Mrs Potts' Mordclub und der tote Bräutigam - Robert Thorogood - E-Book
SONDERANGEBOT

Mrs Potts' Mordclub und der tote Bräutigam E-Book

Robert Thorogood

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

So geht englischer Krimi: Der reichste Mann Marlows wird am Tag vor seiner Hochzeit von einem schweren Schrank erschlagen. Ein neuer Fall für Mrs Potts' Mordclub. Seit den Ereignissen des letzten Jahres haben Judith, Suzie und Becks eine angenehme und langweilig-mordfreie Zeit verbracht. Das Aufregendste, was ihnen bevorsteht, ist die Hochzeit des Marlow-Granden Sir Peter Bailey mit der viel jüngeren Krankenschwester Jenny Page. Sir Peter gibt am Tag vor der Hochzeit eine Party in seinem großen Herrenhaus an der Themse, und Judith und Co. freuen sich auf ein bisschen Gratis-Champagner. Doch während der Feierlichkeiten ertönt aus dem Haus ein lautes Krachen, und als alle ins Haus stürzen, finden sie den Bräutigam von einem schweren Schrank erschlagen in seinem Arbeitszimmer vor.  Das Arbeitszimmer war von innen verschlossen, sodass die Polizei an einen Unfall glaubt. Doch Judith Potts ist da ganz anderer Meinung. Für sie steht fest: Peter wurde ermordet. Und es ist die Aufgabe des Mrs Potts' Mordclub, den Mörder zu finden, bevor er oder sie wieder zuschlägt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 415

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Robert Thorogood

Mrs Potts’ Mordclubund der tote Bräutigam

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Robert Thorogood

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Robert Thorogood

Robert Thorogood ist ein englischer Drehbuchautor und Romancier. Er ist vor allem als Schöpfer der international gefeierten BBC-Krimiserie »Death in Paradise« bekannt und hat eine Reihe von Spin-off-Romanen mit dem Detektiv DI Richard Poole geschrieben.

Ingo Herzke, geboren 1966, lebt in Hamburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Alan Bennett, A. M. Homes, Bret Easton Ellis, A. L. Kennedy und Gary Shteyngart.

zur Kurzübersicht

Über dieses Buch

Seit den Ereignissen des letzten Jahres haben Judith, Suzie und Becks eine angenehme und langweilig-mordfreie Zeit verbracht. Das Aufregendste, was ihnen bevorsteht, ist die Hochzeit des Marlow-Granden Sir Peter Bailey mit der viel jüngeren Krankenschwester Jenny Page. Sir Peter gibt am Tag vor der Hochzeit eine Party in seinem großen Herrenhaus an der Themse, und Judith und Co. freuen sich auf ein bisschen Gratis-Champagner. Doch während der Feierlichkeiten ertönt aus dem Haus ein lautes Krachen, und als alle ins Haus stürzen, finden sie den Bräutigam von einem schweren Schrank erschlagen in seinem Arbeitszimmer vor. Das Arbeitszimmer war von innen verschlossen, sodass die Polizei an einen Unfall glaubt. Doch Judith Potts ist da ganz anderer Meinung. Für sie steht fest: Peter wurde ermordet. Und es ist die Aufgabe des Mrs Potts’ Mordclub, den Mörder zu finden, bevor er oder sie wieder zuschlägt …

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Danksagungen

Für Jack Thomas

(1941–2021)

Kapitel 1

Nach den Aufregungen des letzten Sommers blieb Mrs Judith Potts im Winter eher für sich, lebte in ihrem eigenen Rhythmus. Sie stand spät auf, sah ein wenig fern, spielte Rad-Patiencen, ging spazieren, wenn ihr danach war – ihr war allerdings nicht so oft danach –, und nahm sich jeden Tag ein wenig Zeit, an ihren um die Ecke gedachten Kreuzworträtseln für Tageszeitungen zu arbeiten.

Als an der High Street die Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt wurde, hielt sie sich wie jedes Jahr unauffällig von allen Feierlichkeiten fern. Sie hatte nichts gegen Weihnachten. Ganz und gar nicht. Sie hatte nur das Gefühl, das Fest gehöre anderen Menschen, vor allem Eltern mit kleinen Kindern und Familien, die unbedingt zwanghaft fröhlich sein wollten.

Weihnachten war also ein bisschen anstrengend und die Zeit zwischen den Jahren verblüffend nicht existent, aber der Januar, das wusste Judith, gehörte ihr. Es war beinahe ihr Lieblingsmonat. Im Januar wollte niemand etwas von ihr. Sie musste nirgendwohin. Sie konnte ihren Akku aufladen und Bilanz ziehen.

Und natürlich im Fluss schwimmen.

Judith ließ sich vom Winter nicht davon abhalten, fast täglich einmal in die Themse zu steigen. In dieser Jahreszeit war der Aufenthalt im Wasser natürlich kurz, doch sie versäumte keine Gelegenheit, Kontakt mit der Natur zu suchen, und sie liebte das Kribbeln, das sie den Rest des Tages auf der Haut spürte. Besonders gern ging sie schwimmen, wenn sie ein Problem durchdenken musste, und genau darum war sie auch an diesem Januarmorgen in der Themse.

Sie versuchte ein Rätsel zu lösen.

Es hatte am Morgen angefangen, als sie die wöchentliche Ausgabe der Marlow Free Press kaufte. Das Jahr hatte gerade erst begonnen, weshalb der Nachrichteninhalt der Zeitung noch karger war als gewöhnlich – der Aufmacher drehte sich um den schockierenden Abbau eines örtlichen Briefkastens –, doch am meisten freute Judith sich ohnehin auf das Kreuzworträtsel. Sie brauchte nie lange dafür, doch die Hinweise waren von einer Klarheit, die sie zutiefst befriedigte. Die heutige Version hatte da nicht enttäuscht. Doch als sie fertig war und das vollständig ausgefüllte Buchstabenraster anschaute, hatte sie so ein instinktives Gefühl, dass irgendwas mit ihren Antworten nicht stimmte. Ihr Unterbewusstsein versuchte ihr irgendetwas mitzuteilen, aber sie konnte es nicht greifen. Judith hasste lose Enden. Ihrer Ansicht nach mussten alle Rätsel gelöst werden, weshalb sie beschlossen hatte, beim Morgenschwimmen in Ruhe darüber nachzudenken.

Und weil sie mehr mit dem Kreuzworträtsel beschäftigt war als mit der Umgebung, hatte sie versehentlich eine Auseinandersetzung mit einem Schwan begonnen.

Das wollte sie gar nicht, wie sie später ihren Freundinnen Becks und Suzie erzählte. Es war nicht mal ihre Schuld, soweit sie es beurteilen konnte. Schuld war vielmehr die tote Ente, die sie mitten im Fluss auf dem Rücken treibend gefunden hatte, die zunächst gar nicht wie eine Ente ausgesehen hatte. Judith hatte geglaubt, auf zwei orangerot aus dem Wasser ragende Zweige zuzuschwimmen. Doch als sie näher kam, hatte sie schließlich unter der Wasseroberfläche den weißen Bauch, Hals und Kopf der Ente gesehen und war panisch in Richtung Ufer geplanscht, bloß weg von der Leiche.

Dabei war sie versehentlich zwischen eine Schwanenmutter und ihre Jungen geraten. Jetzt im Januar waren die Jungen schon fast ausgewachsen, doch die Mutter reckte sich immer noch aus dem Wasser und zischte drohend, und ihre Flügelspannweite übertraf Judiths Körpergröße. Kurz überlegte Judith, ob sie wohl schnell zwischen die ausgebreiteten Flügel schwimmen, den Schwan am Hals packen und untertauchen könnte. Aber wie fast jeder in Großbritannien aufgewachsene Mensch wusste sie, dass ein Schwan »einem den Arm brechen kann«, und außerdem kam es ihr irgendwie unappetitlich vor, als nackte Achtundsiebzigjährige mit einer Schwänin zu ringen.

Denn das war das andere Problem. Wie immer, wenn sie beim Bootshaus am Ende ihres Gartens ins Wasser stieg, trug sie keinen Badeanzug. Natürlich nicht. Badeanzüge waren feuchte Lappen, die einem am Leib klebten und das Gefühl echter Freiheit beim Schwimmen zerstörten.

Der Schwanenkopf schoss aggressiv zischend nach vorn, und Judith wurde klar, sie musste so schnell wie möglich aus dem Wasser. Immerhin war sie an einer Flussbiegung, an der sich nur sehr selten Menschen aufhielten.

Doch leider war es gerade diese Abgeschiedenheit, an die Ian Barnes so schöne Erinnerungen hatte. Ian war in Marlow aufgewachsen, vor einigen Jahren weggezogen, und hatte seine Frau Mandie und ihre beiden kleinen Kinder herbringen wollen, um ihnen einige der schönsten Plätze seiner Kindheit zu zeigen. Dazu gehörte auch diese reizende Stelle am Fluss, wo er früher so gern Vögel beobachtet hatte.

Gerade als Ian auf den Baumstumpf deutete, auf dem er einst nicht bloß einen, sondern zwei Eisvögel hatte sitzen sehen, stieg vor ihm und seiner Familie eine nackte Achtundsiebzigjährige aus dem Wasser, lief ein paar Schritte am Ufer entlang – ihr Körper glitzerte wundersam –, worauf sie ihnen mit großer Geste zuwinkte und wieder in den Fluss sprang, die Beine angezogen, sodass sie mit lautem Klatschen und Spritzen wie eine Bombe ins Wasser schlug.

Als Judith wieder auftauchte, rief sie freudig: »Ha!« Natürlich war sie peinlich berührt gewesen, nackt so nah vor anderen Menschen aufgetaucht zu sein, doch sie hatte beschlossen, es mit Stil durchzuziehen, indem sie der Familie zuwinkte und wieder ins Wasser sprang, damit sie wirklich etwas zu erzählen hatten. Das war ihr Geschenk an sie.

Judith konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie sich von der Strömung flussabwärts tragen ließ und das Kreuzworträtsel der Marlow Free Press längst vergessen hatte. Immer wieder musste sie an die Mienen der armen Familie denken. Ihr wohlerzogenes Entsetzen würde sie monatelang erheitern.

Wegen des Vorfalls mit der toten Ente und dem sehr lebendigen Schwan kehrte Judith jedenfalls viel früher als sonst zu ihrem Bootshaus zurück und hörte, nachdem sie ihren grauen Wollumhang angelegt hatte und in ihr Herrenhaus zurückgekehrt war, das Haustelefon klingeln. Sie nahm den Hörer ab, und eine barsche Männerstimme fragte, ob sie Mrs Judith Potts sei.

»Am Apparat«, sagte sie.

»Mein Name ist Sir Peter Bailey«, sagte der Mann in einem Tonfall, der sonst Männern in der Schlacht befahl, aus dem Schützengraben zum Angriff zu stürmen. »Wir kennen uns nicht, aber ich würde Sie gern um einen Gefallen bitten. Wissen Sie, ich heirate morgen.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Judith und bemerkte, dass das Feuer im Kamin noch glomm. Sie hatte eine Gänsehaut und ihre Füße wurden auf dem Parkett kalt, also setzte sie sich in ihren liebsten Ohrensessel und ließ sich von der Glut wärmen.

»Es ist so, ich gebe heute Nachmittag einen kleinen Empfang zur Feier des Tages, und ich würde mich freuen, wenn Sie kämen.«

Judith war verwirrt. Sir Peter war das Oberhaupt einer der wichtigsten Familien Marlows, wieso lud er sie plötzlich ein?

»Nicht allzu formell«, fuhr er fort. »Anzug, Kleid, so in der Art. Eigentlich bloß ein paar Drinks, um ehrlich zu sein. Zwischen zwei und halb drei. Und ziehen Sie was Warmes über. Es soll zwar sonnig werden, aber trotzdem kalt. Sie wissen, wo ich wohne?«

Judith wusste, wo Sir Peter wohnte. Das wusste jeder Mensch in Marlow. Doch sie war leicht irritiert ob der Annahme, dass sie so kurzfristig alles stehen und liegen lassen könne. Sie hatte bereits Pläne für den Nachmittag. Sie wollte am Kamin getoastete Crumpets mit der Brombeermarmelade essen, die sie am Samstag auf dem Wochenmarkt gekauft hatte. Und vielleicht ein Gläschen oder zwei von dem selbst gemachten Schlehen-Gin trinken, den sie für besondere Gelegenheiten unter der Küchenspüle stehen hatte. Warum um Himmels willen sollte sie das alles für eine Party sausen lassen?

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber warum laden Sie mich ein?«

»Ganz einfach. Ich dachte mir, der Tag vor meiner Hochzeit ist eine gute Gelegenheit, einigen wichtigen Menschen in Marlow zu danken. Sie wissen schon, den Rotariern, dem Kirchenvorstand, solchen Leuten. Und es hat mich beeindruckt, wie Sie im letzten Sommer unserer Stadt geholfen haben.«

»Ach so. Davon wissen Sie?«

»Alle hier wissen, wie Sie der Polizei geholfen haben, diese schrecklichen Morde aufzuklären.«

»Ich hoffe, Sie erwarten keine Morde auf Ihrer Gartenparty«, sagte Judith mit fröhlichem Glucksen.

»Wie bitte?«, fragte Sir Peter. »Natürlich nicht. Wie kommen Sie denn auf so etwas?«

Judith wurde neugierig. Sie spürte, ihre Bemerkung hatte Sir Peter irgendwie beunruhigt.

»Das war ein Scherz«, sagte sie.

»Ein sehr geschmackloser, wenn ich so sagen darf.«

»Er wäre nur geschmacklos, wenn jemand umgebracht würde.«

»Hier hat niemand Todesangst. Ich verstehe wirklich nicht, was Sie da andeuten wollen. Kommen Sie jetzt zur Feier oder nicht?«

Hier hat niemand Todesangst?, dachte Judith. Was für ein seltsamer Satz. Warum war Sir Peter plötzlich so erregt? Judith beschloss, dass ihre Crumpets und ihr Schlehen-Gin warten mussten.

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte sie.

»Gut«, grummelte Sir Peter. »Dann bis heute Nachmittag.«

Kaum hatte er aufgelegt, wählte Judith schon Becks Starlings Nummer.

»Einen Augenblick, Judith«, sagte Becks. »Colin, kannst du wohl die Mehlschwitze rühren? Wie geht’s?«, sagte sie dann wieder in den Hörer. »Tut mir leid, ich kann nicht lange plaudern, wir gehen heute Nachmittag aus.« Ehe Judith den Grund ihres Anrufs erläutern konnte, wurde Becks schon von den Ereignissen überrollt. »Sam, warum willst du denn eine Streichholzschachtel? Wozu brauchst du Streichhölzer? Was treibst du denn da? Oh Gott«, sagte sie nun wieder ins Telefon. »Entschuldige, aber Chloe ruft auch gerade an. Sie hat bei ihrem Freund übernachtet. Da muss ich drangehen. Es kann alles Mögliche passiert sein.«

Becks legte auf, und Judith merkte, dass sie kein Wort gesagt hatte, nicht ein einziges. Sie lächelte. Becks war mit dem Pastor von Marlow verheiratet, einem sehr netten Mann namens Colin – mit allen positiven und negativen Konnotationen des Adjektivs »nett«. Eigentlich hatte Becks es sich zur Aufgabe gemacht, die perfekte südenglische Pastorenfrau und Mutter zu sein; trotzdem hatte sie sich im letzten Jahr in Judiths Dunstkreis und in die privaten Ermittlungen hineinziehen lassen, als Menschen in Marlow erschossen worden waren. Seither waren sie gute Freundinnen geworden, auch wenn Becks sich immer noch sorgte, dass Judith genau die Art von Freigeist war, vor der ihre Mutter sie immer gewarnt hatte. Judith ihrerseits sah, wie viel Energie Becks für die Bedürfnisse von Familie und Gemeinde aufwendete, und wünschte sich, ihre Freundin würde nur ein Zehntel ihres Talents für sich selbst und ihre eigenen Wünsche einsetzen. Doch sie wusste auch, Becks würde sich nie ändern. Im Grunde schätzte sie ihre Gesellschaft gerade deswegen.

Judith wählte eine andere Nummer. Nach zweimaligem Klingeln nahm Suzie Harris ab.

»Na, wenn das nicht die berühmte Judith Potts ist«, sagte Suzie ein wenig theatralisch, wie Judith fand.

Suzie war eine sehr bodenständige, gemütliche Frau um die fünfzig und die dritte in Judiths Detektivbund.

»Entschuldige, dass ich so aus heiterem Himmel anrufe«, sagte Judith, »aber ich glaube, ich hatte gerade ein sehr seltsames Gespräch.«

»Dann erzähl uns doch davon.«

»Was soll das heißen, ›uns‹?«

»Du bist ›auf Sendung‹, liebe Anruferin. Also besser keine Kraftausdrücke«, erwiderte Suzie mit wissendem Kichern.

Judith wurde heiß und kalt.

Dank ihres kurzen Moments im Rampenlicht im letzten Jahr hatte Suzie einen Sendeplatz am Vormittag beim kommunalen Radio Marlow FM ergattert. Dort spielte sie Musik, diskutierte am Hörertelefon die brennenden Themen des Tages und warb bei jeder Gelegenheit für ihre Dienstleistung, nämlich Hunde auszuführen und zu betreuen, was natürlich alle Anstandsregeln des Rundfunks brach. Aber Suzie war nach eigener Darstellung alleinerziehende Mutter – auch wenn ihre Töchter längst das Nest verlassen hatten – und hatte sich schon immer irgendwie über Wasser halten müssen. Da würde sie sich jetzt die Chance auf Gratiswerbung nicht entgehen lassen.

»Du sendest dieses Telefonat im Radio?«, fragte Judith.

»Mit dir unterhalte ich mich immer gern in der Sendung, Judith.« Suzie klang ein wenig besitzergreifend, was Judith störte. Die frisch erworbene Prominenz war Suzie ziemlich zu Kopf gestiegen, fand Judith, aber das konnten sie ein andermal bereden.

»Also wirklich, Suzie, ich finde nicht, dass meine Gespräche mit dir in die ganze Stadt ausgestrahlt werden sollten, aber wann ist denn deine Sendung zu Ende?«

»Um eins übergebe ich an Karen Hird und ihre Lunchtime Boys.«

»Gut. Wenn du fertig bist, möchtest du dann zu einer Feier mitkommen?«

Kapitel 2

Östlich von Marlow verbreitert sich die Themse um eine kleine Insel herum. Zu einer Inselseite befindet sich eine Schleuse, zur anderen ein schäumendes Wehr. Am ruhigen Wasser dahinter liegen einige der schicksten Immobilien der Gemeinde.

Sir Peter Baileys Haus – White Lodge – war womöglich das prächtigste davon: ein dreistöckiges georgianisches Herrenhaus, cremeweiß verputzt, auf einer Seite ein Rasentennisplatz, auf der anderen eine Orangerie aus viel Glas und weiß lackierten Metallstreben, davor ein Knotengarten im elisabethanischen Stil. Zum Fluss hin sah das gemähte Streifenmuster des Rasens noch schärfer, noch präziser aus als alles, was die Nachbarn hinbekamen. Sir Peters Boot, das unten am Steg vertäut lag, war ein schnittiges Modell aus glänzend lackiertem Holz, importiert aus Venedig.

Alles an dem Anwesen sah nach Geld aus, und Suzie wusste nicht, wo sie ihren klapprigen Hunde-Transporter parken sollte, in dem sie mit Judith vorfuhr. Zu ihrem Glück wies ein munterer Teenager mit Warnweste ihnen den Weg zu einer Wiese neben dem Garten.

»Meine Güte«, sagte Suzie beim Aussteigen. »Das muss man sich mal vorstellen: Parkplatzwächter für die eigene Party.«

Es war ein frischer, sonniger Januartag, Wattewolken am strahlend blauen Himmel, und als Judith und Suzie den Garten betraten, standen dort etwa einhundert gepflegt gekleidete Menschen bei einem leuchtend weißen Festzelt, plauderten und lachten.

»Ich glaube, mein Haus würde gute zweimal in das Festzelt passen«, sagte Suzie. »Meinst du wirklich, niemand hat was dagegen einzuwenden, dass ich dich begleite?«

»Natürlich nicht.«

»Ich bin nicht gerade angemessen gekleidet für eine schicke Gartenparty.«

Suzie war eine Frau wie ein Baum mit roten Wangen und lauter Stimme. Sie trug eine hellrote Daunenjacke über einem verblichenen dunkelblauen Thermo-T-Shirt, ausgewaschene Jeans mit festgetrocknetem Matsch am Saum und alte Arbeitsstiefel.

»Ich finde, du siehst genau richtig aus«, sagte Judith.

»Okay, dann mache ich dich verantwortlich, sollte sich jemand beschweren. Also, wo sind die Schnittchen?«

Kaum hatte Suzie die Frage gestellt, kam schon ein Kellner mit einem Tablett Champagner zu ihnen. Sie und Judith nahmen beide ein Glas, Suzie allerdings auch noch ein zweites.

»Für meine Freundin«, sagte sie zum Kellner und zeigte auf eine imaginäre Freundin in weiter Ferne.

»Ist das nicht herrlich«, sagte Judith, nippte an ihrem Champagner und genoss die Aussicht.

»Und wie«, sagte Suzie und leerte das erste der beiden Gläser. »Verdammt, die Blasen steigen einem in die Nase. Ich weiß wirklich nicht, warum die Leute das Zeug trinken. Wo ist denn dieser Sir Peter, der dich eingeladen hat?«

»Ich kann ihn nicht entdecken. Aber du wirst ihn erkennen, wenn du ihn siehst. Er sieht aus wie ein Generalmajor, Schnauzbart und schnarrende Stimme und so.«

»Judith?«, fragte eine erfreute Stimme und fügte dann etwas zurückhaltender »Suzie?« hinzu.

Becks Starling schwebte zu ihnen herüber, und Judith dachte sich, einen schöneren Anblick würde sie heute sicher nicht geboten bekommen. Becks sah immer glänzend aus – perfekt frisierte blonde Haare und makellos manikürte Nägel –, aber heute strahlte Judiths Freundin geradezu vor Gesundheit und Wohlbefinden. Sie trug ein elegantes cremefarbenes Neckholder-Kleid und darüber einen dunkelblauen Kaschmir-Bolero. Judiths Blick fiel jedoch sofort auf den offenbar brandneuen Saphirring an ihrer Hand. Wenn der echt war, dann war er sehr teuer.

»Du siehst wunderschön aus«, sagte Judith.

»Findest du?« Becks wurde rot. »Wirklich?«

»Du bist immer schön, aber heute siehst du besonders gut aus.«

Becks wurde sofort verlegen und tat, was sie immer tat, wenn man ihr ein Kompliment machte – sie entschuldigte sich.

»Tut mir leid, wie ich vorhin am Telefon war«, sagte sie. »Die Kinder haben so einen Aufstand gemacht, und Colin stand mir vor den Füßen herum, und ich musste mich für das Fest umziehen. Warum hast du denn angerufen?«

»Ich wollte dich bloß hierzu einladen«, sagte Judith. »Also gar kein Problem. Du bist ja schon da.«

»Ich bin Colins Begleitung. Er traut das Brautpaar morgen. Da drüben ist er«, sagte Becks und zeigte auf ihren Mann beim Festzelt. Wie üblich trug Colin einen dunklen Anzug und den weißen Priesterkragen, doch nicht wie üblich plauderte er mit einer Frau im eng anliegenden Kleid aus Goldpailletten. Jede ihrer Kurven schimmerte im Sonnenlicht.

Sie hörten Colins Lachen, und selbst auf diese Entfernung erkannten die drei Freundinnen etwas angestrengt Einschmeichelndes, fast Unterwürfiges darin.

Becks’ Stirn legte sich in Falten.

»Ay, ay«, sagte Suzie. »Frittierte Garnelen auf drei Uhr.«

Suzie hatte Judith erklärt, man müsse mindestens im Zweierteam arbeiten, wenn man auf einer Party genug Häppchen abgreifen wolle. Eine Person müsse die Festgemeinde im Auge haben – dafür hatte sie Judith auserkoren –, während die zweite Teamplayerin fast Rücken an Rücken mit der anderen jede Servierkraft erspähen musste, die aus der Küche kam. Auf Sir Peters Gartenfest war für das Catering ein kleineres Zelt aufgebaut worden, in dem sich Küche und Servierbereich befanden, weshalb Suzie seit ihrer Ankunft in diese Richtung geschaut hatte.

Als ein Kellner auf dem Weg zum Hauptzelt an ihnen vorbeikam, griff sich Suzie zwei große im Teigmantel frittierte Garnelen von seinem Tablett.

»Man dankt!«, rief sie ihm hinterher.

»Ich wusste gar nicht, dass ihr die Familie Bailey kennt«, sagte Becks zu ihren Freundinnen.

»Tu ich auch nicht«, sagte Suzie und schob die heiße Garnele im Mund hin und her.

»Und ich genauso wenig«, sagte Judith und erklärte dann, sie sei nur gekommen, weil sie am Vormittag so ein eigenartiges Gespräch mit Sir Peter geführt hatte.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass hier jemand ermordet wird?«, fragte Becks entsetzt.

»Natürlich nicht. Aber als ich das Wort Mord fallen ließ, hat ihn das definitiv verstört. Irgendwas ist da faul, das könnt ihr mir glauben. Hast du übrigens Sir Peter irgendwo gesehen?«

»Das ist wirklich komisch«, sagte Becks. »Jetzt, wo du es sagst: Ich habe ihn noch nicht zu Gesicht bekommen, seit ich hier bin.«

»Und wenn ihn nun jemand umgebracht hat?« Suzie spuckte vor Aufregung Backteig aus, nachdem sie sich erst Sekunden zuvor die zweite Garnele in den Mund gesteckt hatte. »Tschuldigung!«, schob sie nach, was ein Fehler war, denn damit spritzte sie noch mehr Garnelenstückchen auf Becks’ cremeweißes Kleid.

»Suzie!« Becks wich entsetzt zurück.

»Entschuldige!« Suzie versuchte die Krümel mit der Hand von Becks’ Kleid zu wischen, was einen breiten Fettstreifen hinterließ.

»Oh Gott, jetzt habe ich es noch schlimmer gemacht!«, sagte sie.

»Hör bitte auf!«, sagte Becks und schaute ihre Freundin verzweifelt an. »Das Kleid war teuer.«

»Tut mir wirklich leid, die Garnelen sind ein bisschen fettig. Das muss sicher in die Reinigung.« Suzie zeigte auf den Fettfleck, als würde sie kluge Ratschläge geben.

Mit röhrendem Motor bog ein ramponierter Triumph-Sportwagen mit schwarzem Stoffdach in die Auffahrt, und Qualm stieg aus dem Auspuff. Das Auto parkte neben dem Haus, ein Mann in sandfarbenen Chinos, einem Hemd mit lila Blumenmuster und einem Tweedjackett stieg auf der Fahrerseite aus und fuhr sich mit den Händen durch die langen dunklen Haare.

Selbst aus großer Entfernung war zu erkennen, dass der Mann sehr attraktiv war.

»Hallo!«, sagte Suzie. »Der neue Gast gefällt mir. Was glaubst du, wer das ist?«

Kapitel 3

Als der Wagen parkte, kam ein Mann Mitte sechzig mit buschigem grauem Schnauzbart und Pomade im Haar im marineblauen Blazer und lachsfarbener Hose aus dem Haus. Er hatte ein Glas Champagner in einer Hand, eine Zigarette in der anderen, und marschierte auf den jüngeren Mann zu.

»Da ist er«, sagte Becks und zeigte auf den Mann im Blazer. »Das ist Sir Peter.«

Sie hörten alle Sir Peter rufen: »Was zum Teufel hast du hier zu suchen?«

Der jüngere Mann lachte, als ginge ihn das alles nichts an, und antwortete, dies sei sein Zuhause, da könne er verdammt noch mal kommen und gehen, wie er wolle.

»Das sieht doch mehr nach einer richtigen Hochzeitsfeier aus«, sagte Suzie zufrieden. »Eine Prügelei.«

Eine Frau löste sich aus der größten Gästegruppe und ging zu den beiden Männern. Sie trug einen schwarzen Mantel über einem schlichten schwarzen Kleid und ihre braunen Haare fransig geschnitten, und sie war deutlich erregt.

»Das ist Jenny Page«, flüsterte Becks ihren Freundinnen zu. »Die Braut. Ich bin ihr erst ein paarmal begegnet, aber sie ist wirklich nett. Sehr geradlinig …«

Becks verstummte, als Jenny den jungen Mann beschimpfte, Sir Peter sie zu beruhigen versuchte, die ganze Festgemeinde gefesselt zuschaute. Judith glaubte den Grund zu erraten, warum Sir Peter am Telefon so eigenartig reagiert hatte: Es gab ernsthafte Spannungen in der Familie Bailey.

»Morgen ist mein großer Tag, wie kannst du mir das antun?«, hörten sie alle Jenny zu dem jüngeren Mann sagen.

»Ich tue niemandem irgendwas an«, erwiderte er, immer noch ungerührt.

»So sprichst du nicht mit meiner Frau!«, blaffte Sir Peter.

»Noch seid ihr nicht verheiratet, Dad.«

»Immer muss sich alles um dich drehen.« Jenny schluchzte. »Du kannst es einfach nicht ertragen, andere glücklich zu sehen.«

Sie brach in Tränen aus und stürzte ins Haus.

Sir Peter trat dicht an den Jüngeren heran und tippte ihm wiederholt mit dem Zeigefinger an die Brust, während er ihn weiter zurechtwies. Mit einem letzten Fingerstich drehte er sich um und ging ebenfalls ins Haus.

Nachdem Sir Peter den Kampfplatz verlassen hatte, taten die Partygäste das Einzige, was waschechte Engländer und Engländerinnen in einem solchen Fall tun können: Sie machten weiter Konversation, als hätte es überhaupt keine Unterbrechung gegeben. Die Kellner hoben wieder ihre Tabletts auf Schulterhöhe und kreisten durch die Menge.

»Wollen wir tatsächlich alle so tun, als sei das gerade nicht passiert?«, fragte Suzie.

Colin Starling gesellte sich zu den drei Frauen.

»Hallo zusammen«, sagte er. »Ich nehme an, das ist der Sohn. Tristram.«

»Sir Peter hat einen Sohn?«, fragte Judith.

»Und eine Tochter namens Rosanna. Die müsste hier auch irgendwo sein. Sie stammen beide aus Sir Peters erster Ehe. Ich habe mich in den letzten Wochen einige Male mit Sir Peter und Jenny getroffen, und ich glaube, Tristram ist nicht einverstanden damit, dass sein Vater wieder heiratet. Ich weiß gar nicht, warum ich euch das erzähle, es ist ja offensichtlich, dass Vater und Sohn sich nicht verstehen.«

»Mir ist allerdings aufgefallen, dass du dich mit der Dame dahinten sehr gut verstanden hast, Liebling«, sagte Becks mit einem Lächeln, das nur Colin nicht als mörderisch erkannte.

»Ach ja, das ist Miss Louise. Sie betreibt hier im Ort eine Tanzschule.«

»Miss Louise?«

Wieder erkannte Colin die Gefahr nicht.

»So hat sie sich vorgestellt.«

Doch ehe Becks weitere Fragen stellen konnte, kam der junge Mann zu ihnen herübergeschlendert. Aus der Nähe sah er wirklich außerordentlich gut aus, dachte Judith bei sich. Er war Ende dreißig, hatte ein markantes Kinn und strahlend blaue Augen.

»Tut mir leid wegen der Unruhe«, sagte er mit reuigem Lächeln. »Gibt es hier irgendwo Champagner?« Er zwinkerte Becks zu, was für Judith zugleich flirtend und unanständig klang.

»Ich weiß nicht, ob Sir Peter damit einverstanden wäre«, sagte Judith so gouvernantenhaft wie möglich.

»Dann schreiben wir das doch einfach auf die lange Liste von Dingen, mit denen er nicht einverstanden ist«, sagte der Mann. »Tristram Bailey. Das hätte ich vielleicht gleich sagen sollen. Und jetzt suche ich mal was zu trinken. Wir sehen uns morgen bei der Hochzeit.«

Judith und ihre Freundinnen schauten einander überrascht an – wie kaltblütig Tristram diese öffentliche Auseinandersetzung wegsteckte!

»Der wirkt ja sehr selbstsicher«, sagte Judith.

In der Ferne schlugen die Glocken der All Saints Church drei Uhr. Judith drehte sich um und schaute über den Fluss in Richtung Kirche. Ein großes Motorboot fuhr am baileyschen Garten vorbei, und sie dachte gerade: »Was für ein Monstrum«, als alle ein gewaltiges Krachen aus dem Haus hörten, dazu das Splittern von Glas.

Die ganze Festgesellschaft schaute in Richtung Haus, und Jenny tauchte auf einem Balkon im Obergeschoss auf, offenbar auch vom Lärm angelockt.

»Was war das?«, fragte sie die Gäste unten.

Tristram machte auf dem Absatz kehrt und ging Richtung Haus. Judith zögerte zunächst unentschlossen, dann marschierte sie ihm nach – gefolgt von Suzie, Becks, Colin und einem halben Dutzend weiterer Gäste.

»Wissen Sie, was das war?«, rief Judith Tristram hinterher.

Tristram antwortete nicht und betrat das Haus.

»Klang … monumental«, sagte Judith zu ihren Freundinnen, als sie durch dieselbe Tür in einen Schuhraum mit Steinfliesen traten. Tristram war schon im großen Eingangsfoyer, also ging auch sie weiter, gefolgt von den anderen.

Als sie ins Foyer gelangen, kam Jenny gerade die Treppe heruntergerannt.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Wir müssen Vater finden«, sagte Tristram und öffnete Türen, die vom Foyer abgingen – ins Wohnzimmer, einen Salon, eine Küche – und die anderen Gäste verteilten sich im Haus.

»Ist er nicht bei euch im Garten?«, fragte Jenny Tristram.

»Ich dachte, er ist bei dir.«

»Haben Sie gehört, wo das Krachen herkam?«, fragte Judith Jenny, um die Suche einzugrenzen.

»Ich weiß nicht«, sagte Jenny. »Aber auf jeden Fall von unten irgendwo.«

»Dad?«, rief Tristram, doch es kam keine Antwort. »Wo bist du? Dad? Oh Gott«, sagte er finster, als ihm ein Gedanke kam und er aus dem Foyer lief.

Alle folgten Tristram in einen Flur, der an einer uralten Holztür mit rostigen Scharnieren endete. Er griff nach dem Eisenring, der als Türknauf diente, und drehte ihn, doch die Tür ging nicht auf.

»Dad?«, rief er durch die Tür. »Bist du dadrin?«

Erneut keine Antwort.

»Was ist denn hinter der Tür?«, fragte Judith.

»Dads Arbeitszimmer.«

Tristram drehte erneut am Griff und drückte fest mit der Schulter gegen die Tür.

Sie rührte sich nicht.

»Jemand hat die Tür verschlossen.«

»Gibt es denn einen Schlüssel?«, fragte Judith.

Sie merkte, dass Tristram in Panik geriet, als er den Flur zurück in Richtung Küche hastete. Als er verschwand, lief eine erregt wirkende Frau auf sie zu, die Judith noch nicht gesehen hatte. Ihre Haare waren dunkel und glatt, und sie trug eine Art Uniformjacke, leuchtend rot mit Goldlitzen an Kragen und Manschetten.

»Was ist los?«, fragte sie.

Sie wirkte brüsk, sachlich und, wie ihre Jacke, ein wenig militärisch.

»Wissen wir nicht«, sagte Jenny. »Aber es gab ein lautes Krachen, und jetzt können wir Peter nicht finden.«

»Ja, das habe ich gehört«, sagte die Frau zustimmend, was Judith seltsam fand. Natürlich hatte die Frau das Geräusch gehört. Hatten sie alle.

»Entschuldigung, wer sind Sie?«, fragte Judith.

»Rosanna.« Die Frage überraschte sie. »Rosanna Bailey.«

Tristram kam aus der Küche zurück und hatte einen Feuerlöscher in der Hand.

»Tristram?«, fragte Rosanna. »Was hast du vor?«

»Zurück«, sagte er.

Alle machten Platz für Tristram, der sich vor die Tür stellte und den schweren Feuerlöscher gegen das Holz direkt über dem Türgriff schlug. Die Tür bewegte sich kaum. Tristram schwang den Feuerlöscher zurück und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Bohlen, und diesmal splitterte Holz, auch wenn die Tür immer noch nicht aufging. Ein drittes Mal holte er aus, schlug noch heftiger zu. Jetzt hörte man etwas brechen, und die Tür schwang ein paar Zentimeter auf.

Tristram drückte weiter und trat in das Zimmer, die anderen folgten ihm, und alle sahen, dass ein großer Wandschrank aus Mahagoni umgefallen war und flach auf dem Boden lag.

Ein Beinpaar in lachsfarbener Hose ragte darunter hervor.

»Oh Gott, Peter!«, rief Jenny und stürzte zum Schrank. »Wir müssen das Ding hochheben!«

Alle eilten ihr zu Hilfe, stellten sich um den Schrank, und mit großer Anstrengung schafften sie es gerade so, ihn wieder aufzurichten. Sir Peters Körper lag unter den Scherben der geborstenen Glastüren und verschiedenen Laborutensilien, die aus den Schrankfächern gefallen waren.

Über sein Gesicht war Blut gelaufen, sein rechter Arm lag grotesk verkrümmt unter seinem Leib, der linke zur Seite ausgestreckt, und einige Finger standen in erschreckenden Winkeln ab.

Er atmete nicht.

Jenny fiel neben Sir Peter auf die Knie und versuchte an seinem Hals einen Puls zu finden.

»Peter, nein! Peter!«, schrie sie.

»Seien Sie vorsichtig mit den Scherben«, warf Colin unnötigerweise ein, aber Jenny hörte ihn ohnehin nicht, denn sie versuchte verzweifelt einen Pulsschlag an Hals oder Handgelenk ihres Verlobten zu erspüren.

»Jenny, Sie müssen sofort aufstehen«, sagte Becks und bedeutete Colin, zu ihr zu gehen.

»Bitte verlassen Sie alle das Zimmer«, rief Judith. »Und kann jemand die Polizei anrufen?«

Bei der Erwähnung der Polizei erwachte die Gruppe zum Leben. Becks und Colin führten die weinende Jenny von der Leiche weg, und der Raum leerte sich. Judith blieb und sah sich einmal rasch um. Es sah aus wie ein typisches männliches Arbeitszimmer, doch vor allem fiel ihr auf, dass sich nirgendwo ein Mensch verstecken konnte. Sir Peter war allein im Zimmer gewesen, als der Schrank auf ihn stürzte.

Außerdem untersuchte sie das alte Metallschloss an der Tür, das durch den Rahmen gebrochen war. Sie schloss die Tür und sah, dass der Sperrriegel genau zur Beschädigung des hölzernen Rahmens passte. Die Tür war abgeschlossen gewesen, als Tristram sie aufgebrochen hatte – allerdings war Judith überrascht, wie leicht sie sich in den Angeln drehte. Das Holz sah aus, als wäre es jahrhundertealt, die Scharniere waren von einer dicken Rostschicht überzogen, und seit wann ging eine uralte Tür so leicht auf? Sie schaute sich die Türbänder näher an und sah, dass sie leicht glänzten.

Jemand hatte die Scharniere vor Kurzem geölt.

Judith betrachtete eine der Türangeln noch genauer. Etwas roch komisch, fand sie. Irgendein unpassender Geruch. Was war das?

Suzie kam zurück.

»Ermittelst du?«, flüsterte sie so laut, dass ihre Stimme noch im Nachbartal eine Lawine hätte auslösen können.

»Weiß ich nicht«, sagte Judith.

»Becks und Colin haben Jenny nach oben gebracht, und ich habe alle nach draußen geschickt, sie warten jetzt vor der Tür auf die Polizei. Was ist denn mit der Tür?«

»Die Angeln. Ich glaube, sie sind frisch geölt. Und es riecht seltsam.«

Suzie roch an einem Scharnier.

»Du hast recht«, sagte sie. »Den Geruch kenne ich. Was ist es?«

»Das bilde ich mir also nicht ein?«, fragte Judith.

»Nein, ich glaube nicht«, sagte Suzie, fuhr mit dem Finger über den öligen Spalt und leckte ihn ab.

»Stimmt«, sagte sie. »Es ist Olivenöl.«

»Genau!« Judith ging ein Licht auf. »Genau das war der Geruch. Oliven. Wer ölt denn Türangeln mit Olivenöl?«

Kapitel 4

Alle Anwesenden, ob Angestellte des Catering-Services oder Festgäste, standen in der Einfahrt der White Lodge herum und warteten auf das Eintreffen der Polizei. Nur Jenny, Becks und Colin waren nicht dabei. Sie waren noch oben im Haus.

»Vielleicht ölen alle reichen Leute ihre Türen mit Olivenöl«, sagte Suzie zu Judith. »Vielleicht ist WD-40 nicht gut genug für sie.«

Judith lächelte, beobachtete aber zugleich die anderen Menschen und versuchte herauszufinden, welche Gefühle Sir Peters Tod bei ihr auslöste. Rosanna Bailey stand am Rand der Gruppe, einige Freundinnen trösteten sie. Judith fiel auf, wie leicht sie in der Menge auszumachen war. Fast alle trugen gedeckte Farben, und ihre briefkastenrote Jacke stach heraus wie ein Leuchtfeuer. Als Judith Rosanna sah, fiel ihr Tristram wieder ein, und sie versuchte auch ihn ausfindig zu machen, was ihr aber nicht gelang.

»Siehst du Tristram irgendwo?«, fragte sie Suzie.

»Nein«, sagte sie. »Wo der wohl hin ist. Hast du übrigens gemerkt, wie er Becks angeschaut hat?«

»Ja, habe ich.«

»Aber sie sieht heute auch wirklich toll aus, oder? Unserem Mr Tristram Bailey ist das jedenfalls aufgefallen, als er mit uns geredet hat.«

»Vielleicht lag es an dem neuen Saphirring, den sie am Finger hatte. Der muss ein hübsches Sümmchen gekostet haben.«

»Was für ein Saphirring?«

»Hast du den nicht gesehen? Solltest du dir anschauen. Wirklich prächtig, Baguette-Schliff, in schönem Altgold gefasst. Ich nehme an, Colin hat ihn ihr gekauft.«

»Du glaubst, er hat ihr einen richtig schönen Ring gekauft?«

Die beiden tauschten einen Blick, der sagte: Das klingt sehr unwahrscheinlich.

Zwei Streifenwagen und ein Rettungswagen bogen mit blinkenden Blaulichtern in die Einfahrt und hielten knirschend im Kies vor dem Haus. Gleichzeitig kam Becks aus der Tür und ging auf die Wagen zu.

Als Judith und Suzie eine Frau aus dem ersten Polizeiauto aussteigen sahen, lächelten sie einander zu.

»Na, das ist ja ein Glücksfall«, sagte Suzie.

»Wie höchst erfreulich«, sagte Judith. »Wollen wir?«

»Ja, sollten wir.«

Die beiden Frauen gingen auf den Streifenwagen zu und kamen zugleich mit Becks bei Detective Sergeant Tanika Malik an.

»Wir sollten uns nicht ständig unter solchen Umständen treffen«, sagte Judith.

»Was machen Sie drei denn hier?«, fragte Tanika überrascht.

Sie war Anfang vierzig, hatte ihr glattes Haar zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden und trug ein anthrazitgraues Kostüm. Bei den Morden in Marlow im vergangenen Sommer hatte sie die Ermittlungen nur stellvertretend geleitet und den Fall erst gelöst, nachdem sie Judith und ihre Freundinnen zu Hilfe geholt hatte.

»Das ist absolut zufällig«, erklärte Becks verlegen. »Als ich die Polizei kommen sah, bin ich herausgekommen, um zu erklären, dass der Tote, Sir Peter Bailey, morgen eine Frau namens Jenny Page heiraten wollte. Colin und ich haben sie in ihr Schlafzimmer hinaufgebracht. Es geht ihr gar nicht gut. Wenn Sie mit ihr sprechen wollen, finden Sie sie dort. Ich sollte wohl wieder zu ihr gehen – wenn das in Ordnung ist?«

»Sie sind bei Sir Peters Verlobter?«, fragte Tanika.

»Ja.«

»Danke, das ist sehr freundlich. Können Sie ihr sagen, dass wir kommen und mit ihr sprechen, wenn wir den Tatort gesichert haben? Aber nur, wenn sie bereit ist.«

Tanika sah Judith und Suzie an und bemerkte das Funkeln in ihren Augen.

»Wollen Sie mir wirklich erzählen, dass Sie zufällig hier sind?«, fragte sie.

»Wenn Sie so wollen«, erwiderte Judith, »ist es nicht ganz zufällig. Aber das erkläre ich Ihnen, wenn Sie die Leiche untersucht haben. Ich würde aber jetzt schon sagen, dass Sie den Todesfall als verdächtig einstufen sollten.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Ehe Judith antworten konnte, trat der aschfahle Tristram zu ihnen.

»Sie wollen sicher mit mir sprechen«, sagte er zu Tanika. »Ich bin Tristram Bailey. Dads Sohn. Ich meine, Sir Peters Sohn. Der Mann, der …«

Tristram brachte den Satz nicht zu Ende. Er sah völlig fertig aus.

»Kommen Sie«, sagte Tanika, und ihr berufsmäßiger Tonfall klang zugleich tröstlich und sachlich. »Es ist frisch hier draußen. Gehen wir rein, da können Sie mir erzählen, was passiert ist.«

Tanika nahm Tristram am Ellbogen und führte ihn zum Haus.

Suzie und Judith standen ein wenig ziellos herum, und Tanika hatte ganz recht: Es war kalt. Mit dem Sonnenuntergang war die Wärme des Tages einer eisigen Kälte gewichen.

»Ist scheißkalt hier draußen«, sagte Suzie.

»Dann sollten wir wohl hineingehen«, sagte Judith und schaute zu zwei Polizisten, die den Gästen gerade erklärten, wie sie ihre Aussagen aufnehmen würden.

»Wir können uns doch nicht einmischen. Tanika würde uns umbringen.«

»Einmischen?« Judith tat empört. »Einmischen ist was für Amateure.«

Suzie lachte.

»Wir ermitteln. Wir untersuchen.«

»Okay«, sagte Suzie. »Und was untersuchen wir?«

»Sir Peters Küche.«

»Warum? Wonach suchen wir denn da?«

»Liegt das nicht auf der Hand? Nach einer gerade verwendeten Flasche Olivenöl.«

 

Tanika sah sich einen Moment im Arbeitszimmer um, wo Sir Peter Baileys Leichnam lag. Auf einem alten Schreibtisch stapelten sich Papiere, am Natursteinkamin voller Asche standen neben einem verblichenen Sessel ein leeres Weinglas und ein Aschenbecher. Hinter dem Schreibtisch hingen alte gerahmte Röntgenbilder von menschlichen Brustkörben. Warum wohl?

Es blitzte hell auf, als einer ihrer Beamten Sir Peter fotografierte, und Tanika ging zu ihm, um die Leiche in Augenschein zu nehmen. Sie ging in die Hocke. Er lag in einem Haufen alter Laborgeräte und zerschellter Kolben, Messbecher und Tiegel. Ein altes Oszilloskop war zu erkennen, verbogene Metallständer und Bunsenbrenner; und Elektronenröhren, die an Stromkreise angeschlossen waren. Kleine vergilbte Etiketten lagen im Durcheinander, darauf in verblasster Tinte Worte wie »Lackmuspapier«, »Bariumsulfat« oder »Aluminiumhydroxid«. Aus einigen zerstörten Behältern waren farbige Pulver über den Teppich verstreut.

Tanika vermutete, dass die Laborgeräte irgendwie mit den Röntgenbildern an der Wand zusammenhingen.

Was den Leichnam anging: Sir Peters Hände, Hals und Kopf wiesen Schnittwunden von den Scherben der Laborgefäße und Glastüren auf. Überall auf seinem Gesicht war getrocknetes Blut, auch in seinen Haaren klebte es. Es hatte erhebliche stumpfe Gewalteinwirkung gegeben – kein Wunder, dachte sie mit einem Blick auf den Schrank. Der war fast doppelt so hoch wie sie, fast fünf Meter breit und aus nachtschwarzem Mahagoni. Wegen der Zierschnitzereien an der oberen Kante – und der Kratzer und Gebrauchsspuren aus vielen Jahrzehnten – wirkte er wie das Inventar einer Kirche oder Schule. Es würde sie nicht wundern, wenn er eine Tonne wöge.

Angesichts dieses Gewichts fragte sie sich, wie er hatte umfallen können. Der Schrank stand so breit und fest auf dem Boden; es war kaum vorstellbar, unter welchen Umständen er stürzen könnte. Wie schade, dass die Festgäste gemeint hatten, ihn aufrichten zu müssen, dachte sie. Das war natürlich verständlich, aber dadurch war der Tatort nicht mehr unberührt, als sie mit ihrem Team eintraf.

Tanika ging zu den großen Panoramafenstern und schaute hinaus. Zu beiden Seiten hingen dicke Vorhänge, die nach Staub und Tabakrauch rochen. Unter dem Fenster erkannte sie im Dunkeln ein Staudenbeet. Die Fensterrahmen waren aus Metall, an einigen Stellen leicht verrostet, und die Riegel und Verschlüsse waren mehrfach übermalt. Eine kurze Untersuchung zeigte Tanika, dass sie seit Jahren nicht geöffnet worden waren.

Sie erinnerte sich an Judiths Worte. Sie wusste, Judith war manchmal schrecklich nervig, immer exzentrisch, aber neigte gerade in Mordsachen eigentlich nicht zu Hirngespinsten. Wenn sie meinte, Sir Peters Todesumstände seien verdächtig, dann lohnte es sich, davon auszugehen.

Sie wandte sich an den nächsten Polizisten.

»Könnten Sie wohl den Schlüssel zu dieser Tür auftreiben? Wie ich sehe, musste sie jemand einschlagen, um zum Opfer zu gelangen.«

»Ich glaube, den haben wir schon«, sagte der Kollege und hielt einen Spurensicherungsbeutel mit einem alten Eisenschlüssel hoch. »Er steckte in der Hosentasche des Toten.«

»Der Tote hat also die Tür abgeschlossen?«

»Und nach allem, was wir wissen, war er allein hier drinnen, als die Festgäste die Tür aufgebrochen haben.«

»Können Sie dann mal mit der Familie sprechen? Und herausfinden, ob es noch weitere Schlüssel zu diesem Zimmer gibt?«

»Na klar.«

Tanika schaute von der Leiche zum Schrank, der ihn zermalmt hatte. Was um Himmels willen war hier passiert?

Kapitel 5

»Also«, sagte Suzie händereibend, als sie mit Judith die Küche des Hauses betrat, »wir suchen eine Flasche Olivenöl?«

»In der Tat. Eine, die kürzlich verwendet wurde«, antwortete Judith, die schon Schranktüren öffnete und zu suchen anfing. »Aber fass sie nicht an, wenn du sie findest.«

»Natürlich nicht!«, sagte Suzie anerkennend. »Falls Fingerabdrücke drauf sind.«

Sie ging zur Fensterbank, auf der ein altmodisches Kofferradio stand. Sie schaltete es an und drehte am Senderknopf.

»Was machst du da?«, fragte Judith.

»Ich baue Haushalt für Haushalt die Hörerschaft von Marlow FM aus.«

Als aus dem Lautsprecher ein Song von Bucks Fizz klang, verkündete Suzie: »Ah, da sind wir ja«, und schaltete das Radio aus. »So hört die Familie uns, wenn sie das nächste Mal das Radio anschalten.«

»Stellst du alle Radios auf Marlow FM ein?«

»Wenn ich die Gelegenheit habe.«

»Oh«, sagte Becks beim Hereinkommen. »Was macht ihr beide denn hier?«

»Wir suchen Olivenöl«, antwortete Suzie, als wäre das eine Erklärung.

»Okay.« Ihre Freundinnen verwirrten Becks. »Ich hole nur ein Glas Wasser für Jenny.«

Während sie ein Glas vom Regal nahm und Wasser hineinlaufen ließ, sah sie Judith und Suzie die Schränke durchsuchen, war jedoch entschlossen, sich nicht hineinziehen zu lassen. Ganz egal, was sie im Schilde führten, sagte sie sich, sie musste sich um Jenny kümmern. Jenny trauerte, Jenny brauchte Unterstützung. Und noch als Becks mit dem Glas Wasser die Küche verließ, sagte sie sich, dass sie ihre Freundinnen ganz bestimmt nicht fragen würde, was sie da taten.

»Okay, ihr müsst es mir sagen.« Sie blieb an der Tür stehen. »Warum sucht ihr Olivenöl?«

Judith erklärte, dass die Türangeln des Arbeitszimmers mit Olivenöl geschmiert worden waren.

Becks begriff sofort, was das bedeutete.

»Das ist doch seltsam, oder?«, sagte sie. »Das solltet ihr der Polizei erzählen.«

»Ich glaube, das würde sie nicht interessieren. Jedenfalls noch nicht, aber ich habe eine Theorie.«

»Verdammte Axt.« Suzie hatte die Tür zur Speisekammer geöffnet und sah deckenhohe Regale voller Konservendosen, Nudelpackungen, Weinflaschen und alle möglichen anderen Lebensmittel. »Das ist wie in der Szene am Ende von Unheimliche Begegnung der dritten Art«, sagte sie, bevor sie mit staunend aufgerissenen Augen hineintrat.

»Wie geht es Jenny?«, fragte Judith.

»Sie ist sehr zittrig«, sagte Becks. »Redet ziemlich wirres Zeug.«

»Das ist wohl kaum überraschend, nach allem, was sie durchgemacht hat. Was glaubt sie, was geschehen ist?«

»Wieso fragst du?«

»Ich bin nicht so sicher, dass der Tod ihres Mannes ein Unfall war.«

»Du meinst, jemand hat ihm das angetan?«

»Hast du gesehen, wie groß dieser Schrank ist? Niemals ist der von allein umgefallen. Und warum ist Sir Peter ihm nicht einfach ausgewichen, als er anfing zu kippen?«

»Ich verstehe. Aber was hat das mit Jenny zu tun?«

»Sie war zu der Zeit im Haus. Im Gegensatz zu fast allen anderen.«

»Du meinst, sie hat den Schrank auf ihn gestoßen?«

»Ist immerhin möglich.«

»Aber wir haben sie doch alle oben auf den Balkon kommen sehen – zur gleichen Zeit, als wir den Aufprall hörten.«

»Ich weiß, so wirkte es. Aber wie rasch ist sie denn aufgetaucht, nachdem der Schrank umgefallen war?«

»Fast sofort.«

»Vielleicht war das genug Zeit.«

»Moment mal. Du meinst, sie hat den Schrank auf ihren Gatten in spe geworfen, ist die Treppe raufgelaufen und dann einen Sekundenbruchteil später auf dem Balkon erschienen?«

Judith legte die Stirn in Falten.

»Das klingt nicht sehr wahrscheinlich, oder? Wenn man es so formuliert.«

»Und warum sollte Jenny Sir Peter umbringen wollen, am Tag vor ihrer gemeinsamen Hochzeit?«

»Das ist auch eine sehr gute Frage«, räumte Judith ein.

»Du meine Güte.« Suzie kam wieder aus der Speisekammer. »Das ist wie in Narnia dadrinnen. Aber leider kein Olivenöl.«

»Ich habe auch keins gefunden. Und ich habe inzwischen so ziemlich alle Schränke abgesucht, wie ich das sehe.«

»Aber das ist unmöglich«, sagte Becks. »Dass so eine Familie kein Olivenöl hat.«

»Da liegst du offensichtlich falsch«, sagte Suzie. »Wir haben nachgeschaut, und sie haben keins.«

»Das bedeutet nur, dass ihr nicht an den richtigen Stellen gesucht habt.«

»Wie kann das hier denn nicht die richtige Stelle sein? Wir sind in der Küche!«

»Ich wette, du findest raus, wo es ist«, sagte Judith listig zu Becks.

»Gute Idee!«, sagte Suzie, die merkte, was ihre Freundin vorhatte. »Wenn irgendwer das Olivenöl in diesem Haus finden kann, dann du. Ich kenne niemanden, der bürgerlicher ist als du.«

»Vielen Dank«, sagte Becks, die gar nicht merkte, dass Suzie das nicht unbedingt als Kompliment meinte. »Aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit. Ich muss Jenny das Wasser bringen.«

»Du wirst doch kaum eine Sekunde dafür brauchen«, sagte Judith.

»Du kennst diese Leute«, sagte Suzie mit gespieltem Ernst, was Becks wieder nicht erkannte. »Du bist diese Leute.«

Der Zuspruch ihrer Freundinnen rührte Becks.

»Das ist so ungefähr das Netteste, was du je zu mir gesagt hast. Dann wollen wir mal sehen.«

Becks konzentrierte sich einen Augenblick, fand ihre Mitte wie eine Kampfkunstmeisterin. Dann schaute sie auf die Platte des Induktionsherdes und fuhr mit der Handfläche über die vier Kochflächen – und die fünfte Warmhalteplatte. Das half ihr nicht weiter, also drehte sie sich einmal auf der Stelle – anscheinend wieder ohne klare Idee – und überraschte ihre Freundinnen dann, indem sie sich hinhockte, sodass sie die Arbeitsfläche auf Augenhöhe hatte. Judith und Suzie sahen die Verwunderung in ihrem Gesicht, als sie über die weiße Fläche schaute, ehe sie sich wieder aufrichtete, zur Spüle ging und den makellos glänzenden Edelstahl betrachtete. Dann drückte sie mit dem Zeigefinger auf den Abflussstopfen. Sie führte die Fingerspitze vor die Augen und lächelte.

»Ihr habt recht«, sagte sie.

»Moment – wie bitte?« Suzie war verblüfft. »Du weißt, wo sie ihr Olivenöl aufbewahren?«

»Genau.«

»Aber wie das? Du hast nicht mal eine Schranktür aufgemacht!«

Becks ging zur Rückwand der Küche und zeigte auf einen kleinen Aluminiumbehälter mit einer Tülle an der Seite und einem Drückkolben an der anderen. Er sah aus wie ein altmodischer Zerstäuber, um Pflanzen zu befeuchten, und der Eindruck wurde dadurch verstärkt, dass er neben einer alten gläsernen Vase mit Sonnenblumen im Regal stand.

»Ihr Olivenöl ist in dieser Dose«, sagte sie und griff danach.

»Nicht anfassen!«, rief Judith und eilte zu ihrer Freundin. »Wir müssen sie auf Fingerabdrücke untersuchen.«

»Aber woher willst du das wissen?«, fragte Suzie. »Es ist kein Etikett drauf, und du kannst nicht reingucken.«

»Da ist Olivenöl drin, keine Frage«, sagte Becks.

»Aber es sieht aus wie eine Sprühdose zum Blumenwässern.«

»Das sind Trockenblumen, die brauchen kein Wasser.«

»Aber wie hast du das Ding überhaupt entdeckt, quer durch die Küche?«

»Habe ich ja gar nicht«, sagte Becks. »Jedenfalls nicht gleich. Aber ich habe gesehen, dass die Arbeitsfläche aus Corian ist.«

»Woraus?«, fragte Suzie.

»Der Haushalt hat Arbeitsflächen aus Corian. Das ist wirklich ein Wundermaterial. Es wird in verschieden großen Abschnitten hergestellt, die dann von den Monteuren zusammengeschmolzen und abgeschliffen werden, das ist wirklich großartig anzuschauen – und so viel billiger als Marmor. Aber das Material«, Becks merkte, dass ihr Publikum nicht ganz so interessiert an Arbeitsflächenoptionen war wie sie, »hat eine Schwäche. Man muss immer ein Schneidbrett benutzen. Wenn man direkt etwas auf einer Corian-Oberfläche schneidet, hinterlässt man feine Risse. Und als ich eben über die Oberfläche geschaut habe, konnte ich Messerspuren mit leicht grüner Färbung erkennen.«

Becks ging wieder zu der Arbeitsinsel, in der die Herdfläche eingelassen war. Als Suzie ganz genau hinschaute, konnte sie auch ganz leichte Kratzer erkennen, wo ein Messer in die Oberfläche geschnitten hatte. Und tatsächlich, diese ganz flachen Spuren waren schwach grün getönt.

»Diese Kratzer hast du gesehen?«, fragte Suzie.

»Fast gleich, als ich in die Küche gekommen bin.«

»Aber wie beweisen Kratzer auf einer Arbeitsfläche, dass eine Metalldose am anderen Ende der Küche Olivenöl enthält?«

»Also, das ist leicht«, sagte Becks, ging zur Spüle und zeigte auf das Abtropfgitter, wo eine Käsereibe neben einem glänzenden Glasbehälter mit Klingen darin lag. »Diese Nussmühle für die Küchenmaschine ist frisch abgewaschen. So auch diese Käsereibe – die man nur für den härtesten Parmesan benutzt. Da habe ich mir gedacht: Wofür würde man erst etwas hacken, was das Messer grün färbt, dann etwas mit der Nussmühle klein mahlen, dazu geriebenen Parmesan? Die Antwort liegt natürlich auf der Hand.«

Die beiden anderen Frauen schauten einander an und hatten keine Ahnung.

»Frisches Pesto«, sagte Becks. »Basilikum und Pinienkerne.«

»Natürlich!«, sagte Judith, die ein Lachen kaum unterdrücken konnte. »Frisches Pesto. Das war auch mein erster Gedanke.«

»Und als ich dann im Abflusssieb einen einzelnen Pinienkern fand, wusste ich, dass ich richtiglag – und dass es hier auch irgendwo Olivenöl geben muss, weil man das für Pesto braucht. Und dass es nicht an offensichtlicher Stelle stehen würde, denn die hattet ihr alle schon abgesucht. Also habe ich nach der Küchenmaschine gesucht und sie am anderen Ende des Raums entdeckt. Und auf dem kleinen Regal darüber stehen diese Blumen, aber eben auch eine Metalldose. Was mich auf den Gedanken brachte, dass zwar auf dieser Seite das Basilikum gehackt und der Käse gerieben wurde, aber dort in der Maschine das Pesto püriert wurde. Das Öl muss in der Metalldose sein. Ganz einfache Schlussfolgerungen.«

Judith und Suzie starrten Becks staunend an.

»Solche Fähigkeiten müssen sich doch irgendwie zu Geld machen lassen«, sagte Suzie.

Judith schnappte sich ein Paar gelbe Gummihandschuhe, das über den Wasserhähnen hing, und zog sie über. Dann wühlte sie in einer Schublade herum, bis sie ein Fischmesser fand, nahm sich einen Untersetzer mit Schloss Windsor darauf vom Tisch und ging auf die Metalldose zu.

»Was machst du?«, fragte Becks.

»Ich bemühe mich, die Tatortspuren nicht zu zerstören.«

Judith hielt den Untersetzer ans Regal, schob das Fischmesser unter die Metalldose und hob sie vorsichtig auf den Stoff.

»Was für ein Tatort?«

»Ganz einfach«, sagte Judith. »Ich glaube, die Person, die ihre Fingerabdrücke auf dieser Dose hinterlassen hat, dürfte wahrscheinlich Sir Peter Bailey ermordet haben.«

Kapitel 6

Tanika verließ gerade Sir Peters Arbeitszimmer, als sie Judith mit Suzie und Becks auf sich zukommen sah. Es sah beinahe so aus, als trüge Judith gelbe Gummihandschuhe und eine kleine Metalldose auf einem Tischuntersetzer vor sich her. Als sie sich trafen, erkannte Tanika: Judith trug tatsächlich gelbe Gummihandschuhe und eine kleine Metalldose auf einem Tischuntersetzer vor sich her.