Nacht der Wahrheit - Lynn H. Blackburn - E-Book

Nacht der Wahrheit E-Book

Lynn H. Blackburn

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Beschreibung

Secret-Service-Agent Luke Powell konnte gerade einem Anschlag ergehen - drei seiner Kollegen leider nicht. Inmitten von Trauer um die Kollegen und Dankbarkeit über sein eigenes Leben, ermittelt er an der Seite von FBI-Agentin Faith Malone. Schon öfter haben die beiden Agenten behördenübergreifend zusammengearbeitet, doch erst dieser Fall zeigt Faith, wie viel ihr Luke bedeutet. Mit vereinten Kräften von Secret Service und FBI versuchen sie nun, den Attentäter zur Strecke bringen. Doch wie geht man vor, wenn man nicht weiß, wer Freund ist und wer Feind?

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LYNN H. BLACKBURN

Nacht derWahrheit

Deutsch von Dorothee Dziewas

Copyright © 2021 by Lynn H. Blackburn

Originally published in English under the title Unknown Threat by Revell, a divison of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.

All rights reserved.

Der Bibelvers aus Psalm 19,15 folgt dem Wortlaut der Übersetzung

Hoffnung für alle®, © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblia Inc.®

Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.

© 2022 Brunnen Verlag GmbH Gießen

Redaktion: Alexandra Eryiğit-Klos

Umschlagfoto: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-3666-3

ISBN E-Book 978-3-7655-7664-5

www.brunnen-verlag.de

Für meine Schwester Jennifer – Hüterin jahrzehntealter Erinnerungen, Meisterin der Streiche, weltbeste Tante und begnadetste Geschichtenerzählerin in der Familie. Deinetwegen hat mein Leben vom ersten Tag an Spaß gemacht und ich danke Gott jeden Tag dafür, dass er dich als meine lebenslange Spielkameradin, Befürworterin und Freundin auserkoren hat.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Dank

1

Luke Powell fühlte ein Dröhnen im Kopf, während er seine Limousine auf dem leeren Parkplatz abstellte und in die Baumgruppe daneben starrte. Die Dunkelheit fing gerade an, in Richtung Morgendämmerung zu verblassen, und der Special Agent des amerikanischen Geheimdienstes konnte den Ausgangspunkt des Weges kaum noch erkennen. Früher war er ein Montagsmensch gewesen. Nichts war befriedigender, als die Woche in Angriff zu nehmen und ihr zu zeigen, wer das Sagen hatte, noch bevor die Sonne die Chance hatte, über den Horizont zu schauen.

Inzwischen liebte er den Montagmorgen nicht mehr und er joggte auch nicht gerne allein. Wo war Zane? Wenn er nicht in den nächsten drei Minuten erschien …

Scheinwerfer durchbohrten die frühmorgendliche Luft.

Endlich.

Luke stieg aus dem Wagen und ging davor auf und ab, bis Zane sich zu ihm gesellte. Secret-Service-Special-Agent Zane Thacker sagte nichts, sondern fiel mit Luke in Gleichschritt, als sie auf den Weg zugingen.

Bis vor elf Wochen waren sie noch ein Trio gewesen. Wenn nicht Personenschutz oder dringende Fälle es verhinderten, hatten Luke, Zane und Thad sich jeden Montagmorgen hier getroffen, um die fünf Kilometer um den See herumzulaufen. Thad hatte damit begonnen und zuerst Zane und dann Luke dazu eingeladen, als sie ihre Jobs in Raleigh angetreten hatten. Hier war Thad am liebsten gejoggt und seit seinem Tod im Februar hatten Zane und Luke sich weiter jeden Montag hier getroffen. Es war, als würden sie auf das Andenken ihres Freundes und Mentors spucken, wenn sie nicht diese Runde drehten. Es war erbärmlich, aber im Moment war es alles, was ihnen blieb.

Sie konnten Thads Witwe Rose noch immer nicht erklären, warum ihre Zwillinge ihren achten Geburtstag am Wochenende mit den Freunden ihres Daddys gefeiert hatten und nicht mit ihrem Daddy selbst. Sie konnten Rose alles über den Sprengstoff sagen, der Thads Wagen in Stücke gerissen hatte. Sie konnten ihr sagen, dass eine Frau asiatischer Herkunft zwischen 29 und 35 Jahren mit ihm im Wagen gewesen war. Aber niemand konnte Rose sagen, wer diese Frau war oder warum Thad mit ihr zu Abend gegessen hatte – und das Schlimmste war, dass ihr niemand erklären konnte, wer die beiden getötet hatte.

Tolle Freunde waren sie.

„Warte mal, Kumpel.“ Zane blieb stehen und setzte den Fuß auf eine Bank, die in der Nähe stand. Sie hatten die erste Hälfte des Weges hinter sich und Luke blickte auf den See hinaus, während Zane seinen Schuh neu schnürte.

„Diese Party hätte mich beinahe umgebracht.“ Zane stellte den Fuß wieder auf den Boden und sie beschleunigten, um Seite an Seite weiterzulaufen. „Ich hatte keine Ahnung, dass Achtjährige so gemein sein können.“

„Ich hätte mein ganzes Leben ohne diese Erfahrung verbringen können.“ Luke liebte Betsy und Bobby Baker, als wären sie sein Neffe und seine Nichte, aber ihr Kindergeburtstag war eine Qual gewesen. Den halben Nachmittag hatte Luke damit verbracht, mit Betsy Fangen zu spielen, die andere Hälfte hatte Bobby ihn beim Basketball geschlagen. Den Zwillingen hatte es Spaß gemacht. Aber Luke war in keiner Weise auf das Chaos, den Lärmpegel und die Massen an Süßigkeiten vorbereitet gewesen.

„Die Zwillinge für sich sind klasse, aber ich finde, nächstes Jahr sollten wir Rose fragen, ob wir etwas Ruhigeres machen können“, schlug Zane vor. „Anstatt zu einem Indoorspielplatz zu gehen, könnten wir sie ins Kino einladen oder etwas in der Art.“

„Nächstes Jahr sind sie nicht hier.“ Luke hatte versucht, nicht emotional zu klingen, aber Zanes schnelles „Was?“ verriet ihm, dass es ihm nicht gelungen war.

„Das hat sie mir gestern nach der Feier erzählt. Sie zieht im Juni nach Texas. Ihre Eltern haben eine große Ranch und sie machen ein kleines Haus auf dem Gelände fertig, in dem Rose und die Kinder wohnen können. Die Zwillinge bekommen ihre eigenen Pferde und sie werden jede Menge Cousins und Onkel und Tanten und Großeltern um sich herum haben …“

Luke gab den Versuch auf, es wie eine tolle Idee klingen zu lassen.

„Aber was ist mit Thads Eltern?“

Thads Eltern lebten in Virginia, nur zwei Stunden entfernt. Der Umzug würde ein Schock für sie sein. Aber Luke hätte seine nächsten fünf Becher Kaffee darauf verwettet, dass Zane sie nur als Vorwand gebrauchte, um nicht zu sagen, was er eigentlich sagen wollte. Und was ist mit uns?

„Rose hat nicht viel über ihre Schwiegereltern gesagt, außer dass die beiden ihre Entscheidung mittragen, und sie hofft, dass wir es auch tun.“ Als bliebe ihnen etwas anderes übrig.

„Geht es dabei um die Frau im Auto?“ Zane spuckte die Worte förmlich aus.

„Thad hat seine Frau und seine Kinder geliebt und er hatte kein Verhältnis.“ Luke wiederholte den Satz, der sein persönliches Mantra geworden war. „Es gibt eine Erklärung dafür.“

Zane hob resigniert die Hände. „Mann, mich musst du nicht überzeugen. Ich will nur wissen, ob wir Rose davon überzeugen müssen.“

Luke sagte ein paar Hundert Meter lang gar nichts, während sie weiter um den See herumliefen. Der Aprilmorgen war kalt und klar und ein Hauch von etwas Blumigem lag in der Luft. Wie es aussah, würde es in North Carolina ein herrlicher Tag werden. Vielleicht würde er Betsy und Bobby fragen, ob sie am Nachmittag zum Angeln mitkommen wollten. Er hatte den beiden versprochen, dass er sie irgendwann mitnehmen würde. Damals hatte er gedacht, er hätte alle Zeit der Welt. Nicht gerade mal sechs Wochen.

Er konnte Rose keinen Vorwurf machen. Das würde er niemals tun. Aber es tat trotzdem weh. Hatte Zane recht? Mussten sie versuchen, Rose zu überzeugen? „Ich glaube nicht, dass es etwas mit der Frau im Auto zu tun hat. Jedenfalls nicht direkt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Thad der Untreue verdächtigt. Ich glaube eher, dass sie uns im Verdacht hat, ihr nicht die Wahrheit zu sagen.“

„Wir wissen genauso wenig über die Wahrheit wie sie.“ Zane schlug nach einem Zweig. „Thad hat irgendwas im Schilde geführt. Ich glaube nicht eine Sekunde, dass es etwas Ungehöriges war, aber was auch immer er vorhatte, es hat ihn das Leben gekostet.“

Die restliche Runde legten sie schweigend zurück. Was sollten sie noch sagen außer dem, was sie schon eine Million Mal durchgekaut hatten?

Als sie aus dem Wald traten und sich dem Parkplatz näherten, wurde Luke langsamer und Zane fiel ebenfalls in eine ruhige Gangart.

Sie waren nur noch 5 Meter von Zanes Wagen entfernt – dem schicksten und jüngsten Modell, das der Secret Service zu bieten hatte –, als ein Schuss die Luft zerriss und Zane zu Boden ging.

Luke ließ sich neben ihm fallen. Noch ein Schuss ertönte und vom Boden spritzte Dreck in Lukes Gesicht. Er lauschte angestrengt, ob er etwas hören konnte – irgendetwas –, woraus er auf den Standort des Schützen schließen konnte, aber seine Ohren pochten von dem Geräusch seines eigenen Herzschlags und sonst hörte er nichts.

„Zane?“, zischte Luke.

Zane rührte sich neben ihm.

Erleichterung strömte durch Lukes Adern. „Hast du was abgekriegt?“

„Der Arm. Und du?“

„Mich hat er nicht getroffen. Kannst du dich bewegen?“

„Bleibt mir was anderes übrig?“

Die beiden Männer krochen zu Zanes Wagen, wo sie relativ sicher sein würden. Zwei weitere Schüsse landeten auf dem Weg vor ihnen und der markante Geruch von verbranntem Schießpulver stieg im Morgendunst auf. Nach einem dritten Schuss brannte Lukes Bein, als hätte jemand ihn mit einem Brandzeichen versehen.

Aber nach dem nächsten Schuss sank Zane auf die Brust und rührte sich nicht mehr. Luke gab jeden Versuch, am Boden zu bleiben, auf und packte seinen Kollegen. Dann schleifte er ihn hinter seinen Wagen und eine Blutspur markierte ihren Weg. Wieder ertönte ein Schuss und die Spitze von Zanes Laufschuh löste sich vor Lukes Augen in Luft auf.

Luke überzeugte sich davon, dass Zane von dem Fahrzeug ganz verdeckt wurde, bevor er seinen Freund vorsichtig auf den Boden legte. „Halte durch, Kumpel. Nicht aufgeben!“

Luke drehte sein Handgelenk, tippte auf seine Uhr, bis das Tastenfeld des Telefons erschien, und wählte den Notruf.

Zane murmelte etwas, das Luke nicht verstand. Während er darauf wartete, dass sein Anruf angenommen wurde, fühlte er in Zanes Taschen nach dem Autoschlüssel. Zane packte Lukes Arm und zeigte mit dem Finger auf den Wagen, bevor sein Kopf wieder zu Boden sank.

Luke bückte sich, um zu sehen, was Zane ihm hatte zeigen wollen. Die Person in der Notrufzentrale sagte etwas zu ihm, aber Luke reagierte nicht.

Die Kabel, die von der Achse hingen, gehörten dort nicht hin. Und auch nicht der Block Sprengstoff, der daran befestigt war.

Zwei weitere Schüsse ertönten. Diesmal trafen sie Zanes Wagen.

„Wir müssen hier weg.“ Luke war nicht sicher, ob Zane noch bei Bewusstsein war, aber er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Wieder packte er seinen Freund unter den Armen und zog ihn weiter, diesmal von dem Fahrzeug fort.

Sein eigener Wagen war gut 30 Meter entfernt, aber neben einem Fahrzeug zu bleiben, das jeden Augenblick in die Luft fliegen konnte, war auch nicht sicherer, als diese Entfernung zu riskieren.

Etwa auf halbem Weg hörte Luke den Klang von Sirenen zwischen den Bäumen hindurchdringen.

Dann erbebte die Erde.

Und alles wurde schwarz.

2

Ein Montagmorgen war nichts für Feiglinge.

FBI Special Agent Faith Malone beäugte angewidert den Stapel Papierkram auf ihrem Schreibtisch, während sie die erste Cherry-Cola des Tages austrank.

Faith beurteilte ihre Tage nach der Anzahl der Flaschen Cherry-Cola, die sie geleert hatte. Normale Tage? Eine. Hektische Tage oder Tage, nachdem sie den Abend zuvor lange aus gewesen war? Zwei.

Tage, an denen der nackte Wahnsinn herrschte, erforderten drei Flaschen.

„Guten Morgen, Faith. Wie schön, dass du uns heute mit deiner Anwesenheit beehrst.“

Faith stellte sich – nicht zum ersten Mal – vor, wie es wohl wäre, Special Agent Janice Estes mit ihrer leeren Colaflasche auf die Nase zu hauen. Stattdessen begnügte sie sich damit, sich auszumalen, wie ein kleiner Rinnsal Blut von Janice’ Nase tropfte. „So wie jeden Tag und sonntags zweimal“, antwortete Faith, ohne Blickkontakt mit ihrer Kollegin aufzunehmen.

„Ach ja? Ich dachte, du wärest letzte Woche zweimal weg gewesen.“ Der widerlich süße Südstaatenakzent verbarg ihren Tonfall, aber nicht das Gift in Janice’ Worten.

Faith konzentrierte sich weiter auf ihre Arbeit. „Nee.“ Nicht letzte Woche. Die Woche davor war etwas anderes, aber das musste sie ja nicht erwähnen.

Janice war noch nicht fertig und Faith wartete auf den nächsten Seitenhieb. Sie wusste immer noch nicht, was Janice zu erreichen versuchte, aber Faith würde sich nicht auf einen verbalen Zweikampf einlassen.

„Malone!“ Die dröhnende Stimme des Aufsicht führenden Senior Agents des Bezirks Dale Jefferson kam einer möglichen Antwort von Janice zuvor.

„Ja, Sir!“ Faith überflog kurz ihren Schreibtisch und versuchte sich einzuprägen, wo sich jedes Blatt Papier und jeder Klebezettel befand. Ihr Blick fiel auf einen Zettelhalter mit der Aufschrift „Faith over Fear“ – Glaube statt Angst –, den ihre Schwester ihr geschenkt hatte und der sie immer wieder schmerzlich daran erinnerte, wie schwach ihr eigener Glaube geworden war. Sie nahm ihr iPad und den dazugehörigen Stift und ging ins Büro ihres Vorgesetzten.

„Mach die Tür zu.“ Alles an Dale war … merkwürdig. Seine Krawatte saß schief. Seine Haare waren zerzaust. Seine Augen wirkten … Faith wusste nicht, was das für ein Blick war. Erschöpft? Kalte Angst durchzog ihre Glieder.

„In zwei Minuten gibt es eine Besprechung. Es ist publik und wir müssen reagieren.“

„Sir? Was ist denn passiert?“

„Heute Morgen wurden drei separate Anschläge auf Agenten des Secret Service in Raleigh verübt.“

Secret Service? Wer? Wie? Luke? Bitte, Herr, nicht Luke.

„Zwei Agenten wurden getötet. Zwei verwundet, einer schwerer als der andere. Die beiden Verletzten wurden zur Notaufnahme in die Klinik gebracht. Mehr weiß ich im Moment auch nicht. Die Angehörigen der Männer werden gerade benachrichtigt.“

Faith versuchte, einen Laut aus ihrer Kehle zu quetschen, aber alles, was herauskam, war ein erstickter Atemzug. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. „Wer?“

Dale hörte sie nicht. „Die restlichen Infos bekommst du in der Sitzung. Wir müssen los. Du leitest die Ermittlungen.“

Moment mal. Wie bitte?

„Ich will wissen, wer das war. Diese Geheimdienstler gehen mir oft auf die Nerven, aber sie sind alle top Kollegen und es ist eine Ehre, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass jemand, der den Secret Service auf dem Kieker hat, vielleicht als Nächstes das FBI aufs Korn nimmt.“ Dale nahm seinen Kaffee und eine Mappe von seinem Schreibtisch. „Gehen wir.“

Jefferson schritt zur Tür und stieß sie auf. Faith versuchte, die Füße in Bewegung zu setzen, aber ihre Glieder waren bleischwer vor Angst.

Ihr Chef blieb an der Tür stehen. „Kommst du?“

„Sir. Wer?“

Sein Adamsapfel hüpfte zweimal, bevor er sprach. „Jared Smith und …“ Er schüttelte den Kopf und fuhr dann fort: „Michael Weaver.“

Nicht Luke. Faith war nicht bewusst gewesen, wie verwirrend es war, zugleich riesige Erleichterung und tiefen Kummer zu empfinden. Dale Jefferson und Michael Weaver waren in ihren ersten Jahren in Illinois Partner gewesen. Die meisten FBI-Agenten verachteten ihre Pendants beim Secret Service, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Aber es war bekannt, dass Dale und Michael Freunde gewesen waren, und ihretwegen klappte die Zusammenarbeit der beiden Behörden gut. Meistens.

„Das tut mir sehr leid.“

Jeffersons Miene verhärtete sich. „Ich will wissen, was passiert ist. Finde heraus, wer ihn umgebracht hat.“

„Ja, Sir.“

Faith folgte ihrem Vorgesetzten zur Tür hinaus und den Gang hinunter zu dem vollen Besprechungsraum. Als sie eintraten, verstummten die Unterhaltungen. Faith blickte verstohlen in die Gesichter, die sich jetzt Dale Jefferson zugewandt hatten. Die Nachricht hatte sich bereits herumgesprochen und die typischen Montagmorgenwitze waren einer angespannten Stille gewichen.

Jefferson trat vor die versammelte Belegschaft. „Setzen.“

Sollte sie sich auch setzen? Oder erwartete Jefferson, dass sie sich neben ihn stellte? Einen Moment lang zögerte sie im Türrahmen, bevor sie auf einen Stuhl an der Wand sank.

Zwei Tote. Michael und Jared. Nicht Luke.

Zwei Verletzte. Wer?

Sie versuchte, sich auf Jeffersons Worte zu konzentrieren, aber ihr Blick wanderte immer wieder zu ihren Kolleginnen und Kollegen. Sie sah die Trauer und den Schock in ihren Mienen. Die verstohlen fortgewischten Tränen, von denen alle so taten, als hätten sie sie nicht bemerkt. Die geballten Fäuste. Die gemurmelten Kraftausdrücke.

„Wir wissen noch nicht viele Einzelheiten“, sagte Jefferson. „Michael Weaver war im Fitnessstudio und ist beim Laufen in der Halle plötzlich umgefallen. Die ersten Anzeichen deuteten auf einen Herzinfarkt hin, aber ein Sanitäter vor Ort hat einen Einstich bemerkt. Jemand hat ihn mit einem Pfeil abgeschossen. Wir wissen noch nicht, womit der vergiftet war.“

Jefferson zog ein Blatt Papier aus der Akte. „Jared Smiths Eigentumswohnung ist heute Morgen explodiert. Es gibt keine konkreten Hinweise auf ein Verbrechen außer der Tatsache, dass Jared … tot ist.“ Er ließ seine Worte einen Moment wirken und fuhr dann fort: „Auf zwei andere Agenten, Zane Thacker und Luke Powell, wurde heute früh geschossen und ihre Wagen wurden in die Luft gejagt. Beide werden derzeit wegen ihrer Verletzungen behandelt, aber die Ärzte gehen davon aus, dass sie wieder ganz hergestellt werden.“

Es rauschte in Faiths Ohren. Luke Powell? Geschossen? Behandelt wegen seiner Verletzungen? Was für Verletzungen waren das? Dass er „wieder ganz hergestellt“ sein würde, bedeutete nicht, dass es ihm momentan nicht dreckig ging.

„Meine Damen und Herren, wir haben keine Ahnung, warum, aber unsere Brüder vom Secret Service sind heute Morgen angegriffen worden. Es ist die Aufgabe des FBI, bei Verbrechen gegen Mitglieder der Geheimdienste zu ermitteln, und ich habe Special Agent Malone beauftragt, diese Ermittlungen zu leiten. Ihr werdet uneingeschränkt mit ihr zusammenarbeiten. Eigentlich sollte es nicht nötig sein, das zu betonen, aber ich sage es trotzdem, falls jemand von euch nicht eins und eins zusammenzählen kann. Wenn jemand es auf unsere Kollegen vom Geheimdienst abgesehen hat, könnten wir die nächste Zielscheibe sein. Also finden wir heraus, wer das war. Warum sie es getan haben. Und sorgen wir um unserer Freunde willen für Gerechtigkeit. Wegtreten.“

„Faith.“ Dale Jeffersons Worte waren keine Bitte, sondern ein Befehl.

„Ja, Sir.“

„Was immer du brauchst – du bekommst es.“

„Danke, Sir.“

„Mein Rat? Fang bei Jareds Wohnung an. Dann nimmst du dir am besten das Fitnessstudio vor, in dem Michael getötet wurde. Dann die Stelle, an der auf Powell und Thacker geschossen wurde. Vielleicht ist bis dahin einer von den beiden wieder bei Bewusstsein.“

Faith ärgerte der unnötige Rat. Sie wusste besser als jeder andere im Team, wie man Ermittlungen leitete, und das wusste ihr Boss auch. Traute er ihr den Fall jetzt zu oder nicht? Sie überlegte, ob sie ihn darauf ansprechen sollte, aber dann sah sie den Glanz in Jeffersons Augen. Er nahm diese Sache persönlich.

Sie nahm es auch persönlich. „Ja, Sir. Ich werde berichten.“

Faith kehrte im Laufschritt zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Dort füllte sie ihre Tasche mit iPad, Apple-Stift, Ersatzakku, Ladekabel und Diktiergerät.

„Da kann man ja wohl gratulieren.“ Janice klang alles andere als begeistert.

Was war eigentlich ihr Problem?

Faith antwortete nicht, während sie in der Seitenschublade ihres Schreibtischs wühlte. Wo war ihr –? Da. Ihre Finger schlossen sich um eine Dose mit Minzbonbons. Sie warf die Packung in ihre Tasche und überflog die anderen Dinge in der Schublade. Hatte sie alles, was sie für den Tag brauchte? Schwer zu sagen, wann sie das nächste Mal im Büro sein würde.

Janice lungerte immer noch herum, aber Faith hatte keine Zeit für die Probleme ihrer Kollegin. Sie nahm den Laptop von ihrem Schreibtisch, hob mit einem Finger den Schlüsselbund hoch und wandte sich der Tür zu. „Muss los.“ Sie warf die Worte über ihre Schulter zurück.

„Viel Glück“, rief Janice ihr nach. Es klang freundlich. War es aber nicht.

Dreißig Sekunden, nachdem sie vom Parkplatz gefahren war, klingelte Faiths Telefon.

Dale Jefferson. Wahrscheinlich mit weiteren Ratschlägen, die sie nicht brauchte.

Sie nahm das Gespräch über die Freisprecheinrichtung ihres Wagens an. „Malone.“

„Neue Anweisung.“ Er gab Faith keine Chance, zu reagieren oder Fragen zu stellen. „Fahr zum Büro des Secret Service. Sie haben Jareds Gebäude evakuiert.“ Klick.

Faith machte mit dem Wagen eine unerlaubte Kehrtwende und fuhr zum Büro des Geheimdienstes. Über Funk lauschte sie den Unterhaltungen der Polizei und nach allem, was sie hörte, handelte es sich um eine Bombendrohung. Normalerweise dauerte die Fahrt zum Büro eine Viertelstunde. Faith brauchte nur zehn Minuten und musste fast 500 Meter entfernt parken. Ihr Boss hielt mit seinem Wagen gleich hinter ihr.

Faith drehte sich zu Jeffersons Fahrzeug um und wartete, bis er ausgestiegen war. „Was ist los?“

„Das werden wir hoffentlich gleich rausfinden“, erwiderte Jefferson.

„Wissen Sie, wie viele Personen sich normalerweise in dem Büro aufhalten?“ Faith stellte die Frage vor allem, um ihren Vorgesetzten zum Reden zu bringen, und weniger aus Neugier.

„Zwischen acht und zehn Agenten und ein Büroleiter“, antwortete Jefferson. „Thad Baker ist noch nicht ersetzt worden, also waren sie nur sieben Agenten. Das heißt, heute sind sie nur noch zu … fünft. Und zwei von denen sind im Krankenhaus.“

Jefferson lief so schnell, dass Faith Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Drei dienstfähige Agenten und ein Büroleiter nur noch? Sie wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber wann war die Besetzung einer Dienststelle jemals so dezimiert gewesen? Woran hatten sie gearbeitet, dass ein solches Ausmaß an Gewalt auf sie einprasselte? Oder war der Täter jemand, der generell ein Problem mit dem Geheimdienst oder Bundesbehörden hatte?

Kurz darauf hatten sie das Absperrband der Polizei erreicht. Nachdem sie ihre Dienstausweise vorgezeigt hatten, durften sie aufs Gelände, wurden aber an einer zweiten Absperrung aufgehalten.

„Ich kann Sie nicht reinlassen“, sagte der Beamte. „Alle müssen draußen bleiben. Die Spürhunde sind da drin.“

„Dale!“ Ein starker Jersey-Akzent drang durch die murmelnden Stimmen um sie herum.

„Jacob.“ Jefferson ergriff die ausgestreckte Hand des Mannes und zog ihn in eine Umarmung. „Ich kann nicht fassen, dass er tot ist.“

Die beiden Männer lösten sich voneinander. „Mir geht es genauso, Bruder.“

Jefferson zeigte in Faiths Richtung. „Du kennst Faith Malone?“

„Natürlich.“ Jacob wandte sich ihr zu und seine Augen waren von Tränen gerötet.

Wären die Umstände andere gewesen, hätte sie ihn damit aufgezogen, dass seine Golfmannschaft beim letzten überbehördlichen Turnier gegen Faith und ihre Kollegen verloren hatte. Aber so hatte sie keine Ahnung, was sie sagen sollte.

„Ich weiß, dass Sie viel mit Luke zusammenarbeiten. Haben sie euch erzählt, dass es ihm gut geht?“

Jacobs Versicherung, dass Luke nicht in Gefahr war, beruhigte ihre Sorge ein wenig. „Das ist fantastisch, Sir.“ Sollte sie ihm die Hand geben? Sie fingerte an ihrem iPad herum, während sie krampfhaft überlegte. „Herzliches Beileid wegen der Verluste heute, Sir.“

„Danke, das ist nett.“

„Faith leitet die Ermittlungen in diesem Fall“, erklärte Jefferson.

Jacob musterte sie mit klugem Blick, bevor er antwortete. „Ich bin nicht sicher, wann Luke und Zane wieder im Dienst sein werden, aber bis dahin garantieren meine übrigen Agenten umfassende Kooperation.“

„Danke –“

Faiths Antwort wurde abrupt von Lärm unterbrochen, der hinterm Gebäude ertönte. Dick gepolsterte Gestalten vom Bombenentschärfungskommando kamen heraus. Dale und Jacob eilten auf sie zu und Faith folgte den beiden.

Schließlich waren das ihre Ermittlungen.

„Was habt ihr gefunden?“, rief Jacob aus 20 Metern Entfernung.

„Wir sind mit unserem Hund durch das Gebäude gegangen und er hat nicht angeschlagen.“ Die Frau in Schutzkleidung hob eine Hand. „Aber noch gibt es keine Freigabe. Die Abteilung Drogen und Waffen will noch mit ihren Hunden alles absuchen.“

Dale und Jacob fingen an, darüber zu diskutieren, ob sie der Drogen- und Waffenbehörde ATF die Ermittlungen in Bezug auf die Bombe überlassen sollten. Faith blendete die Unterhaltung der beiden Männer aus. Normalerweise war sie dafür, die Ermittlungen in einer Hand zu behalten, und das FBI hatte durchaus kompetente Kräfte, wenn es um Sprengstoffe ging. Aber sie kannte ein paar Agenten bei der ATF von ihrer gemeinsamen Antiterrorismuseinheit, und die waren Topleute. Faith hätte nichts dagegen, wenn sie diesen Teil der Ermittlungen übernahmen.

Während Dale und Jacob die juristischen Komplikationen abwägten, überschlugen sich Faiths Gedanken. Es war nicht leicht, in das Büro einer Bundesbehörde zu gelangen. Nicht, dass der Standort ein Geheimnis wäre, aber man brauchte einen Dienstausweis, man musste einchecken und an den Wachleuten vorbei. Wie könnte jemand da eine Bombe ins Gebäude schmuggeln?

„Wann kann ich wieder rein?“ Jacobs Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass Köpfe rollen würden, wenn die Antwort nicht „Sofort“ lautete.

„Das weiß ich nicht, Sir.“ Die Sprengstoffexpertin wich zurück. Kluger Schachzug. „Da müssen Sie mit meiner Vorgesetzten reden. Sie ist im Einsatzwagen auf der anderen Seite des Gebäudes.“ Sie zeigte mit ihrem dicken Handschuh dorthin und entfernte sich dann in die entsprechende Richtung.

„Ich komme mit.“ Dale Jefferson legte eine Hand auf die Schulter seines Freundes. „Wir werden die Sache aufklären.“ Er wandte sich zu Faith um. „Ich schlage vor, du siehst dir die Tatorte an. Hier kannst du im Moment nichts tun. Ich melde mich.“

Faith kochte, als sie sich einen Weg zurück zu ihrem Wagen bahnte. Nichts tun? Das gesamte Büro war abgesperrt und vielleicht immer noch im Visier eines Mörders und sie wurde vom Ort des Geschehens weggeschickt!

Sie setzte sich ans Steuer ihres Autos und gab Jared Smiths Adresse in das Navigationssystem ein.

Sie gab es ja nur ungern zu, aber Dale hatte recht. Das Durcheinander beim Secret Service würde zu einem Zuständigkeitsalbtraum führen, während alle darüber stritten, wer das Sagen hatte.

Die Antwort war: das FBI.

Nicht, weil das FBI immer zuständig war. Schließlich war dies kein Fernsehkrimi, bei dem das FBI immer einsprang und die Ermittlungen übernahm. Aber in dieser konkreten Situation gab es einen juristischen Präzedenzfall. Das FBI hatte nicht nur den Fall, sondern auch die Ressourcen in Sachen Ballistik und Forensik. Die ATF war eine willkommene Ergänzung zur Buchstabensuppe, aber sie würden Faith Bericht erstatten.

Was war daran so schwer zu verstehen?

Als sie am Straßenrand vor Jared Smiths Haus hielt, sah Faith die Jacken von sechs verschiedenen Behörden.

Vielleicht war die Sache doch nicht so eindeutig, wie sie gedacht hatte.

3

Faith hatte in ihrer beruflichen Laufbahn schon viel Tod und Zerstörung gesehen, aber der heutige Tag hatte eine Ladung geboten, die geballter war als alles, was sie bisher je erlebt hatte und wieder erleben wollte.

Die Wohnung von Jared Smith war nicht einfach nur ausgebrannt. Es sah aus, als hätte sich eine bösartige Hand durch die Wände gebohrt, jeden Holzbalken zu Staub zerdrückt und dann, um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, ein Streichholz mitten hineingeworfen.

Mithilfe der Zahnarztunterlagen hatten sie die Leiche in Rekordzeit identifiziert, aber Jared war ein Geheimdienstagent gewesen und deshalb hatten sie leichten Zugriff auf seine Akte gehabt.

Anders war es an dem Ort, an dem Michael Weaver gestorben war. Dort war ein Stück abgesperrte Laufbahn in einer Sporthalle der einzige Hinweis dafür, dass sich irgendetwas Ungewöhnliches ereignet hatte. Die Spurensicherung hatte den Pfeil gefunden, aber bis jetzt war das ihr einziges Indiz. Die Videos von der Überwachungskamera des Sportstudios wurden bereits analysiert in der Hoffnung, dass die Aufnahmen Auskunft über den Schützen gaben. Dale Jefferson war dazugekommen, als sie den Tatort besichtigt hatte, und auch wenn er seine Gefühle weitgehend unter Kontrolle zu haben schien, beneidete sie die Kollegen von der Forensik nicht, die sie am Tatort mit ihm zurückgelassen hatte.

Um zwei Uhr war Faith bei ihrem Lieblingsschnellrestaurant vorgefahren. Das Hähnchen-Sandwich und die Cherry-Cola – die dritte bislang – hatten ihren verkrampften Magen etwas beruhigt. Aber jetzt, wo sie hinter dem Absperrband stand und die Stelle betrachtete, an der Luke und Zane in einen Hinterhalt geraten waren, bereute sie ihre Entscheidung, etwas zu essen.

Blut. Das Blut der beiden. Umhergespritzt und vergossen.

Luke Powell lag im Krankenhaus mit einer Schussverletzung, Abschürfungen und Platzwunden, die mit mehreren Stichen genäht werden mussten, und dem Agenten zufolge, der vor einer Stunde vor seinem Zimmer Wache gestanden hatte, war Luke ganz schlecht gelaunt.

Zane Thacker war nach einer Operation der zwei Schusswunden noch im Aufwachraum. Eine Kugel hatte seinen Arm getroffen und eine andere seine Seite durchbohrt, aber zum Glück waren keine wichtigen Organe in Mitleidenschaft gezogen worden. Eine weitere Kugel hatte seine Schuhspitze weggepustet, aber seinen Fuß verpasst. Die Ärzte sagten, er würde wieder ganz gesund werden.

Faith ließ den Blick über den Tatort schweifen. Rund um die Markierung für den Wanderweg wuchs kaum Gras, aber rechts und links des kleinen Schotterparkplatzes war die Vegetation dicht und überwuchert.

Special Agent Julie Sutton, eine junge Kollegin, die Faith nicht gut kannte, kam näher. „Special Agent Malone? Ich hatte Sie gar nicht hier erwartet. Ich dachte, Sie wären im Büro.“

„Ich heiße Faith. Das Büro hat Zeit. Heute muss ich sehen, was hier passiert ist.“

„Natürlich. Ich bin seit neun Uhr hier und zeige dir gerne den Tatort, wenn du willst.“

„Danke.“

Sutton zog einen Notizblock heraus und zeigte in Richtung Wanderweg. „Die Agenten Powell und Thacker haben sich morgens um Viertel vor fünf getroffen, um hier zu joggen.“

„Im Dunkeln?“ Waren die beiden verrückt? Faith ging zu dem Ausgangspunkt des Weges, dicht gefolgt von Agentin Sutton.

„Einer der Geheimdienstagenten, Agent Dixon, war vorhin hier und hat gesagt, dass die beiden jeden Montag hier laufen. Ich war skeptisch, deshalb bin ich selbst die Runde gejoggt, als ich hier ankam. Der Weg sieht wilder aus, als er ist. Nach etwa 10 Metern wird er breiter und ziemlich eben. Keine Steine, kaum Äste im Weg. Und auf der anderen Seite des Sees ist der Weg fast bis zum Ende asphaltiert. Bei Vollmond kann man dort problemlos laufen. Selbst ohne Mondlicht kann man die Strecke in einer Stunde schaffen, wenn man mit dem Weg vertraut ist.“

Faith musterte den Weg. Vielleicht. Sie selbst lief nicht gerne draußen. Obwohl, wenn sie ehrlich war, lief sie überhaupt nicht gerne. Sie konnte rennen, aber warum sollte sie es tun? Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tatort zu. „Ist es ein Rundweg?“

„Beinahe. Er ist hufeisenförmig, also keine vollständige Runde.“ Julie zeigte auf ein zweites Schild am anderen Ende des Parkplatzes. „Er geht bis zum Ende des Sees und dann auf der anderen Seite zurück. Wenn sie den ganzen Weg gelaufen sind, müssen sie dort drüben rausgekommen sein und sind dann zu ihren Autos gegangen, als sie überfallen wurden.“

Sutton zeigte auf die erste Tatortmarkierung. „Ich habe noch keinen der beiden Agenten selbst befragt, aber wir glauben, dass Folgendes passiert ist: Der Schütze war dort drüben, im Gebüsch versteckt. Die Waffe war ein Gewehr mit Kaliber .22 und der Attentäter war ein grottenschlechter Schütze. Aus der Entfernung hätte selbst mein Neffe treffen können. Und der ist 7.“

Ihre Kollegin hatte recht. Da sie kaum mit einem Anschlag gerechnet hatten, waren ihre Gestalten leicht zu sehen gewesen, als sie von dem Weg auf den Parkplatz getreten waren. Wie war es gekommen, dass der Schütze danebengeschossen hatte? „Wie viele Schüsse?“

„Wir sind nicht sicher. Mindestens fünf. Aber angesichts der Fähigkeiten des Täters könnten es auch mehr gewesen sein.“

Faith ging zu der Stelle, an welcher der Schütze gestanden hatte. „Und wir sind sicher, dass dies sein Standort war?“

„Ja. Wir haben von allem Fotos gemacht. Jemand hat vor Kurzem dort gelegen und der Winkel kommt hin.“

Faith legte sich auf den Boden und stützte die Ellbogen auf. Sie tat so, als würde sie ein Gewehr im Anschlag halten, und blinzelte, wie wenn sie durch ein Zielfernrohr gucken wollte.

Wie hatten die beiden Männer überlebt? Sie hatten keine Chance gehabt, sich zu wehren.

Julie zeigte zur Mitte des Parkplatzes. „Der erste Schuss ist dort gefallen. Agent Thacker ist zu Boden gegangen. Agent Powell hat sich fallen lassen. Dann sind sie beide zu den Fahrzeugen gekrochen. Die Schüsse sind ihnen dabei gefolgt. Eine Kugel hat Powell am Bein getroffen, aber es ist nur ein Streifschuss. Dann hat ein Schuss Thacker in die Seite getroffen. Da hat Powell ihn hinters Auto gezogen.“

„Woher weißt du das alles?“ Die Kollegen konnten unmöglich so schnell den Tathergang rekonstruiert haben und Sutton hatte gesagt, sie habe nicht mit den beiden Agenten gesprochen.

„Agent Powell. Nach der Explosion war er erst bewusstlos, aber er ist wieder aufgewacht, noch bevor der Rettungswagen kam. Er konnte ziemlich genau berichten, was passiert war, bevor sie ihn ins Krankenhaus gebracht haben. Und Agent Dixon hat mir die Informationen weitergegeben.“

Luke war bei Bewusstsein gewesen, als er den Tatort verlassen hatte? Das war die beste Nachricht, die sie bis jetzt gehört hatte, und es räumte einen guten Teil der Zweifel an den Berichten aus. Wenn Luke die Ereignisse beschrieben hatte, ob verletzt oder nicht, dann war die Schilderung zutreffend. Der Mann war ausgesprochen penibel. An diesem Charakterzug änderte eine Schussverletzung nichts. Wenn überhaupt, war sein gewöhnlicher Hang zur Genauigkeit in einer solchen Situation noch ausgeprägter gewesen.

Faith spähte weiter durch ihr imaginäres Zielfernrohr und stellte sich die Szene vor. Zane, der zusammensackte. Luke, der ihn hinter den Wagen zog. Wenn sie der Schütze gewesen wäre, hätte sie …

Mit einem Mal kam ihr eine entsetzliche Erkenntnis. „Er hat nicht versucht, die beiden zu töten.“

„Wie bitte?“ Die Stimme der Agentin neben ihr klang eine Oktave höher als vorher.

„Der Schütze wusste, dass das Auto in die Luft fliegen würde, also hat er sich mit den beiden einen Spaß gemacht.“ Faith bemühte sich, ihre Stimme ausdruckslos und ruhig klingen zu lassen. „Dann hat er sie zum Auto gescheucht. Er wusste, dass sie sich vor den Schüssen in Sicherheit bringen würden … und genau in die Falle tappen würden, die er ihnen gestellt hatte. Er war kein schlechter Schütze. Er war sehr gut.“

„Das ist …“ Der jungen Agentin fehlten die Worte, um den Satz zu vollenden, und Faith konnte es ihr nicht verdenken.

Faith drückte die Hände in die Erde. Er war hier gewesen. Der Mann, der versucht hatte, Luke umzubringen. Und Zane. Er hatte genau hier gelegen. Sein Körper hatte die Erde gewärmt. Sein Atem hatte die Blätter bewegt, die ihn vor neugierigen Blicken verbargen. Wie lange hatte er hier gelegen und gewartet? Wie lange hatte es gedauert, bis er die Gewohnheiten der Männer kannte?

„Das wird dir noch leidtun.“ Sie flüsterte die Worte dem Boden zu und erhob sich. Dann wischte sie den Dreck dieses bösen Ortes von ihren Händen, ihrem Hemd und ihrer Hose. „Sehen wir uns die Stelle der Explosion an.“ Sie stapfte zu den zerstörten Fahrzeugen und ihre Kollegin hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten.

Faith ging um die völlig verzogenen Überreste von Zanes Ford Focus herum. Der Wagen war dem Ende des Weges am nächsten gewesen und als die Schüsse begannen, waren die Männer auf dieses Auto zugelaufen. Das, was von Lukes Ford noch übrig war, befand sich am anderen Ende des Parkplatzes, wo der Weg anfing. Die beiden Agenten waren zwischen den beiden Fahrzeugen gewesen, als die Bombe detoniert war. Überall lagen Metallteile und geschmolzener Kunststoff herum. Links von ihr sah Faith etwas, das einmal ein Rad gewesen war, einen Meter weiter eine Achse. Und war das dort der Motor?

„Soweit ich weiß, hat Special Agent Powell ein paar ziemlich üble Prellungen von Dingen, die bei der Detonation heruntergefallen sind“, erklärte Sutton. „Als das erste Fahrzeug explodierte, hat er Special Agent Tucker fortgezogen. Er hat sich über ihn geworfen, sodass sein Körper das meiste abbekommen hat. Es ist ein Wunder, dass die beiden heute Morgen nicht umgekommen sind.“ Die Agentin schüttelte den Kopf. „Ich meine, wer überlebt so was?“

„Meine Großmutter würde jetzt sagen, sie haben wohl ein gutes Leben geführt“, sagte Faith, „aber die richtige Antwort ist wahrscheinlich, dass ihre Zeit noch nicht abgelaufen war. Offenbar gibt es für sie noch was zu tun.“

Woher war das denn jetzt gekommen? Sie glaubte nicht, dass Gott sich genügend für die Menschen interessierte, um sich einzumischen. Nicht mehr.

Julie Sutton kommentierte die Äußerung nur mit einem undefinierbaren Laut.

Faith wandte sich an die jüngere Agentin. „Ich brauche so schnell wie möglich deinen ausführlichen Bericht, aber ich muss sagen, dass ich beeindruckt bin von dem, was du bis jetzt hier getan hast. Gute Arbeit.“

Agent Sutton versuchte völlig erfolglos, das Grinsen zu unterdrücken, das sie aussehen ließ wie eine Zwölfjährige, die von ihrer Tante eine FBI-Jacke ausgeliehen hatte. „Danke, Faith. Du bekommst den Bericht bis heute Abend.“

Faith nickte den anderen Kollegen zu, die am Tatort arbeiteten. Sie hatte gesehen, was sie hier sehen wollte. Und jetzt würde sie Luke besuchen.

Wenn es noch einmal an die Tür klopfte, würde Luke endgültig wahnsinnig werden. Nach dem Besuch des Krankenhausseelsorgers hatte er dem Polizeibeamten vor seiner Tür gesagt, er solle keine Leute mehr reinlassen. Er wollte niemanden sehen.

Alles tat weh. Sein Kopf. Sein Bein. Seine Hände. Seine Arme. Sein Ego.

Sein Herz.

Zane war nach der Narkose noch im Aufwachraum und bewusstlos und Luke beneidete seinen Freund um diesen segensreichen Zustand. Das Bewusstsein würde nur Kummer bringen. Michael und Jared. Tot.

Wie konnte das überhaupt sein? Gestern hatte er sie noch bei der Party gesehen.

Er wollte mit irgendwas um sich werfen. Oder schreien. Oder beides. Oder Schlimmeres.

Noch mehr Witwen. Noch mehr vaterlose Kinder. Natürlich kannten sie alle die Risiken, die mit ihrem Beruf verbunden waren. Niemand ging zum Geheimdienst, ohne zu wissen, dass er mehr als einmal das eigene Leben für andere aufs Spiel setzen würde.

Aber keiner erwartete, in den eigenen vier Wänden umzukommen. Oder im Fitnessstudio auf der Laufbahn.

Warum, Herr? Das ist doch völlig sinnlos. Wie viele Menschen muss ich denn noch verlieren?

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn umherschauen, ob es etwas in der Nähe gab, was er dem Eindringling an den Kopf werfen könnte. „Hau ab!“ Die Worte waren heraus, noch bevor die sanften Augen von Faith Malone seinen Blick suchten.

Sie zuckte nicht zusammen. Ihr Mund verzog sich zu einer mitfühlenden Grimasse. Wie schaffte sie es, zugleich Mitleid und Trauer auszudrücken? Und was machte sie überhaupt hier?

„Luke.“ Sie betrat das Zimmer nicht. Schob die Tür nicht weiter auf. „Es tut mir schrecklich leid. Ich weiß nicht, ob sie dir gesagt haben –“

„Ich weiß schon von Michael und Jared.“ Die Worte brannten in seiner Kehle.

„Ja, und es ist ein schrecklicher Verlust für dich. Aber haben sie dir auch gesagt, dass ich die Ermittlungen in dem Fall leite?“

Was? Faith? Unmöglich. Faith und er hatten in den vergangenen drei Jahren oft zusammengearbeitet – von einem Wohltätigkeitsgolfturnier bis zu einem Drachenbootrennen für die Krebshilfe. Und im letzten Jahr waren sie beide in der Antiterrorismuseinheit tätig gewesen. Sie war eine gute Agentin, für jemanden vom FBI. Sie war ein verlässliches Mitglied der Taskforce, aber hatte sie den Rang oder die Erfahrung, die für einen solchen Fall nötig waren? Nicht, dass er vom FBI etwas Besseres erwartet hätte. Typisch, dass sie die Ermittlungen einem hübschen Gesicht überließen, wohl wissend, dass der Fall dadurch niemals aufgeklärt werden würde. Oder schlimmer noch, dass sie vielleicht jemanden verhaften würden, dabei aber die Ermittlungen so vermasselten, dass der Täter wegen eines Formfehlers ungestraft davonkam.

Er hatte es schon gesehen. Hatte es selbst erlebt.

Ganz abgesehen davon, dass ihre Freundschaft – oder was auch immer das zwischen ihnen war – niemals überleben würde, wenn sie diesen Fall nicht löste. Warum konnte es nicht jemand anders sein? Warum musste es ausgerechnet Faith sein?

„Deinem Gesichtsausdruck, der sich von feindselig zu mordlustig gewandelt hat, entnehme ich, dass dir niemand was von meiner Rolle bei den Ermittlungen gesagt hat. Ich werde mal sehen, wie es Zane geht. Bin in einer Viertelstunde wieder da.“

Faiths Gesicht verschwand und dann zog auch ihre hellbraune Hand mit den perfekt manikürten Fingernägeln sich von der Türkante zurück und die Tür schloss sich mit einem leisen Klick. Wie konnte sie so eine Bombe platzen lassen und dann einfach gehen?

Na ja, ich habe schließlich gesagt, sie soll abhauen.

Luke starrte die Tür an, aber sie blieb geschlossen.

Er sollte … was? Hinter ihr herlaufen? Ihr die Meinung sagen? Das Zimmer verlassen und sich weigern, mit ihr zu reden, wenn sie beschloss, ihn das nächste Mal mit ihrer Anwesenheit zu beglücken? Er sah auf sein schickes Krankenhaushemd, den Tropf, der ihn mit Antibiotika versorgte, und seine verbundenen Arme hinunter. Die Verbände an seinen Beinen oder die genähte Wunde an seiner Wade brauchte er nicht zu sehen. Er saß in der Falle.

Luke ließ sich auf sein Kissen fallen und wartete.

Fünfzehn Minuten später hörte er wieder ein leises Klopfen an der Tür. Nach einem Augenblick wurde die Tür vorsichtig geöffnet. „Ist es ungefährlich für mich?“

„Komm rein.“

Faith Malone trat ein. Aber nur so weit wie nötig. Die Tür schloss sich, aber sie kam nicht näher. Stattdessen lehnte sie sich an die Wand und musterte ihn. Sie sah toll aus, wie immer, selbst mit Dreck an Hose und Hemdsaum, etwas verschmierter Erde auf der Wange und Feuer in den Augen. Es wäre viel einfacher, sie auf Abstand zu halten, wenn er nicht schon so oft überlegt hätte, wie es wohl wäre, wenn sie ihm näherstände.

Sie stand immer noch dort, iPad in einer Hand, eine Cherry-Cola in der anderen.

Faiths Cherry-Cola-Problem war ein Thema, mit dem er sie gefahrlos aufziehen konnte. Hoffte er. Er zeigte auf die Flasche. „Wie viele hattest du heute schon?“ Würde sie den Ölzweig annehmen, auch wenn er ziemlich erbärmlich war?

Sie hob kaum merklich das Kinn. „Das ist meine vierte.“

„Wann war das letzte Mal, dass du an einem Tag vier davon getrunken hast?“

„Kann mich nicht erinnern.“

Luke war ziemlich sicher, dass das gelogen war, aber er würde Faith nicht in die Enge treiben. Ihre vier Flaschen Cherry-Cola waren ihre Sache, nicht seine. Und auch wenn er es nur ungern zugab – die Tatsache, dass die vier Flaschen den Ereignissen dieses Vormittags geschuldet waren, machte etwas mit ihm. Etwas, das ihm nicht gefiel. Dadurch fing er nämlich an, Dinge zu denken, die nicht wahr sein konnten. Zum Beispiel, dass das FBI die Ermittlungen nicht vermasseln würde. Oder dass Faith den Fall aufklären könnte.

Dass sie ihre Sache gut machen würde.

Faith ging zum Fenster und stellte ihr Getränk auf die Fensterbank. „Das mit Michael und Jared tut mir leid.“

Luke traute seiner Stimme nicht, deshalb nickte er nur.

Faiths schwarze Haare waren heute glatt und sie schob sie sich hinters Ohr. „Geht es dir gut genug, um über das zu reden, was heute Morgen passiert ist?“

Irgendwie war das zu viel. „Du bist zu nett, Faith. Warum fragst du mich? Du solltest einfach dein Beileid bekunden und sagen, dass du trotzdem meine Version der Geschichte brauchst, und fertig. Wenn du zu allen so nett bist –“

„Bin ich nicht, Special Agent Powell.“ Faiths braune Augen blitzten vor unverhohlener Verärgerung. „Man nennt es professionelle Höflichkeit. Schon mal gehört?“

Autsch.

Faiths Gesicht wirkte jetzt kantig und hart. Sie hatte ihm einmal erzählt, dass sie Wangenknochen und Teint von ihrer Mutter hatte, die eine Cherokee war, aber ihr Temperament von ihrem rothaarigen irischen Vater.

Lukes innere Stimme sagte ihm, dass er lieber nicht der Adressat sein wollte, wenn sie ihrer scharfen Zunge freien Lauf ließ. Und er wusste aus früheren Erfahrungen, dass er ein Problem hatte, wenn sie anfing, ihn „Special Agent Powell“ zu nennen statt „Luke“. Was war eigentlich mit ihm los? Warum war er so aggressiv? Er hatte es hier nicht mit irgendeinem Agenten zu tun, sondern mit Faith. Er kannte sie. Er mochte sie. Mehr, als er sollte.

Vielleicht war das sein Problem. „Sorry.“ Er zeigte auf das Zimmer um ihn herum. „Dieser Ort bringt alle meine schlechten Eigenschaften zum Vorschein.“

Faith grinste spöttisch und setzte sich. „Es ist nicht der Ort. Es liegt an der wirkungsvollen Mischung aus Trauer, mangelnder Kontrolle und deinem tief sitzenden Misstrauen gegenüber dem FBI. Ich kann nichts tun, um deinen Kummer zu lindern, und dir auch nicht dein falsches Gefühl zurückgeben, dass du dein Leben im Griff hast. Ich weiß noch immer nicht und will es auch gar nicht wissen, warum du das FBI so verachtest. Ich kann nur deine abfälligen Bemerkungen in Bezug auf meine beruflichen Fähigkeiten ignorieren. Und dieses Zugeständnis gilt nur für die nächsten zwölf Stunden.“

Sie tippte mit dem Spezialstift auf ihr iPad und fing an zu schreiben. „Und jetzt fangen wir damit an, wo du heute Morgen warst, und dann schildere bitte der Reihe nach, was passiert ist.“

Er wollte widersprechen. Sich verteidigen. Er wollte ihr all die Gründe nennen, warum er das FBI hasste. Wenn sie nur wüsste!

Aber sie wusste es nicht.

Faith wartete, ein geduldiges Lächeln auf den vollen Lippen. Wenn sie hinter der gelassenen Fassade kochte, sah er es nicht.

„Also gut.“

Er erzählte ihr alles.

Sie hörte gut zu und unterbrach ihn nur zweimal, weil etwas nicht ganz klar war. Immer, wenn sie vom Krankenhauspersonal gestört wurden, was oft der Fall war, saß sie ohne jeden Anschein von Frustration oder Unbehagen dort, und sobald sie wieder ungestört waren, nahm sie den Faden an der Stelle wieder auf, an der sie unterbrochen worden waren. Es hatte kein Geplauder gegeben. Keine Witze. Sie war ganz professionell gewesen.

Schließlich überflog sie ihre Notizen und fragte dann: „Hast du den Schützen gesehen?“

„Nein.“ Seine Enttäuschung schwang unüberhörbar in diesem einen Wort mit. Er konnte sie angesichts dieser Tatsache einfach nicht verbergen. „Die Sonne war noch nicht aufgegangen und wir hatten kein Versteck. Ich bin sicher, er war am Rand des Parkplatzes, aber ich habe ihn nicht gesehen.“

„Wie viele Fahrzeuge standen dort, als ihr von eurem Lauf zurückgekommen seid?“

„Zwei. Meins und das von Zane.“

„Ist das ungewöhnlich? Dass sonst niemand dort war?“

„Wir laufen fast jeden Montag dort. Ich hätte erwartet, dass noch ein paar Wagen dort stehen, zumindest als wir wieder fahren wollten, aber es kam mir auch nicht seltsam vor, dass keine anderen Leute da waren. Obwohl, wir waren diesmal schneller als sonst.“

„Schneller?“

„Wir hatten beide schlechte Laune.“

„Ihr lauft schneller, wenn ihr schlechte Laune habt?“

Er funkelte sie an. „Heute war es jedenfalls so.“

„Wann seid ihr losgelaufen?“

„Zane kam ein paar Minuten zu spät. Wir haben gegen zehn vor sechs mit dem Aufwärmen angefangen und um sechs waren wir unterwegs.“

„Und wann seid ihr wieder beim Parkplatz angekommen?“

„Sechs Uhr siebzehn.“

Faith rechnete. Keine vier Minuten für den Kilometer. Beeindruckend. „Warum wart ihr so schlecht drauf?“

„Ich finde nicht, dass das für den Fall wichtig ist.“

„Überspann den Bogen nicht.“ Faith schraubte ihre Colaflasche auf. „Ich entscheide, ob es wichtig ist. Warum wart ihr schlecht gelaunt?“ Sie trank einen Schluck und stellte die Flasche aufs Fensterbrett zurück. Dann wandte sie sich wieder Luke zu und wartete auf seine Antwort.

„Thad Baker war unser Laufkumpel. Gestern waren wir bei der Geburtstagsfeier seiner Zwillinge.“

„Ah.“

Faith notierte etwas. Nach einigen Augenblicken hielt sie inne und ihr Mund verzog sich, während sie auf ihr iPad starrte. Als sie Luke schließlich wieder ansah, wirkte sie nachdenklich. „Thad Baker ist vor elf Wochen gestorben. Auf den Tag genau.“

Luke hatte den Zusammenhang nicht gesehen, aber Faith hatte recht.

„Heute sind zwei Agenten gestorben. Zwei wären beinahe umgekommen. Das Büro war leer. Mir scheint, jemand führt einen Rachefeldzug gegen euer Team in Raleigh. Was in aller Welt habt ihr denn gemacht?“

Luke gefiel die Richtung, in der ihre Worte führten, überhaupt nicht. „Unsere Arbeit.“

„Zweifellos. Aber eure Arbeit hat jemanden aufgebracht. Und mit jemand meine ich die Art Jemand, der krank genug ist, sich ins Gebüsch zu legen und auf dich und Zane zu schießen, um euch zu euren Autos zu scheuchen, damit er oder sie euch in die Luft jagen kann. Und der sich dann über irgendwelche Feldwege aus dem Staub macht, um Jared Smith mitsamt seiner Eigentumswohnung in die ewigen Jagdgründe zu schicken, und dann zum Fitnessstudio fährt, um Michael Weaver umzulegen.“

Luke brachte sein Gehirn und seinen Mund nicht dazu, gleichzeitig zu funktionieren. Stattdessen starrte er Faith nur an. War das ihr Ernst?

„Ich schließe die Möglichkeit dreier verschiedener Täter nicht aus, aber ich habe vorhin an der Stelle gelegen, an der euer Schütze heute Morgen gewartet hat. Ich habe die Reifenspuren gesehen, die ihr von euren Autos aus nicht sehen konntet. Danach bin ich direkt zu Jareds Haus gefahren und dann zum Fitnessstudio. Nachmittags bei all dem Verkehr kommt es zeitlich nicht ganz hin, aber morgen früh werde ich die Strecken noch einmal fahren. Wenn ich mich irre, werde ich einen ganzen Tag lang auf Cherry-Cola verzichten, aber ich glaube, morgens früh und mit einer gut geplanten Strategie könnten wir es mit einem sehr entschlossenen Killer zu tun haben.“ Sie klappte die Schutzhülle ihres iPads zu und schob den Stift in die dafür vorgesehene Schlaufe. „Vielleicht übertreibe ich, aber euer Täter könnte derselbe sein, der Thad Bakers Auto in die Luft gesprengt hat. Ich habe die Akte von der zuständigen leitenden Ermittlerin angefordert.“

Faith stand auf. „Mein Beileid zu deinem Verlust, Luke. Ehrlich. Und ich bin froh, dass deine Verletzungen nicht schlimmer sind. Ich melde mich.“

Und mit diesen Worten ging sie.

„Warte!“ Luke rief hinter ihr her, aber wenn sie ihn hörte, antwortete sie nicht.

4

Luke Powell war ein arroganter, selbstsüchtiger Idiot.

Wie konnte er es wagen anzudeuten, dass sie diesem Fall nicht gewachsen war!

Faiths Verärgerung trieb sie von seiner Zimmertür weg und in Richtung Aufwachraum. Am liebsten hätte sie den kleinen Eimer mit Eiswürfeln über ihm ausgeleert und zugesehen, wie er sich in seinem albernen Krankenhaushemd wand.

Der Mann konnte von Glück sagen, dass er ziemlich gut aussah, jetzt wo sein sonst immer sorgfältig gestyltes Haar verwuschelt war und er statt eines glatt rasierten Kinns einen Dreitagebart hatte, der die markanten Züge seines Gesichts auf unerwartete Weise betonte. Aber das hätte ihn nicht vor ihrem Zorn bewahrt, wenn sie nicht den nackten Schmerz in seinen Augen gesehen hätte – Augen, die genau den gleichen Braunton hatten wie das Holz am Boot ihres Großvaters …

Reiß dich zusammen. Wen interessierten schon die Augen von Luke Powell? Niemanden. Schon gar nicht sie. Sie musste einen Fall aufklären. Und dass sie dabei mit Luke Powell zu tun hatte, würde … kompliziert sein. Alles an Luke war kompliziert. Er machte Faith wahnsinnig, aber er war auch witzig. Flegelhaft und doch charmant. Manchmal wollte sie ihm eine scheuern und bei anderen Gelegenheiten fragte sie sich, was er wohl tun würde, wenn sie ihn küsste.

Ihr Telefon zwitscherte. Faith blieb stehen und lehnte sich an die Wand, bevor sie ins Handy sprach. „Malone.“

„Bist du immer noch bei der Arbeit?“, fragte ihre Mutter.

Wie oft hatte sie ihrer Mom schon gesagt, dass sie diese Nummer nur in äußersten Notfällen anrufen sollte? Wie oft hatte sie darum gebeten, dass ihre Mutter eine Textnachricht schrieb und nicht anrief, wenn sie etwas Zeit hatte?

Sie zählte bis fünf.

„Bist du da? Ist die Verbindung schlecht?“ Ihre Mutter wusste ganz genau, dass es nicht an einer „schlechten Verbindung“ lag.

Faith zählte noch einmal bis fünf. „Mom, ich kann im Moment nicht mit dir reden. Du hast wieder meine dienstliche Nummer gewählt.“

„Sorry. Ich weiß auch nicht, warum das immer passiert.“

Klar. „Ich arbeite, Mom! Keine Ahnung, wann ich zu Hause sein werde. – Mit Hope alles in Ordnung?“

„Hope geht es gut. Sie hat heute Nachmittag angerufen, aber ich habe euch beide schon eine Weile nicht mehr gesehen.“

„Diese Woche werde ich auch gar keine Zeit haben, vorbeizukommen. Es ist –“

„Arbeitest du an einem Fall für den Geheimdienst?“ Ihre Mutter war nicht so begriffsstutzig, wie sie tat.

„Du weißt doch, dass ich nicht über meine Fälle reden kann. Ich melde mich später bei dir. Wenn du mich brauchst, nimm bitte meine private Nummer, okay?“

„Pass auf dich auf, mein Schatz.“

„Mach ich. Ich hab dich lieb.“ Faith beendete die Verbindung und sah nach, ob sie auch keine Anrufe verpasst hatte. Dann zog sie ihr privates Handy aus der Gesäßtasche und schickte eine schnelle Nachricht an ihre Schwester.

Hey! Lange nicht gesehen. Ich weiß, dass du diese Woche bei Gericht alles super machen wirst. Wenn du Zeit hast, kannst du mal rausfinden, ob ich Mom gerichtlich davon abhalten kann, mich auf dem Diensthandy anzurufen? #notkidding

Faith ließ den Finger noch einen Augenblick über dem Display schweben, als sie sah, dass die kleinen Punkte sich bewegten.

LOL! Das wird nichts. Gericht läuft gut. Hab dich lieb!

Ich dich auch.

Sie verstaute ihr Privathandy wieder in der Tasche. Wenn sie das nächste Mal bei ihrer Mutter war, würde sie bei Moms Telefon ihre dienstliche Nummer aus den Kontakten löschen.

Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, ging sie weiter zum Aufzug. Zehn Minuten später stand sie vor Zane Thackers Zimmer. Als sie vorhin versucht hatte, ihn zu sehen, war er gerade zwischen Aufwachraum und seinem neuen Zimmer im fünften Stock unterwegs gewesen. Hoffentlich hatte er in der Zwischenzeit Gelegenheit gehabt, sich ein bisschen auszuruhen, sodass er jetzt mit Faith sprechen konnte.

„Irgendwelche Neuigkeiten von draußen?“, fragte der Polizeibeamte, der auf dem Flur Wache stand, nachdem er ihre Dienstmarke genau betrachtet hatte.

„Keine neuen Nachrichten.“

„Gut“, sagte der ältere Herr. „Keine Nachrichten sind gute Nachrichten. Wenigstens an einem Tag wie heute.“

„Stimmt.“ Sie zeigte auf Zanes Zimmer. „Irgendwelche Änderungen hinsichtlich seines Zustands?“

Ein Achselzucken. „Ich soll ja eigentlich nichts wissen, aber vor ein paar Minuten habe ich ihn reden hören. Klang so, als würde er mit der Schwester schäkern. Ich glaube nicht, dass er schlimme Schmerzen hat. Jedenfalls noch nicht. Wenn die Wirkung der Tabletten nachlässt, wird sich das noch ändern. Sind Sie schon mal angeschossen worden?“

„Nein.“

„Dann würde ich sagen, belassen Sie es dabei.“

„Ich versuche es.“ Sie mochte diesen Kollegen. Er hatte eine beruhigende Art. Der Beamte deutete einen Salut an und klopfte dann an die Tür.

Eine Krankenschwester öffnete. „Ja?“

„Kann ich Agent Thacker kurz besuchen?“ Faith hielt ihre Dienstmarke hoch.

Die Schwester blickte finster drein, zog die Tür aber ganz auf. „Fünf Minuten. Dann komme ich wieder.“ Sie trat auf den Flur hinaus und Faith ging ins Zimmer.

Zane Thacker war das genaue Gegenteil von Luke Powell – unterschiedlicher konnten zwei Menschen nicht sein. Während Luke einen beinahe olivfarbenen Teint hatte, betonte Zanes helle Haut seine Augen, die das tiefe Blau des Meeres am Horizont hatten. Er hatte dicke dunkelblonde Locken und sein Bartschatten war … rot?

Zane lächelte verwirrt. „Faith? Was machst du denn hier? Ich meine, ich weiß deine Sorge um deinen Lieblingsgolfpartner sehr zu schätzen, aber mir war nicht klar, dass unsere Beziehung weit genug gediehen ist, damit du mich im Krankenhaus besuchen kommst. Oh. Warte.“ Er wackelte mit den Augenbrauen. „Du bist hier, um Luke zu sehen, oder? Das erklärt einiges.“

Zane war noch ein bisschen benommen von der Narkose, aber er hatte nicht den gequälten Blick, der in Lukes Miene so offensichtlich gewesen war. Faiths Anwesenheit wunderte ihn, beunruhigte ihn aber nicht.

Und dann wurde es ihr schlagartig klar. Zane wusste nichts. Und sie wollte nicht diejenige sein, die es ihm sagte.

Ein leises Klopfen an der Tür verschaffte ihr eine kurze Galgenfrist. Die Person, die hereinkam, war zweifellos die schönste Frau, die Faith jemals gesehen hatte. Sie war fast 1,80 Meter groß und als sie näher kam, wurde Faith sich ihrer mickrigen 1,65 Meter mehr als bewusst. Und diese Haare! Dunkelbraune Locken mit hellen Strähnchen, die wahrscheinlich keine Naturlocken waren, aber so aussahen, ergossen sich über den Rücken der Frau.

„Sie müssen Special Agent Malone sein“, sagte sie. „Special Agent Tessa Reed.“

Dies war also die geheimnisvolle Tessa Reed. Sie arbeitete schon ein knappes Jahr in Raleigh, aber ihre Wege hatten sich bislang nicht gekreuzt. Faith vermutete, dass Tessa indischer oder pakistanischer Abstammung war, aber ihrem Akzent nach zu urteilen war sie höchstwahrscheinlich in den Südstaaten aufgewachsen.

„Freut mich“, erwiderte Faith. „Obwohl ich Sie lieber unter anderen Umständen kennengelernt hätte.“

Bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, dass Agent Reeds Augen gerötet waren. Sie wusste Bescheid. Und jetzt war klar, warum sie hier war. Tessa Reed war geschickt worden, um es Zane zu sagen.

Faith versuchte, ihrem Mitgefühl für die Kollegin Ausdruck zu verleihen, sowohl wegen Tessas Verlust als auch wegen der Aufgabe, die vor ihr lag. „Ich komme später wieder.“

Als sie das Zimmer verließ, hörte sie Zane sagen: „Was ist los, Tessa? Warum ist sie gegangen?“

Fünfzehn Minuten später schraubte sie den Deckel von einer Wasserflasche und leerte sie zu einem Drittel, ohne abzusetzen. Bäh. Wasser war so … langweilig.

Sie setzte sich auf einen Stuhl im Wartezimmer und tippte auf ihr iPad, um ihre handschriftlichen Notizen in getippten Text zu verwandeln. Dann las sie alles noch einmal durch und redigierte einzelne Stellen. Sie musste ins Büro zurück und jedes Wort in der Akte zu Thad Bakers Tod analysieren.

Es gab eine Verbindung. Es musste eine geben. Drei tote und zwei verwundete Agenten des Secret Service in elf Wochen. Und alle vom Büro in Raleigh.

Raleigh, North Carolina, war im Moment wahrscheinlich der gefährlichste Einsatzort im gesamten Geheimdienst. Wie verrückt!

Drei tote Agenten – und alle hatten ihre Tätigkeit im Personenschutz bereits hinter sich und absolvierten jetzt den letzten Teil ihrer Karriere. Den Teil, der deutlich weniger Risiken mit sich bringen sollte.

Die beruflichen Stationen eines Geheimdienstagenten waren so unterschiedlich wie die Agenten selbst, aber im Normalfall verbrachten sie die ersten Jahre in einem Büro. Dort arbeiteten sie an Ermittlungen, die meist mit Falschgeld oder Cyberkriminalität zu tun hatten. Wann immer eine wichtige Person des öffentlichen Lebens in der Gegend war, unterbrachen sie ihre Aktivitäten, um den Präsidenten, Vizepräsidenten, ausländischen Würdenträger oder andere Personen zu beschützen, die eine solche Dienstleistung benötigten. Phase eins dauerte für die meisten Agenten zwischen drei und fünf Jahren. Das heißt, Luke war von dem zweiten Abschnitt noch ein, zwei Jahre entfernt und Zane … er konnte jeden Augenblick in Phase zwei eintreten.