Verborgenes Vermächtnis - Lynn H. Blackburn - E-Book

Verborgenes Vermächtnis E-Book

Lynn H. Blackburn

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Beschreibung

Eine böse Überraschung wartet auf Caroline Harrison, als sie mit ihrem Baby ihr Haus betritt: Ein Eindringling richtet eine Waffe auf sie! Allein auf Grund der anrückenden Polizei geschieht nichts Schlimmeres. Doch dann stellt sich heraus, dass ihr kleiner Adoptivsohn das wahre Ziel war – und dass der Angreifer nicht aufgeben wird. Von nun ab ist Detective Jason Drake für den Schutz der beiden zuständig – der Mann, der Caroline vor 13 Jahren das Herz brach und nun erneut ins Wanken bringt. Doch bevor Jason ein zweites Mal Carolines Herz erobern kann, muss er den Auftragskiller finden, bevor dieser sie findet ...

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LYNN H. BLACKBURN

VerborgenesVERMÄCHTNIS

Deutsch von Dorothee Dziewas

Die Bibelstellen sind der Übersetzung Hoffnung für alle® entnommen,Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.

© 2022 Brunnen Verlag GmbH Gießen

Redaktion: Tanja Jeschke

Umschlagfoto: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-3707-3

ISBN E-Book 978-3-7655-7641-6

www.brunnen-verlag.de

Für Emma -

ich bin ganz vernarrt in dich und überglücklich, dass Gott mich als deine Mama ausgesucht hat.Ich liebe dich, Kleines!

Wer das Urteil der Menschen fürchtet,gerät in ihre Abhängigkeit;wer dem HERRN vertraut, ist gelassen und sicher.Sprüche 29,25

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Dank

1

Das Haus war durchwühlt worden!

Caroline Harrison drückte den kleinen Henry fester an sich. Ihr Brustkorb zog sich zusammen und jeder Atemzug war ein Krampf, als sie sich umsah. Sessel- und Sofakissen lagen auf dem Boden im Wohnzimmer. Glasscherben von einer zerbrochenen Vase lagen über den Teppich verstreut, zwei Topfpflanzen waren auf den Boden geschmissen, Blätter und Erde mischten sich mit Büchern, die jemand aus dem Regal gerissen hatte.

Wer hatte das getan?

Und warum?

Was, wenn derjenige immer noch hier war?

Ein kratzendes Geräusch drang vom hinteren Teil des Hauses herüber und beantwortete ihre stumme Frage. Carolines Haut kribbelte und sie hatte einen sauren Geschmack im Mund.

Sie musste hier raus. Sofort. Das Haus ihrer Eltern war etwa einen halben Kilometer entfernt die gewundene Bergstraße hinunter. Zu weit, um mit einem sechzehn Monate alten Baby auf dem Arm zu rennen.

Also blieb nur ihr Wagen. Wenn sie erst einmal ein Stück vom Haus entfernt war, würde sie den Notruf wählen und auf die Polizei warten. Sie bewegte sich rückwärts aus dem Wohnzimmer, einen langsamen Schritt nach dem anderen, und suchte in ihrer Jackentasche nach dem Schlüsselbund.

Da waren keine Schlüssel.

Sie griff in die andere Seite. Auch leer. Panik drohte sie zu überwältigen, aber sie ging weiter in Richtung Garage, wo die Sicherheit ihres Autos wartete.

Was hatte sie nur mit ihrem Schlüssel gemacht?

Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie versuchte, sich zu erinnern.

Sie war in die dunkle Garage gefahren und hatte sich darüber geärgert, dass das Licht am Toröffner nicht funktionierte – mal wieder. Dann hatte sie die Wickeltasche genommen –

Das war es. Der Schlüsselbund war in der Wickeltasche.

Im Haus hatte Caroline die Tasche auf dem Tisch neben der Tür abgestellt. Sie schob sich langsam und vorsichtig schrittweise weiter zur Garage vor. Vielleicht war die Person da drinnen so sehr damit beschäftigt, etwas zu stehlen, dass sie Carolines Ankunft gar nicht bemerkt hatte. Je länger der Eindringling zu tun hatte, desto besser war ihre Chance, ungesehen zu verschwinden.

Henry schlief weiter und bekam von den dramatischen Ereignissen überhaupt nichts mit.

Carolines Hand schloss sich um den Henkel der vollgestopften Wickeltasche. Warum hatte sie die Tasche heute Morgen nicht ausgeräumt? Wenn irgendetwas herausfiel, während sie zu fliehen versuchte …

Sie schob den Riemen der Tasche über ihre Schulter und griff mit der freien Hand hinter sich. Sie würde den Schlüssel finden, wenn sie im Auto saß.

Ihr wurde erst bewusst, dass ihre Handflächen schweißnass waren, als sie den Türknauf nicht drehen konnte. Sie rieb mit der freien Hand über ihren Oberschenkel und versuchte es noch einmal. Der Knauf drehte sich geräuschlos, aber als sie die Tür öffnete, wappnete Caroline sich für das Geräusch der Alarmanlage, das sie normalerweise darauf hinwies, dass irgendwo eine Tür oder ein Fenster offen stand.

Nichts geschah.

Der Dieb hatte ihr Sicherheitssystem lahmgelegt. Caroline eilte die beiden Stufen hinunter, die zu ihrer Garage führten, während jede Zelle in ihrem Körper schrie, sie solle schneller machen, und zugleich jedes Neuron in ihrem Gehirn sie drängte, sich vorsichtiger zu bewegen. Sie zog die Tür hinter sich an, ohne sie jedoch ganz zu schließen.

Die freie Hand ausgestreckt, um nicht gegen das Fahrzeug zu stoßen, schlich sie um den Wagen herum zur Fahrerseite. Sie öffnete die Tür und das Klicken des Türgriffs hallte im Raum wider. Das hätte jeder im Haus hören können. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht kam es ihr nur so laut vor, weil sie auf jedes Geräusch überreagierte. Das Blut pochte in ihren Ohren und ihr Atem ging keuchend, obwohl sie sich alle Mühe gab, keinen Laut von sich zu geben. Durch das Öffnen der Tür wurde das Licht im Innern des Wagen automatisch eingeschaltet, und sie drückte drei Mal eine falsche Taste, bis es ihr gelang, das Licht wieder zu löschen. Caroline sank auf den Fahrersitz, den kleinen Henry immer noch an ihrer Schulter.

Sie konnte nicht riskieren, die hintere Tür zu öffnen, um Henry in seinem Kindersitz festzuschnallen. Was war, wenn er aufwachte und zu weinen anfing? Sobald sie sicher war, dass keine Gefahr mehr drohte, würde sie anhalten und ihn in seinen Sitz legen.

Vorsichtig zog sie die Tür zu und suchte in den Fächern der Wickeltasche nach ihrem Schlüssel.

Komm schon. Jetzt komm! Er musste doch da sein.

Wo war der Schlüsselbund?

Carolines Finger fanden ihr Handy und sie nahm es und wählte die Notrufnummer 911, während sie weiter nach dem blöden Schlüssel suchte. Warum hatte sie nicht das Auto mit der schlüssellosen Zündung genommen? Damals war es ihr wie nutzloser Schnickschnack vorgekommen. Jetzt würde sie alles dafür geben.

„911, um was für einen Notfall handelt es sich?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung hallte im Wageninnern wider.

„Mein Name ist Caroline Harrison“, flüsterte sie. „Ich wohne in 220 Mountain View Drive. In mein Haus ist eingebrochen worden. Ich glaube, die Person ist noch im Haus.“

„Wo sind Sie jetzt?“

„In meinem Wagen in der Garage, aber ich finde meinen Schlüssel nicht.“

„Ich schicke sofort jemanden. Ein Streifenwagen ist ganz in Ihrer Nähe.“

„Bitte beeilen Sie sich!“

„Bleiben Sie bitte in der Leitung, Ms Harrison.“

„Ich versuche es.“

„Sind Sie allein?“

„Nein. Ich habe meinen … meinen … Sohn.“ Sie hatte keine Zeit, um die komplizierte Beziehung zu diesem süßen Kind zu erklären. Und er war ihr Sohn. In zwei Wochen würde es amtlich sein.

„Wie alt ist er?“

„Sechzehn Monate.“

Endlich!

Ihre Finger schlossen sich um den Schlüsselbund. Sie warf die Wickeltasche auf den Beifahrersitz und legte die Schlüssel auf ihren Schoß, um im Dunkeln den richtigen Autoschlüssel zu finden.

Ihre Hände zitterten und sie holte erleichtert Luft, als sie schließlich den richtigen Schlüssel ins Zündschloss steckte. Aber sie machte den Motor noch nicht an – schließlich wollte sie den Eindringling nicht durch Motorengeräusch warnen. Erst würde sie dafür sorgen, dass alles bereit war, um loszufahren.

Sie griff nach der Taste an ihrer Sonnenblende, die das Garagentor öffnen sollte, aber stattdessen ging die Tür zum Haus auf. Caroline unterdrückte einen frustrierten Aufschrei, als die Silhouette eines Mannes erschien und auf sie zukam.

„Hier ist jemand!“

„Tut mir leid, Ms Harrison, das habe ich nicht verstanden. Haben Sie gesagt, da ist jemand –“

„Er kommt auf mich zu –“

Sie hatte keine Zeit. Es hatte keinen Sinn mehr, sich zu verstecken. Sie griff wieder nach dem Garagentoröffner. Sie würde nicht hier sitzen und darauf warten, dass dieser Mann tat, was immer er zu tun vorhatte.

Sie drückte auf den Knopf. Wieder und wieder. Warum ging das Tor nicht auf?

Die schreckliche Wahrheit war zu viel für sie. Er musste gewusst haben, dass sie hier war. Während sie dachte, sie könnte unbemerkt fliehen, hatte er das Garagentor sabotiert. Wahrscheinlich mit der Sicherung im Hauswirtschaftsraum. Mit ihrem kleinen Toyota Camry konnte sie unmöglich das Tor durchbrechen, aber sie musste es trotzdem versuchen.

Caroline drehte den Schlüssel im Zündschloss. In dem Licht, das vom Haus in die Garage fiel, sah sie die Pistole in seiner Hand.

Die Waffe war auf ihre Windschutzscheibe gerichtet.

Detective Jason Drake fuhr mit seinem Ford Explorer auf den Parkplatz des Restaurants und nahm den Anruf auf seinem Handy entgegen. „Hi, Michael, ich bin hier“, sagte er. Michael Ellis und er trafen sich beinahe jeden Donnerstagabend zum Essen, seit er vor sechs Monaten begonnen hatte, für den Sheriff von Henderson County zu arbeiten.

„Tut mir leid, Kumpel. Ich schaff es nicht. Die Zentrale hat angerufen.“

„Als wäre das eine Überraschung“, erwiderte Jason. Er hatte schon nach zwei Tagen in seinem neuen Job erkannt, dass sein alter Freund ein Auge auf die Kollegin in der Zentrale geworfen hatte.

„Nicht, was du denkst“, sagte Michael. „Wir haben einen Notruf von den Harrisons erhalten.“

Die Harrisons. Er kämpfte gegen die Erinnerungen an, die an seine Herzenstür klopften. „Stimmt was nicht in der Fabrik?“

„Nein. Der Anruf kam von Caroline Harrison.“

Die Erwähnung ihres Namens öffnete die Schleusen und die Erinnerungen brachen über ihn herein. Große blaue Augen, die aufblitzten beim Lachen über eine Anspielung zwischen ihnen. Volle Lippen, zu einem Lächeln geschwungen, das nur ihm galt. Die vielen Male, die er ihre Hand gehalten hatte. Das eine Mal, als er sie im Arm gehalten hatte.

„Sie hat gesagt, in ihrem Haus sei ein bewaffneter Eindringling.“

Jason trat das Gaspedal durch. „Ich bin unterwegs.“

Eine Minute später klingelte sein Telefon erneut. Der Sheriff.

„Drake, wir haben einen Einsatz bei Caroline Har–“

Jason unterbrach seinen Vorgesetzten trotz seines Respektes vor dem Mann. „Ja, Sir, ich weiß.“

„Ich will, dass Sie das übernehmen.“

Gut. Jetzt hatte er eine Ausrede, warum er dort war. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Er musste sich so oder so davon überzeugen, dass es Caroline gut ging.

„Natürlich, Sir. Ich bin unterwegs.“

„Ich will diesen Fall schnell aufgeklärt haben, verstanden, Jason? Und tun Sie alles, was nötig ist, um Caroline Harrison zu beschützen.“

„Ja, Sir.“

Es dauerte fünf qualvolle Minuten, bis er das Tor zum Anwesen der Harrisons erreicht hatte. Ein uniformierter Beamter stand dort und versperrte mit seinem Wagen den Weg den Berg hinauf.

Jason fuhr sein Fenster herunter und der junge Mann – Dan? Dave? Der Name würde ihm später wieder einfallen – trat an sein Fenster.

„Hi, Jason. Bist du auch hier, um ein bisschen was von der Aufregung mitzukriegen? Ist das reinste Chaos da oben.“

Jason spürte die Enttäuschung des Jungen, weil er nicht unmittelbar mit der Sache zu tun hatte, aber er hatte keine Zeit für eine Plauderei mit … Dalton. Das war es. „Wie ist der aktuelle Stand?“

„Das Haus ist sicher. Caroline und dem Baby geht es gut, nur ein bisschen durch den Wind. Keine Ahnung, wo der Eindringling ist.“

„Danke.“ Er fing an, das Fenster wieder hochzufahren.

„He.“ Dalton hob eine Hand. „Du kennst dich aus, oder? Carolines Haus ist etwa vierhundert Meter hinter dem Haus von Harrison senior.“

Das wusste er. Diese Auffahrt war eine einzige lange Erinnerung. Er fuhr das kurze Stück zu dem Haus, in dem Carolines Bruder Blake mit seiner Tochter und seiner jetzigen Frau Heidi wohnte. Bislang hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, sie kennenzulernen.

Als er sich Carolines Elternhaus näherte, sah er mehr Aktivität. Beamte und Streifenwagen mit Blaulicht erleuchteten den Berg. Das Haus strahlte wie ein Leuchtturm. In diesem Haus hatte Jason so viele glückliche Stunden verbracht. Jeffrey und Eleanor hatten ihn immer willkommen geheißen. Bis er es sich mit Caroline verdorben hatte.

Jason zwang seine Gedanken, sich wieder der Gegenwart zuzuwenden. Vergangenen Fehlern nachzuhängen würde auch nichts ändern.

Jason folgte dem Weg vorbei am Haus der Harrisons und weiter den Hang hinauf. Mehr als einmal waren sie den Berg hinaufgelaufen und Caroline hatte immer gesagt, dass sie dort oben leben wollte. Mit sechzehn war sie nicht sicher gewesen, ob ihr Vater ihr das Land verkaufen würde.

Natürlich hatte Jeffrey Harrison sogar mehr als das getan. Jason erinnerte sich noch daran, wie aufgeregt seine Mutter geklungen hatte, als sie es ihm erzählt hatte. „Caroline war letzte Woche hier. Sie ist ganz aus dem Häuschen. Jeffrey und Eleanor haben ihr zum fünfundzwanzigsten Geburtstag die Bergkuppe geschenkt. Diese Woche setzt sie sich mit einem Architekten zusammen, um ihr Traumhaus zu planen.“

Er bog um die letzte Kurve. Ein Traumhaus, das war es tatsächlich.

Sie war schon immer eine Anhängerin von Steinbauten gewesen und das Haus fügte sich nahtlos in den Berg ein. An dem Standort würde man eine atemberaubende Aussicht von der Terrasse haben, aber ihn fesselte nur ein Anblick.

Caroline Harrison.

Selbst nach all den Jahren konnte er sie nicht ansehen, ohne seine frühere beste Freundin zu sehen. Wenn er doch den Abend damals löschen könnte. Die eine Unterhaltung. Diesen einen Kuss, der alles zerstört hatte. Wenn er den Mund gehalten hätte …

Nein. Es war damals die richtige Entscheidung gewesen. War es immer noch. Und es tat immer noch weh.

Er stieg aus dem Wagen und ging zwischen den Einsatzkräften hindurch, von denen die meisten eigentlich Feierabend hatten, wie er wusste. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Bewaffnete Eindringlinge waren in Etowah, North Carolina, nicht alltäglich.

Jason trat in den Lichtkegel der Scheinwerfer und Caroline sah ihm in die Augen.

„Jason.“

Es war das erste Mal seit dreizehn Jahren, dass sie freiwillig mit ihm sprach, und in ihrer Stimme hörte er ein Flüstern der Hoffnung. Keine Hoffnung auf die Zukunft, die sie hätten haben können. Aber vielleicht Hoffnung auf die Vergebung, die er nicht verdient hatte.

Sie lächelte zaghaft. „Ich bin froh, dass du hier bist.“

Ein Ölzweig? „Ich auch.“ Er hielt ihren Blick etwas länger fest, als er sollte. So viele Dinge mussten gesagt werden, aber das alles musste warten. Michael und ein junger Polizist kamen auf sie zu.

„Ich habe gehört, dass man dir den Fall zugeteilt hat“, sagte Michael.

„Ja. Dann erzähl mal.“

2

Caroline hörte nur mit halbem Ohr zu, als Jason von seinen Kollegen auf den aktuellen Stand gebracht wurde.

„Um 7.12 Uhr haben wir auf den Notruf reagiert … Schüsse abgefeuert … Weder Caroline noch Henry wurde verletzt … Caroline sagt, er ist weggelaufen, als er die Sirenen gehört hat.“

Bei diesem Satz huschte sein Blick zu ihr hinüber und blieb dort hängen. Jason hatte das Gesicht zu einem Ausdruck verzogen, den Caroline nicht deuten konnte. War er wütend? Frustriert? Belustigt? Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Früher hatte sie ihn quer durchs Klassenzimmer ansehen können und genau gewusst, was er dachte.

„Wir haben das Grundstück abgesucht, soweit das im Dunkeln möglich ist. Morgen früh kommen wir wieder und suchen nach Spuren.“

„Alarmanlage?“

„Top, so was habe ich noch nie gesehen. Aber der Eindringling hat es geschafft, das System lahmzulegen.“

Jason wandte sich Caroline zu. „Was hat es mit dem Sicherheitssystem eigentlich auf sich?“

„Ich weiß nicht viel darüber, außer dass es Hightech ist. Meine Schwägerin Heidi hat die Anlage einbauen lassen. Sie ist FBI-Agentin.“ Jason wirkte nicht so überrascht, wie sie erwartet hätte. Dann hatte seine Mutter ihn also in all den Jahren auf dem Laufenden gehalten. Hätte sie sich ja denken können. Ihre Mütter waren seit fünfundzwanzig Jahren befreundet. Caroline vermutete, dass sie immer noch die Hoffnung hatten, Jason und sie würden Frieden schließen und es mit einem Kuss besiegeln.

Unwahrscheinlich.

Das mit dem Kuss hatte ja erst alles ruiniert.

Michaels Telefon klingelte. Er entschuldigte sich und ging ein Stück zur Seite, um den Anruf entgegenzunehmen. Jason wandte sich an den anderen Beamten und klopfte ihm auf die Schulter. „Gute Arbeit hier.“ Der Kollege, der kaum älter als dreiundzwanzig sein konnte, wuchs sichtlich bei dem Lob.

„Danke, Sir.“ Er nickte Caroline zu. „Ma’am.“

Als er ging, sah sie Jason an. „Ma’am? Im Ernst? So alt bin ich nun auch wieder nicht.“

Er warf ihr wieder einen Blick zu, den sie nicht entziffern konnte. „Nein, bist du nicht. Aber er ist so jung.“ Er sah sich um. „Wo ist Henry?“

Caroline zeigte aufs Haus. „Er ist eingeschlafen, sobald die Sanitäter damit fertig waren, uns zu versorgen“, sagte sie. „Einer deiner Kollegen hat mir erlaubt, ihn ins Reisebett zu legen. Der Kleine schläft bei jedem Lärm.“

Jason lächelte. „Ich würde ihn gerne kennenlernen, aber das muss wohl warten. Kannst du mir noch mal erzählen, was genau passiert ist?“

„Okay.“

Ein mulmiges Gefühl stieg in ihr auf, als sie das Haus wieder betrat. Lag das daran, dass die schrecklichen Erinnerungen an die Geschehnisse dieses Abends wiederkamen? Oder daran, dass der Mann, der ihr jetzt ins Haus folgte, vor dreizehn Jahren genau an derselben Stelle gestanden und ihr das Herz gebrochen hatte, als er geschworen hatte, er würde sein Leben niemals in dieser Kleinstadt vergeuden? Nichts, was sie gesagt hatte, hatte ihn dazu bewegen können zu bleiben. Selbst als sie ihm gestanden hatte, wie sie empfand … Ihre Haut wurde trotz der kühlen Abendluft ganz warm. Das war lange her. Damals war sie sehr jung gewesen. Und dumm.

Jetzt war sie beides nicht mehr.

Sie zwang ihre Gedanken, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, und ging die Ereignisse des Abends durch, indem sie Jason zeigte, wie sie hereingekommen war, wo sie ihren Schlüssel verloren hatte, das Licht in der Garage, das nicht funktionierte.

Als sie bei ihrem Auto angekommen war, fehlten ihr mit einem Mal die Worte. Gerade hatte jemand versucht, sie umzubringen. Ihr Zuhause, ihr Zufluchtsort, ihr Heiligtum waren geschändet worden. Und jetzt war Jason wieder da.

Gott, warum musste mein Leben so laufen?

Sie wusste nicht, wie lange sie den Wagen anstarrte – ein metaphorisches Stillleben ihrer verkorksten Welt.

Eine sanfte Berührung an ihrem Ellenbogen zog sie in die Gegenwart zurück. Jason schob sich zwischen sie und das Fahrzeug und sah ihr tief in die Augen. Diesmal hatte sie keine Mühe, die Emotion zu deuten, die sie darin sah. Diesen entschlossenen Blick würde sie überall erkennen.

„Caroline.“ Er schluckte und versuchte es noch einmal. „Du hast keinen Grund, mir zu trauen oder mir zu glauben oder mich auch nur in der Nähe haben zu wollen.“ Reue schwang in jedem Wort mit. „Aber ich verspreche, dass ich nicht ruhen werde, bis wir herausgefunden haben, was hier los ist.“

Caroline fiel auf, dass er nicht gesagt hatte, sie würden den Typen kriegen. Das hatte sie von Heidi gelernt. Egal, für welchen Arm der Justiz man arbeitete, die wirklich guten Beamten versprachen niemals etwas, das sie nicht halten konnten. Trotzdem war es tröstlich zu wissen, dass Jason so engagiert war.

„Danke, Jason.“

Er lächelte und zog eine Augenbraue hoch. „Mom sagt, du kommst mindestens einmal im Monat vorbei.“

Sie hätte den Themenwechsel begrüßt, wenn er über etwas anderes gesprochen hätte. Wollte er jetzt etwa darüber reden? Keine tiefen Gespräche, ermahnte sie sich selbst. „Ich mag deine Mom.“ Sie zwang sich zu lächeln. „Öfter kann ich sie natürlich nicht besuchen. Jedes Mal, wenn ich bei ihr durch die Tür gehe, nehme ich zwei Kilo zu.“

Jason klopfte auf seinen Bauch. „Wem sagst du das? Ich muss jetzt jeden Tag drei Kilometer mehr laufen.“

„Du Armer.“ Caroline versuchte nicht, ihren Sarkasmus zu verbergen.

„Ich will ihre Gefühle nicht verletzen, indem ich den Kuchen nicht esse, den es jeden Abend zum Nachtisch gibt. Und zum Frühstück dann noch mal.“

Caroline konnte das Lachen, das aus ihr herauswollte, nicht unterdrücken. „Du bist ein guter Sohn“, sagte sie. Jason stimmte in ihr Lachen ein und einen Augenblick lang ließ die Angst Carolines Herz los.

Jason lehnte sich an den Wagen. „Aber warum tust du dir das an? Ich bezweifle, dass du alle Eltern deiner Highschool-Freunde besuchst.“

So viel zum Thema keine ernsthaften Gespräche. Er hatte doch sicher nicht das Versprechen vergessen, das sie ihm gegeben hatte – vor dreizehn Jahren –, nämlich sich um seine Eltern zu kümmern, nachdem er zur Marine gegangen war. „Du weißt, warum.“

Sie konnte es in seinem Blick sehen. Er wusste es. Warum also fragte er? Was wollte er hören?

Er ging zur Motorhaube und betrachtete das Einschussloch in der Windschutzscheibe. „Es tut einfach gut zu hören, dass manche Dinge sich nicht ändern.“

„Das stimmt. Deshalb war ich auch nicht überrascht, als ich gehört habe, dass du nach Hause kommst. Ich wusste das“, sagte Caroline.

Sie begegnete Jasons Blick und sah eine Mischung aus Traurigkeit und Verwirrung darin.

„Das mit deinem Dad tut mir leid, Jason.“

Sie sah, dass die Muskeln in seinem Hals zuckten. „Danke“, erwiderte er und räusperte sich dann. „Mir tut es auch leid.“

Noch jemand räusperte sich ganz in der Nähe. Michael Ellis nickte ihr zu. „Wir sind im Haus fertig, Caroline. Ich dachte, du willst Henry vielleicht in sein Bett legen.“

„Danke, Michael. Lieb von dir.“

Michael wandte sich an Jason. „Wenn du eine Minute Zeit hast, müssen wir reden.“

Etwas an seinem Tonfall ließ Caroline erschauern. „Wenn es um mich, mein Haus, mein Kind oder um den Mann geht, der gerade versucht hat, mich zu töten, dann sag einfach, was du zu sagen hast.“

Michaels Blick huschte von Caroline zu Jason. Man brauchte kein Experte für Körpersprache zu sein, um seinen lautlosen Hilferuf zu deuten.

„Caroline? Wenn ich verspreche, dir alles zu erzählen, gibst du mir dann eine Viertelstunde, um die Spurensicherung hier abzuwickeln? Es wäre einfacher, wenn ich so viele der Jungs wie möglich nach Hause schicken könnte. Dann können wir ungestört reden.“

Oh, wie gerne würde sie widersprechen. Sie wusste, dass Jason das mit den Kollegen eingeworfen hatte, um an ihr Mitgefühl zu appellieren. Und das Schlimmste war, dass es funktionierte.

„Also gut. Redet ihr. Schick die Leute nach Hause. Aber dann will ich alles hören. Heute noch.“

Michael konnte seine Erleichterung nicht verbergen.

Jason hielt ihrem Blick stand. „Versprochen.“

Jason konnte nicht leugnen, dass er es genoss, die kratzbürstige Seite von Caroline Harrison zu sehen. „Geh doch schon mal rein. Hol dir was zu trinken. Erhol dich von dem Chaos. Ich mache hier nur noch alles fertig und komme bald nach.“

In ihrem Blick lag immer noch ein Anflug von Widerspruch. „Bald heißt nicht in einer Stunde, Jason Drake.“

„Ja, Ma’am.“ Sie funkelte ihn an, dann drehte sie sich um und ging. Er war froh, dass sie Kampfgeist an den Tag legte, besonders, weil er merkte, dass sie erschüttert war. Sie kaute immerzu auf der Unterlippe. Und wahrscheinlich war ihr nicht bewusst, dass sie beim Reden die Hände zu Fäusten ballte. Oder dass sie sich auf den Fersen vor und zurück wiegte.

Aber sie hatte keinen Nervenzusammenbruch. Nicht, dass ihn das überraschte. Caroline Harrison war ein Fels in der Brandung. Das war sie schon immer gewesen. Manche Dinge änderten sich tatsächlich nie.

Andere schon. Er selbst zum Beispiel – wieder in der Stadt, nachdem er ihr und allen anderen klipp und klar gesagt hatte, er würde nie zurückkommen. Er könne niemals hier leben. Nicht, weil der Ort nicht schön wäre oder er seine Familie nicht liebte.

Na ja, wenigstens die Familie, die er als seine Familie empfand.

Aber der Vater, den er nicht dazu zählte – den leiblichen Elternteil, der Jasons Kindheit zur Hölle gemacht hatte und den Jason von Herzen gerne durch einen liebevollen, ehrenwerten Stiefvater ersetzt hatte –, lebte auch hier. Er rief ständig an. Wahrscheinlich, um seinem Missfallen über Jasons Berufswahl Ausdruck zu verleihen. Wieder einmal.

Er schob den Gedanken beiseite. Im Moment musste er sich um weitaus wichtigere Dinge kümmern. Zum Beispiel musste er herausfinden, wer Caroline umbringen wollte.

Eine halbe Stunde brauchte Jason, um sich mit Michael zu beraten und mit den Kollegen zu sprechen, die sich um Carolines Haus versammelt hatten. Es überraschte ihn nicht, dass sich mehrere von ihnen freiwillig meldeten, um ihr in dieser Nacht Personenschutz zu geben.

„Dalton und Michael, ihr übernehmt die Wache heute Nacht. Später entscheiden wir, ob wir uns in der restlichen Woche irgendwie abwechseln müssen.“

Dalton war unerfahren, aber engagiert genug, um wach zu bleiben, nachdem die Aufregung sich gelegt hatte. Michael war zuverlässig. Wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gab, würde er damit fertigwerden.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles zu seiner Zufriedenheit geregelt war, ging er die Treppe zu Carolines Haustür hinauf. Sollte er klopfen? Vorhin hatte es vor Polizisten und Technikern von der Spurensicherung nur so gewimmelt, aber jetzt, wo es ruhiger geworden war, wollte er Caroline nicht stören.

Er klopfte an die Tür und öffnete sie ein wenig. „Caroline? Alles in Ordnung bei dir?“

„Ja, alles gut. Ich mache nur Henry für die Nacht fertig. Komm rein.“

Jason schloss die Tür hinter sich. Caroline stand mit einem schläfrigen Baby auf dem Arm im Flur, das Köpfchen des kleinen Jungen, dessen Augen nur noch halb geöffnet waren, an ihre Schulter gelegt. Sie verlagerte vorsichtig seine Position, sodass ihre Wange auf seinem Kopf lag. „Einen kleinen Moment“, flüsterte sie.

Das Muttersein passte zu ihr. Er weigerte sich, dem Bedauern nachzugeben, das in ihm aufsteigen wollte. Sie hatte niemals ihm gehört. Sie hatten nie eine Zukunft gehabt. Caroline war als Mutter ein Naturtalent, aber er hatte nicht vor, herauszufinden, was für ein Vater er wäre. Er konnte nicht riskieren, die Sache genauso schlecht zu machen wie die Männer in seinem eigenen Familienstammbaum.

Caroline verschwand den Flur hinunter und Jason sah sich noch einmal in dem verwüsteten Wohnzimmer um. Wer konnte das gewesen sein? Einbrüche geschahen, aber das hier schien mehr zu sein. Seine Finger ballten sich zu Fäusten. Irgendwie würde er die Person finden, die das getan hatte.

Kurz darauf kam Caroline zurück. „Und, was hat Michael dir erzählt, was euch alle so aufgeregt hat?“

„Ich werde deine Frage beantworten, aber vorher muss ich dir selbst ein paar Fragen stellen.“

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu.

„Ich würde meinen Job nicht richtig machen, wenn ich nicht alle Möglichkeiten in Betracht zöge.“

„Gut. Kann ich anfangen, hier aufzuräumen, während wir reden?“

„Natürlich. Ich helfe dir.“ Caroline war immer eine Ordnungsfanatikerin gewesen. Noch etwas, das sich nicht geändert hatte. Jason hob ein Sofakissen vom Boden auf und warf es auf die Couch. Caroline nahm eine Wolldecke, die er wiedererkannte. Ihre Mutter hatte sie vor vielen Jahren für Caroline gehäkelt. Sie drückte die Decke einen Augenblick lang an sich, bevor sie sie zusammenfaltete und über eine Armlehne des Sofas legte.

„Gibt es in deinem Leben irgendjemanden, der dir Schaden zufügen will?“

„Nein.“

„Was ist mit der Arbeit? Ein frustrierter Angestellter?“ Caroline hatte eine wichtige Managementposition in ihrem Familienunternehmen inne. Wenn jemand in der Firma unglücklich war, wäre sie eine sichtbare Zielscheibe für solchen Frust.

„Nein.“

„Ich brauche etwas mehr als einsilbige Antworten.“

Sie schnaubte und stellte eine Orchidee auf, die auf den Boden gestoßen worden war. „Gut. Keine Probleme bei der Arbeit. Ich kümmere mich um die Finanzen und übernehme mehr Personalverantwortung, jetzt, wo Dad Blake und mir mehr die Zügel überlässt. Aber wir haben seit Jahren niemandem mehr gekündigt. Alle bekommen pünktlich ihr Gehalt. Niemand beschwert sich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand bei HPI so etwas tun würde.“

Harrison Plastics International war immer das Unternehmen in der Stadt gewesen, bei dem alle arbeiten wollten. Es klang nicht so, als hätte sich daran etwas geändert.

„Was ist mit Zulieferern? Kunden? Irgendjemand unzufrieden?“

Caroline wiegte langsam den Kopf hin und her. Gab es jemanden, der nicht zufrieden war? „Was überlegst du?“

Sie stellte die Pflanze auf einen Beistelltisch. „Wir haben in letzter Zeit ein paar Dinge verändert. Einen neuen Lieferanten für Büromaterial. Eine neue Leasingfirma für den Drucker. Blake hat einen der Hauptlieferanten für Rohmaterialien gewechselt. Aber nichts, was jemanden dazu veranlassen würde, auf mich zu schießen.“

Er würde mit Blake reden. Carolines Bruder hatte immer gut auf seine kleine Schwester aufgepasst. Was wohl auch der Grund dafür war, dass er Jason nicht besonders mochte. Aber vielleicht sah er die Sache anders als Caroline.

„Wo ist Blake? Und wo sind überhaupt alle?“

„Was meinst du?“

„Deine Eltern? Blake, Heidi und Maggie? Es wundert mich, dass wir nicht eine ganze Einsatztruppe vom FBI hier haben.“

Caroline hob ein paar Bücher vom Boden auf. „Mom und Dad sind auf einer Missionsreise zu einem Flüchtlingslager in Griechenland.“

„Hatte dein Vater nicht vor zwei Jahren einen Schlaganfall?“

„Doch, aber er ist wieder ganz gesund geworden.“

„Das ist super.“ Er hörte die Wehmut in seinen eigenen Worten. Für seinen Dad würde es kein Happy End geben. Eine degenerative Nervenerkrankung würde ihm das Leben rauben, ein schmerzhaftes Stück nach dem anderen. „Das erklärt, wo deine Eltern sind. Und was ist mit Blake, Heidi und Maggie?“

„Blake und Maggie sind auf einer Missionsreise für Eltern mit Kindern. Sie unterstützen eine Familie in Haiti und sind mit einer Gemeindegruppe über die Frühjahrsferien dorthin gefahren. Sie kommen nächste Woche wieder.“

„Und Heidi ist irgendwo und macht was Geheimnisvolles?“

„Genau.“

Er betrachtete ein Familienfoto auf dem Kaminsims. „Erzähl mir von deiner neuen Schwägerin.“

„Heidi arbeitet oft undercover. Deshalb war sie letztes Jahr hier. Und dadurch hat sie Blake kennengelernt. Manchmal ist sie also weg. Nicht so oft wie früher und meist nicht länger als ein, zwei Tage. Ich weiß nicht, ob Blake überhaupt weiß, was sie macht oder wo sie ist.“

Sie wischte einen Fingerabdruck vom Klavier. „Aber ich muss sie finden. Sie ist die Einzige, die das Sicherheitssystem versteht.“

„Warum sie?“

„Als wir damals das Problem in der Firma hatten – deine Mom hat dir bestimmt davon erzählt, oder?“

„O ja.“ Seine Mutter hatte ihm an dem Abend drei Stunden lang das Ohr abgekaut. Nachdem er im Büro des Sheriffs angekommen war, hatte er die ganze Geschichte erfahren. Die Geschichte, die irgendwie nie komplett in der Presse gelandet war. Heidis Team hatte mit Blakes Hilfe einen landesweiten Anthrax-Anschlag verhindert.

„Heidi hat hier und in der Fabrik alle Alarmanlagen aufgerüstet. Wir haben Bewegungsmelder, Kameras, Schutzräume und wahrscheinlich noch eine Menge anderer Dinge, von denen ich nichts weiß. Es ist kein handelsübliches System. Es hat auch keine Monitorstation im Haus, obwohl es irgendwo überwacht wird. Vielleicht in Washington D.C.? Die Kodierung hat jedenfalls das Niveau des Pentagons. Sehr schwer zu knacken.“

„Könnte es sein, dass du heute Morgen vergessen hast, es einzuschalten?“

„Nein.“

„Bist du sicher?“

„Hundertprozentig.“

„Woher willst du das wissen? Ich vergesse so was ständig.“

Sie grinste spöttisch. „Ich weiß es, weil Henry wie am Spieß geschrien hat und ich ihm was vorgesungen habe, während ich die Nummer eingegeben habe.“

Das klang leider nach einer verlässlichen Erinnerung. Die Vorstellung, dass dieses erstklassige Sicherheitssystem eingeschaltet gewesen war, als der Eindringling ankam, machte ihm Sorgen, denn es bedeutete, dass der Mann wusste, wie man es ausstellte. Sie hatten es also entweder mit einem Technikexperten zu tun, wie er bei Feld-, Wald- und Wiesendieben kaum zu finden war, oder der Eindringling war jemand, den Caroline kannte und dem sie vertraute. Er wusste nicht, was schlimmer wäre.

Aber so oder so hatte sie ein Recht zu erfahren, womit sie es zu tun hatten.

„Das, was du mir beschrieben hast, klingt nicht so, als wäre die Alarmanlage an gewesen, als du nach Hause gekommen bist. Wer kennt sonst noch den Code? Eine Putzfrau vielleicht?“ Er holte tief Luft. „Oder dein Freund?“

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ich habe einen Vollzeitjob und ein Baby. Romantik steht auf meiner Prioritätenliste im Moment nicht gerade ganz oben.“

Jason machte sich nicht die Mühe zu hinterfragen, warum ihm bei ihren Worte ein Stein vom Herzen fiel.

„Was ist mit Julia? Macht sie noch bei dir sauber?“

Die Haushaltshilfe der Harrisons war früher immer nett zu ihm gewesen.

„Ja, aber ich ändere den Code jede Woche. Sie ruft mich an, wenn sie hier ist, und ich gebe ihr den neuen Code.“

„Du änderst ihn jede Woche?“

„Heidi besteht darauf. Jeden Sonntagabend ändere ich die Zahlenkombination.“

Das Gewicht ihrer Worte traf Jason wie ein Schlag. „Weißt du, Caroline, wer auch immer dieser Typ ist – er hat es geschafft, ins Haus zu gelangen und die Alarmanlage auszuschalten. Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er extrem gut ausgebildet ist und dich und deine Familie beobachtet hat, sodass er wusste, dass du heute Abend allein sein würdest.“

Carolines Hand zitterte, als sie nach ihrem Glas griff und einen Schluck trank. „Das heißt, es war kein willkürlicher Überfall. Du glaubst, er hat es mit voller Absicht auf mich abgesehen.“

„Genau. Und es kann gut sein, dass er wiederkommt.“

3

Caroline fuhr zusammen, als es an der Tür klopfte. Daran, wie Jasons Hand zu der Pistolenhalfter an seiner Hüfte flog, konnte sie erkennen, dass auch er erschrocken war.

„Mach auf.“ Als sie Michaels Stimme hörte, entspannte Caroline sich, aber Jason ließ seine Waffe noch nicht los.

„Du bist nicht ans Handy gegangen, Mann“, rief Michael. „Wir haben den Jungs gesagt, dass sie Sandwiches holen sollen, und wenn du den Belag auf deinem nicht magst, bist du selbst schuld. Mach die Tür auf.“

Es war beinahe zehn Uhr. Er hatte noch nicht gegessen? Ihre Wangen brannten, als ihr klar wurde, dass seine Pläne für den Abend zunichte gemacht worden waren, als er ihr zu Hilfe gekommen war. „Tut mir leid. Du hättest was sagen sollen.“

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich hatte einen Schokoriegel. Alles gut.“

Er öffnete die Tür und Michael hielt ihm eine Plastiktüte hin. „Hier ist ein belegtes Baguette. Eine Tüte Chips ist auch dabei.“ Er lächelte Caroline an. „Du brauchst dir heute Nacht keine Sorgen zu machen. Dalton und ich behalten alles im Auge.“

„Wa–“

„Danke, Kumpel. Ich melde mich gleich noch mal.“ Jason schloss die Tür vor der Nase des noch immer lächelnden Michael, bevor der noch ein Wort sagen konnte.

„Wovon redet er?“

„Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Du bist hier ganz allein mit Henry und –“

„Und jemand weiß, wie man in mein Haus kommt.“

Jason musterte einen Augenblick lang den Inhalt seiner Tüte, anstatt zu antworten.

„Also gut“, sagte sie. „Setzen wir uns in die Küche. Du isst und wir machen ein Update über die letzten dreizehn Jahre.“

„Kann ich mir gerade noch die Hände waschen?“

Caroline zeigte auf die Tür zum Bad und ging in die Küche. Als das Klicken des Schlosses an ihr Ohr drang, setzte sie sich auf einen Barhocker.

Was geschah hier eigentlich? Warum geschah es? Und warum musste ausgerechnet Jason Drake für ihren Fall verantwortlich sein?

Jason.

Einerseits sehnte sie sich danach, dass er neben ihr saß. Schulter an Schulter, die Füße auf den Couchtisch gestützt – so wie sie als Teenager stundenlang Baseballspiele geguckt hatten.

Andererseits würde sie ihn am liebsten rausschmeißen und ihm sagen, er solle sich nie wieder blicken lassen.

Es wäre nicht einfach, aber es war möglich. In den vergangenen Monaten war sie ihm auch erfolgreich aus dem Weg gegangen. Sie hatte ihn und jede Unterhaltung über ihn gemieden.

Aber warum sollte sie sich vor ihm verstecken? Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und sie musste sich für nichts entschuldigen. Wie ihre Trennung abgelaufen war, war unangenehm, aber er konnte unmöglich glauben, dass sie noch etwas für ihn empfand. Das war alles längst Geschichte. Und wenn der Sheriff der Meinung war, Jason sei der beste Mann für diesen Fall, dann musste sie darauf vertrauen, dass es so war. Wenn es um ihre Sicherheit und die von Henry ging, konnte sie kein Risiko eingehen.

„Alles in Ordnung, Caroline?“

Bei seiner Stimme machte ihr Magen einen Purzelbaum. Längst Geschichte oder ganz aktuell?

Nein. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Jason Drake war ein toller Freund gewesen, aber er hatte deutlich gesagt, dass er mehr nicht wollte. „Mir geht es gut.“ Sie zeigte auf einen Platz am Tisch. „Ich hole dir Tee.“ Man sollte die Geschichte nicht wiederholen. Heute war sie dankbar dafür, dass ein Freund auf sie aufpasste. Und in Zukunft würde sie daran denken, auf sich selbst aufzupassen.

Jason setzte sich und Caroline entging nicht die Müdigkeit in seinem Gesicht, als er den Kopf zum Tischgebet neigte.

Als er den Kopf wieder hob, zögerte er nicht. „Ich habe noch eine Menge Fragen“, gab er zu.

„Was willst du wissen?“

Jason schluckte. „Fangen wir mit Henry an.“