas unternahm, würde es ein nächstes Mal geben.

„Gehen wir.“ Tessa folgte ihm zu seinem Auto und sie sprachen erst, als sie wieder in einem besseren Teil der Stadt angekommen waren.

Zane bog auf einen Parkplatz, der sich allmählich mit Leuten füllte, die ihre samstäglichen Einkäufe erledigen wollten. Er stellte den Motor aus und wandte sich Tessa zu. Er konnte einfach nicht anders, als direkt zu sein. „Das hätte dich das Leben kosten können.“

„Ich weiß.“ Eine Träne. Nur eine. Aber die brach ihm das Herz.

Tessas ganzer Kampfgeist war erloschen. Unter anderen Umständen wäre er wütend gewesen und hätte alles in seiner Macht Stehende getan, um ihr zu helfen, damit sie wieder die Oberhand bekam. Aber in diesem Augenblick hoffte und betete er nur, dass sie für das offen sein würde, was er sagen musste. „Du musst einen Entzug machen.“

Die Zeit stand still, während Zane auf ihre Antwort wartete.

„Ja. Stimmt. Ich brauche Hilfe.“

2

5 MONATE SPÄTER

Zane stapfte zu Tessas Wagen. Der Abend hatte super begonnen und war dann in eine totale Katastrophe ausgeartet. Seine Beziehung zu Tessa hatte sich inzwischen so sehr verschlechtert, dass sie nicht einmal mit ihren Freunden essen gehen und dabei höflich bleiben konnten. Manchmal lief es gut. Und am nächsten Tag konnte es sein, dass sie sich nicht mal im selben Raum aufhalten konnten, ohne dass es knisterte. Und zwar nicht im positiven Sinne. Er wusste nicht, was mit ihr los war, aber er war diese Achterbahn leid.

Er trat zu ihrem Wagen. Sie funkelte ihn durchs Fenster an. Als er sprach, war seine Stimme ruhig, aber so laut, dass sie ihn hören konnte. „Wir müssen reden.“

Die Scheibe wurde heruntergefahren. „Stimmt. Aber nicht hier.“ Der Zorn, den sie ausstrahlte, war wie eine Flut, die ihn mitzureißen drohte.

„Naturlehrpfad?“

„Gut.“

Zanes bester Freund und Agentenkollege wohnte in einem netten Viertel, und was dort als Naturlehrpfad angepriesen wurde, war kaum mehr als ein gewöhnlicher Wanderweg. Aber er war flach und um diese späte Uhrzeit wahrscheinlich menschenleer.

Tessa fuhr los. Zane lief hinein und sah in vier besorgte Gesichter. Luke und seine Verlobte, FBI Special Agent Faith Malone, saßen auf einer Seite des Wohnzimmers. Gil Dixon, ein weiterer Secret-Service-Agent, und seine Freundin Ivy Collins kuschelten in einem großen Sessel auf der anderen Seite.

„Ist sie in Ordnung?“ Faith gelang es, die Frage zu stellen, ohne jemandem Vorwürfe deswegen zu machen, wie der gemeinsame Abend geendet hatte. Nämlich damit, dass Tessa aufgestanden und förmlich aus dem Haus gerannt war, nachdem Zane ihr eine einfache Frage gestellt hatte.

„Ich weiß nicht, was sie für ein Problem hat. Aber ich werde es herausfinden.“

„Zane.“ Lukes Stimme klang beunruhigt.

„Was?“, fragte Zane scharf zurück.

„Sei vorsichtig. Was sie betrifft und auch dich selbst. Damit du nichts sagst, was du nicht wieder zurücknehmen kannst.“

„Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“ Zane schnappte sich seinen Schlüsselbund. Luke und er waren eine WG, seit Zanes Haus im vergangenen Frühjahr niedergebrannt war. Meistens klappte es sehr gut. Im Moment hätte Zane alles für sein eigenes Reich gegeben. „Bis später.“

Er stieg in sein Auto und fuhr langsam. Hier wohnten Menschen und Zane hatte nicht vor, in seiner Eile versehentlich das Haustier einer Familie zu überfahren.

Als er auf dem Parkplatz beim Naturverein ankam, sah er, dass Tessa nicht auf ihn gewartet hatte. Er stellte den Wagen ab und ließ sich Zeit dabei, den Weg entlangzugehen. Es dauerte nicht lange, bis er Tessas lange Haare im Wind flattern sah. Ihre braune Haut glänzte im Schein der kleinen Laterne neben der Parkbank, die jemand am Wegrand aufgestellt hatte.

Tessa stand an der Bank und wappnete sich offenbar für das, was gleich kam.

Bitte mach, dass ich es nicht vermassele, Herr. Er wollte freundlich sein, aber was über seine Lippen kam, war eine Kreuzung aus Knurren und Fauchen. „Wir müssen reden.“

Sie streckte das Kinn vor. „Stimmt. Und wenn es für dich okay ist, würde ich gerne anfangen. Ich bin deine nicht gerade subtilen Versuche, mein Leben zu managen, gründlich leid. Dass du mir geholfen hast, meine ersten Schritte als Agentin zu tun, als ich hier neu war, und dass du mich in die Klinik gebracht hast und dass du dich während meiner Abwesenheit um alles gekümmert hast – all das gibt dir nicht das Recht, mein Leben zu kontrollieren.“

Sie holte schnell Luft und sprach weiter. „Ich bin Alkoholikerin, Zane. Ich werde immer Alkoholikerin bleiben. Aber ich bin auf dem Weg der Heilung. Ich bin frei. Ich will nicht wieder der Mensch sein, der ich war, und ich laufe nicht ständig Gefahr, rückfällig zu werden.“

„Das habe ich auch nie –“

„Tu’s nicht. Versuch nicht, dich rauszureden. Ich verstehe das. Wirklich. Deine Mutter hat es nie geschafft, nüchtern zu bleiben, und deswegen war deine Kindheit ein Albtraum. Du magst mich und hast schreckliche Angst, dass ich genauso werden könnte wie sie.“

Da konnte er nicht widersprechen.

„Aber ich bin nicht deine Mutter. Meine Lebenserfahrung und mein Alkoholproblem sind nicht identisch mit ihren. Ich habe gesehen, wohin mein Weg geführt hat, und mein Leben geändert, bevor ich alles verloren hätte. Ich bin nicht vollkommen. Ich bin nicht unfehlbar. Aber ich werde nicht zulassen, dass der Alkohol mir das Leben nimmt, das Gott für mich im Sinn hat. Ich habe so viele Gründe zu leben. So große Hoffnungen. Und ich bin wirklich dankbar dafür, dass du dich eingeschaltet hast und in den vergangenen Monaten an meiner Seite warst. Aber du bist nicht mein Kindermädchen. Du bist nicht mein Gönner. Und wenn du so weitermachst, wirst du nicht mal mehr mein Freund sein.“ Ihre Stimme brach und sie holte zitternd Luft, bevor sie leise weitersprach.

„Kannst du dir vorstellen, wie schwer es für mich ist, dass du mich bei jedem Treffen beobachtest? Jede Entscheidung hinterfragst? Glaubst du wirklich, dass die anderen nicht genau wissen, was du gemeint hast, als du mich gefragt hast, ob ich gleich nach Hause fahre?“

Er wollte die Anschuldigung leugnen, aber die Lüge kam ihm nicht über die Lippen. Er sank auf die Bank und stützte den Kopf in die Hände. Lange sprach keiner von beiden. Dann setzte Tessa sich neben ihn.

„Warum zanken wir uns eigentlich ständig?“ Ihre Worte waren nur ein Flüstern. „Wenn du mich nicht gerade behandelst wie eine Handgranate, deren Zünder halb gezogen ist, bist du einer meiner Lieblingsmenschen auf der ganzen Welt.“

Zane setzte sich auf und drehte sich zu Tessa. „Du bist mein Lieblingsmensch. So oder so.“

Tessa sah ihn mit großen Augen an.

„Und deshalb zanken wir uns ständig.“

„Verstehe ich nicht.“ Tessa hob die Hände. „Wenn wir uns doch mögen, wo ist dann das Problem?“

„Tess.“ Auf seinen Lippen war ihr Name ein frustriertes Stöhnen.

„Es ist meine Schuld, oder? Wegen … was ich getan habe. Vorher.“ Selbst jetzt konnte Tessa sich nicht überwinden, es laut auszusprechen. Zuerst hatte sie die Tatsache, dass sie sich zu Zane hingezogen fühlte, erfolgreich verborgen. Er war ihr zugewiesen worden, um sie in Raleigh einzuarbeiten. Streng genommen war er nicht ihr Vorgesetzter und es wäre nicht gegen die Regeln gewesen, wenn sie zusammengekommen wären, aber Zane hatte ihr nie Anlass gegeben anzunehmen, dass sie für ihn mehr war als eine gute Freundin. Und sie hatte verhindern wollen, dass es peinlich wurde.

Bis er eines Abends bei ihrer Wohnung vorbeigekommen war, um ein paar Unterlagen abzuholen, weil er übers Wochenende daran arbeiten wollte, und sie sich ihm an den Hals geworfen hatte.

„Tessa. Nicht.“ Er war sanft, aber bestimmt gewesen. „Du bist betrunken.“ Als sie nicht lockerließ, bekam seine Stimme einen bitteren Unterton. „Tessa. Im Ernst? Ich habe dir doch von meiner Mutter erzählt. Es spielt keine Rolle, wie attraktiv ich dich finde oder du mich. Das hier“, er zeigte zwischen ihnen hin und her, „wird nie passieren.“

Dann war er gegangen und sie hatten nie darüber gesprochen. Nicht als er sie in die Klinik gefahren hatte, nicht als er sie dort besucht hatte, und auch nicht als er sie am Ende der Therapie von dort abgeholt hatte.

Aber jetzt mussten sie darüber reden.

„Hör zu.“ Sie holte tief Luft, aber bevor sie weitersprechen konnte, nahm Zane ihre Hände.

„So wie ich das sehe, haben wir zwei Möglichkeiten, Tessa. Entweder wir entscheiden uns, höflich zu sein und uns nur im Büro zu sehen, oder wir entscheiden uns dafür, Freunde zu sein. Nur Freunde. Unabhängig von der Anziehungskraft zwischen uns können wir im Moment einfach nur miteinander befreundet sein. Nicht mehr und nicht weniger. Du bist erst seit ein paar Monaten trocken und darauf musst du dich konzentrieren.“

„Mir ist sehr bewusst, was ich tun muss, um mich selbst zu schützen und weiter zu heilen. Du musst mir nicht sagen, wie ich mein Leben führen soll, Zane.“

„Ich weiß.“ Er drückte ihre Hände. „Und es tut mir leid. Du hast ja recht. Ich verstehe, dass ich dich verwirrt und verärgert habe, indem ich so getan habe, als hätte ich ein Recht darauf, dir zu sagen, was du tun und lassen sollst. Dafür bitte ich dich um Verzeihung.“

Tessas Gedanken überschlugen sich und sie holte mehrmals Luft, bevor sie antworten konnte. „Ich verzeihe dir.“

„Danke.“ Zane ließ ihre Hände los und lehnte sich auf der Bank zurück.

„Und was wird jetzt aus uns?“, fragte Tessa.

„Was soll denn deiner Meinung nach aus uns werden?“ Zanes Frage war von einer solchen Zärtlichkeit und Verletzlichkeit, dass Tessa nicht sicher war, wie sie damit umgehen sollte. „Ich bin schließlich derjenige, der sich hier in einen anmaßenden Kontrollfreak verwandelt hat. Ich würde sagen, wie es jetzt weitergeht, ist deine Entscheidung. Aber nur, damit du’s weißt … ich möchte gerne mit dir befreundet sein.“

Tessa spiegelte Zanes Position – den Rücken an die Lehne, die Arme verschränkt. „Glaubst du, wir können Freunde sein?“

Zane antwortete nicht sofort und Tessa war froh, dass er ihre Frage ernst nahm. „Ich bin nicht sicher, aber ich würde es gerne probieren.“

3

HEUTE

„Ich werde den Präsidenten töten.“

Secret-Service-Agentin Tessa Reed las die Drohnachricht – eine von sieben ähnlichen Behauptungen, die der Washingtoner PID, die Abteilung, die für Personenschutz zuständig war, an sie weitergeleitet hatte. Und die sich jetzt zu den neun anderen Nachrichten gesellten, die gestern gekommen waren. Sie stammten allesamt aus den sozialen Medien. Und das Team des Geheimdienstes musste ihnen allen auf den Grund gehen, bevor der Präsident am nächsten Freitag, also in einer Woche, in Raleigh eintraf.

Und Tessa war die Glückliche, die sich darum kümmern durfte.

Sie wusste es durchaus zu würdigen, dass ihr Vorgesetzter, der verantwortliche Agent des Bezirks, Jacob Turner, ihr die Aufgabe übertragen hatte, den Personenschutz für den Präsidenten zu koordinieren. Sie war davon ausgegangen, dass Luke oder Gil diesen Job erhalten würde, da beide besser dafür qualifiziert waren. Oder der neue Kollege, Benjamin North, der in ihrem Team die meiste Erfahrung als Special Agent hatte und für den Schutz des Präsidenten zuständig gewesen war, bevor er im letzten Dezember in ihr Team gewechselt war.

Als das am wenigsten erfahrene Teammitglied hatte Tessa sich darauf eingestellt, dass sie noch mehrere Jahre auf eine solche Gelegenheit würde warten müssen. Aber es war anders gekommen.

„Du bist so weit“, hatte Jacob gesagt, als er sie am Donnerstagnachmittag in sein Büro gerufen hatte. „Wenn du Fragen hast, frag. Sprich mit Benjamin. Du kannst von seiner Erfahrung profitieren. Mach davon Gebrauch.“ Dann grinste Jacob breit. „Und genieß die Tatsache, dass du zur Abwechslung mal Luke und Gil rumkommandieren kannst.“

Das würde sie definitiv tun.

Die Smartwatch an ihrem Handgelenk vibrierte und sie warf einen Blick darauf. Zane Thacker hatte Raleigh vor sieben Monaten verlassen, weil er zum Personenschutz des Präsidenten gewechselt war. Tessa vermisste ihn. Das wusste er. Aber er wusste nicht, wie sehr sie ihn vermisste. Oder warum. Es hatte eine Weile gedauert, bis ihre Beziehung sich zu einer echten Freundschaft entwickelt hatte, aber seitdem war ihre Verbindung immer stabiler geworden und das war Tessa wichtig. Etwas, das sie nicht aufs Spiel setzen würde.

Ich höre, man kann dir gratulieren.

Tessa zog ihr Handy aus der Gesäßtasche und antwortete.

Gratulieren kannst du mir, wenn die Arbeit erledigt ist und der POTUS wieder im Weißen Haus ist.

Leuchtet ein. Dann feiern wir nächsten Samstag.

Ein Kribbeln der Vorfreude lief über ihren Rücken.

Ich vermute, du fährst diesmal mit.

Wann kommst du an?

„Jetzt“, ertönte Zanes tiefe Stimme über ihr.

Sie sprang auf und boxte ihm gegen die Schulter, bevor sie sich von ihm kurz in den Arm nehmen ließ. „Du hättest doch was sagen können!“

„So hat es aber mehr Spaß gemacht.“

Sie blickte an ihm vorbei. „Wo sind denn deine Kollegen?“

„Die habe ich bei Jacob im Büro gelassen. Leslie kümmert sich um sie. Ich wollte zuerst dich sehen.“ Sein Grinsen war die perfekte Mischung aus frechem kleinem Jungen und flirtendem erwachsenem Mann. „Ohne Publikum.“

Tessa konnte sich kaum an ihm sattsehen. Es war mehr, als man von einem Telefonat oder auch von einem Videoanruf erwarten konnte. Zane hatte eine Art dazustehen, die Selbstbewusstsein, Stabilität und Sicherheit ausstrahlte. Wenn jemand dazu geboren war, den Präsidenten zu beschützen, dann Zane Thacker.

Mit seinen knapp 1 Meter 90 und den breiten Schultern hatte er eine Figur, von der Anzugdesigner schwärmten. Seine dunkelblonden Haare hatten einen leichten Rotstich und drohten sich zu locken, sobald sie etwas länger wurden, aber heute waren sie kurz geschnitten. Sein Gesicht war interessant und ausdrucksstark und machte ihn zu einem Mann, der immer attraktiver wurde, je länger man in seiner Nähe war.

Im Laufe der letzten zwei Jahre hatte Tessa sich alles an Zane genau eingeprägt, aber am liebsten mochte sie seine Augen. Sie waren um die Pupillen hellblau mit kleinen weißen Lichtern und wurden zum Rand der Iris hin ganz dunkelblau.

Und wenn er beschloss, Blickkontakt aufzunehmen, so wie er es jetzt tat, war es beinahe unmöglich, sich abzuwenden.

„Ich habe dich vermisst.“

Die Worte waren ein federleichtes Flüstern, aber ihre Wirkung war so, als würde ein Zweitonner gegen ihr Herz prallen. Seit der Hochzeit von Gil und Ivy im Juni hatten sie sich nicht mehr gesehen, aber vor seinem Wechsel nach Washington hatten sie viel Zeit damit verbracht, an ihrer Freundschaft zu arbeiten. Sah so eine Begrüßung unter Freunden nach drei Monaten Trennung aus? Lange Blicke und zu Herzen gehende Worte?

„Zane! Du bist hier! Gut, dich zu sehen, Kumpel!“ Luke kam den Flur heruntergejoggt und zog Zane in eine brüderliche Umarmung. Sie klopften einander mehrmals auf den Rücken, bevor sie sich voneinander lösten. „Ohne dich ist es hier echt nicht dasselbe.“

„Stimmt.“ Gil trat zu ihnen und Zane und er wiederholten die Umarmung-und-Rückenklopf-Prozedur, die Tessa schon lange für einen Teil der männlichen DNA hielt, da sie alle damit vertraut waren. „Im Kühlschrank ist mehr zu essen und niemand läuft beim Telefonieren im Flur hin und her.“

„Ich laufe nicht hin und her.“ Zanes Protest wurde von einem dreifachen „Doch, machst du wohl!“ übertönt. Er wandte sich Tessa zu und tat so, als hätte man ihm einen Stich ins Herz versetzt. „Et tu, Brute?“

„Ich nenne nur die Tatsachen beim Namen.“ Alle lachten und dann verbrachten sie die nächsten Minuten damit, sich gegenseitig auf den aktuellen Stand zu bringen.

Als Tessas Telefon klingelte, nahm sie den Anruf mit einem knappen „Reed“ entgegen.

„Tess, Liebes“, sagte Leslie, ihre Büroleiterin. „Jacob will, dass alle zu einer kurzen Besprechung in den Konferenzraum kommen.“

„Wir sind gleich da, Leslie. Danke.“ Sie legte das Telefon wieder auf die Station und drehte sich zu den drei Männern um, die sie unterstützt hatten, als Tessa beinahe alles zerstört hätte, wofür sie gearbeitet hatte. Sie liebte diese Typen.

Aber sie sollte immer daran denken, dass zwei von ihnen vergeben waren und der dritte, den sie wollte, diese Gefühle nicht erwiderte. Und wenn sie diese Beziehung jetzt vermasselte, würde sie nicht nur seine Freundschaft verlieren. Sie würde beinahe jede wichtige Beziehung in ihrer jetzigen Welt beschädigen.

Tessa war schon lange Einzelkämpferin. Sie konnte nicht mehr zurück. Freundschaft genügte. Musste genügen.

Zane holte tief Luft, als er an Tessas Seite zum Konferenzraum schritt. Der Duft, den er nur mit ihr assoziierte – ein Hauch Zitrus und Blumen mit einer schwachen Zimtnote –, umgab ihn.

Es tat gut, zu Hause zu sein.

Es war eine Qual, zu Hause zu sein.

Er würde sie nicht ablenken. Er würde ein Freund für sie sein. Ihr bester Freund.

Als sie beim Konferenzraum ankamen, blieben Gil, Luke und Zane in einer Mischung aus Ritterlichkeit und Respekt stehen, um Tessa den Vortritt zu lassen, denn sie hatte beides verdient. Und an dem Lächeln, das sie ihnen über die Schulter zuwarf, sahen sie, dass Tessa das zu würdigen wusste.

„Tessa! Komm, ich stelle dir die Jungs vor.“ Die überschwängliche Stimme von Benjamin North drang auf den Gang hinaus.

Die drei Freunde blieben einen Moment vor der Tür stehen. „Wie läuft es mit Benjamin?“, wollte Zane von Luke und Gil wissen.

„Super“, erwiderte Gil und Luke nickte zustimmend. „Er passt gut ins Team und er hat solide Erfahrung, was Ermittlungen und Personenschutz betrifft. Gestern Abend haben Tessa und er noch lange zusammengesessen und sie hat ihn um Rat gefragt, wie sie den Schutz des Präsidenten optimal gewährleisten kann.“

Das überraschte nicht. Tessa bereitete sich auf alles mehr als hundertprozentig vor.

Luke nahm den Faden wieder auf. „Man kann gut mit ihm zusammenarbeiten – er ist nicht steif oder eingebildet, er ist gut drauf, packt an, wenn es was zu tun gibt, auch wenn es eigentlich die Aufgabe jüngerer Agenten ist. Er ist echt ein Geschenk, nachdem wir dich verloren haben. Uns fehlen zwar immer noch ein paar Leute, aber im vergangenen Monat haben wir drei Gespräche geführt und die Bewerber kommen vielleicht zu uns, wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig sind. Wenn, dann wird Benjamin eine große Hilfe sein. Abgesehen von Jacob ist er der einzige Agent hier, der in der dritten Phase ist.“

„Das Team hier ist für die erste Phase ein klasse Standort.“ Zane sah sich im Konferenzraum um und musterte die Männer, die mit ihm aus der Hauptstadt hergekommen waren. Rodríguez war der Agent beim Präsidentenschutz, den er am wenigsten gerne mochte, aber der Mann kannte sich aus und hatte seine Arbeit immer gut gemacht. Carver war ein angenehmer Kollege, meist entspannt, aber ganz engagiert, wenn es nötig war. Er kannte diese Männer, aber außerhalb der Arbeit war er nicht mit ihnen befreundet.

Als er jetzt den Besprechungsraum betrat, wurde ihm wieder bewusst, wie sehr er die Kameradschaft des RAIC-Teams in Raleigh vermisste. „Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich zum RAIC in Raleigh gehe, wollte sie wissen, warum es ‚Reck-Büro‘ heißt. Sie dachte, es hätte was mit Sport zu tun.“

Luke und Gil lachten. „Und Mom wollte wissen, warum wir es ‚Reck‘ aussprechen, obwohl ein i drin ist.“ Gils Mutter war Lehrerin, also wunderte Zane diese Frage nicht im Geringsten.

„Faith findet unsere offizielle Bezeichnung sowieso albern.“ Luke verdrehte die Augen. Die Frau, mit der er seit sechs Monaten verheiratet war, nutzte jede Gelegenheit, um gegen sein Büro zu sticheln. Das FBI und der Geheimdienst waren sich traditionell nicht grün, aber in Raleigh klappte die Zusammenarbeit eigentlich gut. „Ich habe ihr gesagt, dass es schneller geht, ‚RAIC Office‘ zu sagen als ‚Resident Office‘ oder gar ‚Resident Agent in Charge Office‘, aber das hat sie mir nicht abgekauft.“

„Wie schnell könnten die neuen Agenten denn hier anfangen?“, fragte Zane.

„Einer in zwei Monaten, die anderen beiden in einem halben Jahr“, antwortete Gil.

Wenn der Geheimdienst Special Agents einstellte, wurden sie mehrere Monate lang ausgebildet, zuerst in einem Trainingscenter in Georgia und dann in ihrer eigenen Ausbildungsstätte in Virginia.

Wenn sie ihre Ausbildung absolviert hatten, begann für die frischgebackenen Agenten die erste Phase ihrer beruflichen Laufbahn, normalerweise in einem Büro wie dem ihren. In Phase 1 arbeiteten sie eher im Bereich der Ermittlungen in Sachen Wirtschaftskriminalität, vor allem Geldfälscherei, und nicht im zweiten Aufgabenfeld des Dienstes, nämlich den Präsidenten, die Vizepräsidentin und andere hochrangige Würdenträger zu beschützen.

Erst wenn sie drei bis fünf Jahre in Phase 1 verbracht hatten, wurden Agenten für die zweite Phase ihrer Karriere in Betracht gezogen. In Phase 2 übernahmen viele Agenten aktiven Personenschutz, entweder für den aktuellen Präsidenten und Vizepräsidenten oder bei ehemaligen Präsidenten oder Angehörigen, die Personenschutz brauchten. Andere Kollegen arbeiteten im Hintergrund an Ermittlungen, die sich mit Gefahren oder Bedrohungen für den Präsidenten befassten.

Nachdem sie in diesem Bereich fünf Jahre tätig gewesen waren, traten die meisten Agenten in die dritte und letzte Phase ihrer beruflichen Laufbahn ein. In Phase 3 übernahmen sie oft leitende Funktionen und Führungspositionen – so wie ihr eigener RAIC, Special Agent Jacob Turner – oder sie kehrten als erfahrene Ermittler in ein Team zurück, wofür Special Agent Benjamin North sich entschieden hatte.

Raleigh hatte früher drei Agenten in dieser dritten Phase gehabt, aber Jacob war der Einzige, der die Attentate auf ihr Büro vor Kurzem überlebt hatte. Luke war etwa ein Jahr von der zweiten Phase entfernt und bei Gil würde es auch nicht viel länger dauern, also war es entscheidend, neue Agenten anzuheuern, damit das Team stark blieb.

Die neuen Kollegen waren zwar noch unerfahren, aber wenn sie nichts gegen Raleigh einzuwenden hatten, war es für sie eine gute Übung. Nachdem das Team vor anderthalb Jahren innerhalb weniger Wochen drei Agenten verloren hatte, trauten sich nicht viele Agenten, nach Raleigh zu gehen.

Benjamin North war die Ausnahme, aber er kam aus North Carolina und liebte eine Gerichtsmedizinerin hier in der Gegend, deshalb hatte er mehr Grund als die meisten anderen, das Risiko einzugehen.

„Wir haben also immer noch einen schlechten Ruf in D. C.?“ Luke war schon immer gut darin gewesen, Zanes Gedankengänge mitzuverfolgen, selbst wenn er sie nicht laut äußerte.

„Nicht mehr ganz so schlecht. Aber die Leute haben immer noch den Eindruck, dass Raleigh für ein so kleines Team unverhältnismäßig viele spektakuläre Situationen erlebt. Auf die meisten Agenten wird in ihrer Laufbahn nicht ein einziges Mal geschossen.“ Zane vollführte mit einem Finger eine kreisförmige Bewegung, die Luke, Gil und ihn selbst einschloss. „Auf uns alle drei wurde geschossen. Ganz zu schweigen von den Granaten und Bomben.“

Gil fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Und genau deshalb wollten die potenziellen Kollegen wissen, wie sicher wir uns hier fühlen.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Zane lehnte sich an den Türrahmen. „Aber wir haben einen hervorragenden Ruf, was unsere Ermittlungen betrifft. Und seit fast einem Jahr ist nichts Katastrophales mehr passiert.“

„Aber jetzt kommt der Präsident in die Stadt.“ Luke runzelte die Stirn. „Ich hoffe, unsere Glückssträhne ohne Schüsse auf Agenten geht weiter.“

Zane stieß sich vom Türrahmen ab und betrat den Konferenzraum gerade in dem Moment, als Rodríguez sich an Tessa heranmachte.

Luke stieß Zanes Ellbogen an. „Ihn kannst du jedenfalls nicht abknallen.“

Sein Freund las also mal wieder seine Gedanken. „Woher wusstest du, dass ich das am liebsten tun würde?“

„Wenn es um Tess geht, hast du einfach kein Pokerface. Halte deine Gefühle besser in Schach.“

Vielleicht hatte er ja keine Lust mehr, sie in Schach zu halten.

Das Lächeln, mit dem Tessa Rodríguez bedachte, war so unecht, dass selbst ein Zweijähriger nicht darauf hereingefallen wäre. Dann begab sie sich ans entgegengesetzte Ende des Konferenztisches.

Ihr Blick wanderte zu Zane hinüber. Sie riss die Augen auf und runzelte die Stirn – ein Gesichtsausdruck, den Zane kannte und der eine Mischung aus „Was ist denn mit dem Typen los?“ und „Der ist ja ein totaler Widerling“ bedeutete. Dann wandte sie den Blick ab und sah wieder ganz professionell aus.

Zane gab sich keine Mühe, sein Lachen zu verbergen, als er sich einen Platz suchte und darauf wartete, dass die Besprechung begann.

4

Tessa nahm am Kopfende des Konferenztischs Platz und tat so, als würde sie ihre Notizen überfliegen. Die nächsten Augenblicke waren für ihren Erfolg bei diesem Auftrag entscheidend. Sie war mehr als ausreichend qualifiziert dafür, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass diese Männer, jeder Einzelne von ihnen, mehr Erfahrung hatte als sie.

Vater, ich brauche dich. Bitte beruhige meine Nerven. Und meinen Herzschlag. Du musst mir helfen, mich an alles zu erinnern, was ich mir gestern Abend stundenlang eingeprägt habe.

Sie räusperte sich und es wurde still im Raum. Alle Augen waren auf Tessa gerichtet. Nachdem sie den Agenten aus Raleigh Zanes Kollegen von der Vorhut aus Washington, Special Agents Rodríguez und Carver, vorgestellt hatte, schaltete Tessa in den Delegationsmodus.

„Es gibt sechzehn Drohungen, um die wir uns kümmern müssen. Und wir gehen davon aus, dass wir weitere Nachrichten erhalten werden, während die Ankunft des Präsidenten am Freitag näher rückt.“ Sie blickte auf ihren Notizblock. „Special Agent Rodríguez –“

„Ich heiße übrigens Patrick.“

Tessa unterdrückte ein Stöhnen. Bei der kurzen Begegnung vor der Besprechung hatte sie bereits die Erfahrung gemacht, dass der Mann ein Händchen dafür hatte, ganz normale Aussagen wie eine Anmache klingen zu lassen. Er sah gut aus und wusste das auch. Und er sprach mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes, der es gewohnt war, bewundert zu werden, und der davon ausging, dass Tessa ihm ebenfalls zu Füßen liegen würde.

Nicht, dass sie an seinen Fähigkeiten zweifelte. Der Geheimdienst beauftragte keine unfähigen Leute mit dem Schutz des Präsidenten. Aber eine Arroganz umgab Rodríguez wie ein Nebel. Tessa lächelte ihm zu und er strahlte zurück. Wenn er das Lächeln für echt gehalten hat, sollte ich einen Oscar für meine schauspielerische Leistung bekommen.

Sie warf Luke einen kurzen Blick zu. Er akzeptierte sein Schicksal mit einem Augenzwinkern. „Rodríguez und Powell, euch habe ich vier dieser Nachrichten per Mail weitergeleitet. Die Kriminalpolizei hat die dazugehörigen Adressen und alle befinden sich in einem Radius von einer Stunde um den Veranstaltungsort.“

Rodríguez lächelte schmierig. „Ja, Ma’am.“

Lukes Lächeln war echt, warmherzig und, wenn sie sich nicht täuschte, stolz. Auf sie. „Ja, Ma’am.“

„Carver, du und Dixon übernehmt die drei Bedrohungen, die von den Kollegen als am wenigsten ernst zu nehmend eingestuft wurden. Sie stammen dem Anschein nach von drei verschiedenen Einzelpersonen, kommen aber von derselben IP-Adresse, und die Kriminalpolizei hat den Verdacht, dass ein Jugendlicher dahintersteckt. Wahrscheinlich werdet ihr unterhaltsame Gespräche mit den Eltern führen.“

Und genau deshalb hatte sie Gil diesen Auftrag gegeben. Gil war charmant, witzig und unglaublich gut darin, Menschen zum Reden zu bringen. Carver konnte sie noch nicht einschätzen, außer dass er ruhig und aufmerksam war.

„Alles klar, Boss.“ Gils Grinsen war schelmisch, als er sich an Carver wandte. „Das bedeutet nur, dass in unserem Posteingang etwas viel Schlimmeres wartet.“

„Diese Erfahrung habe ich auch gemacht.“ Carver deutete mit dem Kopf auf Tessa. „Was hast du noch für uns?“

„Eine potenzielle Bedrohung, die sich selbstständig machen könnte. Darüber müsst ihr mit den Kripokollegen sprechen. Sie sind noch dabei, Nachforschungen anzustellen, und hoffen, dass sie mehr wissen, wenn ihr mit eurem ersten Auftrag fertig seid.“

Dann wandte Tessa sich an Benjamin. „Bitte denk dran, dass du dich freiwillig gemeldet hast.“

Benjamins tiefe, humorvolle Stimme ertönte von der anderen Seite des Tisches. „Ich nehme mein Wort niemals zurück, Tess. Ich kümmere mich darum.“

„Aber sei dabei vorsichtig.“

„Ja, Ma’am.“

„Was hast du ihm gegeben?“, fragte Luke mit unverhohlener Neugier.

„Drei Damen, deren Drohungen eher“, Benjamin spitzte die Lippen, „persönlicher Natur sind.“

„Drei?“ Als Tessa das bestätigte, fuhr Gil fort: „Das klingt ungewöhnlich.“

„Offenbar haben sie einen Pakt geschlossen und wollen ihn unbedingt in die Tat umsetzen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Missbrauch von gewissen Substanzen im Spiel war, als sie ihre Drohungen geschickt haben. Ich hoffe, mit einem kurzen Besuch können wir sie von der Liste streichen.“

„Wieso hast ausgerechnet du diesen Job bekommen?“ Rodríguez klang verärgert darüber, dass nicht er den Auftrag erhalten hatte. Was war nur mit dem Typen los?

Benjamin sah Rodríguez an, ohne eine Miene zu verziehen. „Ich weiß, dass du nicht darüber sprechen willst, was das letzte Mal passiert ist, als man dir so einen Fall übertragen hat, Patrick.“

Mit einem Schlag war aller Charme von Rodríguez gewichen. „Diese Weiber waren verrückt.“

„Klar doch.“ Benjamins Worte mochten zustimmend sein, seine Miene war es nicht.

Hatte Benjamin sich deshalb freiwillig gemeldet? Hinter seinen Worten lauerte eine Geschichte, die Tessa hören wollte. Aber nicht jetzt.

„Jacob will dich begleiten, Benjamin. Er findet, dass er schon zu lange nicht mehr bei einem Einsatz war.“

„Ich nehme ihn gerne mit.“

„Danke.“ Tessa wandte sich von Benjamin an Zane. „Du und ich werden heute Morgen das Anwesen abgehen und uns anschließend mit den restlichen Drohungen auf der Liste befassen. Insbesondere eine konnte ich keinem anderen Agenten zuteilen.“

Zane ließ den Kopf sinken und tat so, als würde er ihn auf die Tischplatte schlagen. „Tess. Das würdest du nicht tun.“

„Oh doch, das würde ich. Und tue es auch.“

Gil und Luke lachten und Luke klopfte Zane in gespieltem Mitgefühl auf den Rücken.

„Kann uns mal jemand aufklären?“ Rodríguez war es gar nicht recht, nicht Bescheid zu wissen.

„Das ist ein Wiederholungstäter.“ So einen gab es überall. Personen, die immer wieder die Klappe aufrissen, sodass der Geheimdienst sie im Blick behielt, die sich aber kaum als gefährlich herausgestellt hatten. In der Regel suchten sie nur Aufmerksamkeit.

„Er liebt Zane“, fügte Luke hinzu. „Er will mit keinem anderen reden. Als ich vor ein paar Monaten nach ihm gesehen habe, hat er mir eine Fleischkonserve an den Kopf geworfen. Ich habe ihm erklärt, dass Zane jetzt in Washington ist, da war der arme Kerl ganz aufgebracht. Er tat mir richtig leid. Ich habe versprochen, dass ich Zane zu ihm schicke, wenn er hier ist.“

„Der Typ äußert vage Drohungen gegen die Regierung, beliebige Senatoren, Repräsentanten und gelegentlich auch ausländische Staatsoberhäupter. Aber das macht er seit Jahren und bislang hat er noch keine seiner Drohungen in die Tat umgesetzt.“ Gil wandte sich an Tessa. „Ich bin froh, dass du ihn für Zane aufgehoben hast.“

„Das war das Mindeste, was ich tun konnte.“

Zane murmelte etwas Unverständliches, aber der finstere Blick, den er Tessa zuwarf, war halb gespielt. „Nun gut. Aber haben wir auch irgendwelche echten Gefahren in unserem Stapel Nachrichten?“

„Leider ja.“ Sie tippte auf die Akte, die vor ihr auf dem Tisch lag. „Die Abteilung für Kriminalpolizei hat mir heute Morgen ein Update geschickt. Diese Infos stammen nicht aus den sozialen Medien, sondern aus einem Gespräch, das der NSA aufgeschnappt hat. Nach dem, was in der Akte steht, sieht es so aus, als würden manche Leute glauben, wenn der Präsident in kleinerem Rahmen auftritt, könnten sie eher an ihn rankommen. Und deshalb fangen wir mit der Begehung an. Die Eigentümer haben uns Zutritt zu allen Räumlichkeiten gewährt. Um zehn Uhr müssen wir dort sein.“

Zane antwortete mit einer kurzen Kinnbewegung und kritzelte dann etwas auf seinen Notizblock. Wahrscheinlich die Anfänge eines Fragenkatalogs, den er abarbeiten wollte, oder Dinge, die er untersuchen musste, während sie hier waren. Der Mann liebte seine Listen.

Tessa blickte in die Runde. „Bitte haltet mich auf dem Laufenden, was eure Ermittlungen ergeben. Ich gehe davon aus, dass ich noch vor heute Abend weitere Infos für euch habe. Fragen?“

Als niemand etwas fragte, stand sie auf. „Frohes Jagen.“

Eine Stunde und eine Kaffeepause später hielten Zane und Tessa vor dem Anwesen der Carmichaels.

Soweit Zane wusste, bezeichneten die Carmichaels ihr Zuhause nicht als Anwesen. Aber bei dem Haupthaus mit 650 Quadratmetern Grundfläche, einem Gästehaus, dem ursprünglichen Wohnhaus, das jetzt unter Denkmalschutz stand, zwei Swimmingpools, Ställen, einem Golfplatz und Gärten, die von einem Gartenbauer betreut wurden, der früher auf dem Biltmore Estate in Asheville gearbeitet hatte, war leicht nachzuvollziehen, warum die Leute dem Ganzen diese großspurige Bezeichnung verliehen hatten.

„Warst du schon mal hier?“, fragte Zane, als das Tor aufschwang.

„Nein. Du?“

„In meiner ersten Arbeitswoche. Der Präsident war damals noch Vizepräsident. Es war keine Benefizveranstaltung und kaum jemand wusste, dass er hier war. Er war zu einem Abendessen erschienen und ist dann wieder abgereist. Seine Leibwächter haben sich um das meiste gekümmert. Mein Job war, draußen vor dem Eingang Wache zu stehen.“

„Deine Lieblingsbeschäftigung.“

„So schlimm war es gar nicht. Ich wusste, dass ich nicht genug Ahnung hatte, um irgendwo anders eingesetzt zu werden. Damals habe ich nur versucht, Augen und Ohren offen zu halten und den Mund zu.“

Tessa runzelte die Stirn und sah aus, als wäre sie verwirrt. „Tut mir leid, aber das musst du mir beweisen. Hat jemand dich dabei gefilmt?“

„Beim Wachestehen?“

„Nein. Beim Mundhalten.“

Okay, dazu hatte er selbst die Steilvorlage geliefert. Tessa warf ihm ein freches Grinsen zu, aber er konnte nicht antworten, weil sich in diesem Moment die Tür öffnete.

„Agents Reed und Thacker, vermute ich?“ Der Mann, der sie hereinwinkte, trug einen Anzug, eine Fliege und Schuhe, die so glänzten, dass jeder General vor Neid erblasst wäre. „Mr Carmichael telefoniert gerade, aber er bittet Sie um Nachsicht. Es wird höchstens noch zehn Minuten dauern, bis er kommt. Er möchte Ihnen das Anwesen gerne persönlich zeigen.“

„Natürlich.“ Tessa neigte den Kopf ein wenig in einer Geste, die Respekt bezeugte, aber ihre eigene Autorität nicht untergrub. Es war etwas, das sie gelernt hatte, bevor sie zum Geheimdienst gekommen war, und es hatte ihr gute Dienste geleistet.

„Mein Name ist Graham. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, während Sie warten? Kaffee? Tee?“

„Nein, aber vielen Dank.“

„Bitte setzen Sie sich, wenn Sie wollen.“ Graham ließ sie in einem Raum zurück, der die Größe einer kleinen Turnhalle hatte.

„Hier drin könnte man Basketball spielen.“ Tessas Lippen zuckten.

„Das habe ich auch gerade gedacht.“

„Ich weiß.“

„Wie konntest du das wissen?“

„Du hast die Angewohnheit, Räume nach Sportkriterien zu beurteilen. Ein Raum hat die Größe eines Racquetballplatzes, eines Tennisplatzes oder eines Basketballspielfelds. Plätze im Freien haben die Größe eines Baseball- oder Fußballfeldes.“

„Mache ich das?“

Ihr Lachen, leise und tief, enthielt weder Kritik noch Sarkasmus. Nichts außer reiner Belustigung. „Das macht ihr alle. Luke, Gil. Sogar Jacob.“

„Hm.“ Das war ihm nie bewusst gewesen.

„Obwohl es ein Verbrechen wäre, in diesem Raum Basketball zu spielen. Dieser Ort verlangt nach leiser Musik, dem Klingeln von Kristall und gepflegter Unterhaltung.“

Zane versuchte, den Raum mit Tessas Augen zu sehen. Es war ein Ort, der für den Empfang von Gästen ausgelegt war. Sessel und Sofas standen in kleinen Gruppen, sodass einige Personen sitzen und sich unterhalten konnten, während die anderen Gäste genügend Platz hatten zu laufen. „Das verstehe ich. Die Einrichtung ist förmlich, aber bequem. Nicht so elegant, dass man Angst hat, auf den Möbeln Platz zu nehmen. Aber er strahlt auch nicht gerade Karaoke-Feeling aus.“

Tessa schritt durch den Raum und blieb gelegentlich stehen, um Blumenarrangements oder Kunstwerke zu betrachten. „Das letzte Mal, als du in der Nähe einer Karaoke-Maschine warst, dachte ich, ich müsste diese Blondine von deinem Schoß loseisen.“

„Wenn ich mich erinnere, hast du gedroht, ihre Hände zu entfernen … an den Handgelenken.“ Das würde Zane niemals vergessen. Es war typisch Tessa. „Die arme Frau hat wahrscheinlich immer noch Albträume.“

„Geschieht ihr recht.“ Tessa gab keinen Fingerbreit nach. „Wenn jemand Nein sagt – egal, ob Mann oder Frau –, dann heißt das Nein. Und du warst viel zu höflich, um ihr das klarzumachen. Ich“, Tessa fuhr mit einer Hand über einen marmornen Beistelltisch und ihre Fingernägel klackerten rhythmisch darauf, während sie weiterging, „habe nur dafür gesorgt, dass sie die Botschaft versteht.“

„Indem du ihr Verstümmelung angedroht hast.“

„Dazu stehe ich.“ Tessa musterte ein Landschaftsgemälde an der Wand.

Zane lachte. „Danke fürs Beschützen. Du bist einfach die Beste.“

„Das sagtest du bereits.“ Ihr beiläufiger Tonfall bildete einen strengen Kontrast zu ihrem starren Rückgrat.

„Tess.“

„Was?“

Sie betrachtete weiter die Kunst an den Wänden, also gesellte er sich zu ihr. „Was ist an diesem Gemälde so interessant?“

„Es ist ein Druck.“

„Okay.“

„Kein Gemälde.“

„Macht es das interessant?“

„Vielleicht. All die anderen sind Gemälde. Öl. Das hier ist der einzige Druck. Und ich kenne dieses Bild. Es ist sehr schön, aber einen Druck davon auszustellen, bringt kein Ansehen. Die anderen Gemälde an diesen Wänden sind von einem Künstler, den ich nicht kenne. Möglicherweise jemand aus der Gegend hier oder jemand, den die Eigentümer des Hauses unterstützen. Die anderen Werke sind wunderbar und passen perfekt in diesen Raum. Das hier ist okay. Es fällt nicht weiter auf. Aber aus irgendeinem Grund fühlt es sich unpassend an.“

Tessa schüttelte den Kopf, als wollte sie ihre Gedanken verjagen, und lächelte Zane reumütig zu. „Wahrscheinlich hat es gar keine Bedeutung.“

„Das sehe ich anders. Es ist von Bedeutung. Vielleicht hat es nichts mit unserer Arbeit hier zu tun, aber es ist ein Detail, das ich niemals entdeckt hätte, selbst wenn du mich eine Woche lang hier drin eingesperrt hättest.“

Tessas Beobachtungsgabe war unter den Kollegen in Raleigh berühmt. Und wenn der Präsident hier gewesen und wieder abgereist war, würden ihre Fähigkeiten auch in D. C. gut bekannt sein.

Zane wandte sich zur Tür um, als ein schwaches Geräusch von Schritten auf dem hölzernen Boden immer lauter wurde. Tessa drehte sich ebenfalls um. Marshall Carmichael kam in den Raum geschritten, die Hand in Tessas Richtung ausgestreckt. „Special Agent Reed.“ Er gab ihr die Hand und wandte sich dann an Zane. „Special Agent Thacker. Ich bitte um Entschuldigung.“

„Wir haben diesen herrlichen Raum genossen, Mr Carmichael.“ Tessa zeigte auf ein Gemälde an der gegenüberliegenden Wand. „Würden Sie mir etwas über den Künstler erzählen?“

Es konnte eine optische Täuschung oder Einbildung gewesen sein, aber Zane hatte das Gefühl, dass Carmichael einen Moment zögerte. „Ein Freund. Einer aus unserer Burschenschaft. Wir haben ihn Toto genannt. Er hatte eine besondere Gabe, die Schönheit unseres Bundesstaates wiederzugeben.“

Carmichael zeigte auf den Druck, der Tessa aufgefallen war. „Sein bestes Werk ist meiner Meinung nach das dort. Aber es wurde von einem Besucher beschädigt und wird gerade restauriert. Ich hoffe, es wird bis Freitag wieder an seinem angestammten Platz hängen. Der Präsident war in derselben Studentenverbindung und kennt den Künstler. Es ist eines der letzten Gemälde, die Toto vor seinem Tod fertiggestellt hat. Ich kann es nicht richtig erklären, aber ich vermisse es.“ Er klatschte in die Hände. „Jetzt aber genug der nostalgischen Erinnerungen eines alten Mannes an vergangene Zeiten. Ich habe Sie lange genug warten lassen. Wo würden Sie gerne anfangen?“

Sie begannen ihren Rundgang im Keller, gingen von dort ins Erdgeschoss zurück, besichtigten dann den ersten und zweiten Stock und zum Schluss den Dachboden, bevor sie hinausgingen, um die Außenanlagen in Augenschein zu nehmen. Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie damit, die Sicherheitsvorkehrungen für die Veranstaltung durchzusprechen.

Jeder, der einen amtierenden Präsidenten als Gast in seinem Haus begrüßte, musste sich darauf einstellen, dass er nicht mehr viel Privatsphäre hatte. Aber wenn der Präsident mit fünfzig seiner treusten – und großzügigsten – Unterstützern samt Partnern kam? Dann war es die reinste Invasion.

Zane und Tessa standen auf der großen Veranda vor dem Haus und besprachen das Prozedere für den Besuch des Präsidenten, als ein Übertragungswagen die kreisförmige Auffahrt heraufkam. Zane erkannte den Journalisten, der aus dem Wagen stieg. Hank Littlefield. Sein Kameramann stieß gerade noch die Wagentür zu, bevor er die Kamera auf die Schulter nahm und zu filmen begann.

Tessa wandte dem Reporter den Rücken zu und Zane tat es ihr gleich.

„Special Agent Reed? Tessa? Bist du das?“, rief Littlefield mit lauter Stimme.

Tessa? Seit wann kannte Littlefield Tess?

Tessa stieß einen Laut aus, der verdächtig nach einem Knurren klang, bevor sie sich umdrehte. „Hank. Wie geht’s?“

5

Hätte der Erdboden sich aufgetan und sie verschlungen, wäre das ein Segen gewesen.

Stattdessen setzte Tessa ein Lächeln auf, von dem sie nur hoffen konnte, dass Hank es nicht falsch verstand. Leider fürchtete sie nach ihrer – zugegeben begrenzten Erfahrung –, dass Hank alles falsch verstand.

Jetzt kam er auf sie zugelaufen. Als er keine 2 Meter mehr von ihnen entfernt war, breitete er die Arme aus und schenkte Tessa sein kameratauglichstes Lächeln. Nein. Er konnte unmöglich vorhaben, sie zu umarmen. Oder?

Doch. Tat er.

Sie streckte die rechte Hand aus, um seinen Plan, so gut es ging, zu durchkreuzen, aber Hank kam gar nicht bis zu ihr.

Zane trat zwischen Tessa und ihn, ebenfalls die Hand ausgestreckt. „Hank Littlefield, richtig? Freut mich.“

Hank blieb stehen. Es war zum Schießen, wie er vor den Kopf gestoßen war und zugleich versuchte, diese Tatsache zu verbergen. Er gab Zane die Hand, ließ Tessa aber nicht aus den Augen. „Tess –“

„Wir halten viel von Pressefreiheit“, sagte Zane zu dem Kameramann, „aber wir möchten nicht in Ihrem Beitrag erscheinen. Könnten Sie die Kamera bitte kurz ausschalten?“ Der Kameramann gehorchte. „Danke, Mann. Haben Sie einen Namen?“