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Ein unerwartetes Erbe stürzt Sonya in ein neues Leben
Gerade hat sich Sonya MacTavish von ihrem untreuen Verlobten getrennt und ihren Job gekündigt, da steht plötzlich ein Anwalt vor ihrer Tür, der ihr von einem unbekannten Onkel erzählt. Dieser habe ihr ein majestätisches Herrenhaus an der Küste von Maine vermacht. Als Sonya ihr ominöses Erbe besichtigt, verliebt sie sich sofort in das verwunschene Anwesen, das eine düstere Geschichte verbirgt. In dieser entdeckt Sonya das jahrzehntealte Rätsel, das stets die Frauen in ihrer Familie beschäftigte und bis heute nicht gelöst ist. Inspiriert von ihren beeindruckenden Vorfahrinnen, macht sich Sonya an die Aufgabe, an der bisher Generation um Generation gescheitert ist. Stets hilfreich zur Seite steht ihr dabei der attraktive Trey, den Sonya in ihrem neuen Zuhause kennenlernt und dem sie schnell näherkommt.
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Seitenzahl: 742
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über das Buch
»Sie bog um eine Kurve, und da ragte es vor ihr empor, breitete sich unter dem düsteren Himmel auf der Klippe aus. Erstaunt trat sie auf die Bremse. Sie hatte geglaubt, auf den Anblick vorbereitet zu sein, denn sie hatte die Fotos und die Zeichnungen ihres Vaters genau studiert. Aber dort stand es auf einem Teppich aus Schnee, an der Spitze der hohen Klippen über dem tosenden Meer.
Wie ein Ort aus einem Roman, dachte sie, oder aus einem klassischen Horrorfilm, mit seinen Zwillingstürmen und zahllosen Fenstern, der tiefblauen Fassadenverkleidung, die sich von dem Stein abhob, welcher in der düsteren Umgebung matt golden zu schimmern schien.
Dort ragte die große Trauerweide empor, deren geschwungene Zweige vor Eis glitzerten. Im Rücken des Hauses lag der Wald wie eine grüne Mauer.
Sonya verliebte sich auf der Stelle.
Wie töricht es auch sein mochte: Sie hatte das Gefühl, dass das Haus auf sie wartete und bereit war, sie aufzunehmen.«
Über die Autorin
Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von 500 Millionen Exemplaren überschritten. Mehr als 200 Titel waren New-York-Times-Bestseller, und ihre Bücher erobern auch in Deutschland immer wieder die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.
nora roberts
ROMAN
Aus dem Amerikanischen von Nicole Hölsken
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe INHERITANCE erschien erstmals 2023 bei St. Martin’s Press, New York.
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Deutsche Erstausgabe 02/2025
Copyright © 2024 by Nora Roberts
Published by arrangement with Eleanor Wilder
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Redaktion: Birgit Groll
Umschlaggestaltung: bürosüd
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-31345-6V001
www.heyne.de
Für Benita, denn noch immer habe ich dein wundervolles Lachen im Ohr.
Betrug
He was her man, but he done her wrong.
– frei nach »Frankie and Johnny« von Johnny Cash
Ich bin eine Braut. Eine Ehefrau.
Wie wundervoll, dass mein Leben heute beginnt, denn jetzt bin ich nicht länger Astrid Grandville – sondern Mrs. Collin Poole.
Als wir uns vor knapp einem Jahr kennenlernten, war es Liebe auf den ersten Blick. Ich liebte nicht nur sein hübsches Gesicht oder seine stattliche Erscheinung, denn über beides verfügt sein Zwillingsbruder Connor ebenfalls. Ich liebte das Lächeln in seinen tiefgrünen Augen, seine angenehme Tenorstimme, seinen Intellekt.
Ich liebte seine Fairness, seine weltmännische Art, sein stets bereites Lachen, seinen Familiensinn und die Hingabe an das Familienunternehmen.
Er ist ein Schiffsbauer, mein Ehemann, genau wie vor ihm sein Vater. Arthur Poole habe ich nur kurz kennengelernt, trauerte aber dennoch um ihn, als er nach einem Sturz vom Pferd aus dieser Welt schied.
Nun leiten die Brüder das Geschäft, das ihr Vater gründete.
Allerdings nicht heute. Denn heute ist ein Feiertag für alle in Poole’s Bay, und in dem Haus, das sein Vater dort errichtet hat, gibt es Musik und Tanz, Essen und Wein, Liebe und Lachen.
Diese trutzige Steinfestung, die Arthur auf der wilden Klippe über dem weiten Meer errichtet hat, machen wir ab dem heutigen Tag zu unserem Zuhause, mein Geliebter und ich.
Hier werden die Kinder aufwachsen, die unserer Liebe entspringen. Vielleicht werden wir jenen ersten Funken des Lebens ja sogar schon heute Nacht entzünden. In unserer Hochzeitsnacht.
Arabelle, meine beste Freundin, die schon bald meine Schwägerin sein wird, wenn sie und Connor im Herbst heiraten, fragte mich, ob ich nervös sei, weil ich – ebenso wie sie selbst – als Jungfrau in die Ehe gehe.
Nein. Oh nein, ich bin begierig, begierig zu erfahren, was jenseits der Küsse auf mich wartet, die mein Blut so sehr in Wallung bringen und brennende Leidenschaft in mir entfesseln.
Mit meinem Körper werde ich dich anbeten. Und jedes einzelne meiner Gelübde werde ich erfüllen.
Ich betrachte mich im Spiegel unseres zukünftigen Schlafgemaches, in dem wir als Mann und Frau beieinanderliegen werden, und entdecke darin eine Frau, die so ganz anders ist als das Mädchen von einst.
Ich betrachte das hochgesteckte Haar, das Collin mit in der Sonne schimmernder Seide vergleicht. Mein Haupt ziert eine Krone aus Rosen, unter der – ganz gemäß den Wünschen meiner Mutter – ein kurzer Schleier weht. Ich betrachte das weiße Kleid, dessentwegen ich mich so sehr gesorgt habe. Von dem Seidenband an der hoch angesetzten Taille fließt es in weichen Falten an meiner Gestalt herab, genau wie ich es mir gewünscht habe.
Ich weiß, dass ich keine Schönheit bin, egal wie oft Collin es mir auch versichert. Aber ich verfüge über ein ansehnliches Äußeres, besonders am heutigen Tag, an dem aus dem Mädchen eine Frau wird und aus der Braut eine Gemahlin.
Ich betrachte den funkelnden Ring, den er mir schenkte, als er um meine Hand anhielt. »Ich liebe dich von ganzem Herzen«, versicherte er mir. »Niemals werde ich eine andere lieben, meine geliebte Astrid, sondern immer nur dich – mein Leben lang und sogar noch über den Tod hinaus.«
Nun prangt dieser Glanz, dieses Versprechen, dieser Schwur an meiner rechten Hand, und der goldene Reif, der Kreis, der niemals endet, ziert meine linke.
Die Frau, die nun aus mir wird, wird ihn ihr Leben lang lieben, und ebenfalls über den Tod hinaus.
Nach diesem kurzen Moment stiller Betrachtung muss ich zurückkehren. Zurück zur Musik, zurück zum Tanz, zu den Feierlichkeiten, auf denen Collin bestanden hat, um diesen Tag zu etwas ganz Besonderem zu machen.
Ich werde mit meinem Mann tanzen. Ich werde seine Familie wie meine eigene lieben, denn ab dem heutigen Tag ist sie das schließlich auch. Zum Spiel der Dudelsackpfeifer werde ich diesen ersten Tag unseres langen, glücklichen gemeinsamen Lebens feiern.
Wie sehr man sich doch irren kann!
Ich drehe mich um, um die Frau zu begrüßen, die mein Zimmer betritt. Sie kommt mir bekannt vor, aber ehe ich ein Wort sagen kann, stürzt sie sich auf mich. Eine Sekunde lang sehe ich das Messer aufblitzen, dann stößt sie es mir in den Leib.
Oh, dieser Schmerz! Nie werde ich ihn vergessen. Der Schock, als die Klinge in mein Fleisch schneidet, einmal, zweimal. Und wieder und wieder.
Ich taumele rückwärts, unfähig zu schreien, unfähig, auch nur einen Ton herauszubringen, als sie mir das Messer vor die Füße wirft.
»Du bekommst ihn niemals!«, ruft sie. »Stirb als Braut und wisse, dass er zu mir kommen wird. Er wird zu mir kommen, oder bei deinem Blut auf meiner Zunge, Braut um Braut wird dir im Tode nachfolgen.«
Zu meinem Entsetzen leckt sie sich mein Blut von ihrem Finger. Und als ich zu Boden falle, zieht sie mir den Ehering vom Finger.
Diese Geste ist im Grunde schlimmer als der Schmerz.
»Eine Ehe ist keine Ehe, solange sie nicht vollzogen ist. Du bist und bleibst nur eine Braut, wirst nie Gemahlin sein und bist für immer verloren. Verdammt sollst du sein, Astrid Grandville.«
Sie lässt mich sterbend auf dem Boden neben dem Ehebett zurück, das ich nie mit meinem Geliebten teilen werde. Aber mein Ring, mein Ehering! Wie kann ich diese Welt ohne ihn verlassen?
Der Blutfleck breitet sich auf meinem weißen Hochzeitskleid aus, doch die Verzweiflung treibt mich wieder empor. Unter entsetzlichen Schmerzen taumele ich zur Tür. Meine Hände, verschmiert von meinem eigenen Blut, vermögen sie kaum zu öffnen.
Doch ich muss Collin finden. Ich muss meinen Ring wiederbekommen. Mit diesem Ring gelobe ich, dein zu sein. Mein Blick trübt sich. Jeder Atemzug ist eine Qual.
Jemand schreit, aber der Laut kommt aus einer anderen Welt. Einer Welt, die ich nun verlasse.
Ich sehe ihn, und nur ihn, während alles andere verblasst – die Musik, die hübschen Gewänder und Anzüge, die Gesichter. Selbst die Schreie werden leiser.
Er eilt zu mir herüber, ruft meinen Namen. Als meine Beine unter mir nachgeben, fängt er mich in seinen starken Armen auf.
Ich will mit ihm reden. Mit der Liebe meines Lebens. Aber der Reif, das Versprechen eines langen, glücklichen Lebens, wurde gestohlen.
Ich spüre die Tränen auf meinem Gesicht und erkenne die Angst und die Trauer in seinen tiefgrünen Augen.
»Astrid, meine Geliebte. Astrid. Verlass mich nicht. Verlass mich nicht.«
Alles verblasst, als ich meine letzten Worte spreche, ihm mit meinem letzten Atemzug ein Versprechen gebe.
»Niemals.«
Und tatsächlich habe ich ihn nie verlassen.
Eine Hochzeit zu planen, war der reinste Irrsinn. Aber wenn man diese unumstößliche Tatsache einmal akzeptiert hatte, konnte man, wie Sonya fand, auch einfach weitermachen.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie auf den gesamten Zirkus verzichtet. Sie hätte sich ein tolles Kleid gekauft, das sie auch später wieder würde tragen können, und hätte Familie und enge Freunde zu sich nach Hause eingeladen, um sich im heimischen Garten trauen zu lassen. Eine kurze, ergreifende Zeremonie, die am Abend in die beste Party aller Zeiten münden würde.
Kein eleganter Schnickschnack, kein förmlicher Empfang, kein Stress, kein Brimborium. Dafür jede Menge Spaß.
Aber Brandon wollte den ganzen Schnickschnack, das Förmliche und das Brimborium.
Also hatte sie sich ein tolles Kleid gekauft – das so viel kostete wie zwei Monatsraten für die Hypothek und das sie nur ein paar Stunden lang tragen würde, nur um es anschließend reinigen zu lassen und für immer wegzupacken.
Sie hatten ein schickes Hotel in der Back Bay für die Gäste gebucht. Die Gästeliste hatte die Marke von dreihundert bereits überschritten und näherte sich der von vierhundert, dabei waren die Einladungen noch nicht mal verschickt worden.
Letztere hatte sie selbst entworfen – immerhin verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Grafikdesignerin. Allerdings galt das auch für Brandon, weshalb er sie natürlich auch mitgestaltet hatte. Vielleicht waren die Einladungen letztlich förmlicher geworden, als sie es sich ursprünglich vorgestellt hatte, aber trotzdem waren sie fantastisch.
Schon Monate zuvor hatten sie »Save the Date«-Karten verschickt und beinahe einen ganzen Tag bei einem Fotografen verbracht, um Verlobungsfotos schießen zu lassen.
Eigentlich hatte sie eine Freundin bitten wollen, ein paar zwanglose, fröhliche Schnappschüsse zu machen. Er aber legte sein Veto ein, was sie zugegebenermaßen ziemlich geärgert hatte. Doch letztlich waren die Fotos wunderschön geworden.
Kultiviert. Eine elegante, kultivierte Anzeige für die Hochzeit des perfekten, glücklichen, aufstrebenden Paares.
Sie hatten gefühlt Tage damit verbracht, die Speisefolge festzulegen – natürlich würde es ein mehrgängiges, formelles Menü geben. Danach Kuchen. Sie mochte Kuchen und war fest davon überzeugt, dass mit Menschen, die keinen Kuchen mochten, irgendetwas nicht stimmen konnte.
Aber herrje, wer hätte gedacht, dass die Gestaltung einer Hochzeitstorte – Geschmacksrichtung, Füllung, Guss, Design, Etagen, Figuren obendrauf – ein dermaßen frustrierendes Unterfangen sein konnte?
Heute wusste sie es.
Und nicht zu vergessen die Petit Fours mit ihren Initialen in Gold obendrauf.
Dann noch die Blumen, die Musik, die Platzkarten, die Farben – das alles war trotz der effizienten und unglaublich geduldigen Hochzeitsplanerin ein Albtraum.
Und sie konnte das Ende dieses Irrsinns kaum erwarten.
Wodurch sie wohl deutlich von der Norm abwich.
Sollten zukünftige Bräute den Wirbel und den Stress vor der Hochzeit nicht eigentlich in vollen Zügen genießen? Wünschte sich nicht jede Braut, dass dieser Tag etwas Besonderes, Einzigartiges wurde, eine Märchenhochzeit?
Dabei wünschte sie sich durchaus einen besonderen, einzigartigen Tag, und noch mehr sehnte sie sich nach einem glücklichen Zusammenleben bis an ihr Lebensende.
Aber …
Derlei »Abers« hatten sich in den letzten Wochen gehäuft. Aber es fühlte sich gar nicht an wie ihr Tag, ihr besonderer, einzigartiger, absolut aufregender Tag. Überhaupt nicht. Irgendwie war ihr alles entglitten. Und als sie sich ins Gedächtnis rief, dass es sich schließlich auch um Brandons Hochzeitstag handelte und er durchaus ein gewisses Mitspracherecht hatte, wurde ihr klar, dass er im Grunde alles bestimmte.
Nichts von alldem spiegelte ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche wider. Sondern ausschließlich seine.
Und wenn ihre Vorstellungen und Wünsche sich dermaßen grundlegend voneinander unterschieden, bedeutete das dann nicht automatisch auch, dass sie gar nicht zueinanderpassten?
Sobald sie intensiver darüber nachdachte, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Ebenso wie sie sich Sorgen machte, wenn sie drei Samstage mit der Suche nach dem perfekten Haus verbrachten und er für die schicke, moderne Allerweltsvilla plädierte, während sie sich ein großes, altes Haus mit Charakter wünschte.
Aber …
Wenn sie nicht intensiver darüber nachdachte, sondern mit ihren Gedanken eher bei den letzten achtzehn Monaten ihrer Beziehung verweilte, waren ihre Sorgen wie verflogen.
Der Hochzeitstag war nichts weiter als ein Tag, und warum sollte sie Brandon nicht das ganze Brimborium gönnen, das er sich wünschte? Und das Haus? Eigentlich war die Inneneinrichtung doch viel wichtiger als die Architektur. Sie würden einen Kompromiss finden und sich ein gemeinsames Zuhause schaffen.
Wahrscheinlich gingen so kurz vor der Hochzeit einfach nur die Nerven mit ihr durch, sagte sie sich. Schließlich wurde die Sache jetzt real. Den – buchstäblichen – Beweis dafür trug sie in Form des Probedrucks für die Hochzeitseinladungen in der Tasche mit sich herum.
Sie akzeptierte ihre Nervosität, sagte den Termin mit dem Floristen ab – der hätte sie heute definitiv überfordert – und machte sich auf den Heimweg.
Sie würde sich ein paar ruhige Stunden gönnen. Brandon hatte seinerseits ebenfalls irgendetwas für die Hochzeit zu erledigen, weshalb sie das Haus bis zu seiner Rückkehr für sich haben würde.
Und dann, so beschloss sie, würden sie eine Flasche Wein öffnen, den Probedruck checken und ihn ebenso unter Dach und Fach bringen wie die immer weiter anwachsende Gästeliste. Sie würden die Einladungen bestellen und diesen Punkt damit endlich abhaken können, denn er hatte einen Kalligrafen damit beauftragt, die Adressen auf die Umschläge zu schreiben.
Das hätte sie natürlich auch selbst machen können, aber hey, darüber, dass ihr die Beschriftung mehrerer Hundert Einladungen erspart blieb, würde sie sich wohl kaum beklagen.
Mit heruntergekurbelten Fenstern und laut aufgedrehter Musik schob sie sich durch Bostons Samstagsverkehr. In acht Wochen, so dachte sie, würden die Farben des Herbstes – ihrer Lieblingsjahreszeit – schier explodieren. Und sie würde diesen ganzen Stress hinter sich haben.
Sie war jetzt achtundzwanzig, beinahe neunundzwanzig, und stand damit am Ende eines Lebensjahrzehnts. Sie war bereit, sesshaft zu werden, eine Familie zu gründen. Und in acht Wochen würde sie den Mann heiraten, den sie liebte.
Brandon Wise – smart, talentiert, romantisch. Ein Mann, der es langsam und entspannt angehen ließ, als sie gezögert hatte, sich auf eine Beziehung mit einem Kollegen einzulassen.
Irgendwann hatte er sie dann doch herumgekriegt, und sie hatte es genossen, sich herumkriegen zu lassen.
Sie stritten nur selten miteinander. Zu ihrer Mutter war er unglaublich liebenswert, und das war alles, was zählte. Er war gern mit ihren Freunden zusammen und sie gern mit seinen.
Zugegeben, es gab jede Menge Unterschiede zwischen ihnen. Er ließ keine Cocktailparty, Dinnerparty, Ausstellungseröffnung – oder jedes andere gesellschaftliche Ereignis – aus und war allabendlich unterwegs. Sie hingegen ließ sich zwischendurch gern einen gewissen Freiraum und genoss ruhige Abende zu Hause.
Er besaß mehr Schuhe als sie – dabei liebte sie Schuhe.
Wenn sie über den Kauf eines Hauses sprachen, überlegte er sogleich, welches Gartenbauunternehmen er für die Pflege des Grundstücks engagieren wollte, während sie sich vorstellte, wie sie den Rasen mähte und Blumen pflanzte.
Aber wer wollte schon mit einem Klon zusammenleben und ihn überdies auch noch heiraten?
Unterschiede machten das Leben doch erst spannend.
Als sie vor ihrem Haus einparkte, bereute sie bereits, den Termin mit dem Floristen gecancelt zu haben. Sie hätte sich um die Blumenarrangements doch schon heute kümmern sollen. Genau wie Kuchen sollten Blumen einen schließlich glücklich machen.
Aber sie würde ihren Lapsus wiedergutmachen, indem sie etwas zum Abendessen zauberte.
Oder wollte sie nur nicht mit ihm essen gehen? Denn das würde er unweigerlich vorschlagen. Nachdenklich ging sie auf ihre Doppelhaushälfte zu. Würde sie ihn auf diese Weise dazu bewegen können, zu Hause zu bleiben? Denn wenn er nach Hause käme, würde das Essen beinahe fertig und die Flasche Wein bereits geöffnet sein, es gäbe also keinen Grund zur Klage.
Sie würden essen, etwas trinken und diese verdammte Gästeliste in trockene Tücher bringen.
Diesen Batzen abzuhaken, würde ihr schon mal einige Last von den Schultern nehmen.
Solchermaßen erleichtert könnten sie den Samstagabend genüsslich im Bett verbringen.
Als sie die Tür öffnete und den Eingangsbereich betrat, hörte sie Musik. Und entdeckte im Durchgang zum Wohnzimmer einen Frauenschuh.
Einen roten Pumps.
Sie stellte die Handtasche auf dem Beistelltisch neben der Eingangstür ab und ließ die Schlüssel in die Schüssel fallen, die sie dort aufgestellt hatte. Langsam beugte sie sich vor, um den Schuh aufzuheben.
Sein Gegenstück lag achtlos hingeworfen vor der Schlafzimmertür auf dem Boden – ebenso wie ein weißes, trägerloses Kleid mit knielangem, weit schwingendem Rock.
Die Musik wehte aus dem Schlafzimmer zu ihr herüber, eine ruhige, sexy Melodie, durchsetzt vom atemlosen Stöhnen und den Schreien einer Frau.
Brandon mochte Musik während des Sex, dachte sie dumpf. Er legte sogar besonderen Wert darauf.
Das hatte sie immer süß gefunden. Früher.
Da die beiden sich nicht mal die Mühe gemacht hatten, die Schlafzimmertür zu schließen, stieg sie über das am Boden liegende Kleid und stieß das Männerhemd und die Männerhose mit dem Fuß beiseite.
Wer hätte vermutet, dachte sie, dass die Liebe verlöschen konnte wie die Flamme einer Kerze im Wind? Nur um danach einfach so zu verschwinden – und zwar rückstandslos.
Sie beobachtete den kreisenden Hintern ihres Verlobten, während er in die unter ihm liegende Frau eindrang. Jener Frau, deren Beine seine Taille umklammerten, während sie seinen Namen rief.
Sie blickte auf den Schuh hinab, den sie immer noch in der Hand hielt, und sah zu dem nackten, betrügerischen Gesäß hinüber.
Als sie den Schuh in seine Richtung schleuderte, dachte sie: Oh ja, das gibt auf jeden Fall einen blauen Fleck.
Er fuhr auf, wirbelte herum. Die Frau stieß einen spitzen Schrei aus und versuchte, die zerknüllte Bettdecke hochzuziehen.
»Sonya.«
»Halt dein verdammtes Maul«, blaffte sie ihn an. »Herrgott noch mal, Tracie, du bist meine Cousine. Du bist eine der Brautjungfern!«
Schluchzend zerrte Tracie noch heftiger an der Decke herum.
»Sonya, hör zu …«
»Ich sagte, halt dein verdammtes Maul. Ich stecke mitten in einem verfluchten Klischee. Zieht euch an und dann raus. Beide.«
»Es tut mir leid.« Immer noch schluchzend schnappte Tracie sich BH und Höschen, die auf dem Boden gelandet waren. »Es tut mir so …«
»Wage es nicht, auch nur ein Wort an mich zu richten. Nie wieder. Wenn deine Mutter nicht meine Tante wäre, die ich sehr gernhabe, würde ich dir hier und jetzt einen ordentlichen Tritt in deinen Schlampen-Hintern geben. Also halt die Klappe und verschwinde aus meinem Haus.«
Noch im Lauf schnappte Tracie sich ihr Kleid und zerrte es sich über den Kopf, ohne die Unterwäsche übergestreift zu haben. Auch mit den Schuhen hielt sie sich nicht weiter auf.
Oder damit, die Tür hinter sich zu schließen.
»Sonya. Für mein Verhalten gibt es keine Entschuldigung. Es ist einfach über mich gekommen, ich …«
»Verstehe. Es ist über dich gekommen. Deine Klamotten haben sich wie von selbst auf dem Boden des ganzen Zimmers verteilt, sodass du schließlich nackt auf meiner Cousine zusammengebrochen bist. Raus mit dir, Brandon. Du kannst nackt verschwinden oder erst noch etwas anziehen. Aber verschwinde aus meinem Haus.«
»Unserem«, setzte er an.
»Auf der Hypothek steht nur mein Name.«
»Liebling …«
»Du wagst es allen Ernstes, mich jetzt noch so zu nennen? Noch ein einziges Mal, und bei Gott, es fließt Blut. Ich sagte: Raus mit dir!«
Hastig stieg er in seine Khakis. »Wir müssen reden. Beruhige dich doch erst mal, dann kann ich … Wo gehst du hin?«
»Zu meinem Handy.« Sie kehrte zu ihrer Handtasche zurück und holte es heraus. »Um die Polizei anrufen zu können, damit sie dich aus meinem Haus entfernt.«
»Also, Sonya.« Seine Stimme nahm jenen Du bist so süß, wenn du wütend bist-Unterton an. »Du wirst die Cops nicht anrufen.«
Mit dem Telefon in der Hand stand sie da und musterte ihn. Durchtrainiert, dunkelblondes Haar, zerzaust von der Hand einer anderen Frau. Dann das glatte, gut aussehende Gesicht, diese atemberaubend blauen Augen.
»Wenn du wirklich glaubst, dass ich nicht so weit gehen würde, kennst du mich schlecht.« Sie pflückte seinen Schlüsselbund aus der Schüssel, entfernte den Hausschlüssel und warf den Rest zur Tür hinaus. »Raus.«
»Ich brauche Schuhe.«
Sie öffnete den Garderobenschrank, holte ein Paar seiner Badelatschen heraus und schleuderte sie ihm entgegen. »Das muss reichen. Und jetzt hau ab, sonst schrei ich um Hilfe und wähle den Notruf.«
Er beugte sich hinunter, um sich die Badelatschen überzustreifen. »Wir unterhalten uns, wenn du dich wieder beruhigt hast.«
»In Bezug auf dich und diese Aktion? Dazu wird es nie kommen!«
Sie knallte die Tür hinter ihm zu und legte den Riegel vor.
Dann wartete sie auf die Tränen, die Verzweiflung, den Kummer. Doch ihr lodernder Zorn hatte derlei Empfindungen in Schutt und Asche gelegt.
Sie blickte auf das Handy in ihrer Hand.
Dann holte sie tief Luft, ging zum Sofa hinüber und setzte sich. Sie fing an, eine Textnachricht zu verfassen, bekam es aber nicht hin, weil ihre Hände so zitterten.
Also rief sie an.
»Hey!«
»Cleo, kannst du vorbeikommen? Ich brauche dich jetzt wirklich bei mir.«
»Hochzeitskrise?«
»Könnte man so sagen. Bitte.«
Belustigung verwandelte sich in Besorgnis. »Alles okay mit dir?«
»Nicht wirklich, nein. Kannst du kommen?«
»Klar. Bin schon unterwegs. Was immer es ist, Sonya, wir regeln das. Gib mir zehn Minuten.«
Ich hab es bereits geregelt, dachte Sonya und ließ das Telefon sinken.
Mit dem bereits zum zweiten Mal gefüllten Weinglas in der Hand tigerte Cleo ruhelos im Zimmer auf und ab. Lange Beine in winzigen weißen Shorts durchmaßen das Wohnzimmer. Ihre üppige, karamellfarbene Lockenpracht hatte sie leger im Nacken zusammengefasst. Offenbar hatte sie sich auf ein entspanntes Wochenende zu Hause eingestellt.
Ihre Raubtieraugen blitzten.
Je aufgebrachter sie wurde, umso deutlicher flammte ihr Südstaatentemperament auf. Und umso ruhiger wurde Sonya. Das hier war Liebe, entschied Sonya.
»Dieser Mistkerl. Dieser Lügner, dieser Betrüger, dieser dreckige Bastard. Und Tracie? Ich finde kaum Worte für ihr widerliches Verhalten. Deine eigene Cousine! Dabei hat mir diese … diese erbärmliche, großtittige Schlampe sogar noch dabei geholfen, deinen Junggesellinnenabschied zu organisieren.«
»Sie hat geheult wie ein Schlosshund.«
»Nicht genug. Nicht annähernd genug. Oh-oh, die kann sich auf was gefasst machen. Die kriegt meinen Zorn zu spüren, das kannst du mir glauben. Dieses verlogene Miststück!«
»Ich liebe dich, Cleo Fabares. Du bist die Beste.«
»Oh, Baby.« Cleo ließ sich wieder auf die Couch fallen und stellte ihr Weinglas ab, um Sonya fest in die Arme zu schließen. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
»Ich weiß.«
»Was willst du jetzt tun?« Cleo löste sich von ihr und musterte Sonya aus verhangenen, bernsteinfarbenen Augen. »Sag mir, was du willst, und es wird erledigt. Mord? Enthauptung? Kastration?«
Zum ersten Mal, seit sie vorhin durch die Tür getreten war, musste Sonya lächeln. »Würdest du dafür das Samurai-Schwert deines Urgroßvaters Harurto benutzen?«
»Mit Vergnügen.«
»Dann behalten wir diese Variante schon mal im Hinterkopf.«
»Warum schreist du nicht herum? Warum trittst du nicht um dich? Ich selbst hätte nicht übel Lust, allen möglichen Möbelstücken einen kräftigen Tritt zu versetzen. Aber am liebsten würde ich Brandon in die Eier treten. Doch nicht, ohne mir vorher Combat-Boots gekauft zu haben, die ich bei der Aktion anziehen würde. Und einen Schlagring muss ich mir auch noch besorgen, um Tracie damit einen Kinnhaken zu verpassen.«
»Aber um mich geht es hier nicht«, fügte sie nach einer Pause hinzu und griff erneut zu ihrem Weinglas. »Was willst du tun?«
»Ich mache ja schon was. Ich sitze hier, trinke Wein und sehe zu, wie meine beste Freundin meinetwegen stocksauer ist und sich tierisch aufregt.« Sonya griff nach Cleos freier Hand. »Sie hat geheult wie ein Schlosshund; ich nicht.«
»Wenn du weinen musst, steht dir meine Schulter zur Verfügung.«
»Nein, ich muss nicht weinen. Keine Ahnung, was das über mich aussagt. Es war wie in einem schlechten Film. Die unbedarfte zukünftige Braut ertappt ihren Verlobten und eine ihrer Brautjungfern nackt im Bett.«
»Du bist nicht unbedarft.«
»Na ja, in Bezug auf diese Sache hier war ich es durchaus, also … Übrigens hat er dabei Beyoncés ›Video Phone‹ laufen lassen.«
»Was du nicht sagst!«
»Doch, wirklich.«
Cleo konnte sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen »Tut mir leid.«
»Muss es nicht. Wenn ich mir vorstelle … Wenn ich diesen Termin nicht abgesagt und die beiden nicht in flagranti erwischt hätte …«
Nun war es an Sonya aufzuspringen. Ihre Beine in bequemen, für samstägliche Besorgungen tauglichen abgeschnittenen Jeans schritten ruhelos im Zimmer auf und ab. Entnervt deutete sie mit dem Weinglas in der einen Hand auf Cleo und zog mit der anderen das Haargummi heraus, mit dem sie ihr glattes, seidiges, an Ahornsirup erinnerndes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte.
»Das ist es, war mir wirklich zu schaffen macht, Cleo. Es macht mich verdammt noch mal fertig. Ich hätte es durchgezogen. Ich hätte diesen verlogenen Mistkerl geheiratet. Und das zu allem Überfluss auch so, wie er es wollte. Allein die Vorstellung macht mich wahnsinnig. Dieser Hotelballsaal, die protzige elegante Dekoration, die blöde fünfstöckige Hochzeitstorte mit Fondant und goldenem Zuckerwerk. Wie konnte ich mich verdammt noch mal in alldem dermaßen verlieren?«
»Anscheinend hast du dich ja jetzt wiedergefunden. Ich mochte ihn. Ich mochte ihn tatsächlich, und das bringt mich auf die Palme. Zugegeben, dieses übertriebene Hochzeitsbrimborium passte nicht so recht zu dir, aber zum Teufel, immerhin sollte es ja der schönste Tag deines Lebens werden, oder? Also warum nicht? Aber – und ehe ich weiter auf das ›Aber‹ eingehe, lass mich dir versichern, wie sehr ich mich darüber freue, dass du deine Wut wiedergefunden hast.«
»Oh, die habe ich nie verloren. Doch ich fand es toll, wie du für eine Weile in meine Fußstapfen getreten bist.«
»Okay. Schau mal, du hast einen Termin platzen lassen und die beiden erwischt. Und du wirst dieses Arschloch nicht heiraten. Die Schicksalsgöttinnen passen also definitiv auf dich auf.«
»Wenn sie das tatsächlich täten, hätte ich ihn schon vor geraumer Zeit in die Wüste geschickt.«
»Du brauchst noch mehr Wein.«
»Oh ja, definitiv. Jede Menge.«
Sonya presste die Finger auf die Augäpfel, nicht um Tränen zurückzudrängen, sondern aus schierer Frustration.
»Ich muss alles absagen, Cleo. Das Hotel, den Fotografen, den Kameramann, die Torte, die Blumen. Zum Teufel, sogar das blöde Streichquartett, das ich nie haben wollte, die Band. Die ganzen Anzahlungen, die ich geleistet habe, sind wahrscheinlich futsch. Verdammt, und gerade eben erst habe ich den Probedruck für die Einladungen abgeholt. Wenn ich an die unzähligen Stunden denke, die ich daran herumgebastelt habe!«
»Behalte den Probedruck. Wir belegen ihn mit einem Fluch und begraben ihn bei Vollmond zusammen mit einer seiner Boxershorts. Und jedes Mal, wenn er daran denkt, eine andere Frau zu umgarnen, bekommt er einen chronischen Penispilz.«
»Du hörst dich an wie deine kreolische Granny.«
»Bien sûr. Ich werde dir bei den Absagen helfen. Vielleicht können wir ja sogar ein paar Leute überreden, dir die Anzahlung zurückzuerstatten. Und die Hälfte des Restbetrags stellst du dem Dreckskerl in Rechnung. Hat mir sowieso nie gepasst, dass du alles vorgestreckt hast.«
Cleo schnaubte und kippte noch mehr Wein hinunter. »Bei näherem Hinschauen wird mir klar, dass ich ihn doch nicht so sehr mochte, wie ich mir immer eingeredet habe.«
»Er hat das Probe-Dinner und die Flitterwochen bezahlt. Aber egal. Bei den ganzen Absagen könnte ich allerdings tatsächlich Hilfe brauchen. Oh Gott, der Hochzeitstisch.«
Sonya wurde ganz flau im Magen.
»Wir haben gerade erst die Geschenke-Liste fertiggestellt. Und morgen sollten wir uns zwei Häuser anschauen.«
»Jetzt trinken wir erst einmal noch ein Glas Wein. Und bestellen Pizza. Du leihst mir irgendetwas zum Schlafen, und wir machen eine Liste von allem, was erledigt werden muss.«
»Du bleibst hier?«
»Wann immer meine beste Freundin, meine Mitbewohnerin auf dem College, meine Partnerin in Crime und Seelenschwester ihren Verlobten mit ihrer Cousine im Bett ertappt, schlafe ich bei ihr.«
Zum ersten Mal brannten Tränen in Sonyas Augen. Aber nicht aus Kummer oder Schmerz, sondern vor lauter Dankbarkeit.
»Danke. Schon allein bei der Vorstellung, mich um all das kümmern zu müssen, würde ich mich am liebsten in einem Loch verkriechen. Nein«, berichtigte sie sich. »Am liebsten würde ich Brandon in einem verscharren. Ich …« Ein Klopfen an der Tür ließ sie verstummen. Sie sah auf. »Denkst du …«
Cleos Tigeraugen blitzten. »Lass mich öffnen. Schade, dass ich diese Combat-Boots noch nicht habe, aber ein Tritt in die Eier tut’s auch.«
Doch als Cleo kampfbereit die Tür aufriss, stürmte Sonyas Mutter, Winter, herein. Sie drückte zunächst Cleos Hand und ging dann geradewegs auf ihre Tochter zu.
»Liebling, Baby, es tut mir so leid.« Sie nahm Sonya fest in die Arme und wiegte sie hin und her. »Nicht weinen. Nicht weinen. Das ist er nicht wert.« Sie gab Sonya einen Wangenkuss. »Ich weiß, dass du ihn liebst, aber …«
»Tu ich nicht. Ich habe aufgehört damit. Ich liebe ihn nicht mehr. Geht einem das nach so einer Erfahrung immer so?«
»Keine Ahnung, ob das normal ist.« Winter löste sich von ihrer Tochter, legte ihr die Hände auf die Wangen und musterte sie eindringlich. »Aber wenn es stimmt, freut es mich umso mehr. Jeder, der meinem Mädchen wehtut, hat es nicht verdient, überhaupt geliebt zu werden. Ich bin so froh, dass du hier bist, Cleo.« Sie streckte den Arm nach hinten aus und ergriff Cleos Hand.
»Wie hast du davon erfahren?«, fragte Sonya.
»Tracie – mit der ich noch ein Hühnchen rupfen werde – ist geradewegs zu ihrer Mutter gelaufen. Heulend. Kriege ich auch etwas von dem Wein?«
»Ich hole dir ein Glas«, bot Cleo an.
»Nachdem Summer Tracie einigermaßen beruhigt und ihr die Leviten gelesen hatte, hat sie mich gleich angerufen. Du weißt hoffentlich, wie sehr Summer dich liebt, und wirst ihr keinen Vorwurf aus der Sache machen. Sie ist gleichzeitig stinksauer, beschämt und am Boden zerstört.«
»Sie trifft doch keine Schuld. Natürlich nicht. Tracie ist schließlich erwachsen. Eine erwachsene Schlampe.«
»Sie – Tracie – behauptet, es sei einfach passiert. Danke, Liebes«, sagte sie zu Cleo, als diese ihr ein Glas Wein reichte. »Was für ein Bullshit. Im Bett mit dem Verlobten der eigenen Cousine zu landen, passiert nicht einfach so. Und dazu noch im Haus der Cousine? In ihrem Bett?«
»Rote Stilettos, ein tief ausgeschnittenes, weißes Kleid und sexy Unterwäsche. Einfach passiert, herrje, wen will sie veralbern? Sie kann ihn gern haben.«
»Ich verspreche dir, dass ihn im Haus meiner Schwester niemand mögen wird, und willkommen heißen wird Summer ihn schon gar nicht. So, und jetzt werde ich erst mal dein Bett abziehen.«
»Schon erledigt. Habe ich gleich gemacht, nachdem ich Cleo angerufen hatte. Ursprünglich wollte ich die Bettwäsche verbrennen, aber sie war wirklich teuer. Ich werde sie reinigen lassen, denn ich bringe es nicht über mich, sie selbst zu waschen. Und dann spende ich sie.«
Winter umarmte sie erneut und wiegte sie hin und her.
»Das ist meine tapfere Tochter. Geht es dir wirklich gut?«
»Ich bin stinksauer. Verdammt wütend und zornig, vor allem auf mich selbst, weil ich nicht erkannt habe, was für ein Mensch er ist.«
»Ich habe es ja auch nicht erkannt. Und das, obwohl ich normalerweise über eine gute Menschenkenntnis verfüge. Wie sagt man so schön? Hinterher ist man immer klüger. Im Rückblick ist es immer leicht, klar zu sehen und zu erkennen, dass einiges nicht stimmte. Ich hätte es wissen können. Aber was bringt das jetzt noch? So, jetzt setze ich mich erst mal hin.«
Und genau das tat sie.
»Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht, dass ich meine eigene Wut noch gar nicht spüren konnte. Aber nun, da ich weiß, dass du nicht am Boden zerstört bist, kann ich nur eins sagen: Zur Hölle mit ihm.«
»Zur Hölle mit ihm«, echote Cleo und gesellte sich zu Winter, um mit ihr darauf anzustoßen.
»Okay.« Sonya folgte ihrem Beispiel. »Zur Hölle mit ihm.«
»Du musst die Schlösser auswechseln.«
»Ich habe ihm den Schlüssel abgenommen, Mom.«
»Lass trotzdem neue einbauen. Wo, glaubst du, ist er untergekommen?«
»Keine Ahnung.« Sonya prostete den beiden anderen Frauen erneut zu. »Ist mir auch egal.«
»Gut so. Ich habe noch eine Flasche Wein im Auto. Und Kisten, die mir der nette junge Mann aus dem Spirituosengeschäft gegeben hat. In die können wir seine Klamotten packen. Danach werde ich ihm die Kisten vorbeibringen.«
»Das musst du nicht.«
»Oh, mein einziges Kind, ich bestehe darauf.« Eiskalter Zorn trat in die eben noch so liebevoll dreinblickenden Augen ihrer Mutter. »Vermutlich hat er bei Jerry Unterschlupf gefunden, oder? Trauzeuge, bester Freund. Ich kann auf dem Heimweg vorbeifahren und die Kisten dort abladen.«
»Ich liebe dich, Winter.« Cleo setzte sich neben sie und kuschelte sich an sie. »Ich liebe meine Mama, und ich liebe dich. Was Mütter angeht, haben Sonya und ich das große Los gezogen. Während wir seinen Kram einpacken, bekommen ein paar dieser Kaschmirpullover, die er so sehr liebt, vielleicht kleine Löchlein oder Laufmaschen. Und wäre es nicht äußerst bedauernswert, wenn die ein oder andere elegante Lederjacke zufällig mit einem scharfen Gegenstand in Berührung käme?«
»Es geht doch nichts über beste Freundinnen«, sagte Winter. »Das könnten wir natürlich tun. Wir könnten es aber auch sein lassen, weil wir wissen, dass er das Beste verloren hat, das er je in seinem Leben hätte haben können. Und ich wette, das ist ihm bewusst.«
»Ich will immer noch eine seiner Boxershorts bei Vollmond vergraben. Und ihm chronischen Penispilz anhexen.«
Winter lächelte. »Verständlich. Aber lass uns zuerst mal die Kartons reinholen.«
Sie packten alles zusammen. Seine beiden Tablets, seinen Laptop, die Alexa. Seine Sammlungen, bestehend aus Uhren, Manschettenknöpfen, Schuhen. So viele Schuhe.
Irgendwann fielen Sonya seine Koffer ein – natürlich von Globe-Trotter –, in die sie seine Hemden, Jacketts, Pullover, Anzüge und Sportklamotten packten.
Die Toilettenartikel verstauten sie in Kisten.
»Er hat mehr Haut- und Haarpflegeprodukte als ich.« Cleo hielt eine ungeöffnete Packung Feuchtigkeitscreme in die Höhe. »Wisst ihr, was diese Marke kostet? Und da gibt es sogar noch eine ungeöffnete Ersatzpackung!«
»Behalte sie«, meinte Sonya. »Zum Teufel, nimm dir alles, was du willst.«
»Nur Ungeöffnetes. Alles andere ist schon mit seinen Keimen verseucht. Bist du sicher, dass du nichts davon willst?«
»Absolut. Ich will überhaupt nichts.«
»Dann nehme ich es. Winter, wie wär’s, wenn wir alles, was versiegelt ist, untereinander aufteilen? Hier ist sogar Augengel, für Augenmasken, und Serum. Ein Pröbchen von diesem Serum habe ich mal gehabt. Es ist toll. Ich lege alles auf einen Haufen.«
Winter nickte nur, stemmte die Hände in die Hüften und trat einen Schritt zurück. Mit einem von Sonyas Haargummis hatte sie ihr kinnlanges Haar – das beinahe den gleichen Ton hatte wie das ihrer Tochter – zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengefasst. Dann ließ sie ihre Augen, die nicht grün waren wie die ihrer Tochter, sondern haselnussbraun, über die volle Ablage wandern.
»Wir brauchen noch mehr Kartons.«
»Scheiß auf Kartons«, entschied Sonya. »Ich habe Mülltüten. Dieser Mann hat Unmengen von Zeug. Warum ist mir nie aufgefallen, dass für mich nur halb so viel Platz blieb wie für ihn? Er hatte den gesamten Schrank im Gästezimmer und mehr als die Hälfte des Schlafzimmerschrankes für sich. Und irgendwie hat er auch den Schreibtisch im Gästezimmer zum Arbeiten besetzt, während ich mit meinen Sachen am Esstisch landete.«
»Erosion ist ein allmählicher Prozess.« Winter rieb Sonyas Schulter. »Ein starker Felsen bemerkt nicht, dass das Wasser ihn allmählich abträgt.«
»Wie ähnlich ihr euch seid«, murmelte Cleo. »Dieses herzförmige Gesicht, die Haarfarbe. Eure Pfirsich-Sahne-Haut, die mir zeigt, dass ich überteuerte Hautpflegeprodukte viel nötiger hätte als eine von euch.«
»Du hast eine tolle Haut«, versicherte Winter ihr. »Goldstaub auf Karamell, ein Geschenk der wundervollen ethnischen Vielfalt deiner Vorfahren. Und immerhin die Augen hat mein Mädchen von ihrem Vater geerbt.«
Winter zog Sonya kurz an sich. »Er hätte Brandon gehörig in den Hintern getreten. Und vermutlich hätte ich ihn nicht aufgehalten. Andrew MacTavish war ein sanfter Mann, aber wenn er einmal in Rage war …« Sie drückte Sonya erneut. »Konnte man nur den Kopf einziehen.«
Dann nickte sie. »Müllbeutel. Das ist nur fair. Mehr als das sogar.«
»Ich hole sie. Und bestelle Pizza«, bot Cleo an. »Wir sind fast fertig.«
»Sie ist ein Goldschatz«, sagte Winter, als Cleo draußen war.
»Ich weiß. Dass wir uns auf dem College ein Zimmer teilen mussten, hält sie immer noch für Schicksal.«
»Und was sagst du dazu?«
»Reine Glückssache – zumindest ein Riesenglück für mich.«
»Für euch beide. Und weder eurer Kunst noch eurer Arbeit hat diese Freundschaft geschadet. Heute arbeitet sie als Illustratorin und du als Grafikdesignerin. Ich bin so stolz auf euch beide.«
»Am Montag muss ich wieder in die Agentur. Er ebenfalls. Ich hätte mich nie mit jemandem am Arbeitsplatz einlassen sollen.«
»Stopp.« Winter drehte sie zu sich um. »Lass dich von dem, was er getan hat und was er ist, in Bezug auf das, was du bist oder was du tust, nicht verunsichern. Du hast ihn genug geliebt, um dir ein gemeinsames Leben mit ihm aufbauen zu wollen. Und du hast geglaubt, dass diese Liebe erwidert wird.«
»Ich habe mich geirrt.«
»Stimmt, das hast du«, pflichtete Winter ihr bei. »Aber der Fehler war nicht, jemanden zu lieben. Er war dir untreu, und du hast die Sache beendet. Und weißt du, was ich zum Glück bis jetzt nicht von dir gehört habe? Was habe ich falsch gemacht? Warum war ich ihm nicht genug? Was hat er bei ihr gefunden, das ich ihm nicht bieten konnte?«
»Ich … Mom …«
»Und weißt du auch, warum ich das noch nicht gehört habe? Weil du viel zu schlau bist, um in diese Falle zu tappen. Dir ist klar, dass dich keine Schuld trifft. Sondern ganz allein ihn. Es liegt an seinem Charakter. Du hast ihm geglaubt. Er hat dir das Gegenteil bewiesen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Also zieh einen Schlussstrich und schließe die Tür. Wechsele die Schlösser aus«, berichtigte sie sich. »Und dann schließt du die Tür.«
»Ich rufe morgen beim Schlüsseldienst an. Aber am Montag wird er mich bei der Arbeit zur Rede stellen – oder es zumindest versuchen.«
»Du kriegst das schon hin.«
»Ja.« Sie schloss die Augen. »Das alles ist mir so peinlich.«
»Natürlich. Das ginge jeder anderen Frau genauso. Also, Sonya Grace MacTavish: Sorg dafür, dass es peinlich für ihn wird.«
Sie gab Sonya einen Kuss auf die Stirn. »Eine Blamage trifft einen Mann wie Brandon härter, als ein chronischer Penispilz es könnte.«
Sie aßen Pizza, doch während Sonya und Cleo dem Wein weiterhin zusprachen, hielt sich Winter danach an Eistee. Gemeinsam überlegten sie, wie sie weiter vorgehen wollten. Dann schleppten sie die Kartons, Koffer und prall gefüllten Müllsäcke nach draußen zum Auto.
Als sie wieder ins Haus zurückgehen wollten, kam ihre Nachbarin aus der anderen Hälfte des Doppelhauses heraus.
»Braucht ihr vielleicht Hilfe? Bill ist zu Hause. Er würde euch gerne unter die Arme greifen.«
Winter schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. »Danke, Donna. Wenn es ihm tatsächlich nichts ausmacht, wäre das wirklich nett. Wir haben noch einiges zu schleppen.«
»Kein Problem. Bill! Komm mal raus und hilf Sonya.« Sie stemmte eine Hand in die Hüfte. Diese energische Frau hatte drei Kinder großgezogen und war nach deren Auszug mit ihrem Ehemann in eine kleinere Wohnung gezogen, nämlich in die Doppelhaushälfte nebenan.
Ein nettes Pärchen, dachte Sonya, hilfsbereit, aber nicht aufdringlich. Diese Eigenschaften fand sie umso wichtiger, wenn man Wand an Wand wohnte.
In einem Red-Sox-T-Shirt und in Cargo-Shorts trat Bill auf die Straße hinaus.
»Ziehst du etwa aus?«, fragte er grinsend.
»Ich werfe Brandon raus, oder besser: Ich hab’s schon getan, nachdem ich ihn mit meiner Cousine Tracie im Bett erwischt hatte.«
Unter seinem struppigen Ziegenbart blieb Bill der Mund offen stehen, während die Lippen seiner Frau Donna schmal wurden.
»Ist das die Blondine mit den großen Titten?«
»Ja, stimmt. Wahrscheinlich hast du sie vor ein paar Stunden barfuß und mit der Unterwäsche in der Hand aus dem Haus rennen sehen.«
»Nein. Schade, dass ich das verpasst habe. Und tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Trotzdem will ich dir nicht verschweigen, dass ich sie schon zweimal hier gesehen habe, wenn du nicht zu Hause warst. Ich dachte erst, dass die beiden irgendeine Überraschung für dich planen – für die Hochzeit vielleicht. Aber … ich will nicht lügen – gewundert habe ich mich schon.«
»Schon zweimal vor dem heutigen Tag?«
»Ganz genau. Letzten Samstag, als ich die Fenster putzte, und vor etwa drei Wochen. Ich hatte Marlene von gegenüber ein paar Cookies vorbeigebracht. Ihr Kleiner steht total auf meine Snickerdoodles. Als ich wieder nach Hause ging, entdeckte ich die Frau. Also ja, auch das war ein Samstag – eben der vor drei Wochen.«
»Da waren wir beim Friseur«, sagte Cleo. »Du wolltest Brautfrisuren ausprobieren. Und anschließend haben wir noch Schuhe für die Hochzeit gekauft.«
»Ja, das weiß ich noch«, murmelte Sonya.
»Tut mir wirklich leid«, wiederholte Donna. »Aber gut, dass du es noch rechtzeitig herausgefunden hast. Los, Bill, hol den Rest der Klamotten dieses Mistkerls aus Sonyas Haus.«
»Wenn wir dir sonst noch irgendwie helfen können«, fügte sie hinzu, »sag einfach Bescheid.«
»Also waren sie mindestens drei Mal zusammen«, sagte Sonya, nachdem sie alles ins Auto geladen hatten. »Jetzt muss ich nur noch das Bett loswerden. Vielleicht auch die Couch. Womöglich haben sie es auch auf der Couch getrieben. Oder weiß Gott wo sonst noch.«
»Nein, musst du nicht. Ich werde deine ganze Wohnung mit weißem Salbei ausräuchern.«
Sie sah Cleo an. »Ist das dein Ernst?«
»Mein voller Ernst. Vielleicht habe ich sogar etwas davon in der Tasche. Falls nicht, flitze ich schnell nach Hause und hole ihn. Wir werden sämtliche Spuren tilgen – von ihm und von ihr. Und von jeder anderen, die er vielleicht in diesem Haus gevögelt hat. Sorry, Son, aber möglich wär’s.«
»Ja.« Obwohl es sie bei der Vorstellung schüttelte, nickte sie. »Möglich wär’s.«
Sie würde sich testen lassen müssen, was zwar umso demütigender, sicherheitshalber aber unumgänglich war.
»Ich wünschte, wir hätten seine Lederjacken doch zerschnitten. Und ich werde noch mal ein ernstes Wörtchen mit Summer wechseln. Aber erst einmal lade ich den ganzen Kram bei Jerry ab, ob er nun da ist oder nicht.« Winter nahm Sonya noch einmal fest in den Arm. »Da sind wir wohl gerade noch mal davongekommen.«
»Wenn er da ist«, sagte Cleo, »könntest du ihm dann einen Tritt in die Eier verpassen?«
»Gute Idee. Ich komme morgen wieder her. Dann erledigen wir die ganzen Telefonate.«
»Danke.«
Als Winter davonfuhr, legte Cleo Sonya den Arm um die Schultern.
»Noch etwas Wein?«
»Oh ja. Und können wir Tracies Schlampen-Schuhe zusammen mit Brandons Boxershorts vergraben? Um ihr einen chronischen Scheidenpilz anzuhexen?«
»Na, das ist doch mal ein Wort!«
Am Montagmorgen kleidete sich Sonya besonders sorgfältig an. Der rote Hosenanzug verlieh ihr Selbstvertrauen und Kraft. Sie investierte einige Zeit in ihre Frisur, bis sie das Haar zu einem glatten Dutt zusammengefasst hatte, mit dem sie sich cool und abgeklärt fühlte.
Ganz anders als nach Brandons Textnachrichten am Sonntag – vier Mal hatte er ihr geschrieben. Danach hatte sie auf Cleo und ihre Mutter gehört und seine Nummer blockiert.
Wir müssen reden. Wir können doch nicht einfach alles wegwerfen, nur weil ich einen schrecklichen Fehler begangen habe. Du weißt, dass ich dich liebe. Wir müssen reden. Lass es mich wenigstens erklären.
Jede einzelne Nachricht hatte ihren Zorn weiter angestachelt. Und durch diesen Zorn war sie sich schwach und dumm vorgekommen.
Heute musste sie ihm gegenübertreten.
Und sie wollte kontrolliert, cool und kaltschnäuzig sein.
Nachdem sie – besonders auffälligen – Schmuck angelegt hatte und perfekt geschminkt war, ging sie zu Cleo hinaus, die dösend vor ihrem Kaffee saß.
»Na?«
Sonya drehte sich einmal um die eigene Achse.
»WOW! Du siehst hammermäßig aus, Son. Ganz und gar der Sieh-mal-was-du-nie-wieder-zu-fassen-bekommst-Arschloch-Look.«
»Das war das Ziel.«
»Volltreffer. Hör zu, ich nehme den Ersatzschlüssel und deinen Hochzeitsordner mit. Und dann kümmere ich mich um die Stornierungen, die wir am Sonntag noch nicht vornehmen konnten.«
»Cleo, du hast mir schon den halben Samstag und den gesamten Sonntag geopfert.«
»Und ehe der Schlüsseldienst heute nicht eingetroffen ist und die Schlösser ausgetauscht hat, gehe ich nirgendwo hin. Danach nehme ich die Schlüssel und den Ordner mit zu mir nach Hause. Ich bin ziemlich weit mit meinem derzeitigen Projekt, sodass ich es mir durchaus leisten kann, ein paar Stunden freizunehmen. Da kann ich auch die restlichen Anrufe erledigen. Ich vermute allerdings, dass wir das Hochzeitskleid nicht zurückgeben können, da es abgeändert wurde.«
»Kein Rückgaberecht, genau. Dieses lächerlich überteuerte Kleid hat übrigens Mom bezahlt, Cleo.«
»Ich weiß. Aber ich wette, so etwas passiert denen nicht zum ersten Mal. Also rufe ich an und frage die Leute um Rat. Secondhandladen, eBay, wer weiß. Vielleicht kennen sie ja jemanden, der es uns gegen einen gehörigen Preisnachlass abkauft. Ich kümmere mich also um das Kleid und tue auch ansonsten, was ich kann. Dasselbe würdest du schließlich auch für mich tun.«
»Stimmt. Und wenn wir das alles hinter uns haben, fahren wir ein paar Tage weg. Ein Wellness-Wochenende. Mom kommt auch mit. Und deine Mom ebenfalls, wenn sie Zeit hat. Mädels-Trip statt Flitterwochen.«
»Ich bin dabei. So! Bereit, einem gewissen Herrn in die Eier zu treten?«
»Ich hab zwar keine Combat-Boots an, aber diese Pumps tun es sicher auch.«
Während sie durch den hektischen morgendlichen Berufsverkehr Bostons fuhr, überdachte Sonya ihren Plan. Eigentlich war er ziemlich einfach.
Sie würde um ein kurzes Gespräch mit einem der beiden Besitzer von By Design bitten – und es so sachlich wie möglich halten.
Sie würde ihrem Gegenüber mitteilen, dass sie die Hochzeit abgesagt habe, nachdem ihr klar geworden sei, dass sie und Brandon nicht zusammenpassten und keine Ehe eingehen sollten. Weitere Details waren nicht nötig.
Da diese Entscheidung mit einem gewissen Maß an Stress einherging, würde sie darum bitten, dass sie und Brandon – zumindest während der nächsten paar Monate – nicht den gleichen Projekten zugewiesen würden.
Einschließlich ihrer Trainee-Zeit war sie selbst seit sieben Jahren bei By Design. Brandon hingegen konnte auf zehn Dienstjahre zurückblicken. Aber beide waren sie die Karriereleiter hochgeklettert, hatten ihr eigenes Büro, leiteten häufig Projekte und stellten eigene Teams zusammen.
Er hatte sich auf Werbung spezialisiert – Plakate, Fernsehen und Internetanzeigen. Und er war gut, das ließ sich nicht leugnen. Er war sehr, sehr gut. Dieser Mistkerl.
Obwohl digitale Kunst – Websites, Banner, soziale Medien – den Hauptteil ihrer Arbeit ausmachte, designte sie auch visuelle Elemente für Unternehmen und Einzelpersonen. Sie sorgte für ein einheitliches Erscheinungsbild auf Logos, Visitenkarten, Briefköpfen, besagten Websites und anderen Werbeflächen.
Allerdings war By Design ein kleines, privat geführtes Unternehmen – genau die Art von Firma, für die sie hatte tätig sein wollen –, weshalb sie und Brandon häufig an unterschiedlichen Teilen ein und desselben Projekts arbeiteten.
Sie würde einfach nur um ein wenig Freiraum bitten. Und versprechen, sich Brandon gegenüber am Arbeitsplatz höflich und professionell zu verhalten.
Einfach, dachte sie. Vernünftig und sauber.
Natürlich würde es in einem solch kleinen, privat geführten Unternehmen Gerede geben. Aber damit würde sie klarkommen. Tatsächlich würde sie Cleos Einwänden zum Trotz sogar die Schuld auf sich nehmen.
Es war einfacher und sauberer zu behaupten, ihr sei klar geworden, dass sie noch nicht zur Ehe bereit sei und dass sie und Brandon unterschiedliche Lebensziele verfolgten. Es bestand keine Veranlassung zu erwähnen, dass seines darin bestand, ihre Cousine zu vögeln.
Schon in wenigen Wochen würden sich die Klatschbasen auf ein anderes Drama stürzen, und ihres würde vergessen sein.
Bis dahin konnte sie warten.
Unterdessen würde Brandon zweifellos einen Weg finden, ihr aufzulauern, um mit ihr zu reden. Sie würde ihm entschlossen gegenübertreten. Sie würde sogar aktiv das persönliche Gespräch mit ihm suchen und ihm unter vier Augen erklären, dass es vorbei war. Und das würde sie vollkommen ruhig und emotionslos tun.
Ihre Ruhe und Gelassenheit würde er hassen, dachte sie und lächelte, als sie auf den Angestellten-Parkplatz des zweistöckigen, sanierten Industriegebäudes fuhr, in dem By Design untergebracht war.
Durch die Seitentür trat sie ein und gelangte geradewegs in jenen Bereich, den sie insgeheim als Nistplatz bezeichnete. Dort hatte man ihr direkt nach dem College einen der Schreibtische zugewiesen. Die meisten der Mitarbeiter, die heute dort saßen, den Dienstälteren zuarbeiteten, den Designern assistierten und dabei auf ihren eigenen Durchbruch hinzuarbeiten versuchten, waren genauso grün hinter den Ohren und genauso dienstbeflissen wie sie selbst damals.
Manche würden aufsteigen, einige würden sich verabschieden, wieder andere würden den Sprung in die Selbstständigkeit wagen.
Sie selbst war aufgestiegen und zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz. Von der Produktionskünstlerin hatte sie sich zur Grafikdesignerin und anschließend zur leitenden Grafikdesignerin hochgearbeitet.
Heute war sie bewusst früh am Arbeitsplatz erschienen und ging geradewegs in ihr Büro.
Es war weder besonders groß noch besonders elegant, aber das Fenster ging Richtung Süden, weshalb sie Xena, ihrem geliebten Usambaraveilchen, eine Extraportion Sonne gönnen konnte. Die Pflanze belohnte sie mit einer Vielzahl pinkfarbener Blüten und schimmernden grünen Blättern.
Ihre Aktentasche stellte sie auf den Schreibtisch und warf dann einen Blick auf ihr Moodboard.
Routinemäßig erstellte sie sowohl ein reales als auch ein digitales Moodboard für ein Projekt. Das digitale ließ sich leicht mit anderen Mitarbeitenden teilen und verändern. Aber vor das reale konnte sie sich hinstellen, konnte dabei die Position verändern und es so aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.
Und dieses hier, das den Plan für ein Start-up-Unternehmen visualisierte, war wirklich gelungen.
Die Firma Baby Mine, gegründet von zwei cleveren Schwestern, stellte handgefertigte Babyklamotten her – inklusive, falls erwünscht, kostenlosem Namensschriftzug. Sie produzierten sämtliche Größen – von solchen für Frühgeborene, die spezifisch auf die Bedürfnisse von Neugeborenen auf der Neonatologie-Intensivstation zugeschnitten waren, bis hin zu Kleidung für achtzehn Monate alte Kinder.
Für das Logo hatte Sonya ein Baby in einer altmodischen Wiege gezeichnet, über der ein Mobile hing, dessen Einzelelemente in sanft abgerundeten Buchstaben und gedämpften Pastelltönen den Firmennamen bildeten.
Sanft und süß – also genau das, was Eltern sich für ein Baby wünschten.
Die Website war ganz ähnlich gestaltet, wies aber zudem auf die pflegeleichten Produkte und die liebevoll handgefertigten Accessoires hin. Fotos zeigten nicht nur die Ware, sondern auch Babys, die sie trugen, oder Eltern, die die Decken oder Spucktücher nutzten.
Diverse Postings in den sozialen Medien griffen diese visuellen Elemente auf und sorgten für ein in sich stimmiges Erscheinungsbild. Außerdem hatte sie dem Blog der Schwestern einen frischen und zum Rest passenden Look verpasst.
Und nun, da die beiden Frauen ihr kleines Unternehmen nicht mehr nur von zu Hause aus führten, sondern tatsächlich Räumlichkeiten angemietet hatten, hatte sie dieses Design auch auf den Firmenschildern platziert.
Nur noch ein paar letzte Modifikationen, dann war alles in trockenen Tüchern.
Sie hätte sich so viel lieber hingesetzt und an den besagten Feinschliff gemacht, als ihre persönlichen Angelegenheiten vor ihren beiden Chefs auszubreiten.
Aber es ging nicht anders.
Also machte sie sich auf den Weg. Mittlerweile hörte sie Stimmen – Mitarbeiter, die den Nistplatz betraten oder sich im Pausenraum noch einen Kaffee holten, bevor sie sich an den Schreibtisch setzten.
Sie stieg die Metalltreppe in den zweiten Stock empor. Dort befanden sich die Büros der Führungskräfte – des Art Directors, Design Directors und Creative Directors – sowie die Räume ihrer Assistenten; des Weiteren der Präsentationsraum, in dem die Designer ihre fertigen Projekte vorstellten, und schließlich die Büros der Firmeninhaber sowie ein zweiter, schickerer Pausenraum.
Da Laine Cohen sie eingestellt hatte, wandte sie sich zunächst ihrem Büro zu und klopfte an die Tür.
»Herein!«
Mit ihrem exakt geschnittenen, kurzen mahagonifarbenen Haar und der leuchtend blauen Lesebrille, die ihr an einer silbernen Kette um den Hals baumelte, saß Laine an ihrem Schreibtisch. Ihr Partner hockte auf der Kante ihres L-förmigen Arbeitsplatzes.
Aus dem Fenster hinter ihr fiel der Blick auf den Boston Common an einem perfekten Sommertag. Poster mit hauseigenen Designs säumten die Wände. Diese tauschte sie alle paar Monate aus.
Sowohl von Sonya als auch von Brandon war derzeit eines hier ausgestellt worden.
Laines und Matt Berrys Blicke ließen keinen Zweifel daran, dass sie bereits Bescheid wussten.
Matt, eine schlanke Erscheinung in Chinos und einem pinkfarbenen Polohemd, glitt vom Schreibtisch herunter. Wie immer hatte er sein schimmerndes blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. In seinem linken Ohr blinkte ein Goldreif.
»Hättet ihr vielleicht ein paar Minuten für mich?«, begann Sonya.
»Aber klar.« Matt winkte sie herein. »Mach die Tür zu und setz dich. Wie geht es dir, Sonya?«
»Gut, danke. Ich …«
»Laine und ich haben gerade darüber gesprochen, dass du dir ein paar Tage freinehmen solltest.«
Brandon war ihr also zuvorgekommen, dachte sie. Und zwar auf die für ihn typische Art und Weise.
»Danke für das Angebot, aber ich brauche keinen Urlaub. Ich will heute den Baby-Mine-Auftrag fertigstellen und hoffe, euch nachher ein paar erste Entwürfe zu der Kettering-Kampagne vorlegen zu können.«
Angesichts von Matts mitleidigem und Laines nachdenklichem Blick warf Sonya ihre ursprünglichen Absichten über Bord.
»Anscheinend wisst ihr schon, dass wir die Hochzeit abgesagt haben.«
»Brandon hat mich gestern Abend angerufen.« Mitfühlend und tröstend rieb Matt ihren Arm. »Er ist natürlich ziemlich fertig, hat aber das Gefühl – und da stimme ich ihm zu –, dass du einfach nur ein wenig Freiraum und Zeit brauchst. Eine Hochzeit zu planen, ist mehr als stressig. Ich erinnere mich noch daran, wie ich Wayne ständig angefaucht habe, als wir unsere planten.«
»Er hat dich, unseren Boss, an einem Sonntagabend angerufen, um dir mitzuteilen, dass die Hochzeitsplanung mich gestresst hat?«
»Wir sind nicht nur eure Vorgesetzten. Wir alle hier sind eine große Familie. Wir hoffen, dass sämtliche Mitarbeiter wissen, dass ihnen unsere Tür stets offen steht, wenn es ein Problem gibt. Nicht wahr, Laine?«
»Natürlich. Und ja, Hochzeitsvorbereitungen sind tatsächlich wahnsinnig stressig. Ich habe mich letztes Jahr an der Organisation der Hochzeit meiner Tochter beteiligt, daher weiß ich Bescheid. Allerdings weiß ich auch, wie du mit jeder Art von Stress umgehst, Sonya. Daher war ich ziemlich überrascht, als Matt mir berichtete, du hättest wegen der ganzen Arbeit eine Art Krise.«
»Ich hatte eine Krise?« Dein Fehler, Brandon, dachte sie, dass du versucht hast, mich als hysterisch darzustellen. Spontan entschied sie sich für Plan B. »So könnte man es wohl nennen.«
»Dafür musst du dich nicht schämen«, versicherte Matt ihr. »Du gönnst dir eine Pause und verwöhnst dich ein bisschen. Sicher kriegt ihr beiden eure Beziehung dann wieder auf die Reihe.«
»Unwahrscheinlich. Ich hatte diese sogenannte Krise, weil ich, als ich am Samstagnachmittag früher als geplant nach Hause kam, Brandon mit meiner Cousine im Bett erwischt habe. Stellt euch nur vor, wie überrascht ich war. Und sogar noch überraschter, als ich erfuhr, dass es nicht zum ersten Mal geschah.
Es wird also keine Hochzeit geben. Ich brauche und will auch keinen Urlaub. Eigentlich hatte ich heute Morgen gar nicht vor, euch die peinlichen Hintergründe meiner Entscheidung zu schildern, sondern wollte euch lediglich informieren, dass ich es mir anders überlegt habe und Brandon nicht heiraten werde. Außerdem wollte ich euch bitten, Brandon und mich für eine Weile nicht den gleichen Projekten zuzuordnen, da die Lage sicher ein wenig peinlich sein würde.«
»Ich … Bist du im Hinblick auf die … Umstände … sicher?«
»Oh bitte, Matt.« Laine verdrehte die Augen. »Sonya wird ja wohl wissen, was sie mit eigenen Augen gesehen hat. Und ich bedaure, das zu hören.«
»Ja. Ach Gott. Mir tut es natürlich auch leid«, versicherte Matt rasch. »Willst du eine Tasse Tee? Ich könnte dir einen Tee holen.«
»Nein danke. Danke. Mir geht es gut. Wirklich. Mir ist klar, dass das hier eine unangenehme Lage ist, aber ich gebe euch mein Wort, dass ich mich am Arbeitsplatz professionell verhalten werde.«
»Wir verlassen uns darauf«, sagte Laine. »Und das Gleiche erwarten wir natürlich von Brandon. Ihr habt ja kürzlich gemeinsam ein Projekt beendet.«
»Vor zwei Wochen. Im Moment gibt es keine Zusammenarbeit.«
»Dann belassen wir es vorläufig dabei. Wenn du dennoch ein oder zwei Tage freinehmen willst, um dich zu entspannen und dich durch die mutmaßliche Flut von Absagen und Benachrichtigungen zu wühlen, kannst du dir die Zeit natürlich nehmen.« Laine hob die Hände. »Wir helfen, wo wir können.«
»Danke. Wirklich! Aber ich habe schon jede Menge Hilfe und würde lieber arbeiten. Tut mir leid, dass ich euch eine solche Situation zumuten muss!«
»Liebesbeziehungen am Arbeitsplatz.« Laine lächelte schwach. »Wer hätte das nicht schon einmal erlebt? Aber wenn du doch noch zu dem Schluss kommst, Zeit für dich zu brauchen, kannst du jederzeit Urlaub nehmen, Sonya.«
»Das weiß ich zu schätzen.« Sie erhob sich. »Und jetzt mache ich mich an die Arbeit.«
Sie war nicht überrascht, als sie Brandon zwischen Büro und Treppenhaus warten sah.
»Wir müssen uns unterhalten.«
Er packte sie am Arm, doch sie wich zurück. »Rühr mich nicht an.«
»Wir können wohl kaum hier draußen miteinander reden.« Er deutete auf die Tür des Präsentationsraumes. »Ich ziehe es vor, meine schmutzige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit zu waschen.«
»In diesem Fall hättest du Matt gestern Abend nicht anrufen und anlügen dürfen.« Dennoch betrat sie den Konferenzraum.
»Ich habe ganz gewiss nicht gelogen.« Mit scharfem Klicken schloss er die Tür. »Ich habe ihm gesagt, dass du die Hochzeit abgesagt hast. Du warst sauer und gestresst.«
»Nur den Grund dafür hast du vergessen zu erwähnen.«
Immerhin besaß er so viel Anstand – oder vielleicht auch nur Grips –, beschämt und bekümmert dreinzublicken.
»Hör zu, Sonya, niemand grämt sich mehr über das, was geschehen ist, als ich. Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht und dich verletzt. Ich war schwach und dumm. Ich habe Panik bekommen.«
Sie lächelte ach so liebenswürdig. »Ich dachte, es sei ein Ausrutscher gewesen.«
»Bitte.« Er streckte erneut die Hand nach ihr aus.
»Wenn du mich noch einmal anrührst, hast du eine Klage wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz am Hals.«
»Ich weiß, dass du verletzt und wütend bist. Dazu hast du alles Recht der Welt. Was ich getan habe … ein Augenblick der Schwäche. Diese Panik. Die Hochzeit, all die Details, die Entscheidungen. Das alles hat mich immer mehr belastet, und ich geriet in Panik. Dann kam Tracie vorbei, und sie … nun ja … hat sich an mich herangemacht. Mich total angebaggert. Und ich … ich hab einfach nachgegeben.«
Er legte die Hand auf sein Herz. »Ich bitte dich, mir zu verzeihen. Mir noch eine Chance zu geben, um dir zu beweisen, wie viel du mir bedeutest.«
»Es war also ein Ausrutscher, du bist in Panik geraten, und du hast nachgegeben. Und hattest Sex mit meiner Cousine in unserem gemeinsamen Bett, während ich die Korrekturabzüge für unsere Hochzeitseinladungen abholte. Wohlgemerkt habe ich von dem Sex mit meiner Cousine in unserem gemeinsamen Bett nur deshalb erfahren, weil ich meinen Termin beim Floristen abgesagt habe.«
»Es war ein schrecklicher Fehler, Liebling. Ich werde den Rest meines Lebens damit verbringen, ihn wiedergutzumachen. Bitte verzeih mir. Es war ein entsetzlicher Fehler. Sie bedeutet mir nichts. Du bedeutest mir alles. Es war nur Sex.«
Sie nahm ihn eingehend in Augenschein. Hinter der Goldjungenfassade mit dem gut aussehenden Gesicht verbarg sich eindeutig ein Lügner und Betrüger. Sofort wurde ihr wieder übel.
»Erstaunlich, dass du allen Ernstes glaubst, ich würde dir das abkaufen. Für wie blöd hältst du mich eigentlich?«
»Ich bitte dich um Vergebung.« Scham und Kummer verwandelten sich mit Lichtgeschwindigkeit in Entrüstung. »Wie kannst du nur so kalt und unversöhnlich sein? Du hast deine Mutter zu Jerry geschickt – mit all meinen Sachen, Herrgott noch mal. Du hast meine Klamotten in Müllsäcke gestopft, als gäbe es nichts, was uns verbindet.«
»Ich hatte nicht mehr genug Kartons und Koffer.«
»Du bist mit unserer Privatangelegenheit gleich zu deiner Mutter gerannt. Das ist armselig.«
»Nein, tatsächlich ist Tracie gleich zu ihrer Mutter gerannt – die zufällig die Schwester meiner Mom ist. Wie dem auch sei, du hast deine Sachen zurück, und wir beide sind fertig miteinander.«
»Kein Wunder, dass ich mich auf die Wärme und Leidenschaft einer anderen Frau eingelassen habe, wenn du so verdammt kalt bist.«
»Dann ist es ja wohl ein Segen, dass wir beide noch mal davongekommen sind, stimmt’s? Übrigens: Da du Matt diese Lügengeschichte aufgetischt hast, habe ich den beiden die Wahrheit erzählt. Ursprünglich war das gar nicht meine Absicht, sondern ich wollte sie nur informieren, dass ich die Hochzeit abgesagt habe. Aber ich weigere mich, mir die Schuld in die Schuhe schieben zu lassen. Ich habe ihnen mein Wort gegeben, mich dir gegenüber professionell zu verhalten, und von dir erwarten sie das Gleiche.«
Er schäumte beinahe vor moralischer Entrüstung.