Mühlenfest. Lenas erster Fall - Karin Ernst - E-Book

Mühlenfest. Lenas erster Fall E-Book

Karin Ernst

3,0

Beschreibung

Grausame Morde im Herzen der Uckermark: Hauptkommissarin Lena Voßberg auf der Jagd nach dem skrupellosen Mörder! Lena Voßberg freut sich auf ihren wohlverdienten Urlaub von der Mordkommission, als ein besorgniserregender Anruf sie erreicht. Im beschaulichen Dorf Raglow wurde nach dem Mühlenfest eine übel zugerichtete männliche Leiche gefunden. Sofort nehmen Lena und ihre Kollegin Mandy Fortunato die Ermittlungen auf. Wer ist das Opfer, und wer ist der Mörder? Steckt Peter Kobs, der spurlos verschwundene Sohn des ortsansässigen Gärtners, hinter dem abscheulichen Verbrechen? Als ein weiterer grausamer Mord geschieht, geraten die Kommissarinnen unter Druck. Können sie den Täter stellen, bevor er erneut zuschlägt? Der spannende Auftakt zur Uckermark-Krimireihe mit Hauptkommissarin Lena Voßberg!

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Elvira2184

Nicht schlecht

Ein Toter auf einem Fest, eine Tote Postbotin und ein Verdächtiger, der sich nicht mehr richtig erinnern kann, was er zur Tatzeit gemacht hat. Die Protagonisten werden sehr gut beschrieben, man kann sie förmlich vor sich sehen. Allerdings wird Mandy als sehr unsympathisch dargestellt, so a la good cop - bad cop. Der Schreibstil ist sehr flüssig und lässt sich eigentlich gut lesen, aber am Anfang zieht sich alles sehr in die Länge, sodass die Spannung immer wieder unterbrochen wird. Deshalb leider nur 3 Sterne. Ich würde aber den zweiten Fall von Lena trotzdem gern lesen, weil ich schon oft Krimis hatte, deren erster Teil etwas langatmig war, aber die folgenden Teile immer besser wurden. Aber wegen des angenehmen Schreibstils kann ich trotzdem empfehlen, ihn mal zu lesen
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Zur Autorin:Karin Ernst, die sich nach dem Studium in Leipzig und jahrelanger Arbeit als Journalistin seit geraumer Zeit dem Schreiben von Krimis und anderer Geschichten widmet, lebt mit ihrer Familie in der Uckermark. Mühlenfest ist der erste Band einer Reihe von Krimis, die hauptsächlich in der Uckermark angesiedelt sind.

Die Lüge aber ist alles Unrechts Quell und Anfang.

(Heinrich Laube, 1806–1884)

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL

KAPITEL

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KAPITEL

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KAPITEL

KAPITEL

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KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

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KAPITEL

1. KAPITEL

Lena rekelte sich und schloss noch für einen Moment die Augen. Jetzt einen Kaffee! Bei diesem Gedanken sprang sie aus dem Bett, lief barfuß in die Küche und setzte Wasser auf.

Nach dem ersten Schluck verspürte sie Lust auf ein Zigarett-chen. Blöd nur, dass sie gerade dabei war, sich das Rauchen abzu-gewöhnen. Zum x-ten Mal übrigens. Und immer war sie dabei so erfolgreich gewesen wie bei der Besteigung des Mount Everest. Falls sie das je versucht hätte.

Um sich abzulenken, trank sie einen weiteren Schluck, schlug ihr Buch auf und begann zu lesen. Sie hatte Zeit, viel Zeit. Heute war ihr erster Urlaubstag. Als sie ein paar Seiten gelesen hatte und Hunger bekam, beschloss sie, sich einen seltenen Luxus zu gönnen. Wenn schon kein Zigarettchen, dann wenigstens ein deftiges Frühstück.

Vorsichtig, um sich nicht am brutzelnden Fett zu verbrennen, schob sie knusprig braune Speckscheiben an den Pfannenrand, schlug Eier in die frei gewordene Mitte und gab Salz und ordentlich Pfeffer darüber.

Doch bevor sie ihr spätes Frühstück aus der Pfanne gleiten lassen konnte, klingelte das Telefon. Verdammte Hacke! Was sollte das denn? Sie hatte Urlaub.

»Ja, bitte!« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie sehr sie sich gestört fühlte.

»Ich weiß, du hast Urlaub«, sprudelte ihre junge Kollegin Mandy Fortunato grußlos heraus. »Aber du musst zur Mühle kommen, zur alten Mühle gleich hinter deinem Dorf. Sofort! Weil, weil …«

»Gib mir mal Freddy«, unterbrach Lena ihre Kollegin, deren zartes, beinahe kindliches Stimmchen schon so manchen darüber hinweggetäuscht hatte, wie hartnäckig die schmächtige junge Frau sein konnte. Aber was wollte sie jetzt von ihr?

Ihr Stellvertreter, Alfred Meichsner, den alle nur Freddy nannten, leitete während ihres Urlaubs das Team. Sollte er doch bitte schön zur Mühle fahren. Sie, Lena, wollte in Ruhe frühstücken. Nach einem ganzen Jahr ohne einen einzigen Urlaubstag hatte sie sich das redlich verdient.

»Geht nicht!«, prustete die seltsam verstörte Mandy ins Telefon. »Freddy hat sich krankgemeldet. Die Haxen gebrochen oder so was. Tut mir wirklich leid, Chefin. Wir brauchen dich hier … weil … Hier ist …«

Urplötzlich brach das Gestammel ab. Lena hörte nur noch Rauschen, dann war die Verbindung unterbrochen.

Verblüfft starrte sie das Telefon an. Es musste doch jeden Augenblick erneut klingeln. Doch das Gerät blieb stumm.

Sie drückte die Kurzwahltaste mit Mandys Handynummer. Niemand meldete sich. Von wegen opulentes Frühstück mit Eiern, Brot und Speck. Irgendwas oder irgendwer funkte ihr dazwischen. Kriminalkommissarin Mandy Fortunato, das Küken in Lenas Team, hatte ganz bestimmt nicht aus Jux und Tollerei angerufen. Doch was sollte das heißen, Freddy hätte sich die Haxen gebrochen? Hatte Hauptkommissar Alfred Meichsner einmal mehr sein Fitness-programm übertrieben? Jeder im Kommissariat wusste, wie fanatisch dieser Mann Sport trieb. Er ließ weder Mountainbiking noch Outdoor-Rafting oder sonst irgendetwas aus, das nur annähernd die Chance bot, sich alle Gräten zu brechen. Offensichtlich hatte er das jetzt geschafft. Na dann, prost Mahlzeit!

Aber was war mit Mandy los? Unschlüssig starrte Lena auf ihr Handy. Automatisch drückte sie die Wahlwiederholung. Nichts!

Wenn sie weiter zögerte, würde sie nur wertvolle Zeit verlieren. Sie musste duschen und sich anziehen. Und zwar pronto!

Hastig streifte sie ihr heiß geliebtes Depeche-Mode-Fanshirt über den Kopf, das sie als Nachthemd trug, seit es gar zu ausgeblichen war.

Nach dem Duschen beäugte sie die Stapel in ihrem Kleiderschrank und entschied sich in Anbetracht des sonnigen Wetters für ein luftiges olivfarbenes Oberteil. Über dem Stuhl im Schlafzimmer hing eine schon etwas abgewetzte, aber immer noch ganz passable Jeans. Dazu passte beinahe alles – ein großer Vorteil, wenn man es eilig hatte. So muss Kleidung sein, fand Lena: praktisch und gut kombinierbar. Zur Sicherheit schnappte sie sich noch ihre geliebte graue Lederjacke. Ein letzter Blick in den Spiegel und los.

Beim Zuziehen der Haustür fiel Lena ein, dass ihr Mini seit dem Vortag in der Angersbacher Werkstatt stand. Der TÜV war abgelaufen und ein, zwei autofreie Tage waren ihr zum Urlaubsanfang ganz recht gewesen. Nun hatte sich die Situation geändert. Sie würde zum Tatort radeln müssen.

Als sie die Garage aufschloss und ihr altes Trekkingbike ins Freie schob, spürte Lena die angespannte Unruhe, die sie bei jedem neuen Fall befiel.

Eilig schwang sie sich in den Sattel. Frühstück und Zigarettchen waren vergessen. Die holprige Dorfstraße entlang radelte sie bis zur Ortsmitte und bog gegenüber dem Gasthof nach links in einen Feldweg ein. Auf knochentrockenem Boden schlängelte sie sich geschickt der dürren Grasnarbe folgend an zahlreichen Schlaglöchern vorbei.

Vor Tagen noch hatte auf den Feldern leuchtend gelber Raps geblüht, ein weithin sichtbares Blütenmeer, das mit der Sonne zu wetteifern schien. Nun ließen sich inmitten der Ölfrüchte, die unscheinbar dem Sommer entgegenreiften, nur noch hier und da gelbe Sprengsel ausmachen. Auch wenn sie heute keinen Blick dafür hatte, Lena liebte die Landschaft der Uckermark. Sanft gewellt, in Hügeln aufragend, in weitläufige Senken gedehnt, zeigte sie sich immer wieder anders und doch gleichbleibend in der friedvollen Gelassenheit, die sie ausstrahlte.

An all das verschwendete Lena jetzt keinen Gedanken. Obwohl sie zu schwitzen begann und zunehmend Mühe hatte, ihr Rad zwischen den Schlaglöchern in der Spur zu halten, trat sie mit aller Kraft in die Pedale. Mandys Anruf ließ ihr keine Ruhe.

Als sie schon den Dachfirst des alten Mühlenhauses aus dicht belaubten Bäumen herausragen sah, kam ihr ein Fahrzeug entgegen. Sie sprang vom Rad, um das Wohnmobilvorbeizulassen, das, einen Bierwagen im Schlepptau, durch die Schlaglöcher rumpelte. Max Lüders rückte ab. Beim Fest rund um die alte Mühle hatte der Gastronom am Vortag durstige Kehlen mit Getränken versorgt.

Auf der Wiese hinter dem Haus hatte eine Band gespielt, an Bierwagen und Grillstand drängten sich mehr Menschen als rund ums ratternde Sägegatter. Heute bot sich ein anderes Bild. Zwischen senfbeschmierten Papptellern und achtlos weggeworfenem Plastik-besteck standen Autos mit blinkendem Blaulicht.

Mit strengem Blick und abwehrender Handbewegung versuchte ein junger Polizist, Lena am Näherkommen zu hindern.

Erst als sie direkt vor ihm vom Rad sprang, erkannte er sie und stotterte: »Oh, äh, Frau Hauptkommissarin, heute so sportlich unterwegs? Sie … äh … Sie werden schon erwartet. Da drinnen …«

Eifrig riss er die grau verwitterte Holztür zur Schneidemühle auf. Doch statt einzutreten, wandte Lena den Kopf, denn genau neben ihr stoppte ein Leichenwagen. In der Fahrerkabine zogen zwei Männer in Schwarz an ihren Zigaretten, als hätten sie alle Zeit der Welt.

Der Polizist stieß die Tür noch ein Stück weiter auf und Lena trat in den halbdunklen Mühlenschuppen, ohne mehr wahrzunehmen, als einen reglosen Schatten irgendwo im Hintergrund. Erst nach einigen Schritten und mehrmaligem Zwinkern erkannte sie Fiete Krollmann, den Gerichtsmediziner. Über etwas gebeugt, das Lena noch nicht sehen konnte, verharrte er regungslos.

»Mandy?« Ihr Schrei ließ ihn herumfahren. Verwundert schüttelte er den Kopf und Lena erfasste das makabre Bild.

Auf dem hölzernen auf Schienen laufenden Schlitten, der dazu diente, Stämme zum Gatter zu transportieren, lag eine menschliche Gestalt. Der Figur nach ein Mann. Ein Mann ohne Gesicht. Zwischen blutverklebten Haarbüscheln, Hautfetzen und Knochensplittern quoll Hirnmasse aus dem eingeschlagenen Schädel. Blut war ins rissige Holz gesickert und zu dunklen, beinahe schwarzen Flecken geronnen. Endlich verstand Lena Mandys Schnaufen und Würgen am Telefon. Die blutjunge Kommissarin hatte den Anblick dieses grausam zugerichteten Mannes nicht ertragen.

Ächzend richtete Krollmann sich auf. Seine Augen, die eben noch konzentriert auf die Leiche gerichtet waren, blitzten Lena entgegen. »Hallo, Lena! Ich dachte, du hättest Urlaub!«

»Willkommen im Klub, ich dachte das nämlich auch, zumindest bis Mandy angerufen hat.« Ohne seinen Blick zu erwidern, sah sie sich um, doch sie konnte ihre Kollegin nirgends entdecken. »Wo ist die Kleine denn abgeblieben?«

»Keine Ahnung.« Der Gerichtsmediziner zuckte mit den Schultern. »Gerade eben war sie noch hier. Aber schön, dich zu sehen, Lena. Auch wenn«, er wies auf den Toten, »der Anlass alles andere als schön ist.«

Schaudernd verschränkte sie die Arme vor der Brust und zog die Schultern zusammen. Sie zwang sich, die blutverkrustet auf-gequollene Masse, die einmal das Gesicht eines Menschen gewesen war, genauer zu betrachten.

»Was ist dir bloß passiert?«, murmelte sie vor sich hin. Sie musste schlucken, um den Kloß im Hals loszuwerden. Dieser brutale Mord, hier am Rande ihres beschaulich ruhigen Dorfes, berührte sie auf ganz besondere Weise. Seit sie denken konnte, kannte sie beinahe jeden im Ort, und nie war in Raglow Schlimmeres passiert als Schlägereien unter Betrunkenen. In diesem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, einen Mörder zu suchen, würde anders sein als alles, was sie bisher getan hatte.

Sie ahnte nicht, wie sehr sie recht behalten sollte.

2. KAPITEL

Das Kind wollte ein Kind sein, so wie jedes andere auch. Ein Kind, das seine Eltern liebte und von ihnen geliebt wurde. Es wollte nicht belogen werden von Menschen, die von ihm verlangten, die Wahrheit zu sagen, weil Lügen etwas sehr Böses war.

Doch wie sollte ein Kind die Wahrheit achten, wenn es tagaus, tagein belogen wurde? Wie sollte es ausgerechnet denen vertrauen, die ihm die Wahrheit vorenthielten, seit es denken konnte?

Das Kind wusste noch nicht, dass die Lüge das Trauma seines Lebens sein würde, der mit Angst gepflasterte Weg in den Abgrund.

***

Die feuchtwarme, von zarten Blättern gefilterte Luft und die langen schnurgerade ausgerichteten Reihen der jungen Pflanzen gaben Nelly ein wenig das Gefühl von Normalität. Am frühen Morgen, noch bevor es richtig hell geworden war, hatte sie die unförmige Kiste mit leeren Plastiktöpfen in den Gang zwischen den Orchideen gezerrt und damit begonnen, Setzlinge umzutopfen. Behutsam klopfte sie Pflanze für Pflanze aus den zu eng gewordenen Gefäßen, setzte sie in größere Töpfe und drückte die Erde sorgfältig an. Obwohl sie wie gewohnt zügig arbeitete und gut vorankam, war sie nicht wirklich bei der Sache. Ständig musste sie an Peter denken, ihren Ehemann, auf den sie die ganze Nacht über vergeblich gewartet hatte. Im Wohnzimmer hatte sie mehrmals den Ton vom Fernseher ausgestellt, weil sie glaubte, das Knarren der Haustür oder Schritte auf der Treppe zu hören. Aber nichts! Niemand öffnete die Tür.

Irgendwann war sie vor dem Fernseher eingeschlafen und erst weit nach Mitternacht mit pochenden Kopfschmerzen aufgewacht. Wie in Trance war sie zum Bett getaumelt, hatte sich ausgezogen und war in einen kurzen, sehr unruhigen Schlaf gefallen.

Als sie bei anbrechendem Tageslicht die Augen öffnete, war das Bett neben ihr immer noch leer. Sie stand auf, brühte sich Kaffee und verbrannte sich beim ersten Schluck die Zunge. Woher hätte sie auch die Geduld nehmen sollen, am Tisch zu sitzen und in aller Ruhe Kaffee zu trinken? Sie musste sich bewegen, bevor sie vor Anspannung zersprang. Also schlich sie auf Strümpfen die Treppe hinunter. Leise, sehr leise, um ihre Schwiegereltern, die im Erdgeschoss schliefen, nicht zu wecken. Erst vor der Haustür war sie in ihre klobigen Gummistiefel geschlüpft. Nur einige schnelle Schritte, dann konnte sie die Tür des Gewächshauses hinter sich zuziehen.

Wie viel Zeit seitdem vergangen war, wusste Nelly nicht. Nachdenklich ließ sie den Blick über die sattgrünen Reihen junger Orchideen schweifen. Sie stellte sich oft vor, welch wunderschöne Blüten diese exotischen Pflanzen einmal treiben würden. Sie arbeitete gern in der Gärtnerei ihres Schwiegervaters. Sie, Nelly, die Krankenschwester, die schon bald nach der Blitzhochzeit in Las Vegas den Beruf gewechselt hatte. Eine Entscheidung, die sie aus dem Bauch heraus getroffen, aber bis heute nicht bereut hatte. Vieles hatte sich geändert in ihrem Leben, seit sie sich in den Patienten aus Zimmer Nummer fünf verliebt hatte und gemeinsam mit Ehemann und Schwiegereltern im efeuberankten Gärtnerhaus lebte.

So ganz nebenbei war sie damit auch ihrem Ex, dem Arzt Jens Thiel, aus dem Weg gegangen. Dass auch er schon bald seinen Job im städtischen Krankenhaus kündigen und in Raglow die Landarztpraxis seines Vaters übernehmen würde, hatte sie damals nicht ahnen können. Manchmal liefen die Dinge eben anders als geplant.

Plötzlich bemerkte Nelly, dass sie beobachtet wurde. An die offene Gewächshaustür gelehnt lugte ihr Schwiegervater mit nachdenklich gerunzelter Stirn zu ihr herein.

»Morgen, Kalle«, rief sie ihm zu und dachte dabei: Bloß nicht losheulen! Sie schnäuzte sich kräftig, schniefte noch einmal kurz, und es gelang ihr, die Tränen wegzublinzeln.

»Morjen, morjen.« Der frühzeitig ergraute Kalle nickte ihr zu. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben kam er langsam herbeigeschlendert.

Als er vor Nelly stehen blieb, las sie die unausgesprochene Frage in seinen Augen. Kalle, ein waschechter Uckermärker, war kein Mann vieler Worte. Eher ein Grübler, wie Nelly längst wusste. Einer, der sich so seine Gedanken machte über alles, was um ihn herum und anderswo in der Welt geschah. Das gefiel ihr. Aber was sollte sie ihm jetzt antworten? So wie sie selbst und ihr Mann Peter war auch Kalle am Vortag auf dem Mühlenfest gewesen. Auch er hatte seinen Sohn nicht davon abhalten können, sich heillos zu betrinken. Aus blinder Eifersucht, die ihm das Hirn vernebelt hatte.

Unwillkürlich seufzte Nelly auf. »Peter war besoffen und ich war blöd.«

Ihr Schwiegervater streifte sie mit einem schwer zu deutenden Blick. Nelly war sich sicher, dass er wusste, wie gedankenlos sie sich gestern aus dem Staub gemacht hatte. Ihr Mann war nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen. Und sie war abgezischt wie eine beleidigte Leberwurst. Ein Vater konnte das nicht gutheißen. Sie konnte es ja selbst nicht.

Doch statt ihr Vorwürfe zu machen, sagte er einfach nur: »Ich hol dir frische Erde, Mädel, du arbeitest ja schneller als der Teufel.«

»Woher willst du wissen, wie der Teufel arbeitet?«, rief Nelly ihm nach und musste trotz ihres Kummers lächeln.

Doch Kalle drehte sich nicht zu ihr um. Unverständliches Gemurmel musste ihr als Antwort reichen.

»Was ist los, Kalle?«, fragte sie, als er mit einer frisch gefüllten Schubkarre zurückkam.

»Was los ist?« Er stellte die Karre im Gang zwischen den Pflanzen ab und sah sie an. »Sag du’s mir, Nelly.«

Mit der Stiefelkuppe scharrte sie festgetretene Erde auf. Kein Wort kam über ihre zusammengepressten Lippen. Doch es war kein trotziges Schweigen. Sie wusste einfach nicht, was sie ihrem Schwiegervater antworten sollte. Dass sie traurig und verletzt war? Und ein schlechtes Gewissen hatte! Das ging nur sie und Peter etwas an. Außerdem wusste Kalle sowieso Bescheid. Schließlich hatte er das Elend auf dem Fest miterlebt.

»Bei euch hängt der Haussegen schief, ich weiß, Nelly. Aber glaub mir, das renkt sich wieder ein. Du musst nur ein bisschen Geduld haben«, hörte sie seine tiefe Stimme dicht neben sich.

Als sie sich wortlos wegdrehte und nach dem nächsten Pflänz-chen griff, packte er sie am Handgelenk und sah ihr direkt in die Augen. »Gönn dir ’ne Pause, Mädel, und mach dich bloß nicht verrückt. Dein Mann ist bald wieder da, du wirst schon sehen. Lass uns erst mal frühstücken. Dann legen wir hier zusammen los, okay?«

Einer plötzlichen Idee folgend zog sie die Hand zurück. »Du musst allein frühstücken. Ich gehe Peter suchen, irgendwo muss der Mistkerl ja stecken.«

»Lass es, Nelly!«, versuchte er, sie zurückzuhalten. »Als Pantoffel-held, der sich von seiner Frau nach Hause zitieren lässt, will mein Sohn ganz bestimmt nicht dastehen.«

Nelly wusste, dass er recht hatte. Aber sie hielt das Warten einfach nicht mehr aus. Sie musste ihren Mann finden. Jetzt! Sofort!

Gärtnermeister Kalle Kobs mochte seine Schwiegertochter. Sehr sogar. Er verstand sie besser als seinen Sohn, den er genau genommen nie wirklich verstanden hatte. Peter war unberechenbar. Dagegen wusste man bei Nelly beinahe immer, woran man war. Auch heute konnte sie ihm nichts vormachen. Wenn sie auch munter tat und sich nicht beklagte, die dunklen Ringe unter ihren geröteten Augen verrieten ihm mehr, als er je fragen würde.

Sie sorgte sich um ihren Mann, der es nicht für nötig hielt, die Nacht im eigenen Bett zu verbringen. Und statt zu jammern oder sich zu beklagen, arbeitete sie still vor sich hin. Nein, eigentlich klotzte sie ran, als hätte sie einen Überraschungsbesuch der Queen vorzubereiten. So war sie eben, seine verlässliche Schwiegertochter.

Kalles Gedanken wanderten zu Peter, seinem Sohn, der eher der Sohn seiner Mutter war, die alles verzieh und alles guthieß, was immer ihr Junge auch anstellte. Mit einer einzigen Ausnahme – Nelly zu heiraten. Doris wollte einfach nicht sehen, wie sehr Peter sich zu seinem Vorteil verändert hatte. Seit die beiden zusammenlebten, trank er kaum mehr als sein Feierabendbier. Sollte sich das jetzt ändern? Verfiel Peter in alte Gewohnheiten und nahm das Lotterleben mit trinkfesten Kumpels wieder auf? Um Himmels willen, nur das nicht! Kalles Augen verengten sich. Er sah seinen Sohn wieder am Bierwagen stehen, sternhagelvoll mit dem Glas herumfuchtelnd. Gestern hatte er sich darüber kaum Gedanken gemacht. Warum auch? Bier und Schnaps gehörten seit ewigen Zeiten dazu, wenn gefeiert wurde, das war auf dem Dorf nicht anders als in der Stadt. Da durfte man ruhig mal über die Stränge schlagen. Alles kein Problem. Doch sein Versuch, den betrunkenen Sohn nach Hause zu lotsen, hatte ihm nur wüste Beschimpfungen eingebracht. Solange sich seine Angetraute mit dem fremden Lackaffen amüsiere, könne er sich auch besaufen, hatte Peter ihn angeblafft.

Also hatte Kalle noch ein wenig mit Volker Bogemühl geschwatzt, seinem tüchtigen Helfer in der Gärtnerei, dem man wegen seiner hageren, geradezu ausgemergelten Gestalt nicht ansah, wie kräftig er zupacken konnte. Das heißt, eigentlich war es eher so gewesen, dass Kalle ab und zu ein Wort – manchmal sogar einen ganzen Satz – von sich gegeben hatte. Und Bogemühl hatte vielsagende Anmerkungen beigesteuert. So was wie: »Hmm, ja.« »Ach so?« »Schon möglich.« Die beiden verstanden sich eben.

Dann war Kalle bereits ein gutes Stück in Richtung Dorf geschlendert, als er hinter sich jemanden schnaufen hörte. Wortlos lief Bogemühl eine Weile neben ihm her. Die roten Dächer der ersten Häuser waren schon in Sicht gewesen, als Bogemühl, vom Laufen außer Atem, hervorstieß. »Ich lad dich ein, Chef.«

»Du lädst mich ein? Nanu, wozu denn?«, gab Kalle zurück, obwohl er genau wusste, was gemeint war, denn die Spatzen pfiffen es schon von den Dächern. Doch es hellte seine Stimmung auf, den Mann, der wieder mal geschwätzig war wie eine Bachforelle, ein wenig auf den Arm zu nehmen.

»Du weißt doch, Chef, wir sind schon so lange verlobt«, brachte Bogemühl einen für seine Verhältnisse langen Satz zustande.

Das wurde ja immer besser! »Wir sind verlobt?« Kalle lachte hell-auf. »Du, das wüsste ich aber.«

»Ach nein, wir beide doch nicht.« Bogemühl kannte seinen Meister zu gut, um nicht mitzulachen. Noch immer leise vor sich hin giggelnd flüsterte er, als würde er ein Geheimnis verraten: »Meine Sonja will heiraten. Jetzt. Und nicht erst, wenn mir die letzten Haare ausgehen, sagt sie.«

»Na, dann beeil dich mal. Viel ist ja nicht mehr drauf auf deinem Schädel.« Kalle konnte es nicht lassen, den sanftmütigen Mann noch ein bisschen auf die Schippe zu nehmen.

Der lächelte nur und nickte Kalle zu. »In vier Wochen läuten die Glocken. Du kommst doch, Chef, oder?«

»Freilich komm ich. Ich werd doch nicht fehlen, wenn mein bester Mann heiratet.«

»Du meinst … hick … hick …« Bogemühl musste eine Pause einlegen, weil er vom ungewohnt vielen Gequassel einen Schluckauf bekam. »Du meinst, Chef, wenn dein einziger Mann heiratet.«

»Ja, so könnte man’s auch sagen.« Kalle schlug ihm auf die Schulter. »Mein bester Mann bist du trotzdem. Und ich komme auf jeden Fall. Muss dir doch beistehen, wenn du dich in Ketten legen lässt.« Die kleine Frotzelei mit dem angehenden Bräutigam heiterte Kalle auf, und das hatte er nach dem Zusammenstoß mit seinem Sohn und in Anbetracht des unweigerlich folgenden Gejammers seiner Frau Doris auch dringend nötig.

Weil nun wirklich alles gesagt war, was es zu sagen gab, gingen die beiden Männer bis zum Gärtnerhaus schweigend nebeneinander her.

Vor der Gartenpforte tippte Bogemühl sich mit zwei Fingern an die Schläfe.

»Nicht vergessen, Chef, in vier Wochen in unserer Kirche.«

Kalle, der sich in Gedanken schon für Doris’ Tiraden gewappnet hatte, nickte.

»Werd ich schon nicht. Außerdem sehen wir uns bis dahin noch tausendmal.« Doch da war Bogemühl schon auf der anderen Straßenseite angelangt.

Als Kalle die Haustür öffnete, hörte er Nelly oben in ihrer Wohnung herumwirtschaften. Sie war schon zu Hause, und sein Sohn gab sich auf der Festwiese aus grundloser Eifersucht die Kante.

Sorgen hatte Kalle sich deshalb nicht gemacht. Die alten Kumpel würden Peter schon irgendwie nach Hause bugsieren. Mit diesem Gedanken war er zu Doris ins Zimmer getreten.

Doch sein Sohn war nicht gekommen. Niemand hatte ihn nach Hause gebracht, und Nelly stand mit verweinten Augen im Gewächshaus und topfte Orchideen um.

3. KAPITEL

Lena hatte schon vieles gesehen in ihrem Beruf. Doch was Menschen einander antun konnten, entsetzte sie immer wieder aufs Neue. Sie beugte sich noch einmal zu dem Toten hinunter und zwang sich, das von brutalen Schlägen zerstörte Gesicht genau anzusehen.

Fiete Krollmann, der sich neben sie gehockt hatte, folgte ihrem Blick.

Zerfetztes Gewebe.

Blutüberkrustete Knochensplitter.

Im Tod erstarrte Augen.

»Da war jemand aber mal richtig wütend, die Schläge sind immer heftiger geworden, sogar als der Mann schon mausetot war.« Kroll-mann seufzte.

Lena musste sich abwenden. Sich in Routine flüchtend spulte sie ab: »Und? Wer ist der Mann? Wo ist die Mordwaffe? Irgendeine Idee?«

Nachdenklich kratzte sich Krollmann am Kinn. »Keine Ahnung, wer er ist, respektive wer er war. So wie er da vor uns liegt, würde ihn die eigene Mutter nicht mehr erkennen. Und die Tatwaffe? Diesmal sucht ihr nicht nach dem berühmten stumpfen Gegenstand. Es muss was Scharfkantiges gewesen sein. Nicht unbedingt spitz, aber scharfkantig. Ich überlege immer noch, was da passen könnte. Auf jeden Fall war der Mann schon nach den ersten Schlägen tot. Wahrscheinlich hätte ein einziger Schlag gereicht. Schweres Schädel-Hirn-Trauma. Alles andere war nur noch Abreagieren, der reinste Blutrausch. Wie gesagt, da hatte jemand seine Wut nicht mehr im Griff.«

»Oder er war stinkbesoffen.« Die kindlich wirkende Piepsstimme kam vom Eingang her. Wie aus dem Nichts tauchte die junge Kommissarin Mandy Fortunato im Mühlenschuppen auf. Blass, die verschränkten Arme vor die Brust gedrückt. Die Jacke aus hellem Leinen ließ ihr ohnehin schon bleiches Gesicht noch fahler wirken.

»Habt ihr Papiere bei ihm gefunden?«, fragte sie beim nächsten wackligen Schritt auf dem unebenen Fußboden, den Blick über den Toten hinweg auf das schmutzige Fenster gerichtet, das nur wenig Licht in den Raum ließ.

»Nicht das kleinste Fitzelchen.« Weiter kam Krollmann nicht.

Mandy begann erneut zu würgen. Die Hand vor den Mund gepresst rannte sie zurück ins Freie.

Verwundert blinzelnd rückte der Gerichtsmediziner die Brille zurecht. »Nanu? Was hat unsere junge Kollegin denn heute?«

»Sag du’s mir, du bist der Doc.«

Seine Brauen schoben sich wulstig zusammen. »Keine Ahnung, das ist doch nicht ihr erster Toter, oder?«

»Sicher nicht, aber vielleicht der Erste, der so übel zugerichtet worden ist.«

Ächzend richtete Krollmann sich auf. »Könnte gut sein, aber als Sensibelchen hat sie entschieden den falschen Beruf, würde ich sagen.«

Lena hielt durch die halb geöffnete Tür nach Mandy Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Nur ihr Würgen und Krächzen verriet, dass sie ganz in der Nähe war.

Krollmann musste es auch hören, tat aber, als bekomme er nichts davon mit. »Höchstens Mitte dreißig«, murmelte er vor sich hin, und Lena begriff, dass er den Toten meinte.

»Wer hat ihn überhaupt gefunden?«, erkundigte sie sich.

»Das war die Frau, die hier im Haus wohnt. Drescher heißt sie, glaub ich. Hätte fast einen Herzkasper bekommen, die Ärmste, als sie ihn heute früh beim Aufräumen entdeckt hat.«

»Kann ich gut verstehen. Und? Hat sie eine Ahnung, wer er sein könnte?«

»Eher nicht. Sie sagt, sie hat sich nicht getraut, genau hinzusehen.«

»Alles andere würde mich auch wundern.« Lena nickte Kroll-mann zu. »Dann sollten wir mal schnellstens rauskriegen, wer der Mann war und wer ihm das angetan hat.«

»Das müsst ihr rausfinden, liebe Lena. Ich kann euch nur sagen, woran er gestorben ist. Und natürlich auch, wann. Ansonsten?« Der hochgewachsene Krollmann schob sein bartloses Kinn vor. »Papiere hab ich in seinen Taschen nicht gefunden. Keinen Ausweis, keinen Führerschein, kein Geld, rein gar nichts. Zerknüllte Papiertaschentücher, mehr war da nicht. Und siehst du, das finde ich eben komisch. Selbst wenn er hier aus dem Dorf war, müsste er doch wenigstens ein bisschen Kleingeld bei sich gehabt haben, für Bier oder so. Aber nix. Kein Cent. Ist doch eigenartig, meinst du nicht auch?«

»Hm!« Lenas Blick glitt über die gekrümmte Gestalt zu ihren Füßen. Der Tote musste einmal ein großer Mann gewesen sein. Groß und sehr schlank. Sein Haar war dunkelblond, soweit sich das unter all dem Blut erkennen ließ. Er trug Jeans und eine grüne Lederjacke mit aufgesetzten Taschen. Diese Taschen, das Auffälligste an seiner ansonsten schlichten Kleidung, waren außergewöhnlich groß und mit bronzefarbenen Schnallen versehen. Die Füße steckten in abgenutzten Turnschuhen.

»Willst du damit sagen, es war ein Raubmord? Er wurde beklaut?«, wandte sie sich an Krollmann.

»Beklaut ja. Aber Raubmord? Dafür hätte man ihn nicht so übel zurichten müssen.«

»Vielleicht hast du nicht gründlich genug gesucht. Bei den vielen Taschen ist leicht was zu übersehen.«

Sein Blick ließ sie stocken. Sie klatschte sich die Hand an die Stirn. »Sorry! Ich weiß doch, du bist Mister Supergenau. Wie konnte ich das nur vergessen?«

»Das muss ich auch sein, du wärst sonst die Erste, die sich beschwert. Auf jeden Fall spricht die Spurenlage für eine Tat im Affekt.«

Lenas Kopfschütteln wirkte ratlos. »Ein Mord hier am Rand der Welt, ausgerechnet in meinem verschlafenen Raglow. Ist das zu glauben?«

»Oh«, Krollmann winkte ab. »Dafür kann ich dir Gründe aufzählen, die so alt sind wie die Welt. Fangen wir an mit Liebe, Hass und der guten alten Eifersucht. Schon der schlaue Goethe wusste, dass sein edel, hilfreich und gut für immer ein Wunschtraum bleiben wird. So ist der Mensch nun mal nicht gestrickt.«

»Du meinst, Gott – oder wer auch immer für diesen irdischen Schlamassel verantwortlich ist – hat nicht gründlich genug nachgedacht bei der Erschaffung der Welt? Und wir müssen jetzt sehen, wie wir mit dem Pfusch klarkommen?«

»Ja, so könnte man das ausdrücken«, stimmte er zu. Kurz schien es, als wollte er noch etwas sagen, doch dann beugte er sich wieder zu dem Toten hinunter. »Der Mann ist, sagen wir mal, ungefähr fünfzehn Stunden tot, plus, minus, du weißt schon. Also ist er, lass mich kurz rechnen, gestern Abend gegen neunzehn Uhr zu Tode gekommen. Auf keinen Fall später.«

Als er schwieg, war Lena nicht gleich klar, was anders war als sonst. Dann ging ihr ein Licht auf. Es war die Stille. Normalerweise summte der Gerichtsmediziner irgendwelche Melodien vor sich hin, meistens aus Opern und meistens falsch. Wenn man ihn darauf ansprach, gab er ungerührt zurück: »Wenn ich singen könnte, wäre ich Tenor geworden und nicht Leichendoktor. So, wie’s ist, passt es prima. Keiner von meinen Patienten hat sich je beschwert.« Dann pflegte er weiterzusummen, am liebsten Verdis Gefangenenchor.

Heute sah er still auf den Toten. Es dauerte ein Weilchen, ehe er erneut zu sprechen begann. »Jedenfalls wurde er hier getötet, so viel ist sicher. Du siehst das viele Blut ja selbst. Auch die Leichenflecken sind lagegerecht. Wie gesagt, die meisten Schläge haben ihn post mortem getroffen.« Er holte tief Luft. »Alles andere wie immer.«

»Ich weiß. Wenn du ihn auf dem Tisch hattest. Allerdings frag ich mich …« Lena zögerte kurz. »Ich frag mich, warum niemand was bemerkt hat. Mindestens hundert Leute sind hier gestern rum-gesprungen und keiner will was mitbekommen haben? So wuchtige Schläge! Das geht doch nicht in aller Stille ab.«

»Sollte man meinen.« Krollmann nickte. »Aber nach sechs war nur noch am Bierwagen so richtig was los, und der stand drüben auf der anderen Seite der Wiese. Leise waren die Leute da auch nicht gerade. Von Musik und Alkohol mal ganz abgesehen.«

»Woher willst du das denn wissen?«

»Da staunst du, was?« Der sonst so selbstsichere Gerichtsmediziner lächelte verlegen. »Erstens stand der Wagen heute früh noch auf demselben Fleck. Und zweitens dachte ich gestern so gegen sechs selbst darüber nach, mich zu verkrümeln oder mir noch ein Bierchen zu gönnen.«

Verblüfft fuhr sich Lena durchs fuchsrote Haar. »Sag bloß, du warst auf unserem Mühlenfest?«

»Ja, warum denn nicht?« Sein Blick suchte ihre smaragdgrünen Augen. »Vielleicht habe ich gehofft, hier eine gewisse Hauptkommissarin zu treffen. Schließlich ist das hier dein Dorf.«

»Ach so? Du wirst staunen, ich war tatsächlich hier, wenn auch nur ganz kurz. Nachmittags zu Kaffee und dicker Torte. Unsere Dorffrauen backen himmlisch.«

»Du und dicke Torte?« Krollmanns Lippen zuckten amüsiert. »Du verkohlst mich, oder?« Er deutete nach draußen, wo er Mandy vermutete. »Ihr beide steht doch eher auf Körnchen und Salatblätt-chen, so mehr in Richtung Vogelfutter.«

Lena dachte an ihr geplantes Frühstück mit Eiern, Brot und Speck. Ihr Kichern nahm sich seltsam aus in dieser düsteren Umgebung. »Da kannst du mal sehen, wie schlecht du uns Frauen kennst.«

»Dann hilf mir, das zu ändern.«

Sie wollte ihm eine flapsige Antwort entgegenschleudern, doch etwas in seiner Miene hielt sie zurück. Als hätte sie seine Worte nicht gehört, ging sie suchend um das Sägegatter herum, den Blick nicht auf die Leiche, sondern auf den von Sägespänen übersäten Fußboden gerichtet. »Hier muss doch was Scharfkantiges rum-liegen«, murmelte sie vor sich hin und begann, im Spänehaufen neben dem Gatter zu wühlen.

»Das kannst du vergessen«, hörte sie Krollmanns Stimme hinter sich. »Da war Haubi schon dran. Soviel ich weiß, hat er nur eine Brille mit zertretenen Gläsern gefunden und allerhand Unrat, was die Leute eben so fallen lassen.«

Lena zuckte mit den Schultern, rieb die staubigen Hände an ihrer Jeans ab und sah sich im halbdunklen Raum um. Neben einer Holzleiter, deren mittlere Sprossen fehlten, lehnte ein vorsintflutlicher Besen aus trockenen Haselruten, zusammengebunden mit einer dicken Schnur.

»Es muss aber was da sein. Womit auch immer der Täter zugeschlagen hat, das Ding mit nach draußen zu nehmen, wäre viel zu gefährlich gewesen«, beharrte Lena und scharrte mit der Schuhspitze in den Spänen herum.

Krollmann räusperte sich. Zu ihrer Überraschung sagte er plötzlich: »Was ich dich immer schon mal fragen wollte: Warum treffen wir uns eigentlich nur, wenn eine Leiche vor uns liegt?«

Auch wenn seine Worte beiläufig klangen, der gespannte Unterton war Lena nicht entgangen.

»Vielleicht, weil das unser Job ist, Herr Doktor Krollmann«, wich sie einer ehrlichen Antwort aus. Sonst hätte sie zugeben müssen, dass ihre letzte gescheiterte Beziehung noch zu sehr an ihr nagte, als dass sie überhaupt in Erwägung zog, sich mit einem Mann zu treffen. Der Typ, den sie geliebt hatte, war ihr Rostocker Chef gewesen. Wobei das hatte nicht ganz stimmte. Sie bekam den Mann nicht raus aus Kopf und Herz. Sie konnte einfach nichts dagegen tun, dass sie viel zu oft an ihn dachte.

Krollmanns Hartnäckigkeit überraschte sie dann doch. »Unser Job? Oh, sorry, ich vergaß!«, stieß er mit erhobenen Händen hervor. »Aber vielleicht sollten wir uns auch mal sehen, wenn wir nicht arbeiten und alle schön friedlich am Leben bleiben. Wäre doch keine schlechte Idee, oder, Lena? Was meinst du?«

Sein flüchtiges Lächeln ließ ihn jünger erscheinen, und mit einem Mal konnte Lena sich vorstellen, wie er als Halbwüchsiger ausgesehen haben musste.

Während sie noch über eine Antwort nachdachte, hörte sie ein leises Kichern. Sie drehte sich um und entdeckte Konrad Hauben-reißer, den Chef der Angersbacher Kriminaltechnik, der hinter ihr stand und gerade dabei war, die Bilder auf dem kleinen Display seiner Kamera zu checken. Lena, die sein Hereinkommen nicht bemerkt hatte, fuhr ihn barsch an: »Mach deine Arbeit, Haubi, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Der korpulente, für seine überbordende Gutmütigkeit bekannte Mann, den nur noch wenige Monate von der Pensionierung trennten, legte salutierend die Fingerspitzen an die Schläfe. »Zu Befehl, Frau Hauptkommissarin. Bin gerade fertig geworden.«

Mist, verdammter! Lena ärgerte sich über sich selbst und über Krollmann, dem sie die Schuld an ihrem Fauxpas gab.

Warum musste er sie mit seiner Fragerei auch so durcheinander-bringen? Und warum hatte sie wieder mal ihre Klappe nicht halten können? Haubi war genial als Kriminaltechniker. Er arbeitete zügig und effizient. Für Dinge, die irgendwo versteckt sein konnten, hatte er einen sechsten Sinn und manchmal den siebten noch dazu.

Wenn er nichts gefunden hatte, dann lag in diesem Mühlen-schuppen auch keine Tatwaffe oder sonst irgendetwas herum, das zu finden sich lohnte. Sie wollte ihm, bevor er ging, schnell noch etwas Nettes zurufen, doch er hatte seine Kamera schon eingepackt und hob zum Abschied grüßend die Hand.

»Bis dann, Lena. Wir reden weiter, wenn der Doc mit dem Mann durch ist oder wenn ich was Neues habe. Tut mir übrigens leid wegen deines Urlaubs.«

Sie nickte und rief ihm betont freundlich nach: »Na dann bis gleich, Haubi!« Doch das schien er schon nicht mehr zu hören.

Fiete Krollmann hielt den Blick noch immer auf Lena gerichtet. »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, erinnerte er mit sanfter Stimme.

Gab der Mann denn nie auf? »Welche Frage genau meinst du?«

»Lass die Spielchen, Lena. Du weißt, was ich meine.«

»Ach, wirklich, ist das so?« Lena wusste selbst nicht, warum sie sich zickiger anstellte als jeder Teenager. Das war doch sonst nicht ihre Art. Dachte sie jedenfalls.

Mit einer Geduld, die sie ihm niemals zugetraut hätte, wiederholte er: »Ich habe dich gefragt, ob wir uns vielleicht mal sehen können, wenn niemand gestorben ist und alle friedlich ihrer Wege gehen. Wir könnten ja …«

»Zusammen Torte essen?«, fiel sie ihm ins Wort. Verflixt! Warum konnte sie eine ernst gemeinte Frage eines durchaus ernst zu nehmenden Mannes nicht wenigstens halbwegs ernsthaft beantworten?

Zu ihrem Erstaunen strahlte er sie an. »Aber klar doch, ich liebe Torte. Sehr sogar!«

»Das war ein Joke, Krollmann. Glaub mir. Job und Privates zu vermischen, bringt nur Ärger.« Ich hab da so meine Erfahrungen, wäre ihr beinahe noch herausgerutscht, doch sie konnte sich gerade so beherrschen. Ihr Verhältnis mit Dirk Landgraf, ihrem Chef bei der Rostocker Kripo, ging diesen Mann nun wirklich nichts an. Und schon gar nicht musste er wissen, dass ihr Geliebter verheiratet und Vater von Zwillingen im Vorschulalter war.

Doch im Augenblick, so schien es, wollte Krollmann überhaupt nichts mehr von ihr wissen. Er klang jetzt deutlich beleidigt. »Wenn du so denkst, liebe Lena, dann wollen wir mal nix vermischen.«

Bingo! Jetzt hatte sie es geschafft, auch ihn zu verärgern. Das gelang ihr heute wirklich spielend, was bestimmt daran lag, dass sie eigentlich gar nicht hier sein sollte. Sie müsste gemütlich unter ihrem Nussbaum liegen und lesen, wie man das im Urlaub eben so machte.

Trotz Krollmanns enttäuschter Miene fragte sie: »Deinen Bericht krieg ich heute noch, oder?«

Augenblicklich fand er seinen gewohnt ironischen Tonfall wieder. »Aber klar doch, ich würde mich sonst geradezu langweilen.«

Lena atmete tief durch. »Gut, ich warte einfach, bis du dich meldest, in Ordnung?«

»Ohne mich zu drängen? Das wäre ja mal was ganz Neues.« Ein typisches Krollmann-Grinsen, halb jungenhaft, halb wehmütig, huschte über sein Gesicht. »Man sieht sich«, grüßte er und stapfte in Richtung Parkplatz davon.

Nach den ersten Schritten drehte er sich um. »Kannst es dir ja noch mal durch den Kopf gehen lassen, mein Angebot steht jedenfalls.«

»Wohl eher nicht«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Mann, der nicht wissen konnte, warum sie ihren Arbeitsplatz in Rostock so fluchtartig verlassen hatte. Jeder in ihrer Angersbacher Dienststelle glaubte, sie sei wegen des von der Großmutter geerbten Hauses in ihren Heimatort Raglow zurückgekehrt. Immerhin lag das Dörfchen nur knapp dreißig Kilometer von Angersbach entfernt. Der halbstündige Weg zur Arbeit war geradezu ein Klacks.

Niemand in ihrem neuen Team wusste von Dirk Landgraf, den sie vergessen wollte. Vergessen musste! Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten, sich mit dem zufriedenzugeben, was neben Beruf und Familie in Dirks Leben für sie übrigblieb. Nach dieser Erfahrung hatte sie die Nase von Männern erst einmal gestrichen voll. Basta!

Lena sah Krollmann zu, wie er seine schwere Tasche ins Auto wuchtete. Ob sie es wollte oder nicht, sie musste zugeben, der Mann konnte sich sehen lassen. Er war sportlich und hatte kein Gramm zu viel auf den Rippen. Die Farbe seiner Haare erinnerte sie an ein reifes Kornfeld. Seine Kleidung, darauf legte er großen Wert, war von guter Qualität, und sie musste bequem sein. Perfekt sitzende Jacketts hatten es ihm angetan, dazu Jeans, teure italienische Schuhe und am liebsten Kaschmirpullover. Seine Art, sich zu kleiden, hatte ihr von Anfang an gefallen. Krollmann bewies Geschmack, was bei Männern nicht unbedingt selbstverständlich war.

Nun allein im halbdunklen Schuppen gestattete sich Lena einen hörbaren Seufzer. Was für ein Tag! Urlaub, Liegestuhl, am Abend ein schönes Glas Rotwein! So hätte es sein sollen. Stattdessen ein Toter mit zerschmettertem Schädel. Schwärzliches Blut, getrocknet in verwittertem Holz. Sie schaute durch den Türspalt und sah Mandy an Krollmanns Cabrio gelehnt mit beiden Händen gestikulieren.

Wieso fährt der Mann nicht einfach los? Was haben die beiden da draußen noch zu bekakeln? Jetzt kicherte Mandy auch noch wie ein alberner Backfisch. Flirtet sie etwa mit ihm? Das sähe ihr ähnlich. Na wenn schon! Was sollte ich dagegen haben? Natürlich nichts. Gar nichts!

Aber das hier war ein Tatort. Sie hatten einen Fall zu lösen. Darauf sollten sich die beiden da draußen besinnen und nicht noch lange herumpalavern.

Endlich heulte der Motor auf und Krollmanns BMW rollte über den holprigen Feldweg. Lena sah Mandy grüßend die Hand heben, dann verebbte das Motorengeräusch in der weiten uckermärkischen Landschaft.

Nur wenige Schritte von Mandy entfernt schwatzten die beiden Männer in Schwarz, jeder mit einer Zigarette in der Hand. Lena sog die Luft tief ein, ihre Rechte fuhr automatisch in das Seitenfach ihrer Umhängetasche, in dem gewöhnlich ihre Zigaretten steckten. Aber nichts! Die letzte halb leere Packung lag zu Hause im Mülleimer. Mist! Nein, gut so! Lena atmete durch die Nase, meinte Rauch in der Kehle zu spüren, und für einen winzigen Augenblick piesackte sie der Gedanke, die Männer in Schwarz um eine Zigarette anzu-schnorren. Was natürlich keine Option war. Diesmal würde sie es schaffen. Und Mandy sollte flirten, mit wem sie wollte, das interessierte sie wie die letzte Wasserstandsmeldung aus der Sahara.

Lena wusste selbst nicht, warum ihr ausgerechnet jetzt die Gespräche mit Krollmanns Sekretärin in den Sinn kamen. Ab und zu setzte sie sich, rein zufällig natürlich, in der Kantine neben Renate Fenske. Die Sekretärin der Gerichtsmedizin plauderte gern. Am liebsten über ihren Chef. Jeder in der Dienststelle wusste, wie verschossen die Arme in ihn war. Über ihn zu reden, war ihr Ersatz für wirkliche Nähe. Sie hatte Lena auch von Krollmanns Frau erzählt, die zwei Jahre nach der Hochzeit an Krebs gestorben war. Seit ihrem Tod lebte er allein in einer geerbten Villa am Stadtrand. Seine Eltern hatte er schon während des Studiums verloren. Die Nachricht von ihrem Unfall erreichte ihn unmittelbar nach einer Prüfung auf dem Weg zurück in seine Studentenbude. Er hatte den nächsten Zug nach Hause genommen und war doch zu spät gekommen.

Verflixt! Warum denke ich jetzt eigentlich an Krollmann?

Sie wollte nicht über ihn nachgrübeln. Sie mochte ihn. Mehr nicht. Fertig!

Draußen vor der Tür traten die Männer in Schwarz ihre Zigaretten aus. Ruckartig stieß Lena die knarrende Tür vollends auf, trat blinzelnd ins Freie hinaus und sah Mandy auf sich zukommen. Auf Zehenspitzen, als würde sie fürs Ballett proben, lief die junge Frau über die Wiese. Bei jedem unbedachten Schritt sanken ihre Absätze tief in den Boden ein. Wann nahm die Frau endlich Vernunft an und kaufte sich praktisches Schuhwerk, wie es jeder vernünftige Mensch trug? Aber nein, Mandy liebte High Heels. Bevor sie Lena erreichte, rief sie betont munter: »Bin gleich da, Chefin.« Ihr von kurzen braunen Locken umrahmtes Gesicht war noch immer auffallend blass. Im selben Moment, in dem ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, sprach Lena ihn auch schon aus. »Meine liebe Kollegin, du bist schwanger.«

»Fang du nicht auch noch mit dem Blödsinn an!«

»Wieso auch?«

»Der Doc hat mir gerade empfohlen, demnächst im Innendienst zu bleiben. Wie kommt ihr bloß alle auf diesen Quatsch?«

»Weil du dir schon den ganzen Morgen die Seele aus dem Leib kotzt.«

»Red mir kein Kind ein, Chefin. Ich muss was Falsches gegessen haben. Und dann noch diese Hitze, die konnte ich noch nie ab.«

»Welche Hitze genau meinst du?« Lena musterte ihre junge Kollegin. In kurzem, knallengem Bleistiftrock und sommerlichem Bla-zer, unter dem sie nur ein dünnes Shirt trug, sah sie eher aus, als würde sie frieren. »Ja, klar, die Hitze ist schuld, und die Erde ist ’ne Scheibe, weiß doch jeder.«

»Hör auf, Lena, wir müssen ins Haus, da drinnen warten sie schon auf uns.« In Mandys piepsiger Stimme schwang ein Anflug von Panik mit.

»Wer wartet wo auf uns?«

Aus ihrer vollgestopften Tasche zog Mandy einen zerknautschten Notizblock und begann, emsig zu blättern. »Ach, hier hab ich’s ja schon!« Triumphierend wedelte sie mit ihrem Block vor Lenas Nase herum. »Aaalso!« Sie kniff die Augen zusammen, weil es ihr schwer-fiel, die eigene Kritzelschrift zu entziffern. »Da wären zunächst einmal die Besitzer des Anwesens, Herr Oberwichtig und Gattin. Wahrscheinlich kennst du die beiden. Du wohnst ja hier im Dorf.«

»Herr Oberwichtig und Gattin? Hört sich nicht gerade nett an, stimmt aber.« Lena überlegte kurz, bevor sie nachschob: »Vor ’nem halben Jahr oder so sind die beiden hergezogen. Seitdem laden sie zu Seminaren und Workshops ein. Und auch Leute, die sich einfach nur erholen wollen. ›Kultur meets Natur‹ lautet ihr Slogan im Internet. Kannst du nachlesen, wenn du Lust hast.«

»Bloß nicht.« Geradezu erschrocken winkte Mandy ab. »Der Hausherr hat mir alles schon haarklein verklickert. Ich kenne jetzt sogar die Preise, die sie nehmen. Aber was ich eigentlich sagen wollte … Die Leute heißen Drescher, Hans und Lilo Drescher. Beide sind pensionierte Lehrer. Sie gibt kaum einen Mucks von sich. Er hört sich gern reden. Und dann hätten wir noch zwei Männer und zwei Frauen, die sich hier zu einer Art Schreibseminar versammelt haben.«

»Davon hab ich gehört.«

»Dachte ich mir schon. Als ich heute früh hier ankam, stand die ganze Truppe vor dem Haus rum. In den Schuppen hat sich keiner mehr getraut. Dann hab ich dich angerufen, weil Freddy, na, das weißt du ja …«

»Schon klar, er hat sich die Haxen gebrochen.« Lena nickte hinüber zum Haus. »Lass uns reingehen, die Herrschaften warten bestimmt nicht gern.«

Es juckte Lena in den Fingern, Mandy den Notizblock aus der Hand zu reißen, die mit gefurchter Stirn ihr Gekritzel entzifferte und erklärte: »In diesem Seminar geht es um Krimis. Wie überaus passend.« Dann endlich stopfte sie ihren Block in die Tasche zurück und setzte sich in Bewegung. Während sie zum rot geklinkerten Wohnhaus hinüberliefen, trugen die Männer in Schwarz den Toten zum Auto.

»Armer Kerl«, murmelte Lena. Sie blieb stehen, um auf Mandy zu warten, die auf dem weichen unebenen Boden Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.

Angenehme Kühle empfing die Kommissarinnen, als sie in einen langen mit schwarzen und weißen Fliesen schachbrettartig ausgelegten Flur traten. Von den Wänden blätterte gelbgrüne Ölfarbe ab. Und etliche Fliesen waren rissig oder an den Kanten abgestoßen. So ganz fertig sind die neuen Besitzer mit ihren Renovierungsarbeiten wohl doch noch nicht, dachte Lena nach den ersten Schritten auf dem zwar schadhaften, aber blitzsauber geputzten Boden. Sie lauschte kurz, dann steuerte sie auf die Stimmen zu, die aus einem der Zimmer am Ende des Korridors drangen. Wie von Mandy angekündigt waren sechs Menschen im geräumigen Wohnzimmer versammelt, drei Frauen und drei Männer. Der Älteste von ihnen, ein Mann mit dunklem Haarkranz um den kahlen Schädel, schien der Hausherr zu sein. So viele gute Eigenschaften dieser Mann auch haben mochte, Geduld gehörte nicht dazu. Seine Stimme erinnerte Lena an ihren Ausbilder auf dem Sportplatz der Polizeischule.

»Es wurde uns nahegelegt, hier auf Sie zu warten, meine Damen. Uns derart lange festzuhalten, ist völlig inakzeptabel«, polterte er bärbeißig los, als Lena und Mandy ins Zimmer traten. Fahrig an der bordeauxrot gepunkteten Fliege zupfend, die seinen Kragen zierte, funkelte er die Kommissarinnen an. Sein Gesicht nahm die Farbe der roten Pünktchen an, was ihn nicht daran hinderte, weiter auf-zutrumpfen. »So kann man nun wirklich nicht mit uns umspringen, schon gar nicht im eigenen Haus. Vor uns liegt noch jede Menge Arbeit, wie Sie sich wohl denken können.«

Vor uns auch, dachte Lena und sah sich den aufgebrachten Mann genauer an. Zu Blazer, Fliege und weißem Hemd trug er eine schwarze Hose mit exakter Bügelfalte.

Ehe er weiter drauflospoltern konnte, brachte sie ihn mit einem honigsüßen Lächeln aus dem Konzept. »Sicher liegt es auch in Ihrem Interesse, den Todesfall in Ihrem eigenen Haus so schnell wie möglich aufzuklären.«

»Na dann, bitte sehr. Worauf warten Sie noch?«, schnarrte er, noch immer verschnupft. »Sie leiten diese Untersuchung? Frau … äh …?«

»Voßberg. Kriminalhauptkommissarin Lena Voßberg. Meine Kollegin, Kriminalkommissarin Fortunato, kennen Sie ja schon.«

Der Hausherr nickte gnädig.

»Um es kurz zu machen«, fuhr Lena fort, »ist Ihnen gestern etwas aufgefallen, das mit dem Tod dieses Mannes zu tun haben könnte?«

Schweigend sahen die Hobbyautoren auf den mit Papieren beladenen Tisch.

Drescher, jetzt ganz Mann von Welt, deutete eine Verbeugung an. »Vielleicht sollte ich erst einmal alle Anwesenden vorstellen. Wie Sie sicher wissen, gehört dieses Anwesen seit Kurzem mir und meiner lieben Frau Lilo.«

Die liebe Frau Lilo straffte sich, was Drescher ein zufriedenes Lächeln entlockte. Beinahe schon freundlich gab er kund: »Natürlich werden wir uns bemühen, der Polizei zu helfen, soweit es in unseren Kräften steht, Frau Hauptkommissarin Voßberg.« Sein Blick streifte die liebe Frau Lilo, die sich beeilte, eifrig zu nicken.