Morgen wird Sex wieder gut - Katherine Angel - E-Book

Morgen wird Sex wieder gut E-Book

Katherine Angel

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Beschreibung

Guter Sex braucht mehr als Konsens! Warum „Nein heißt Nein“ nicht reicht, und wie wir eine selbstbestimmte Sexualität nach #Metoo schaffen. „Damit müssen wir uns auseinandersetzen.“ Mithu Sanyal

Begehren ist politisch, und Sexualität ist Macht. Einverständnis und sexuelle Gewalt schließen sich nicht aus. Wir wissen nicht immer, was wir wollen. Und Intimität ist komplexer, als „Nein heißt Nein“ glauben lässt.
Katherine Angel nähert sich den heikelsten Themen der aktuellen Debatten über Sexualität, weibliches Begehren und Macht. Sie zeigt: Verletzlichkeit und unbewusste Wünsche und Ängste lassen sich auch durch Gesetze nicht aus der Welt schaffen. In klarer Sprache, mit Blick auf Philosophie, Geschichte und Sexualforschung lotet sie die Graubereiche der Intimität aus – verbunden mit einer Mahnung, die zugleich ein großes Versprechen ist: Erst wenn wir einander in unserer Verwundbarkeit wirklich ernst nehmen, wird Sex morgen wieder gut.

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Über das Buch

Guter Sex braucht mehr als Konsens! Warum »Nein heißt Nein« nicht reicht, und wie wir eine selbstbestimmte Sexualität nach #Metoo schaffen. »Damit müssen wir uns auseinandersetzen.« Mithu SanyalBegehren ist politisch, und Sexualität ist Macht. Einverständnis und sexuelle Gewalt schließen sich nicht aus. Wir wissen nicht immer, was wir wollen. Und Intimität ist komplexer, als »Nein heißt Nein« glauben lässt. Katherine Angel nähert sich den heikelsten Themen der aktuellen Debatten über Sexualität, weibliches Begehren und Macht. Sie zeigt: Verletzlichkeit und unbewusste Wünsche und Ängste lassen sich auch durch Gesetze nicht aus der Welt schaffen. In klarer Sprache, mit Blick auf Philosophie, Geschichte und Sexualforschung lotet sie die Graubereiche der Intimität aus — verbunden mit einer Mahnung, die zugleich ein großes Versprechen ist: Erst wenn wir einander in unserer Verwundbarkeit wirklich ernst nehmen, wird Sex morgen wieder gut.

Katherine Angel

Morgen wird Sex wieder gut

Frauen und Begehren

Aus dem Englischen von Zoë Beck und Annika Domainko

Hanser

Für Allie, Cassie, Mitzi und Sasha

Ich finde es nicht hilfreich, sie — oder irgendeine andere Frau — als ihren Dämonen entweder überlegen oder unterlegen zu präsentieren, als wären ihre einzigen Optionen Sieg oder Niederlage (ein militärisches Vokabular, das ihrem eigenen nicht ferner sein könnte).

Jacqueline Rose, »Respect: Marilyn Monroe«, Women in Dark Times

Konsens

Irgendwann in den frühen 2010ern drehte der Pornodarsteller James Deen einen Film mit einem Fan, den er Girl X nannte. Ab und zu machte er so etwas: Fans schrieben ihm und wollten mit ihm Sex haben, oder er startete einen Aufruf für »Dreh ne Szene mit James Deen«, und dann stellte er die Ergebnisse auf seine Website. In einem Interview, das im April 2017 geführt wurde, nur ein paar Monate, bevor die Medien überquollen vor Debatten über sexuelle Übergriffe und Belästigungen durch Harvey Weinstein und andere — und nur zwei Jahre, nachdem Deen selbst wegen mehrerer Übergriffe angeklagt (aber nicht verurteilt) worden war —, sagte er:

Es gibt bei mir diesen »Dreh ne Szene mit James Deen«-Contest, für den Frauen eine Bewerbung einreichen können, und dann, nach einem sehr langen Gespräch und mehreren Monaten, in denen ich sage: »Jeder wird davon erfahren, es wird deine Zukunft beeinträchtigen«, und im Grunde versuche, es ihnen irgendwie auszureden, dann drehen wir eine Szene.1

Tatsächlich gibt es nur wenig Sex in dem Girl-X-Video. Es ist in erster Linie eine lange, kokette, aufgeladene Unterhaltung, die immer wieder zu der Frage zurückkehrt, ob sie das tun werden: Sex haben, ihn filmen und dann online stellen. Girl X zögert. Sie schwankt zwischen Verspieltheit und Rückzug. Sie ist begeistert, dann gequält. Sie prescht vor, hält inne. Sie ist hin- und hergerissen, nachdenklich, hinterfragt sich. Sie denkt laut über ihr Dilemma nach, und Deen versucht, ihr zu folgen.

Vermutlich will sie wirklich »ne Szene mit James Deen« drehen, aber bereits als er ihr die Tür öffnet, scheinen ihr die Nerven durchzugehen. Sie betritt die Wohnung gekleidet in PVC-Leggins und eine zugeknöpfte cremefarbene Seidenbluse — unser Blick ist hinter der Kamera, bei Deen, der sie filmt — und läuft aufgeregt herum, lacht schrill und nervös, sagt, O mein Gott, o mein Gott. Wir bekommen flüchtig etwas von dem Raum zu sehen — er ist auf universelle Art anonym: glänzende Oberflächen, viel helles Holz — und splitterhaft von ihm, wenn er die Kamera absetzt: zerrissene Jeans, große, weiße Turnschuhe. Hin und wieder schwenkt er mit der Kamera zu ihrem Gesicht, dann wendet sie sich ab. Er neckt sie — du warst auf dem College, du bist klug und so’n Scheiß —, während sie sich durch die Küche mit der schimmernden Mittelinsel bewegen, durch den Flur mit den strahlend weißen Wandleisten und tiefroten Wänden. Er fragt sie, wie er sie nennen soll, sie antwortet nicht. Gut, sagt er, dann werde ich dich Girl X nennen, bis du dich entschieden hast, wie dein Name lautet.

Sie ist scheu, nervös — ich kann dich nicht mal ansehen —, bewegt sich weg, bewegt sich hin zu ihm. Sie setzt sich auf eine weiße Bank an einem glänzenden Chromtisch. Sie sprechen über einen Vertrag. Das Bild wird ausgeblendet — wir werden nicht in die Details eingeweiht. Es wird wieder eingeblendet, und sie macht ein Selfie. Sie will gerade unterzeichnen, hält dann aber inne und sagt: Was mache ich da mit meinem Leben? Was zur Hölle mache ich da gerade mit meinem Leben? Sie könne zu jedem Zeitpunkt abbrechen, sagt er. Sie könnten den Vertrag zerreißen. Wieder wird aus- und eingeblendet. Wir sehen, wie sie unterschreibt. Wir können uns später auf einen Künstlernamen einigen, sagt er, es sei denn, du willst einfach nur Girl X sein? — Ich weiß es nicht, sagt sie gedehnt und widerstrebend, ich habe keine Ahnung, ich habe so was noch nie gemacht.

Die Nervosität von Girl X bewirkt, dass sich Deen geschmeichelt fühlt — sie ist ein Zeichen ihrer Ehrfurcht vor dem Treffen mit diesem großen, absurden Star. Aber sie bewirkt auch, dass jegliche Konsequenzen, die sie fürchten mag, bereits durchgespielt werden; sie untergräbt, was von Deen und anderen als Exhibitionismus und vielleicht sogar als der Wunsch, sich Ärger einzuhandeln, aufgefasst werden könnte. Girl X bereitet sich auf ihre Bloßstellung vor.

Girl X tut etwas, das auf den hungrigen Blick anderer ausgerichtet ist, etwas, von dem sie sich vorstellt, dass es einen Betrachter oder eine Betrachterin erregt und befriedigt — darunter vielleicht auch die Betrachterin in ihr selbst, diejenige, die sich selbst dabei zusehen will, wie sie Sex mit Deen hat. Aber wenn sie fragt: Was mache ich da mit meinem Leben? Was zur Hölle mache ich da gerade mit meinem Leben?, dann spüre ich auch, wie sie sich zugleich den Blick einer anderen Art von Betrachter*in vorstellt, die strenger, kritischer ist. Beide — diejenige, die sie anstachelt, diejenige, die sie warnt — hat Girl X höchstwahrscheinlich so wie die meisten Frauen verinnerlicht: eine Betrachtungsinstanz, die sie mit Freuden zufriedenstellen will, eine Betrachtungsinstanz, deren Missfallen und deren Repressalien sie fürchtet. Girl X rechnet mit diesen betrachtenden Personen in ihrem Kopf und mit der Macht des Schauspiels an sich.

Sie ist eine impulsive Vergnügungswillige; aber sie ist auch befremdet, unsicher und gehemmt. Sie schlingert zwischen Unverfrorenheit und dem Wissen um das krasse Machtgefälle zwischen sich und Deen. Für sie steht viel auf dem Spiel, und das macht es extrem schwierig, die Entscheidung durchzuziehen, ihrem eigenen Begehren nachzukommen. Dieses dissoziative Flackern, diese Register- und Gangartwechsel — sie lassen sich direkt auf die Macht zurückführen, die strafende Vorstellungen von weiblicher Sexualität und weiblicher Persönlichkeit ausüben. Girl X setzt sich mit Fragen auseinander, die sich wohl viele Frauen stellen, die ich mir sicherlich auch schon gestellt habe, wenn sie das erste Mal mit einem Mann schlafen oder wenn sie ihr Verlangen offenlegen: Werde ich in Gefahr sein? Wenn ich mich offenbare, habe ich dann jegliche Intimsphäre und Würde verspielt? Werden mich meine eigenen Taten verfolgen, mich heimsuchen? Wird es mir gelingen, mich den unerwünschten Begierden anderer zu widersetzen? Kann ich noch Nein sagen, nachdem ich Ja gesagt habe?

Als Girl X ihre Zwiespältigkeit ausdrückt — Ich will mit dir Sex haben, sagt sie, aber ich weiß nicht, ob ich das der ganzen Welt zeigen will —, ist er dafür empfänglich: Du willst nicht als Schlampe dastehen, sagt er. Jetzt ahmt sie nach, wie ein typischer Kerl sprechen könnte: Ich hab gesehen, wie du mit ihm gefickt hast, warum fickst du nicht mit mir? Das ist kein völlig paranoider Gedanke. Einer der Angeklagten im »Rugby-Vergewaltigungsprozess« 2018 in Nordirland betrat den Raum, in dem zwei andere Männer sexuelle Handlungen an einer Frau ausführten, und als diese zu ihm Nein sagte, erwiderte er angeblich: »Du hast mit den anderen gefickt, warum fickst du nicht mit mir?«2 Das (mutmaßliche) Verlangen einer Frau — selbst wenn nur einmal, gegenüber nur einem Mann geäußert — macht sie verletzlich. Ihres Verlangens wegen werden ihr Schutz und Gerechtigkeit aberkannt. Sobald davon ausgegangen wird, dass eine Frau zu irgendetwas Ja gesagt hat, kann sie zu nichts mehr Nein sagen.

Im Film gibt es viele Momente, in denen die beiden lachen, Spaß und Gefallen aneinander haben; er ist bisweilen reizvoll anzusehen. Es gibt Humor und Verspieltheit und Neckereien. Girl X und Deen scheinen einander wirklich zu mögen, die Chemie stimmt. Sie stichelt. Als sie ihre Schüchternheit ablegt, ist sie sarkastisch, schneidend. Aber es gibt da auch diese Unbeholfenheit und schlecht abgestimmte Bewegungen: ihre Ambivalenz, seine Unsicherheit darüber, ob er sie drängen oder zurückhalten soll.

Am Ende überwinden sie die Hindernisse. Sie überschreiten die Schwelle, sie haben Sex. Manchmal sind sie dabei laut, aber es gibt auch leise Zeitspannen und Pausen während der Handlungen. Manchmal seufzt sie. Sie lachen, sie plaudern. Sofern es überhaupt möglich ist, so etwas von außen zu beurteilen — und das ist es nicht —, wirkt alles ziemlich gut, amüsant, fröhlich. Sie sitzen eine Weile da, schweigend, lächelnd, dann beschließen sie, zum Rauchen auf den Balkon zu gehen. Du willst, dass ich die Kamera ausmache?, fragt er. Ja, sagt sie. Okay, sagt er. Sie zieht sich wieder an. Die Kamera wird ausgeschaltet, sagt er. Die Kamera wird ausgeschaltet, sagt sie. Er geht zur Kamera, zu uns, den Zuschauer*innen. Die Kamera, sagt er, wird jetzt ausgeschaltet.

Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, was danach geschehen ist, was in den Pausen zwischen den gefilmten Passagen passierte, was herausgeschnitten wurde, welche Unterhaltungen wir nicht mit anhören konnten, welchen Sex wir nicht zu sehen bekamen. Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, was Girl X von den Anschuldigungen gegen Deen hielt oder ob es an dem Tag etwas gab, was ihr unangenehm war, was ihr Sorgen bereitete, worüber sie sich ärgerte. Ich weiß nichts über Girl X. Aber im Film sehe ich die schmerzliche — und vertraute — Erfahrung, hin- und hergerissen zu sein; das Verlangen gegen das Risiko abzuwägen; so sehr auf der Hut sein zu müssen, während man sich der Lust hingeben will. Frauen wissen, dass ihnen ihr sexuelles Verlangen jede Absicherung nehmen und als Beweis geltend gemacht werden kann, dass Gewalt in Wirklichkeit gar keine Gewalt war (sie wollte es doch). Girl X zeigt uns, dass es nicht allein der Ausdruck des Begehrens ist, sondern seine Existenz selbst, die durch die Bedingungen, auf die es trifft, entweder ermöglicht oder verhindert wird. Woher sollen wir wissen, was wir wollen, wenn genau dieses Wissen über unser eigenes Begehren sowieso von uns gefordert wird und zugleich eine Quelle der Bestrafung ist? Kein Wunder also, dass Girl X gemischte Gefühle hat, dass sie in Unsicherheit erstarrt ist. James Deen weiß nichts von dem düsteren Druck, den Sex für Girl X bedeutet — das muss er auch nicht. Girl X hingegen ist mit unmöglichen Ansprüchen aufgewachsen. Sie durchlebt das Dilemma, in dem Frauen existieren: dass es schwer sein kann, Nein zu sagen; aber Ja zu sagen, ist es auch.

2017 brachen sich die Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein Bahn. In der Folge verbreitete sich in den sozialen Medien der Hashtag #MeToo — ursprünglich 2006 von Tarana Burke eingeführt, um Aufmerksamkeit auf sexualisierte Gewalt gegen junge Frauen of colour zu lenken — und veranlasste Frauen, ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen zu teilen. In den nächsten Monaten folgte eine breite mediale Berichterstattung, in der es größtenteils um Machtmissbrauch am Arbeitsplatz ging. Es galt als selbstverständliches und notwendiges Wohl, die eigenen Erfahrungen öffentlich zu machen.

Ich freute mich über die Berichterstattung, und mir graute zugleich vor ihr. Manchmal musste ich eilig die Nachrichten und ihren unerbittlichen Strom trostloser Geschichten abschalten. Auf dem Höhepunkt von #MeToo fühlte es sich manchmal so an, als seien wir Frauen dazu verpflichtet, unsere Erfahrungen zu schildern. Die Häufung von sowohl online — auf Facebook, auf Twitter — als auch persönlich erzählten Geschichten erzeugte Druck, Erwartungen. Wann erzählst du deine? Die kollektive Gier nach diesen Geschichten ließ sich schwer ignorieren, eine Gier, die sich hinter Worten der Besorgnis und Wut verbarg und perfekt zu der Überzeugung passte, dass es ein grundsätzlicher, unumstößlicher feministischer Fortschritt sei, die Wahrheit auszusprechen.3 #MeToo wertete nicht allein die Aussagen von Frauen auf, sondern war auch der riskante Schritt, aus ihnen eine Pflicht zu machen, eine erzwungene Zurschaustellung der eigenen feministischen Macht zur Selbstverwirklichung, der eigenen Entschlossenheit, keine Scham anzunehmen, der eigenen Kraft, sich gegen Erniedrigungen zu wehren. Es befriedigte auch die lüsterne Gier nach Geschichten über den Missbrauch und die Erniedrigung von Frauen — wenn auch selektiv.

Wann bitten wir Frauen, zu reden, und warum? Wem nützt dieses Reden? Wer wird überhaupt darum gebeten, etwas zu sagen — und wessen Stimmen hören wir zu? Zwar trifft tendenziell jede Anschuldigung einer Frau, sexualisierte Gewalt erfahren zu haben, auf mächtigen Widerstand, allerdings wurden während #MeToo die Schilderungen wohlhabender weißer Frauen beispielsweise denen junger Schwarzer Frauen vorgezogen, deren Familien über Jahrzehnte hinweg Gerechtigkeit von dem Musiker und Missbrauchstäter R. Kelly gefordert hatten. Studien zeigen, dass Schwarzen Frauen, die sexuelle Übergriffe zur Anzeige bringen, weniger geglaubt wird als weißen Frauen4 (außerdem werden Schwarze Mädchen als erwachsener und sexuell erfahrener angesehen als gleichaltrige weiße Mädchen) und dass Verurteilungen wegen Vergewaltigung bei weißen Opfern zu deutlich höheren Strafen führen als bei Schwarzen.5 Nicht jede Aussage ist gleich viel wert.

Zugleich werden Frauen nicht nur rückblickend dazu gedrängt, zu reden — sondern auch vorausgreifend, für die Zukunft, zum Schutz: Klare Aussagen sind ein wichtiger Beitrag, um zukünftiges Unrecht zu verhindern, nicht nur, um vergangenes anzusprechen. In den letzten Jahren haben sich zwei Voraussetzungen für guten Sex herauskristallisiert: Konsens und Selbstkenntnis. Im Reich des Sex, wo zumindest das Ideal des Konsenses absolut herrscht, müssen Frauen sich äußern — und zwar dazu, was sie wollen. Wozu sie natürlich wissen müssen, was genau es ist, was sie wollen.

In dieser, wie ich sie nenne, Konsenskultur — in der allgemein behauptet wird, dass Zustimmung der Faktor ist, durch den sich die Missstände unserer Sexualkultur auflösen werden — werden Aussagen von Frauen über ihr Begehren sowohl verlangt als auch idealisiert und als Kennzeichen progressiver Politik gepriesen. »Kenne deine Wünsche und erfahre, was dein*e Partner*in will«, forderte ein New York Times-Artikel im Juli 2018 und versprach, dass »guter Sex dort stattfindet, wo sich diese beiden Vorstellungen treffen«.6 »Führen Sie diese Unterhaltung«, mahnte eine Sexberaterin in der Sendung »The New Age of Consent« auf BBC Radio 4 im September desselben Jahres7 — und meinte damit die direkte, ehrliche Unterhaltung über Sex: ob man will und wenn ja, was man genau will. Man solle diese Unterhaltung führen, bevor man im Schlafzimmer landet, erklärt man uns; in der Bar, im Taxi auf dem Weg nach Hause — sämtliche Peinlichkeiten sind es später wert. »Enthusiastische Zustimmung«, schrieb Gigi Engle in der Teen Vogue,8 »ist für beide notwendig, um es zu genießen« — eine verbreitete Haltung, die der Kulturwissenschaftler Joseph J. Fischel als die Auffassung kommentiert, dass »enthusiastische Zustimmung, aus der wir Begehren lesen können, nicht einfach nur die Voraussetzung für Lust ist, sondern beinahe schon ihr Garant«.9 Die Aussagen der Frau über ihr Begehren tragen hier eine schwere Last: Sie sollen Lust garantieren, sexuelle Beziehungen verbessern und Gewalt vorbeugen. Zustimmung, schreibt Fischel in seinem Buch Screw Consent, verleiht Sex »moralische Magie«.

Diese Rhetorik ist nicht gänzlich neu; der feministische Kampf konzentrierte sich besonders seit den 1990ern stark auf Konsens und provozierte in der Folge viele aufgeregte Kommentare (mehr dazu gleich). Rachel Kramer Bussel schrieb 2008, dass es »als Frauen unsere Pflicht uns selbst und unseren Partner*innen gegenüber ist, deutlicher zu äußern, was wir im Bett wollen, und ebenso mitzuteilen, was wir nicht wollen. Kein*e Partner*in kann es sich leisten, passiv zu bleiben und einfach darauf zu warten, wie weit die andere Person gehen wird.«10 Dass wir sagen müssen, was wir wollen, und tatsächlich wissen müssen, was wir wollen, ist zur Binsenweisheit geworden, der sich schlecht widersprechen lässt, wenn man weibliche Selbstbestimmung und Freude am Sex ernst nimmt. Die Aufforderung an Frauen, ihr Begehren genau zu kennen und zu formulieren, gilt als grundlegend befreiend, da es die weibliche Fähigkeit zur — und das Recht auf — Lust betont.

Progressives Denken sieht Sexualität und Lust schon lange als Synonyme für Emanzipation und Befreiung. Genau das kritisierte der Philosoph Michel Foucault 1976 in Der Wille zum Wissen, als er schrieb, dass »der gute Sex nah« sei — dass Sex morgen wieder gut werde.11 Er paraphrasierte süffisant die Haltung der gegenkulturellen sexuellen Revolution der 1960er und 1970er; der Marxist*innen, der Revolutionär*innen, der Freudianer*innen — all jener, die glaubten, dass wir nur endlich die Wahrheit über Sexualität sagen müssen, um uns von der moralisierenden Umklammerung, von der unterdrückenden viktorianischen Vergangenheit zu befreien. Foucault hingegen war skeptisch, was das »leidenschaftliche Wegwünschen der Gegenwart und die Berufung auf eine Zukunft« betraf, und führte an, dass die biederen Viktorianer*innen in Wirklichkeit äußerst wortreich waren, wenn es um Sex ging, selbst wenn diese Geschwätzigkeit darin mündete, Pathologien, Abartigkeiten und Anomalien zu skizzieren.12 Er korrigierte nicht nur die klassische Ansicht, die Viktorianer*innen seien prüde und unterdrückt gewesen und hätten sich dem Schweigen verschrieben, er stellte sich auch gegen die Floskel, dass über Sex zu reden Befreiung, Schweigen hingegen Unterdrückung brächte. »Glauben wir nicht«, schrieb er, »dass man zur Macht Nein sagt, indem man zum Sex Ja sagt.«13

Sex war und ist noch immer auf unzählige Weisen verboten und reguliert, und besonders die weibliche Sexualität wurde und wird stark eingeengt und überwacht. Aber es lohnt sich, auf Foucaults Standpunkt näher einzugehen. Wir befinden uns, wieder einmal, an einem Punkt, an dem es morgen zu sein scheint — ein Morgen gleich am Horizont, nah genug, um es zu berühren — und Sex wieder gut sein wird; ein Punkt, an dem wir die Gegenwart leidenschaftlich wegwünschen und uns auf die Zukunft berufen, bewaffnet, wie wir sind, mit den Instrumenten, die wir brauchen, um vergangene Unterdrückung ungeschehen zu machen — den Instrumenten des Konsenses und, wie wir sehen werden, der Sexualforschung. Aber zu reden und die Wahrheit zu sagen ist nicht an sich emanzipatorisch, und weder die Rede noch das Schweigen sind an sich befreiend oder unterdrückend. Darüber hinaus kann Unterdrückung auch durch die Mechanismen der Rede betrieben werden, durch das, was Foucault die »Anreizung zu Diskursen« nannte. Konsens und sein Konzept von absoluter Klarheit verlagern die Bürde des guten sexuellen Zusammenspiels auf das Verhalten der Frauen — darauf, was sie wollen und was sie über ihre Wünsche wissen und sagen können; auf ihre Fähigkeit, ihre Sexualität selbstsicher zu leben, um zu gewährleisten, dass der Sex für beide Seiten angenehm und ungezwungen ist. Wehe derjenigen, die sich selbst nicht kennt und dieses Wissen ausspricht. Das ist gefährlich, wie wir noch sehen werden.

In einem Interview sprach eine Betroffene von Weinsteins sexuellen Einschüchterungsschlachten davon, Angst davor gehabt zu haben, »ins Wespennest zu stechen«; Angst, angesichts seiner Forderungen etwas zu tun, das Wut, Gewaltausbrüche oder Rachegelüste bei ihm auslösen könnte.14 Eine Zeugin sagte im Januar 2020 im Weinstein-Prozess in New York aus, »wenn er das Wort ›Nein‹ hörte, war es für ihn wie ein Trigger«.15 Frauen wird beigebracht — nicht zuletzt von Männern, die zu nötigendem Verhalten neigen —, sich übermäßig um die Gefühle der Männer zu sorgen; sie lernen, sich für das Wohlbefinden der Männer verantwortlich zu fühlen, und daher auch für ihre Wut und ihre Gewaltausbrüche. Ihnen wird auch beigebracht, dass sie die Sache durchziehen müssen, wenn sie »Signale gesendet« haben; dass sie für die Konsequenzen ganz allein die Schuld zu tragen haben, wenn sie erst offenbar Interesse zeigen und dann Nein sagen. Es ist wahrscheinlicher, dass ein verletztes männliches Ego um sich schlägt, und da ein guter Teil sozialer Kommunikation indirekt stattfindet, besonders, wenn Angst im Spiel ist, sagen Frauen womöglich auf vorsichtige, behutsame, versteckte Art Nein, um dem Mann zu erlauben, das Gesicht zu wahren, und um ihn nicht gegen sich aufzubringen.

Ein vorsichtiges Nein wird jedoch nicht unbedingt als ein Nein verstanden, und gerade Vorsicht und Behutsamkeit können sich später an der Frau rächen, im Gerichtssaal, beim Umgang mit Anschuldigungen und dem Hinterfragen ihres Verhaltens. Haben Sie es laut genug gesagt? Haben Sie ins Wespennest gestochen?

Nein zu sagen ist demnach schwer. Ja zu sagen aber auch; Begehren zu äußern ebenfalls. Zum einen garantiert ein verbales Äußern den Frauen keine Lust, trotz des draufgängerischen, enthusiastischen Tonfalls in weiten Teilen des Konsensdiskurses. In Michaela Coels Serie I May Destroy You sind die Autorin Arabella und ihre Freundin, die Schauspielerin Terry, in Italien und wohnen in einem protzigen Apartment, in dem Arabella versucht, ihr Manuskript zu beenden. Sie ziehen nachts durch die Clubs, Terry beschließt, früher zu gehen, und steuert auf dem Heimweg noch eine Bar an, in der sie von einem einheimischen Mann angemacht wird. Zuvor haben wir gesehen, wie er sie gemeinsam mit einem Freund als Ziel festlegte — aber als Terry ihn kennenlernt, ist er allein. Sie tanzen, sexuelle Spannung baut sich auf; es sieht so aus, als würde noch was gehen. Dann kommt der andere Mann hinzu; sie verraten nicht, dass sie sich kennen. Aus Terrys Sicht erscheint der folgende Dreier organisch, zufällig. Nachdem sie Sex hatten — oder vielmehr, nachdem die Männer gekommen sind —, ziehen sich die beiden ohne Umschweife wieder an, sie haben es eilig, nach Hause zu kommen, kümmern sich nicht mehr um Terry. Sie hatten ihren Spaß, sind zum Orgasmus gekommen; bloß wo spielte ihrer eine Rolle? Sie war bereit für den Sex, aber das schließt nicht aus, dass sie sich benutzt und im Stich gelassen fühlt. Ernüchtert sieht sie den beiden nach, wie sie gemeinsam in komplizenhafter Kameraderie die Straße entlanggehen; ihre Freundschaft und deren vorangegangene Geheimhaltung erscheinen jetzt offensichtlich. Terry hat die beunruhigende Ahnung, dass sie nicht nur von ihrer eigenen sexuellen Neugier, sondern auch von den beiden gesteuert wurde, in einer subtilen, zweifelhaften Form des Betrugs. Sind Konsens, Ja zu sagen und Begehren auszudrücken ein Garant für Lust? Schließen sie aus, dass Frauen von Männern instrumentalisiert werden? Natürlich nicht. Die Lust und das Recht auf sie sind nicht gerecht verteilt.

Ja zu sagen und die eigenen Begierden klar zu benennen ist auch wegen der sexistischen Überprüfung, der Frauen unablässig unterzogen werden, schwierig. Bei vielen Vergewaltigungsprozessen besteht kein Interesse daran, ob die Tat stattfand, sondern ob das Opfer sexuellen Aktivitäten zugestimmt hat. Konsens wird dann mit Genuss, Lust und Begehren vermischt. Das ideale Opfer ist, wie ein prominenter britischer Anwalt einmal sagte, »vorzugsweise sexuell unerfahren oder wenigstens unbescholten«.16 Der Beweis, dass eine Frau Apps wie Tinder benutzt hat, um Sexualpartner kennenzulernen, kann sich vor Gericht gegen sie wenden, auch wenn er für die eigentliche Anklage im Prozess irrelevant ist, und die Bereitschaft einer Frau, Gelegenheitssex mit einem Fremden zu haben, spricht in der Verhandlung oft deutlich gegen sie. Wenn sich der Fall vor Gericht auf »einen Kontakt, der über eine Datingplattform zustande kam« bezieht, »gibt es wenig Hoffnung auf eine Verurteilung«.17 Anders gesagt, man kann nicht von jemandem vergewaltigt werden, den man auf Tinder kennengelernt hat — von jemandem also, den man vermeintlich aus selbstbewusstem sexuellem Begehren heraus getroffen hat.

Das sexuelle Verlangen einer Frau ist oft die Grundlage, um männliche Gewalt zu rechtfertigen. Warum sonst sollte beispielsweise eine Anwältin die Unterwäsche einer Klägerin vor Gericht hochhalten, wie es bei einem Vergewaltigungsprozess 2018 in Irland geschah? Die Anwältin formulierte: »Sie müssen sich ansehen, wie sie gekleidet war. Sie trug einen Spitzentanga.«18 Die Unterwäsche der Klägerin schien für ihr sexuelles Verlangen zu stehen. Und wieder: Sobald eine Frau offenbar zu etwas Ja gesagt hat, kann sie zu nichts mehr Nein sagen.

Gleichermaßen war das Verlangen einer Frau in dem Wiederaufnahmeverfahren gegen den walisischen Fußballer Ched Evans 2016 von zentraler Bedeutung. Evans war wegen der Vergewaltigung einer Neunzehnjährigen zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Bei dem neuen Prozess wurden Beweise untersucht, die das Berufungsgericht für relevant befunden hatte: Beweise, die sich auf die sexuelle Vergangenheit der Frau bezogen und die von zwei Männern geliefert wurden. Sie behaupteten, sie habe eine Vorliebe für »ungewöhnlichen« Sex — angeblich hatte sie auf allen vieren Sex mit vaginaler Penetration von hinten gehabt und gesagt: »Fick mich härter.«19 Anzeichen für Genuss werden Frauen als Fehler angerechnet — ebenso besondere Vorlieben oder Kinks, zu denen, nebenbei bemerkt, Frauen seit Jahrzehnten von Frauenmagazinen und Sexratgebern aufgerufen werden, sie im Namen der sexuellen Befreiung auszuprobieren.20 So viel zum Thema gemischte Signale!

Vor ein paar Jahren, als ich ein Buch aus der Ich-Perspektive über Sexualität geschrieben hatte — über Freud und Leid, über Licht und Schatten —, wurde ich immer wieder gefragt, warum ich mich entschieden hatte, den riskanten, exponierenden Schritt zu tun, über mein eigenes Sexleben zu schreiben, und mir wurde wiederholt gesagt, ich sei mutig.21 Diejenigen, die das Buch mochten, sagten es in lobendem und bewunderndem Ton; diejenigen, denen das Buch missfiel, sagten — oder schrieben — dasselbe in entsetzterem Ton. Ich hatte den Eindruck, dass der gemeinsame Nenner eine gewisse großäugige Ungläubigkeit war; eine Bestätigung, dass es leichtsinnig ist, als Frau über die eigene Sexualität zu sprechen.

Ich für meinen Teil hatte gewaltig damit zu tun, die Erkenntnis, die in all diesen Reaktionen mitschwang, in Schach zu halten: dass es bis an mein Lebensende gegen mich verwendet werden könnte, öffentlich über meine Sexualität geschrieben zu haben. Obwohl ich es wirklich versuchte, konnte ich eines einfach nicht vergessen: Sollte ich jemals einen Mann wegen eines sexuellen Übergriffs anzeigen müssen, könnte mir die Ergründung meiner Sexualität in Buchform Schaden zufügen — und der Mann wäre fein raus.

Als mir das Schaudern, das Erzittern vor Angst, das die anderen durchfuhr, bewusst wurde, nahm ich an, es handele sich um die altbekannte Abneigung gegenüber einer Frau, die offen über Sex redet — eine geschlechtsspezifische Missbilligung, Doppelmoral. Vielleicht aber spiegelt die Abneigung auch immer etwas von dem wider, was wir alle wissen: wie verletzlich sich eine Frau macht, die sich in einer Welt exponiert, die diesen Impuls zugleich verlangt und bestraft. Diese Verletzlichkeit wiederum provoziert Angst, die sich leicht entweder in Verachtung oder Bewunderung verwandelt. Der Schauder ist das Zucken der Erkenntnis und die kollektive Warnung: Pass auf.

Das Beharren auf dem klaren Äußern des Begehrens — darauf, zu wissen, was man will, auf dem enthusiastischen Konsens, auf dem, was Lola Olufemi das »glückliche Gesicht des Konsenses« nennt — vertuscht eine andere wichtige Frage: Wessen Ja ist von Bedeutung?22 Die Sexualität von Frauen of colour wird noch immer über kolonialistische und orientalistische Fantasien vom Animalischen und Exotischen wahrgenommen. Rassistische Klischees von Schwarzen Frauen als hypersexuell reichen weit zurück; Linné, der die Menschheit 1753 klassifizierte, definierte afrikanische Frauen als »schamlos«,23