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Beschreibung

Weihnachten ohne die buckligen Verwandten? Unvorstellbar! Sie sind geimpft. Oder von Geburt unzerstörbar. Jedenfalls kommen sie. Und wollen feiern. Der Onkel mit den Kille-Kille-Attacken. Die Cousine mit ihrem komischen Freund. Die feministische Oma, der Macho-Schwager. Die alten Laktoseintoleranten und die jungen Veganen. Sie nörgeln am Essen und kritisieren die Geschenke. Der Baum steht schief, der Schwibbogen stürzt, der Kranz fängt Feuer. Jetzt nur noch den Klimawandel zum Thema machen, und die Stimmung ist perfekt. 

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Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Dietmar Bittrich (Hg.)

Morgen, Helga, wirdʼs was geben

Endlich wieder Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft

 

 

Über dieses Buch

Sie sind geimpft. Oder von Geburt unzerstörbar. Jedenfalls kommen sie. Und wollen feiern. Der Onkel mit den Kille-kille-Attacken. Die Cousine mit ihrem komischen Freund. Die feministische Oma, der Macho-Schwager. Die alten Laktoseintoleranten und die jungen Veganen. Sie nörgeln am Essen und kritisieren die Geschenke. Der Baum steht schief, der Schwibbogen stürzt, der Kranz fängt Feuer. Jetzt nur noch den Klimawandel zum Thema machen, und die Stimmung ist perfekt. Weihnachten ohne die buckligen Verwandten? Unvorstellbar!

Vita

Dietmar Bittrich, Jahrgang 1958, lebt in Hamburg. Er gewann den Hamburger Satirikerpreis und den Preis des Hamburger Senats. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen von ihm u.a. der Bestseller «Alle Orte, die man knicken kann». Seit 2012 gibt er die erfolgreiche Weihnachtsanthologie mit Geschichten rund um die bucklige Verwandtschaft heraus.

 

Mehr erfahren Sie unter: www.dietmar-bittrich.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung Patrick Wirbeleit

ISBN 978-3-644-01182-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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Dieses eBook entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 (neueste Version des Barrierefreiheitsstandards für EPUB) und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Navigationspunkte und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut.

 

 

www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Larissa Hoppe • Für die lieben Kollegen

Till Raether • Eine Million Belohnung

Anna Herzog • Snjegurotsch und Mütterchen Frost

Rainer Moritz • Spitzbuben

Beatrice Schnelle • Die Weihnachtskarte

Daniela Gassmann • Zweimal zehn Leben

Kerim Pamuk • Am Schwarzen Meer

Käthe Lachmann • Fastenfest

Julia Hackober • Im Rotkehlchenweg

Georg Weisfeld • Das kryptische Krippenspiel

Kirsten Fuchs • Käse

Jean Gnatzig • Wer hat das bestellt?

Sandy Taikyu Kuhn Shimu • Endlich erleuchtet

Sören Sieg • Der Testsieger

Luzi van Gisteren • Natale Speciale

Daniel Bielenstein • Im Land der Animes

Viktoria Klimpfinger • Kipferln und Spiele

Tilman Birr • Ekbert Prengel rules da house

Jana Avanzini • Das Adventskonzert

Dietmar Bittrich • Morgen, Helga, wird’s was geben

Die Autorinnen und Autoren

Larissa Hoppe

Für die lieben Kollegen

16. Dezember, 14 Uhr. Nicht mal mehr eine Woche. Ich sollte mich freuen. Meine Wohnung ist mit Schwibbogen, Adventskalender und Kranz dekoriert, ich habe alle Geschenke für meine Familie zusammen und jede Verabredung bis zum zweiten Feiertag durchgeplant.

Doch in meinem Hinterkopf nagt etwas. Eigentlich wollte ich schon längst Geschenke für meine 19 Kollegen fertig gemacht haben. Die vergangenen Monate waren anstrengend. Alle haben sich reingehängt, und es hat gut funktioniert. Und obwohl ich das schon im Oktober wusste, habe ich bis jetzt nicht einen Zentimeter Geschenk für sie.

Ich überlege. Es muss schnell gehen, darf aber nicht zu teuer sein. Motto: Die Geste zählt. Eine Ladung Süßigkeiten? Zu einfallslos. Alkohol? Noch einfallsloser und dazu auch noch kostspielig, wenn er halbwegs gut sein soll.

Und wenn ich Kekse backe? Mein Todesurteil. Und das meiner Kollegen. Andererseits ist es persönlich, geht nicht zu sehr ins Geld und ist schnell erledigt.

Also 19 Tüten selbstgebackene Kekse. Die stecke ich in Versandboxen und schicke sie als Überraschung zu den Leuten nach Hause. Grußkarte dazu, fertig. Klingt nach einem Plan. Welche Kekse? Mürbeteigplätzchen und Cookies. Gehen immer. Wie viele? Um eine Tüte glaubwürdig vollzukriegen, sollten es mindestens zehn Kekse sein. Macht insgesamt 190. Auf ein Blech passen zehn Cookies bis zwanzig Mürbeteig-Sterne (teils mit abgeknickter Ecke). In Summe etwa zwölfeinhalb Bleche.

Spätestens bis zum 19. um 12 Uhr müssen die Sachen bei der Post abgegeben sein, wenn sie bis Heiligabend ankommen sollen. Ich habe 72 Stunden. Auf geht’s.

Tag 1, 16 Uhr. Noch 68 Stunden bis zur Abgabe

Einkaufen. Mit den Versandboxen fange ich an. Mit 19 zusammengefalteten Pappteilen unterm Arm komme ich nach einer halben Stunde aus der Postfiliale. Warum nur wollen alle was verschicken? Minus 31,35 Euro. Geht gut los. Dafür ist viel Platz in den schuhkartongroßen Boxen. Sogar ein bisschen zu viel. Mit was kriege ich die gefüllt, damit die Kekstüten nicht so verloren aussehen? Mir wird was einfallen.

In den Schreibwarenladen, Grußkarten besorgen. Eines der Dinge, die gnadenlos überbewertet werden. Schaut die jemals einer länger an, als er braucht, um die drei handgekritzelten Worte zu entziffern? Und in schön oder originell gibt’s die auch nicht. Dafür 1,60 Euro pro Stück. Aber schöne Cellophantüten mit Sternchen haben sie. Und Kordeln zum Verschließen. Und bunte Stifte. Macht alles in allem 53,63 Euro. Gute 85 Euro sind schon weg. Egal, ich ziehe das jetzt durch.

Nächster Halt Supermarkt. Wozu kaufen plötzlich alle fertigen Zuckerguss? Ich stehe vor dem abgegrasten Backwarenregal. All die Muttis, Omis, Foodblogger rühren das Zeug doch immer selbst an? Ich könnte das auch selbst machen. Eiweiß, Puderzucker, bisschen rühren … Aber nee, das hier ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Experimente.

Geht wirklich nur Eiweiß? Oder taugt Fondant als Alternative? Diese klebrige Zuckerdecke, die das windelweiche, geschmacksneutrale Innenleben von Motto-Torten zusammenhält und Grundlage ist für kitschige Verzierungen?

Mirror Glaze, zu Deutsch Spiegelglasur! Funktioniert wie Fondant, ist aber ganz neu, ganz heiß. Über eine glatte Kuchenoberfläche gegossen, ergibt sich ein Spiegeleffekt! Warum soll das nicht auch bei Keksen klappen? Die sind auch glatt! 9,99 Euro? Für einen Guss? Aber der wird mir das Leben retten. Und das der Kollegen für immer verändern.

Weiter durchs Regal. Es gibt Gold- und Silberspray! Und gold- und silberfarbene Zuckersterne. 4,99 Euro pro Packung. Pfeeew. Wie viele E-Stoffe da wohl drin sind? Aber ich will das ja nicht essen. Ist für die Kollegen. Hauptsache, es glitzert. Ich nehme vier Tüten.

Dazu bunte Perlen, Schokolade, Nusskrokant und Schokosplits. Ab zur Kasse. 38 Euro. Vielleicht wäre eine Runde Sekt für alle doch besser gewesen. Aber das hier ist viel persönlicher.

Tag 1, 20 Uhr. Noch 64 Stunden

Nach einem ausgiebigen Kaffeeklatsch mit mir selbst fange ich an. Die Cookies zuerst. Da ich kein altbewährtes Rezept meiner Uroma zur Hand habe, gucke ich jedes Mal neu im Internet. Auf welchem Foto sehen die denn heute am besten aus … Hab was. Ich rühre Eier, Butter, Zucker zusammen. Mehl sieben? Habe ich noch nie verstanden. Dann kommen Backpulver, Kakaopulver und ganz viel gehackte Schokolade dazu. Skeptisch lasse ich den fertigen Teig vom Löffel in die Schüssel platschen. Sieht ein bisschen flüssig aus. Aber wird ja noch gebacken.

Als ich zehn Minuten später das Blech aus dem Ofen hole, ahne ich nichts Gutes. Es sind Flatschen geworden. Sehr goldbraune Flatschen. Besser in Ruhe auskühlen lassen. Manchmal gibt sich das ja noch.

Lukas, mein jüngerer Bruder, mit dem ich zusammenwohne, kommt in die Küche, greift sich einen. «Die schmecken aber komisch.» Mit verzogenem Mund beäugt er den Trockenbau. «Da ist so was Raues drin.» Ich beiße ab. Was Raues? Stimmt. Es schmeckt dumpf-bitter. «Wie viel Backpulver hast du da reingehauen?» Luki kocht gerne. Er hat deutlich mehr Ahnung als ich. Auch vom Backen. Bedächtig scannt er die Arbeitsplatte. «So viel, wie im Rezept steht», sage ich trotzig.

«Und wie viel steht im Rezept?» Er greift sich die Backpulverpackung und hält sie mir mit spitzen Fingern unter die Nase. «Diese hier ist leer.» Ich schaue nach. Oh. Ein Teelöffel hätte gereicht. Dann habe ich die vierfache Menge drin.

«Gut, was mache ich jetzt?» Das ist doch alles Kacke. «Trotzdem verschenken», sagt er und legt seinen angeknabberten Cookie auf den Tisch.

«Du magst ihn nicht aufessen, aber für die Kollegen ist es gut genug?», pampe ich. «Ich mache neue. Aber du musst mir helfen!» Mit den größtmöglichen Kulleraugen, die man mit Mandelaugen formen kann, schaue ich ihn an.

«Aber nur kurz», gibt er nach. «Und nicht jetzt. Du hast die erste Ladung Schokolade verhauen. Also musst du eh noch mal einkaufen gehen. Und das wohl morgen.»

Er hat recht. Ist das alles nervig.

Tag 2, 8 Uhr. Noch 52 Stunden

Mit neuem Cookie-Rezept stehe ich beim Discounter. Ich sollte versuchen, etwas besser aufs Geld zu achten. Für die neuen Cookies brauche ich Lebkuchengewürz. Aber hier ist Ebbe. Gar nichts. Wenn das so weitergeht, habe ich am Ende nur Versandkartons mit Grußkarten. Und die Deko für den restlichen Platz in den Boxen fehlt auch noch!

Okay, neuer Plan: Ich werde den Supermarkt wechseln und dann noch mal in den Schreibwarenladen und Füllmaterial kaufen. Am besten Watte. Nimmt viel Platz weg und geht als Winterlandschaft durch.

Ein letzter Blick durch den Discounter. Sollte ich zur Sicherheit ein paar fertige Süßigkeiten kaufen? Ja, sollte ich. Mit schnellen Griffen lade ich diverse Pralinen in den Wagen. Kleiner Schock beim Bezahlen. 69,81 Euro. Aber weiter geht’s!

Etwas später im Schreibwarenladen. Warum haben die denn keine Watte? Das ist ein billiges Massenprodukt, Herrgott. Immerhin haben sie Luftschlangen. Und Konfetti. Und Lametta. Und kleine Silbersterne. Das knall ich alles mit in die Boxen. Man weiß bei den meisten Anlässen ja erst, was man feiert, wenn man die entsprechende Deko sieht. Das Watte-Thema muss ich vorübergehend aufschieben. Zur Kasse. Weitere 20 Euro wechseln den Besitzer.

Und jetzt schnell in den Supermarkt. Ich habe noch eine halbe Stunde, dann muss ich im Büro sein. Entschlossen marschiere ich durch die Regale. Kein Lebkuchengewürz, kein Lebkuchengewürz, kein Lebkuchengewürz. Wo ist das blöde Lebkuchengewürz? Ich laufe das Regal zurück, kneife die Augen zusammen. Was ist los hier? Von wegen «Einmal hin, alles drin». Nix ist drin. Ich schiebe den Wagen weiter. Meine Winterjacke wird immer schwerer und presst den Pullover an meinen verschwitzten Rücken.

Watte ist auch nicht in Sicht. Was könnte man als charmante Winterfüllung nutzen? Zeitungen? Sind nicht weiß genug. Haushaltsrolle? Zu grob. Klopapier! Aaah, Klopapier, Klopapier, Klopapier. Ich schiebe schneller. Eine Kurve noch und dann, ha, Klopapier! Sogar mit hellblauem Eiskristall-Print! «Frischer Winterduft». Ach herrje. Die armen Kollegen. Aber vielleicht lieben sie das? Her damit!

Ich reihe mich in die Kassenschlange ein. Mein Pulli pappt an den Armen. Dieses Gerenne hin und her schafft mich. Habe ich jetzt wirklich alles zusammen? Ein Blick in den Einkaufswagen. Und wenn die nächsten Cookies auch nichts werden? Und die Spiegelplätzchen nicht schmecken? Ich kaue auf meiner Unterlippe, drehe das Klopapier von einer zur anderen Seite. Was wäre, wenn ich Makronen mache? Die kann ich! Und es gibt alle Zutaten. Und ich kann Zimt-Salzbrezel! Dafür gibt’s auch alles. Das wären zwei sichere Alternativen. Ich straffe meine Schultern. Noch einmal zusammenreißen. Den Wagen wenden, zurück zu den Backwaren. Kokosraspeln und Oblaten. Salzbrezel. Und Eier. Schokolade für die Cookies (fast vergessen), Marzipan (wofür auch immer). Dann Kasse. 17 Euro. Mit drei Tüten hechele ich im Laufschritt aus dem Laden.

Tag 2, 19 Uhr. Noch 41 Stunden

Als Luki nach Hause kommt, krempelt er sofort die Ärmel hoch. Souverän verrührt er Mehl, Zucker, Butter, Eier und Zitronenabrieb in einer großen Schüssel. Liebe! Ich haue die Zutaten für die Lebkuchen-Cookies ohne Lebkuchengewürz zusammen. Und siehe da, das Ergebnis ist phantastisch! Der Teig ist so fest, dass sich daraus eine Eiskugel mit feinen Rillen formen ließe. Und schmecken tut er auch. Kräftig schokoladig, nicht zu süß. Geht doch. Auch ohne Gewürz, pah! Ich sichere mir eine kleine Schüssel Rohmasse als Nervennahrung.

Luki sticht in Windeseile Sterne und Tannenbäume aus, abwechselnd wandern Plätzchen und Cookies in den Ofen und kommen perfekt gebräunt wieder raus. «Willst du die anderen Sachen überhaupt noch machen?», fragt er, als das vierte Blech im Ofen ist. Es ist längst nach zehn. «Ja, jetzt sind die Sachen eh da. Und dann habe ich mehr Auswahl.» Er nickt und sticht stoisch weiter Plätzchen aus.

Derweil mixe ich die Salzbrezel mit Eiweiß und Zimt-Zucker-Mischung. Backen, fertig. Nun die Makronen. Vorsichtig die wolkige Eiweißmasse unter das zarte Zucker-Kokosraspel-Gemisch heben und ab in den Ofen. Bald bildet sich eine feine Kruste auf den kleinen Häufchen. Perfekt! Und schon 23 Uhr. Zeit für eine kurze Pause und vier Makronen. «Willst du heute auch noch verzieren?», fragt Luki, als er das letzte Blech Plätzchen in den Ofen schiebt. «Jap, muss ich.» Sonst geht mein Boxen-Packen-Post-Plan nicht auf. Aber Luki hat Feierabend. Also rühre ich den Spiegelguss alleine an. Der braucht laut Packungsangabe 20 Minuten, um sich vom Status schnoddrig zum Status zäh zu verwandeln. Na dann.

Tag 2, 23:30 Uhr. Noch 36,5 Stunden

Während ich auf den Guss warte, ersinne ich die ersten aufrichtigen Grüße zum Fest. Nach fünf Karten ist die Kreativität allerdings erschöpft. Salbungsvolle Worte sind Schwerstarbeit um diese Zeit.

Der Guss braucht noch. Zeit für eine Plätzchenverkostung. Parallel pinsele ich geschmolzene Schokolade auf die ersten teigigen Tannenbäume, auch auf Daumen und Zeigefinger. Dann Einsatz für das Glitzerspray! Pfif, pfif. Sieht gut aus!

Nun der Spiegelguss. Mit einer Gabel pieke ich in die zähflüssige Masse. Erinnert an das flutschige Gel, mit dem man als Kind spielen durfte. Damals war es neongrün. Jetzt ist es durchsichtig. Vorsichtig streiche ich es mit einem Teelöffel auf das erste Plätzchen. Nicht wegrutschen! Ich nehme die Gabel. Es glibbert trotzdem an den Seiten runter. Gut, dann wird das halt ein Hauch von Spiegel.

Jetzt aber das große Finale! Perlen, Schokosplits, Nusskrokant, Sternchen, Glitzerspray, alles rauf. Pam, boom, bang! Fetzt. Guuut, ein bisschen krumm und schief, aber wessen Kekse sehen schon aus wie im Backbuch? Mein Guss und die Schokosplits lassen sich in ihren Möglichkeiten nicht einschränken, die sind Freigeister, so wie ich.

Aber irgendwas stimmt nicht. Der Glitzerstaub geht unter im Glibberguss. Und spiegeln tut da auch nichts. Vorsichtig ditsche ich mit dem Zeigefinger auf einen verzierten Keks. Noch immer schleimig zäh. Mutig beiße ich hinein und kriege den Mund nicht richtig zu. Der ganze Keks ist aufgeweicht! Bis vor zehn Minuten war er knusprig! Jetzt ist er zäh wie nasse Pappe. Haaaaargh! Plätzchen mit Guss sind doch immer das Highlight. Auf die habe ich alles Pam, Boom, Bang verteilt. Das kann ich nicht wieder abkratzen! Oder doch? Nein, Schluss für heute. Es ist 1 Uhr. Drei Makronen zur Kompensation. Dann lasse ich alles stehen und liegen und gehe ins Bett.

Tag 3, 5 Uhr. Noch 31 Stunden

Meine Augen brennen, und in den Schläfen pocht ein dumpfer Schmerz. Ich will nicht mehr. Nichts mehr. Mit schweren Schritten schleppe ich mich in die Küche. Im Tageslicht sieht es noch chaotischer aus als in der Nacht. Backzutaten, Schüsseln, Töpfe, die Bleche mit den Keksen.

«Wow», sagt Luki. «Bist du denn jetzt fertig?»

Ich schüttele den Kopf. Ich habe keine fertigen Kekstüten und kaum gute Plätzchen. Ich habe nicht mal die Hälfte der Grußkarten geschrieben und nicht eine einzige Box befüllt.

Luki schaut mich so traurig an, wie ich mich fühle. «Was hältst du davon, wenn ich die Küche aufräume?» Meine Augen funkeln heller als das Glitzerspray. «Aber du musst mir versprechen, nächstes Jahr keine Kekse für Kollegen zu backen.» Darauf drei Makronen.

Tag 3, 15:30 Uhr. Noch 20,5 Stunden

Nach dem Feierabend spurte ich im Stechschritt von der U-Bahn-Station nach Hause. Dort falte ich alle Boxen zusammen und reihe sie links und rechts wie zu einer Straße durchs Zimmer auf. So kann ich sie demokratisch zu gleichen Teilen befüllen. Der Befüllungsplan sieht so aus: ein paar Lagen gefaltetes Klopapier als federnde Schneedecke am Boden. In diesen Lagen kann ich die Pralinen verstecken. Dann kommen Luftschlangen und Konfetti, darauf wiederum die Kekse. Danach wieder ein paar Lagen Klopapier, das wie eine zarte zweite Schneedecke auf den Süßigkeiten liegt. Und darauf dann die Karte. Gut.

Ich öffne die erste Packung Klopapier. Boah! Ein süßliches chemisches Aroma verbreitet sich im Zimmer. Das soll «frischer Winterduft» sein? Darin kann ich unmöglich die Kekse pampern. Das muss erst auslüften. Ich nehme alle acht Rollen aus der Packung, lockere die Enden und rolle sie ab. Quer über den Boden, übers Bett, übers Sofa, über den Kleiderständer. Sieht aus wie Tagliatelle beim Trocknen. Aber das muss jetzt so, damit es nicht knittert. Sonst ist es keine frisch gefallene Schneedecke mehr. Das erkläre ich Lukas, der ins Zimmer kommt. «Lari», sagt er. «Du hast Probleme.» Stimmt, ja, habe ich, sind aber bald behoben. Nur noch ein bisschen ausdünsten lassen.

In der Zwischenzeit fülle ich die Kekse in Tüten. Bändchen drum, Schleifchen dran, fertig. Von den zähen Spiegelplätzchen landen nur jeweils zwei in den Paketen. Ist jetzt so. Werden trotzdem voll. Danach schreibe ich die Grußkarten zu Ende. Eine Stunde später sind auch die fertig. Zurück zur anderen Baustelle. Das Klopapier dünstet weiterhin unfrischen Chemiemief aus. Weiter warten. Maaaaann.

Tag 3, 20 Uhr. Noch 16 Stunden

Dieses Klopapier will und will einfach nicht nach nichts riechen! Aber ich muss hier jetzt wirklich, wirklich fertig werden. Ich nehme die ersten beiden Bahnen Papier und setze mich auf den Boden vor die Boxen. Jetzt schön vorsichtig zusammenlegen … Argh! Warum geht das nicht? Ich verheddere mich in den Lagen. Wütend zerre ich daran. Dann prügele ich es eben in die Pappkartons. Gibt’s halt keine Schneedecke, sondern einen Sturm als Zeichen des Klimawandels. Anschließend feuere ich die Pralinen und die Deko hinterher. Mir. Ist. Total. Egal. Wie. Das. Jetzt. Aussieht. Ich will, dass das fertig wird. Nicht später, nicht in der Nacht, nicht morgen. Jetzt! Pralinen landen unsanft auf Luftschlangen, Konfetti fliegt kreuz und quer daneben. Nimm das und das … Zehn Minuten dauert die Explosion, dann bin ich fertig. Und die Boxen sind es auch. Fertig dekoriert. Halleluja! Das war bitter nötig.

Mit etwas mehr Gelassenheit verteile ich die Kekstüten. Jetzt die abschließende Schicht Klopapier. Soll ich noch mal die «Schneedecke» probieren? Behutsam falte ich einen Strang Wintermuff in seitlich verschobenen Lamellen zusammen. Aaaah, geht doch! Weiter mit der nächsten Box. Läuft, läuft, läuft. Jetzt nur nicht lockerlassen, immer weiter falten und legen. Karten drauf, Deckel zu, Adressen geschrieben.

Als ich den letzten fertigen Karton betrachte, durchströmt mich ein warmes, glückseliges Gefühl. Obwohl es eigentlich kleine Geschenk sind, wirken sie prächtig. Jede Box ist bis oben hin gefüllt, farbenfroh, glitzert an jeder Ecke und hat etwas Feierliches. Oder sehe nur ich das so, weil das Ende absehbar ist? Letzter Deckel drauf, fertig.

Zeit für eine Flasche Wein und trockene Cookies.

Tag 4, 10 Uhr. Noch zwei Stunden

Langsam schleppe ich mich und die 19 Boxen in vier XXL-Tragetüten zur Postfiliale. Endlich diesen Ballast loswerden. Aber vorher anstehen. Ich trete von einem Fuß auf den anderen. Können die sich ein bisschen beeilen?

Um 10:30 Uhr bin ich dran. «Da fehlen nur noch die Paketscheine», erklärt der Mann am Schalter.

«Ich hab doch die Adressen auf die Kartons geschrieben!»

«Das ist nicht dasselbe. Gehen Sie dahinten an den Tisch und machen Sie die in Ruhe fertig.»

Ich nicke schwach. Um mich aufzuregen, bin ich zu mürbe. Es soll einfach nur aufhören. Apathisch krakele ich die Adressen auf die Scheine, dann stelle ich mich wieder in die Schlange. 11:10 Uhr. Es dauert weitere 20 Minuten, dann bin ich wieder dran. «Mit oder ohne Versicherung?» – «Ohne.» – «Macht dann 72 Euro.» Wortlos halte ich die EC-Karte gegen das Lesegerät.

Um 11:40 Uhr verlasse ich den Laden. Die kalte Dezemberluft strömt in Kopf und Lunge. Jetzt erst spüre ich, in was für einem Tunnel ich war. Wie verspannt mein Nacken ist.

Ich überschlage kurz. Insgesamt 300 Euro habe ich ausgegeben, 15 Euro pro Person. Passt schon. Und ich habe die Nase gestrichen voll. Von Keksen. Von Spiegeln. Von Klopapier.

 

3. Februar. Meinen Schwibbogen und den anderen Kram habe ich schon vor Wochen in den Keller geräumt. Ich mache gerade den Abwasch vom gestrigen Abend. (Lukas hat gekocht.)

Da klingelt es. Ein Paketbote. In seiner Hand eine Weihnachtsbox. «Die Adresse hat nicht gestimmt», sagt er. Ich nicke stumm, unterschreibe und lasse langsam die Tür hinter mir ins Schloss fallen.

Ein Geschenk fürs kommende Fest habe ich dann ja schon.

Till Raether

Eine Million Belohnung

Einmal verbrachten wir Heiligabend in Polizeigewahrsam, meine Eltern, meine Schwester und ich. Es war der sogenannte Schreckenswinter 78, 79. Damals wurden Autofahrer in ihren Pkws eingeschneit und erst Tage später befreit, Züge froren ein auf offener Strecke, Menschen irrten über klirrende Gleise, und wo kein Schnee fiel, überzog Blitzeis Straßen und Gehwege, alle stürzten. «Danke, Iwan!», schrieb eine Tageszeitung in Westberlin in großen Lettern auf ihrer Titelseite, denn die sehr kalte Witterung mit Temperaturen von unter minus zwanzig Grad kam meteorologisch gesehen aus Russland. Diese Danksagung war Ironie, das verstand ich gut, denn ich war neun, und Ironie war auf dem Schulhof eine rhetorische Waffe, die wir großzügig einsetzten: schicke Schuhe! Gut siehst du aus!

Die kalte Witterung wurde Russenpeitsche genannt. Ihretwegen machte ich mir Sorgen um meine Geschenke. Meine Schwester, vierzehn, also fünf Jahre älter als ich, nahm meine Schädeldecke in ihre riesigen Handflächen, drehte meinen Kopf hin und her und sagte: «Es gibt keinen Weihnachtsmann, es gibt keinen Weihnachtsmann.» Ich fragte sie, ob ihr das Wort «Lieferengpässe» vertraut sei. «Verpiss dich», sagte sie und warf mich aus ihrem Zimmer.

Die Stimmung war angespannt, weil an diesem Tag, an Heiligabend, nicht nur der neue Freund unserer Mutter zum Feiern kommen sollte, sondern auch unser Vater mit seiner neuen Freundin, die er «Lebensgefährtin» nannte und unsere Mutter «unseren Trennungsgrund». Unser Vater hingegen war der Ansicht, unsere Mutter hätte ihn zu seiner Kollegin Geli getrieben, durch ihre «Frigidität» und ihre «Psychospielchen». Und dass sie sich «sofort Räudiger an den Hals geworfen» habe, sei wohl Beweis genug, dass sie «das alles von langer Hand geplant» habe. «Räudiger» nannte er Rüdiger, den Chef unserer Mutter, mit dem sie nun zusammen war. Unser Vater wunderte sich, dass Rüdiger «überhaupt noch einen hoch» bekam, denn er war wohl schon fünfzig, unsere Mutter hingegen machte sich Sorgen, dass Geli, eine Kollegin meines Vaters, eine «hysterische Nymphomanin» sei, die unseren Vater «ins Grab vögeln» würde.

Das Wort «vögeln» kannte ich, es kam hin und wieder als doppeldeutiger Witz in Samstagabendshows vor. Die anderen Wörter musste mir meine Schwester erklären. Sie legte mir ihre riesige Hand über den Mund und die Nase, sodass ich fast erstickte, während wir den Stimmen lauschten, die aus dem Wohnzimmer kamen. Sobald unsere Eltern stritten, huschte ich ins Bett meiner Schwester. Sie hatte in der Bravo über Scheidungskinder gelesen und ließ mich deshalb unter die Bettdecke: «Du musst nun lieb zu deinen kleineren Geschwistern sein, auch wenn sie dich nerven und auch wenn dir sicher selbst oft richtig zum Heulen zumute ist», hatte in der Bravo gestanden. Mir ging es eigentlich gut, ich brauchte nur die Übersetzungsleistungen meiner Schwester. «Das heißt, Geli will immer vögeln, also wirklich immer, und vorher und nachher flennt sie», übersetzte meine Schwester. Sobald es ruhig wurde im Wohnzimmer und unser Vater ging, sagte meine Schwester «Verpiss dich jetzt» und warf mich aus ihrem Bett. Wenn ich hörte, wie draußen der Ford Taunus unseres Vater anging, lief ich schon mit kalten Füßen über den Flur.

Auf diese Weise waren die Festvorbereitungen verlaufen, denn unsere Eltern hatten beschlossen, das erste Weihnachten nach der Trennung «wie erwachsene Menschen» zu verbringen. Man müsse doch einen Umgang miteinander finden. Es sei auch für die Kinder wichtig. Und wo unsere Mutter ja nun die Riesenwohnung behalten habe. Wir würden also, erfuhren meine Schwester und ich, zu sechst feiern statt wie früher zu viert.

Tagsüber rauchte unsere Mutter viel, und meine Schwester und ich schmückten den Baum. Ich hoffte auf eine substanzielle Playmobil-Leistung. Ich war gerade erst von Play Big umgeschwenkt, weil ich den Anschluss in der Klasse nicht verlieren durfte. Meine Schwester wünschte sich, «dass diese Scheiße hier schnell über die Bühne geht». Wenn im RIAS der Wetterbericht kam, rief unsere Mutter, wir sollten «einmal, nur ein einziges Mal die Klappe» halten, und ich ahnte, dass sie hoffte, die Russenpeitsche würde womöglich die Ankunft der Gäste verhindern. Nebenstraßen waren schon nicht mehr befahrbar. Als Notfallplan hatte sie drei der damals noch recht neuen Tiefkühlpizzen von Aldi in der Truhe, Salami.

Mir wäre es recht gewesen. Zumal ich ihren neuen Freund sehr langweilig fand. «Rüdiger schockt nicht», sagte meine Schwester. Als ich ihm einmal mein Mercedes-Cabrio von Play Big zeigte und damit, wie ich fand, sehr viel guten Willen bewies, beugte er sich nachdenklich hinunter und sagte: «Soso.» Dann wies er mich darauf hin, Mercedes habe die viertürige S-Klasse nicht als Cabrio im Programm. Manche Erwachsenen waren hoffnungslos. Und Geli und mein Vater waren zwar lustig, aber es war mir peinlich meiner Mutter gegenüber, wie die beiden aneinander rummachten. «Einfach widerlich», sagte meine Schwester. «Und so was sind Lehrer. Zum Glück nicht an unserer Schule.» Ich wurde rot vor Scham allein bei der Vorstellung.

Natürlich stand Rüdiger als Erstes vor der Tür. Ohne uns vorzuwarnen, hatte unsere Mutter ihn gebeten, früher zu kommen und ihr zu helfen. Sie hatte sich mittlerweile abgefunden damit, dass die Berliner Stadtreinigung die Schneemassen geräumt hatte. Erst in den späteren Abendstunden sei mit Blitzeis zu rechnen, hieß es.

«Bis dahin», sagte unsere Mutter, während sie sich die Hände an der Schürze abtrocknete, darunter schon das kurzärmelige grüne Wollkleid mit den orangefarbenen Blüten, «bis dahin ist der Spuk hier vorbei.» Sie drückte auf den Summer, und Rüdiger kam die Treppe hinaufgestolpert, kaum zu sehen hinter einem großen, breiten, relativ flachen Paket, das er wie einen Schild vor sich trug und das notdürftig in Weihnachtspapier eingeschlagen war.

«Er hat ein Riesenpaket dabei», zischte ich ins Zimmer meiner Schwester.

«Da ist ganz bestimmt der Nagellack drin, den ich mir gewünscht habe», sagte sie. «Und jetzt verpiss dich.»

Wegen des großen Pakets war es Rüdiger unmöglich, meine Mutter zu küssen oder mir, wie es seine Art war, das Haar zu wuscheln wie in einem Kinderfilm. Er trug das Paket mit wichtiger Miene ins Wohnzimmer, setzte es ab und kündigte an, nun werde sich mal «ein Fachmann um den Vogel kümmern».

«Was denn», sagte unsere Mutter und zog die Schürze aus, «kommt noch jemand?»

«Na», sagte Rüdiger und nahm ihr die Schürze ab, «daher haben die Kinder ihren Sarkasmus.»

«Gieß mal bitte erst mal den Tee mit Rum auf», sagte unsere Mutter. «Bei der Kälte.»

Ich ließ die Erwachsenen nicht aus den Augen, weil es mich faszinierte, wie sie versuchten, in ausgelassener Stimmung zu sein. Sobald Geli und mein Vater eintrafen, drehten sie alle vier erst so richtig auf. Na, Rüdiger, alter Halunke, Geli, hübsches Kind, ach, ihr alten Machos, jetzt hört doch mal auf, so, erst mal einen Tee mit Rum für alle, bei der Kälte. Kinder, kommt doch gleich mit ins Wohnzimmer. Unser Vater hatte einen neuen Bart, einen dichten, dunklen Vollbart, der ihm bis in den Hemdkragen wuchs. Eigentlich merkte ich erst an dem Bart, wie lange ich ihn nicht gesehen hatte. Jeden zweiten Sonntag, das war die Abmachung, aber Geli und er waren auch oft unterwegs.

Unser Vater nahm mich in den Schwitzkasten, als wäre es ihm peinlich, mich zu umarmen. Sein Bart kratzte. «Wo ist denn die Prinzessin auf der Erbse?», fragte er, und mir fiel wieder ein, dass er meine Schwester immer so genannt hatte. Einen Moment war ich traurig. Dann segelte, wie aufs Stichwort, meine Schwester ins Wohnzimmer, um in Augenschein zu nehmen, wie die vier Erwachsenen sich lässig auf den Lederpuffs um den Couchtisch gruppiert hatten, wo die braune Teekanne auf dem Stövchen nach Rum roch. Meine Schwester hatte sich die Haare streng in der Mitte gescheitelt, mit dem Eisen geglättet und die Augen sehr dunkel geschminkt.

«Oh mein Gott», sagte unser Vater.

«Frohe Weihnachten erst mal», sagte meine Schwester.

«Frohe Weihnachten sagt man ja eigentlich erst morgen», sagte Rüdiger.

«Menschenskinder, jetzt seid doch nicht spießig», sagte Geli.

«Oh», sagte unsere Mutter, denn meine Schwester hatte sich in der Wohnung bisher noch nie dermaßen geschminkt.

«Was trinken denn die Kinder?», fragte unser Vater.

«In der Küche ist Apfelnektar», sagte unsere Mutter.

«Hol den», sagte meine Schwester zu mir.

Als ich wiederkam, stand unser Vater gerade auf, um eine neue Kanne Tee mit Rum aufzubrühen: «Ja, ich komm schon klar, ich hab hier schließlich auch mal gewohnt.»

«Wollt ihr nicht mal das Paket aufmachen?», fragte Rüdiger meine Schwester und mich.

«Ich kann’s wirklich kaum erwarten», sagte meine Schwester.

In mir aber hatte sich ein ganz vager Verdacht ausgebreitet. Ich wagte nicht, es Vorfreude zu nennen, aus Angst, enttäuscht zu werden. Zeit meines Lebens hatten meine Eltern mir verboten, unpädagogisches Spielzeug zu besitzen oder es mir auch nur zu wünschen. Als unpädagogisch galt alles, wo man, so unser Vater, «einfach stumpf auf irgendwelche Knöpfe» drückte und wo man «gar nicht angeregt» wurde, irgendwas «selbst zu gestalten», so unsere Mutter. Ich hatte den Verdacht, dass sich in diesem Paket ein sehr unpädagogisches Spielzeug verbergen könnte. Rüdigers Versuch, endlich bei uns anzukommen oder wenigstens bei mir.

«Wo ist denn der Rum?», fragte unser Vater und schwenkte eine leere Strohrumflasche, achtzig Prozent. Dies gab ein großes Hallo auf den Sitzmöbeln. Wie sich herausstellte, hatte unsere Mutter bereits angewärmten Rum in die große, bauchige Töpferteekanne gefüllt und ihrer Meinung nach vorhin Rüdiger gebeten, diesen mit bereitgestelltem Tee aus der Glaskanne aufzugießen. Rüdiger gab unter dem Johlen der anderen, ausgenommen meiner Schwester und mir, zum Besten, er wiederum sei davon ausgegangen, in der Kanne habe sich bereits Tee befunden, woraufhin er die halbe Flasche Rum erwärmt, in die Teekanne geschüttet und diesen reinen, heißen Rum dann «mit ordentlich Würfelzucker» abgerundet habe. Die vier Erwachsenen, deren Interaktion bis eben noch etwas verkrampft gewesen war, gerieten nun außer Rand und Band.

«Das ist ja der Hit schlechthin!», rief Geli ein ums andere Mal, umarmte meinen Vater sitzend in Hüfthöhe und vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd, wodurch ihre Stimme zwischendurch verschwand. Anfangs sah unsere Mutter sie streng an, aber nach einer Weile konnte sie nicht mehr und fiel ein mit: «Das ist ja nicht zu fassen!», wobei sie sofort einen Schluckauf bekam.

«Was habt ihr denn sonst noch Trinkbares im Haus?», fragte unser Vater, während Rüdiger nur amüsiert den Kopf wiegte und dabei mehrfach «Das ist ja ein starkes Stück, ein starkes Stück» murmelte.

«Um Gottes willen!», rief unsere Mutter und sprang auf, geriet ins Wanken und setzte sich mit einem lauten Ledergeräusch wieder hin. «Der Sekt auf dem Balkon!» Sie warf meiner Schwester einen Blick zu, den diese in späteren Jahren als flehentlich bezeichnen sollte. Meine Schwester rollte mit den Augen und ging zum Balkon. Sie öffnete die Tür, woraufhin kalte Luft wie eine eisige Sichel durch den Raum fuhr. Meine Schwester bückte sich und zog einen zersplitterten Flaschenhals aus der Dunkelheit.

«Alle geplatzt», sagte sie nüchtern.

Die Erwachsenen schrien vor Begeisterung. Erst später begriff ich, dass Menschen vorübergehend nichts so stark verband wie gemeinsam beim Trinken erlebte Missgeschicke.

«Dann nichts wie ran an die alte Hausbar», rief unser Vater. «Oder hast du die schon gekillt, Rüdiger?»

«Würde mich nie an fremdem Eigentum vergreifen», sagte Rüdiger. «Bin schließlich im Gegensatz zu gewissen Herrschaften hier kein sozialistischer Maulwurf!»

«Ha!», schrie mein Vater gutmütig. «Genau! Die Hausbar ist Volkseigentum!»

Meine Mutter hielt sich die Hand vor den Mund und wedelte mit der anderen, als hülfe dies gegen Schluckauf.

«Ich geh schon», sagte Geli und hielt sich beim Aufstehen an meiner Schulter fest, «Hauptsache, ihr streitet nicht wieder über die Scheißterroristen.»

«Wenn du die politischen Gefangenen meinst», sagte mein Vater über ein Aufstoßen.

«Staatsfeinde!», rief Rüdiger sportlich. Geli kam zurück mit drei Flaschen, die ich am nächsten Morgen als Erdbeerlikör, Haselnussbrand und Racke Rauchzart identifizierte.

«Wir sind doch vie-hier», sagte unsere Mutter, die offenbar ihren Humor noch nicht verloren hatte. Sie gossen einander direkt in die Teetassen.

«Habt ihr das große Geschenk immer noch nicht aufgemacht?», fragte Rüdiger und schwappte mit der Flüssigkeit in seiner Teetasse Richtung flaches Paket.

«Du bist und bleibst ein alter Aufschneider, Räudiger, Rüdiger», sagte unser Vater. Rüdiger runzelte die sehr hohe Stirn, aber meine Mutter hatte uns schon einmal erklärt: Er hörte oft nicht so gut, weil er als Flakhelfer kurz vor Kriegsende noch ein Knalltrauma bekommen hatte, im letzten Aufgebot.

Meine Schwester stand immer noch mit verschränkten Armen vor der Balkontür. Ich riss das Papier ab, und schon beim ersten Ratsch bestätigte sich mein köstlicher Verdacht: Es war eine Carrera-Bahn, mit allen Schikanen. Also, mit einer Schikane. Und Rundenzähler, Looping, Steilkurve und Zuschauertribüne. Es war das Beste, was ich je gesehen hatte.

«Na, da freut sich aber jemand», sagte unsere Mutter.

«Danke», sagte ich.

«Kann ich mal fahren?», fragte Geli.

«Ich zeig dir, wie’s geht», sagte Rüdiger, und ich dachte, er meinte mich, ich wollte einladend lächeln, vielleicht würden wir doch noch Freunde werden, aber er meinte Geli. Er nahm mir die Schachtel aus der Hand, riss die Plastiktüten mit den Fahrbahnteilen auf und fing an, sie mühsam zusammenzustecken. Er roch nach Erdbeere.

«Das regt aber nicht gerade die Phantasie an», sagte unser Vater säuerlich, konnte dann aber nicht mit ansehen, wie Rüdiger ein ums andere Mal die Stecklöcher verfehlte. Während unser Vater also beim Aufbauen half, sah er von unten meine Schwester an, als stünde sie ihm im Licht, und sagte: «Richtig modern, dein neuer Look. Wie so eine Drogensüchtige.»

Das Antlitz meiner Schwester verfinsterte sich. Vermutlich ärgerte sie sich besonders, weil sie genau diesen Look tatsächlich angestrebt hatte. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo war ihre Bibel zu jener Zeit, sie kündigte mir ständig an, demnächst ginge es los mit dem Heroin bei ihr, nach dieser oder jener Mathearbeit.

«Kinder, nee», sagte unsere Mutter und lehnte sich auf ihrem Lederhocker zurück. Diese Hocker standen hier, solange ich denken konnte, aber ausgerechnet heute hatte unsere Mutter vergessen, dass sie keine Lehne hatten. Sie fiel rücklings auf den Boden und in den nach halbvollen Carrera-Bahn-Karton. Ich hörte etwas knacken und riss die Augen auf.