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Ein scharfzüngiger und dabei höchst unterhaltsamer Roman über die Absturz-Ängste der Mittelschicht von Karin Ernst für die Leser von Yasmina Reza ("Der Gott des Gemetzels") - intelligente Unterhaltung mit gesellschaftlichem Hintergrund Claire und ihr Mann Niko glauben, es geschafft zu haben. Sie genießen finanzielle Unabhängigkeit, bewohnen ein wunderbares Haus in einer beliebten Großstadt, sehen blendend aus und sind gesund. Gerade von einem langjährigen Aufenthalt in den USA nach Deutschland zurückgekehrt, führen sie voller Stolz ihren wohlgeratenen Nachwuchs vor. Denn natürlich haben sie zwei großartige und begabte Kinder, denen der Erfolg quasi in die Wiege gelegt wurde. Cordelia, die Ältere, ist eine talentierte Pianistin, vor allem aber ruhen die Hoffnungen auf dem jüngeren Sohn Raffi, der sich schon als Dreijähriger Lesen und Schreiben beigebracht hat und von dem alle Großes erwarten. Doch mit Raffis Schuleintritt erweisen sich sämtliche Hoffnungen als reine Fantasie, und es beginnt eine wahre Tour de Force für die Familie…
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Seitenzahl: 543
Karin Ernst
Überflieger
Roman
Knaur e-books
Claire und ihr Mann Niko glauben, es geschafft zu haben. Sie genießen finanzielle Unabhängigkeit, bewohnen ein wunderbares Haus in einer beliebten Großstadt, sehen blendend aus und sind gesund. Gerade von einem langjährigen Aufenthalt in den USA nach Deutschland zurückgekehrt, führen sie voller Stolz ihren wohlgeratenen Nachwuchs vor. Denn natürlich haben sie zwei großartige und begabte Kinder, denen der Erfolg quasi in die Wiege gelegt wurde.
Cordelia, die Ältere, ist eine talentierte Pianistin, vor allem aber ruhen die Hoffnungen auf dem jüngeren Sohn Raffi, der sich schon als Dreijähriger Lesen und Schreiben beigebracht hat und von dem alle Großes erwarten. Doch mit Raffis Schuleintritt erweisen sich sämtliche Hoffnungen als reine Fantasie, und für die Familie beginnt eine wahre Tour de Force ….
»Wa’umh hat der Junghe einh Ba-hath?«
Die Frage war völlig berechtigt, und alle lachten, als Heinrich sie laut herausbrüllte. Heinrich war der siebenjährige Sohn der Familie Hullemann; der Junge mit dem Bart war Raffael von Koppenstein, genannt Raffi, der gerade an der Hand seiner Mutter Claire durch die offen stehende Tür ins Haus der Hullemanns hineinmarschiert war: Die Hullemanns hatten ihre alten Freunde, die von Koppensteins, zum Essen eingeladen.
Heinrich Hullemann war auffällig groß und kräftig für sein Alter – so groß und kräftig, dass seine Eltern dazu übergegangen waren, seine Mahlzeiten zu rationieren und bestimmte, besonders kalorienhaltige Lebensmittel und Getränke vollständig aus ihrem Haushalt zu verbannen. Seine Stimme war sehr laut. Er brüllte mehr, als dass er sprach, was damit zusammenhing, dass er seit seinem ersten Lebensjahr an einem hartnäckigen Dauerschnupfen mit beidseitigen Paukenergüssen litt und deswegen schlecht hörte. Er musste schreien, um sich selbst zu verstehen. Wenn er mit seiner Schwester Lene im Garten spielte, konnte man ihn in der ganzen Siedlung hören; die Nachbarschaft war durch das Gebrüll, das seine normale Sprechstimme darstellte, immer über seinen Aufenthaltsort informiert.
Dauerschnupfen und Paukenergüsse hatten sich bisher allen Behandlungsversuchen widersetzt, obwohl Heinrich auf Anweisung seines Vaters, eines schwer arbeitenden, von der vielen Arbeit ganz ausgelaugten Oberarztes, täglich seine Übungen mit dem »Nasenballon« machte. Das war ein Luftballon, in dessen Öffnung man ein speziell dafür vorgesehenes Röhrchen schob, das man dann in ein Nasenloch steckte. Wenn man das andere Nasenloch zuhielt, konnte man den Ballon durch das Röhrchen hindurch mit der Nase aufblasen. Was dabei außer Luft noch alles aus Heinrichs Nasenlöchern herauskam, war unbeschreiblich, und das Röhrchen bedurfte täglich gründlicher Reinigung und Desinfektion. Zur Belohnung durfte sich Heinrich nach jeder erfolgreichen Sitzung mit dem Nasenballon die sogenannte »Sendung« auf dem iPad ansehen – eine Folge der Sendung mit der Maus nämlich, die Tinchen, seine Mutter, für pädagogisch besonders wertvoll hielt. Heinrich hatte schon Hunderte von »Sendungen« konsumiert; die Rotznase und die Schwerhörigkeit waren ihm geblieben.
Es gab auch noch andere, schwerer zu greifende und zu deutende Probleme, denen die Hullemanns seit Jahren mit der Hilfe von Ergotherapeutinnen, Logo- und Motopädinnen zu Leibe zu rücken versuchten, und vielleicht arbeitete Klaus-Werner Hullemann, der Internist, auch deshalb so viel und von Jahr zu Jahr mehr (bis er am Abend vor Erschöpfung kaum noch sprechen konnte), um den vielfältigen Schwierigkeiten seines Sohnes nicht ganz so oft aus nächster Nähe ins Auge blicken zu müssen. Die fünfjährige Lene, Heinrichs Schwester, schien sich dagegen bisher sehr gut und wie vorgesehen zu entwickeln. Sie hatte nur von ihrem Bruder die Angewohnheit übernommen, sehr laut zu reden, und war davon auch nicht mehr abzubringen: So, in dieser Lautstärke, redete man eben, wenn man ein Kind war, anders ging es nicht, und sie musste sich ja auch irgendwie Gehör verschaffen.
Im gefliesten Eingangsbereich des Hullemann-Hauses, in dem sich jetzt sieben Personen drängten, lagen und standen überall viele Spielsachen der Kinder aus auffällig stabilem und buntem Plastik und viele von den Kindern erstellte Bastelarbeiten herum. An der Wand gleich neben der Haustür hing ein selbst gemachter Fotokalender, und auf dem Augustfoto von Heinrich und seiner Schwester (beide in langärmligen UV-Schutzhemden) war noch mehr buntes Plastikspielzeug mit abgebildet: ein ganzes Haus aus Plastik mit einer Tür, Fensterläden und Fensterbrettern aus farblich abgesetztem Plastik, in das man hineingehen und in dem man Plastikobst auf Plastikgeschirr servieren konnte, wenn man klein genug war, was auf Heinrich schon nicht mehr zutraf, und ganz im Vordergrund das blaue Plastikgewirr eines Aquaplay-Bahnsystems mit allem Zipp und Zapp. Das Bild zeigte einen etwas jüngeren und dicklicheren Heinrich in Nahaufnahme, mit unvermeidlicher Rotznase, offen stehendem, schlaffem Mund – er konnte ja nicht durch die Nase atmen – und einer babyblauen Schirmmütze mit Nackenschutz aus Baumwollstoff. In der Hand hielt er ein Plastikboot, das er konzentriert betrachtete. Lene turnte glücklich und etwas verschwommen irgendwo im Hintergrund herum; beide Kinder hatten auffallend rote Wangen. (Übrigens wurden die Hullemanns von ihren Gästen, den von Koppensteins, zu Hause, wenn es niemand hören konnte, immer nur »die Hullis« genannt. Claire fand, dass der Name unglaublich gut zu ihnen passte: Die Hullis, das klang gutmütig und nett, aber auch ein bisschen beschränkt und langsam und grobschlächtig, und das waren die Hullis auch, jedenfalls im Vergleich zu ihnen, den von Koppensteins, fand Claire.)
»Wa’umh hat ea jetz eigligh einh Bath?« Im Trubel der wechselseitigen Begrüßungen war Heinrichs Frage bisher unbeantwortet geblieben. Sie war auch nicht leicht zu beantworten.
Der Bart. – Der Bart war ein ellipsenförmiges Stück Webpelz mit langen, verfilzten Zotteln, das sich an Raffis Kinn schmiegte und links und rechts mit zwei Gummischlaufen an seinen Ohren befestigt war. Besonders irritierend daran war, dass die Zotteln exakt den gleichen Farbton hatten wie Raffis eigene, ebenfalls ziemlich lange und lockige Haare: ein dunkles Blond oder helles, cremiges Braun, die Farbe von sehr milchigem Milchkaffee, mit einem leichten Messingglanz darin. Der Gesamteffekt war irgendwie maritim oder hanseatisch: ein dunkelblonder Kinnbart ohne Oberlippenbart, der bis zu den Ohren reichte und auch noch einen Teil des Halses bedeckte, wie bei einem alten Seebären oder einem Matrosen auf dem Cover einer Seemannslieder-CD; nur der Ringelpullover und die Pfeife fehlten.
Claire lachte, während sie versuchte, auf Heinrichs Frage zu antworten: Sie war stolz darauf, wie witzig und originell ihr Sohn war. (So viel Originalität ließ eine ganz besondere Zukunft erwarten, keine Nullachtfünfzehn-Zukunft in einem Nullachtfünfzehn-Job, über die manche Kinder anderer Eltern – der arme Heinrich hier zum Beispiel – in Zukunft wahrscheinlich sogar froh sein konnten!)
Der Bart stammte aus einer Verkleidungskiste, die ein Weihnachtsgeschenk von der Oma gewesen war. Raffi hatte es sich, das war noch in Maryland gewesen, »einfach so« angewöhnt, nie, nie, nie ohne seinen Bart aus dem Haus zu gehen, und jetzt mussten sie alle jeden Morgen »stun-den-lang« nach dem verfluchten Bart suchen, der natürlich jeden Morgen von Neuem verschwunden war und sich immer an den unwahrscheinlichsten Stellen versteckt hielt. »Mama, wo ist mein Bart?« – Das war eine Frage, die sie alle schon nicht mehr hören konnten, und wie es hygienemäßig um ein Stück Stoff bestellt war, das täglich viele Stunden lang von einem Fünfjährigen am Kinn spazieren getragen wurde, darüber musste man vermutlich kein Wort verlieren.
Jeden Morgen, wenn Niko sich im Bad rasierte, legte Raffi – gewissermaßen invers – seinen Bart an. Bei ihrem Flug nach Deutschland war der Bart fast ihre (Claires) größte Sorge gewesen, weil sie erstens befürchtet hatte, dass er irgendwo zwischen Washington und München verloren gehen könnte (»Ka-ta-stro-phe!«), und zweitens, dass sie möglicherweise am Flughafen ins Visier eines automatischen Gesichtserkennungssystems geraten würden und sie alle des Bartes wegen als islamistische Terroristen verdächtigt und festgenommen werden würden. »Wahrscheinlich werden wir wegen dem blöden Bart von der NSA überwacht! Mit Drohnen oder so!«
Diese Einzelheiten sprudelten mit viel Gelächter wie mit Kohlensäure vermischt aus Claire heraus, noch bevor sie ihre Jacken und Mäntel ausgezogen hatten. Beim Reden wandte Claire sich abwechselnd an Heinrich und an seine Eltern; mit Heinrich sprach sie in möglichst einfachen Worten und Sätzen und hob sich ihre Ironie, die geistreichen Formulierungen und die Fremdwörter für Christine und Klaus-Werner auf.
Das alles war ein bisschen viel auf einmal für die armen, arglosen Hullis. Klaus-Werner – oder einfach Werner (so nannten ihn seine Freunde; auf seinem Arztkittel kürzte er seinen Namen mit Dr. K.-Werner Hullemann ab) –, dem die Nachtschicht im Krankenhaus und sein ganzes entbehrungsreiches Leben im Dienste der Menschheit oder auf der Flucht vor seiner Familie noch in den Knochen steckte, blinzelte ganz langsam mit den schweren Augenlidern, als ob er kurz davor wäre, vor Erschöpfung ohnmächtig zu werden. Seine Nase glänzte rot, und seine Nasenflügel zuckten. Er wollte etwas sagen, aber seine Kräfte reichten nicht für eine Erwiderung. Vor lauter Müdigkeit hatte er ohnehin fast kein Wort von dem verstanden, was Claire ihnen erzählt hatte. Ihre Stimme kam bei ihm als eine Art angenehmes und fröhliches, auf seine Art erfrischendes, aber komplett unverständliches Vogelzwitschern an. Mit letzter Kraft, nur noch von seinem Pflichtbewusstsein als Gastgeber am Laufen gehalten, nahm er Claire den Mantel ab und hängte ihn auf einen Bügel.
Christine, die hübsche, tapfere, auffällig rotwangige Hulli-Mutter, die als Lebensmittelchemikerin in Teilzeit bei einem Kräuterquarkhersteller arbeitete, ihre Nachmittage zwischen der Koordination der Therapietermine für Heinrich und der Beschaffung neuer Plastikspielzeuge (bevorzugt mit dem »Spiel-gut«-Siegel) aufteilte und die Abende oft ganz allein verbrachte, während ihr Mann sich für fremde Menschen aufrieb, die sich nie beklagte und sich niemals die Frage stellte, womit sie eigentlich ein solches Leben verdient hatte, lächelte unsicher. Wie immer, wenn sie auf Claire traf, konnte sie sich einfach nicht entscheiden, welcher Teil von dem, was sie von ihr zu hören bekamen, ernst gemeint war und welcher nicht. Zum Beispiel die Sache mit dem Gesichtserkennungssystem: Wahrscheinlich war das nur eine Art rhetorische Ausschmückung und Übertreibung zum Zweck der Unterhaltung, sehr wahrscheinlich sogar (sie war ja nicht dumm!) – aber ganz sicher konnte man sich da eben auch nicht sein. Bei den von Koppensteins wusste man nie! Die von Koppensteins hatten etwas ganz Besonderes an sich; sie waren irgendwie ganz anders als alle anderen Leute, die sie kannte.
Sie persönlich, Christine »Tinchen« Hullemann, hätte zum Beispiel nie einen Satz über die Lippen gebracht, der nicht zu hundert Prozent den echten und überprüfbaren, mit Händen zu greifenden Tatsachen entsprach, wie man sie in den Nachrichten zu hören bekam oder wie man sie von seinem Mann oder von seinem Chef per Mail oder von den Therapeutinnen in den Therapiegesprächen oder von Lehrerinnen oder Kindergärtnerinnen oder Nachbarinnen oder Kolleginnen mitgeteilt bekam. Nicht nur hätte sie keinen solchen Satz über die Lippen gebracht – ein solcher Satz wäre ihr überhaupt nicht eingefallen! Sie wusste nicht, woher man solche Sätze überhaupt nahm. Wie kam Claire auf ihre Ideen, woher bezog sie sie? Das war etwas, was sie sich einfach nicht erklären konnte. (Dort, wo in Claires Kopf eine ziemlich schwefelhaltige Quelle aus einer Felsspalte entsprang, stand bei Tinchen der praktische Aufbewahrungsschrank »Trofast« mit abwaschbaren Einschubfächern aus Plastik.)
Andererseits war es doch auch beeindruckend und bewundernswert, wenn jemand so viel Fantasie besaß und sich so flüssig und gewandt ausdrückte und so schnell redete, dass man nur noch mit den Ohren schlackern konnte, und das war letztlich auch der Grund dafür, warum sich die Hullemanns trotz aller Unterschiede und obwohl sich das Leben der beiden Familien lange auf zwei verschiedenen Kontinenten abgespielt hatte, den von Koppensteins immer noch verbunden fühlten und sie jedes Jahr zu einem inzwischen schon traditionell gewordenen Treffen zu sich einluden; übrigens ohne dass die von Koppensteins sich jemals dafür revanchiert hätten. (In solchen Kategorien dachte Tinchen allerdings nie. Es gab überhaupt nicht viele Kategorien, in denen sie dachte, und die wenigen waren ehrlich, zuverlässig, freundlich und bescheiden. Ihr war tatsächlich noch kein einziges Mal aufgefallen, dass es immer sie, die Hullemanns, waren, die die von Koppensteins einluden und aufwendig bekochten, nie umgekehrt. Claire dagegen war sich dessen sehr wohl bewusst, hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, sprach mit Niko darüber und über ihr schlechtes Gewissen und riss Witze über dieses Thema, die mit den Jahren immer gemeiner, moralisch zweifelhafter und lustiger wurden, worüber sie dann untereinander neue, noch bedenklichere Witze rissen.)
»Das ist also unsere Geschichte vom Barte des Propheten«, schloss Claire und schob gleich noch ein schnelles »Damit meine ich ihn. Raffi. Den, der da steht. Keinen echten Propheten!« an die Adresse von Heinrich nach, der auf sie nicht den Eindruck machte, als ob er irgendetwas von ihren Erklärungen verstanden hätte: Er stand da, atmete schwer durch den Mund, und sein rotwangiges Gesicht wirkte hochkonzentriert und gleichzeitig ausdruckslos, wie das eines Menschen, der gespannt darauf wartet, dass in seinem Inneren endlich ein dummerweise ganz unglücklich verkanteter Groschen fällt.
Heinrichs Schwester Lene, ein völlig unkompliziertes Kind vom Typus Bienchen Immerfroh, lachte dagegen fröhlich, nicht weil sie den Bart selbst oder Claires Ausführungen dazu so lustig gefunden hätte, sondern weil alle Erwachsenen lachten und sie sich über die allgemeine gute Stimmung freute, von ihr angesteckt wurde und durch ihr Lachen auch etwas dazu beitragen wollte, aus reiner Gutwilligkeit und Freundlichkeit ihres kleinen, elastischen Herzens heraus. Der Bart kam ihr sowieso wie etwas völlig Normales vor. Sie selbst hatte die Angewohnheit, beim Daumenlutschen Zeige- und Mittelfinger der gleichen, also der Daumenhand, in beide Nasenlöcher zu stecken. (Wie sie es schaffte, trotzdem die Versorgung ihrer Körperzellen mit Sauerstoff sicherzustellen, blieb über viele Jahre hinweg, bis sie in der zweiten Klasse von einem Tag auf den anderen mit dem Daumenlutschen aufhörte, ihr Geheimnis.) Die Gewohnheit, einen Bart zu tragen, ordnete sie instinktiv in die gleiche Kategorie unbedingt notwendiger, aber nicht notwendigerweise erklärbarer Handlungen ein, über die man deshalb auch gar nicht weiter nachzudenken brauchte.
Die von Koppensteins selbst hatten sich so an den Bart gewöhnt, dass sie normalerweise kaum noch an ihn dachten (außer wenn er gerade verschwunden war und gesucht werden musste). Sie waren jedes Mal überrascht, wenn andere Leute sich seinetwegen überrascht zeigten. Raffi dachte normalerweise auch nicht mehr an seinen Bart, mit dem er seit vielen Monaten herumlief. Der Bart kam ihm immer nur dann zu Bewusstsein, wenn er auf sein Fehlen aufmerksam wurde – entweder durch einen Anflug von Kälte an seinem Kinn oder weil ihm auf einmal der gewohnte sanfte und leicht kratzige Zug der verknoteten Gummibänder an den Rückseiten seiner Ohrmuscheln fehlte, oder weil er sich in einer von ihm als bedrohlich erlebten Situation wiederfand und sich mit nacktem Kinn plötzlich schrecklich schutzlos fühlte. Dann ging er sofort panisch auf die Suche nach ihm, oder er weinte so lange und ausgiebig, bis seine Eltern völlig entnervt für ihn auf die Suche gingen.
Und so war es dazu gekommen, dass Raffi ohne seinen Bart nicht mehr sein konnte: Zum ersten Mal hatte er ihn im vergangenen Winter während seiner Piratenphase angelegt. Diese Phase hatte viele Wochen gedauert, und in dieser Zeit hatte er sehr oft alle Piratenbücher gelesen, alle Piraten-CDs gehört und alle Piratenfilme gesehen, auf die ein Kind seines Alters Zugriff erlangen konnte. Er wusste bald sehr viel mehr über Piraten, als seine stolzen Eltern Claire und Niko oder seine genervte Schwester Cordelia je gewusst hatten. Von Verwandten, Bekannten und Freunden, die von seiner Leidenschaft erfahren hatten und sie amüsant oder aus akademischen Gründen fördernswert fanden, bekam er Piraten-Merchandisingprodukte geschenkt, Bleistiftaufsätze in Form von Totenköpfen, einen Captain-Jack-Sparrow-Schlafanzug, Plastik-Goldmünzen, einen abscheulichen schwarzen Porzellanbecher mit einem plastisch reliefierten Skelett darauf, den Claire aus Gründen des guten Geschmacks sofort heimlich hatte verschwinden lassen, Capt’n-Sharky-T-Shirts, Piraten-Socken, eine Hakenhand aus Plastik, Totenkopf-Zungentattoos und einen Papagei, den man sich theoretisch auf der Schulter festklemmen konnte, der aber so billig und schlecht gemacht und vor allem so kopflastig war, dass er sich nie länger als ein paar Sekunden halten konnte. Die ganze Zeit über hatte Raffi seinen Bart getragen und sich dabei auf wohlige Weise wie ein wilder, bärtiger Pirat gefühlt, und als sein Interesse an Piraten langsam abgeklungen war, hatte er festgestellt, dass er es nicht mehr wagte, den Bart abzulegen. Er hatte Angst davor. Vor allem in der Öffentlichkeit wollte er nicht mehr ohne Bart erscheinen, weil er befürchtete, ohne Bart irgendwie komisch auszusehen. Er hatte panische Angst vor den »Ja-wo-ist-denn-dein-Bart?«-Fragen der Erwachsenen und Kinder, die ihn da draußen seiner Meinung nach erwarteten, und diese Angst war es, die den Bart für ihn zu einem unverzichtbaren Accessoire hatten werden lassen. Komischerweise hatte er keine Angst vor den ebenso unvermeidlichen »Was-hat-der-Junge-da-im-Gesicht?«-Fragen, die ihn als Bartträger begleiteten. Im Gegenteil, diese Fragen ließen ihn weitgehend kalt; er konnte sogar die schmeichelhafte Aufmerksamkeit genießen, die mit ihnen meistens verbunden war. Das alles war ihm nicht bewusst, und er hätte es auch nicht erklären können, jedenfalls nicht so genau; er wusste nur, dass er sich schlecht fühlte ohne seinen Bart, dass die Bartlosigkeit ein Zustand war, den er immer so schnell wie möglich beenden wollte, und dass ihm bei dem Gedanken an eine Zukunft ohne Bart unweigerlich die Tränen in die Augen schossen.
Abgesehen von diesen komplizierten, den Familienmitgliedern höchstens zur Hälfte bewussten Zusammenhängen sah Raffi natürlich auch unglaublich süß aus mit seinem struppigen Vollbart, der so sehr im Kontrast stand zu seinen glatten, kindlichen Gesichtszügen, dem weichen Mund, den großen Augen und den lockigen Haaren, und das brachte seine Mutter Claire dazu, den Bart ganz und gar nicht als Problem, sondern einfach nur als eine lustige, kleine Marotte anzusehen: Wer sich daran störte, war ein engstirniger Spielverderber und selber schuld!
Auch Niko, Raffis Vater, der seit ihrer Ankunft im Haus der Hullemanns abwechselnd froh gelächelt und herzlich gelacht und dabei seine auffällig schönen Zähne gezeigt hatte, fand seinen Sohn, der sich aus Schüchternheit hinter Claires Bein versteckte, in diesen Augenblicken ganz besonders bewundernswert und war stolz auf ihn. Er überreichte Tinchen die Gastgeschenke und fühlte sich dann offenbar verpflichtet, eine Erklärung zum Verbleib ihrer Tochter Cordelia abzugeben: Sie war noch bei einem Meisterkurs für Klavierschüler und würde später nachkommen.
»Oh! Ein Meisterkurs! Das ist ja toll!«, sagten Werner und Tinchen ehrfürchtig, »spielt sie denn immer noch so gern?«
»Na ja, gern, ich weiß nicht«, sagte Claire, »Hassliebe trifft es schon eher, meiner Meinung nach.«
»Sollen wir ins Wohnzimmer rübergehen?«, fragte Werner, und schwerfällig setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung.
»Beim Barte des Propheten, jetzt muss ich abtreten«, sang Niko leise und vergnügt vor sich hin, während er den anderen folgte. Das war eine Zeile aus einem Lied der Ersten Allgemeinen Verunsicherung, das er von früher kannte.
»Willdst dhu unsha Sphielhaus sehnh?«, fragte Heinrich in einer Lautstärke, als ob er gegen einen Orkan anschreien müsste. »Es is imh Gahthnh!«
Raffi wollte und löste sich von Claires Bein, um Heinrich und seiner Schwester durch die Terrassentür nach draußen zu folgen. Obwohl Heinrich nur zwei Jahre älter war als Raffi, war er zwei Köpfe größer und wahrscheinlich doppelt so schwer, dachte Claire, die einen Hang zu Übertreibungen hatte, nur Raffis Kopf war deutlich größer als der von Heinrich. Wenn man die beiden miteinander verglich, wie sie so einträchtig nebeneinander auf der Terrasse standen, der eine brüllend, der andere höflich lauschend, dann fiel auf, dass Heinrichs Hinterkopf platt, der von Raffi dagegen wunderbar ausladend und schön gerundet war. Diese Tatsache erschien Claire irgendwie vielsagend, obwohl Heinrich natürlich nichts für seine Kopfform konnte und solche Äußerlichkeiten ja auch gar keine Bedeutung hatten. Heinrich hatte dünnes, stumpfes, blondes Haar, durch das seine rosa Kopfhaut schimmerte, Raffi üppige Locken (und einen Bart). Lene und Raffi waren ungefähr gleich groß, aber Raffi war viel schlanker und flinker. Lene war trotzdem ein ausgesprochen liebenswertes Mädchen, das vor allem ein sehr ansteckendes Lachen hatte, sagte sich Claire schuldbewusst, während sie den Kindern nachsah. Eigentlich ist sie auch gar nicht viel zu dick, nur sehr drall, ein richtiger Wonneproppen eben, der seinen Eltern sicher viel Freude macht!
»Wir könnten spielen, dass wir Löwen sind«, sagte Raffi zu Heinrich, »aber Löwen, die gepflanzt werden, nicht geboren.«
»Häh? Geplanhzth? Wa’umh geplanhzth?«
»Ja weil, wir sollten halt vom Löwenzahn abstammen, und das sollte so ein spezieller Löwenzahn sein, der mutiert ist. Und wir sollten deshalb auch lauter so Chloroplasten in der Mähne haben.«
»Ach sooooo!«, blökte Heinrich.
Tinchen lief ihren Kindern aufgeregt mit ihren Mützen und ihren Softshelljacken in den Garten nach. Heinrich und Lene ließen sich die Kleidungsstücke widerstandslos überziehen; Claire betrachtete durch das große Wohnzimmerfenster lächelnd dieses ziemlich charakteristische Familientableau. Raffi war in seinen Schuhen natürlich barfuß unterwegs (er hatte sich geweigert, Socken anzuziehen), und natürlich trug er weder Jacke noch Mütze. Claire wusste, dass es schädlich war, Kindern ihr natürliches Kälte- und Wärmeempfinden abzutrainieren – abgesehen davon, dass es wirklich sehr, sehr schwierig war, Raffi in Socken oder Jacken hineinzubekommen –, und sah sich darin durch Heinrichs Fall eindeutig bestätigt. Ganz anders als das bescheidene Tinchen, das sich nie dazu aufgeschwungen hätte, über die von Koppensteins, ihre Erziehungsmethoden oder ihre sonstigen Verhaltensweisen zu urteilen und im Übrigen auch nicht das geringste Bedürfnis danach hatte, urteilte Claire immer sehr fröhlich und beherzt über die Hullemanns, genauso wie über alle anderen Menschen, die ihr über den Weg liefen, und glaubte, sehr genau zu wissen, was diese falsch machten. Heinrichs Dauerschnupfen kam ganz eindeutig von der viel zu warmen Kleidung, so viel war jedenfalls schon mal klar; komisch war nur, dass Werner, der ja immerhin Mediziner war, diesen Zusammenhang noch nicht selbst erfasst und seinem Tinchen nahegebracht hatte.
Durch das Fenster und die Terrassentür konnte man das Spielhaus sehen, das auf dem Kalenderfoto neben der Eingangstür abgebildet war. Abgesehen davon gab es in dem Garten, der nicht besonders groß war, noch eine Rutsche, die einem Erwachsenen ungefähr bis zur Schulter reichte, einen Plastiksandkasten in Form eines Marienkäfers, ein zweites Spielhaus aus Holz, das auf Stelzen stand wie ein Hochsitz (»Dhas hat unhs dea Ostheahase gebhraghth!«), ein Kinder-Kunststoff-Gartenmöbel-Ensemble und ein Fußballtor – und das waren nur diejenigen Elemente kindbezogener Gartengestaltung, die vom Wohnzimmer aus sichtbar waren. In einem seitlichen, vom Haus aus uneinsehbaren Teil des Gartens standen zusätzlich noch eine Schaukel und ein riesiges Trampolin mit meterhohem Sicherheitsnetz, das die von Koppensteins schon bei ihrer Ankunft von der Straße aus bemerkt hatten, weil das Sicherheitsnetz über die Kirschlorbeerhecke hinausragte. Etwas später stellte sich heraus, dass das Hochsitz-Spielhaus von den Kindern weder benutzt werden durfte noch konnte, weil Tinchen sich vor para- und tetraplegieverursachenden Stürzen fürchtete und deshalb die untersten vier Sprossen der nach oben führenden Leiter abmontiert hatte. Auf dem Trampolin durfte aus dem gleichen Grund nur nach bestimmten Regeln – immer nur einer und vor allem keine Saltos! – herumgehopst werden.
Während die Kinder draußen spielten, blieben die Erwachsenen im Haus. Das Spätsommerwetter war zwar trocken, und manchmal ließ sich sogar kurz die Sonne blicken, aber Tinchen hatte nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen können, dass es vielleicht doch noch anfangen würde zu regnen, und hatte deshalb lieber darauf verzichtet, die Gartenmöbel aus Robinienholz von ihren durchsichtigen Regenschutzhüllen zu befreien.
Werner holte, vor Müdigkeit fast zusammenbrechend, zwei Flaschen Light-Bier aus dem Kühlschrank und bot eine davon Niko an. Wenn er redete, klang seine Stimme flach, monoton und schleppend, wie bei einem Depressiven oder einem Kassettenrekorder, dessen Batterie kurz vor dem Exitus steht. Er setzte sich mit Niko ins Wohnzimmer aufs Sofa, eine gewaltige, viersitzige Angelegenheit, die mit dickem cognacfarbenem Leder überzogen war, und die beiden machten ein bisschen pflichtgemäße Konversation, die allerdings keiner von beiden mit besonderem Eifer vorantrieb. Werner schien vor allem erleichtert darüber zu sein, sitzen zu können, nicht aufstehen zu müssen und vor seinem Diensthandy Ruhe zu haben.
Er und Niko waren alte Schulfreunde. Werner war groß und massig wie seine Kinder und hatte eine glänzende Rübennase und kleine, tiefliegende Augen. Seit Neuestem trug er eine dieser großen, auffälligen Brillen mit schwarzem Plastikgestell und sah damit erstaunlich gut aus, wahrscheinlich, weil sie die Aufmerksamkeit von seiner Nase und von seinem leicht fliehenden Kinn ablenkte. Niko machte ihm sofort ein Kompliment deswegen.
Sie unterhielten sich über den Umzug der von Koppensteins, die erst vor ein paar Wochen aus den USA nach Deutschland zurückgekommen waren, und über den Dollarkurs, der für sie erfreulich günstig war. Manchmal verfiel Werner beim Sprechen unwillkürlich in seinen Patientenkontaktmodus. Dann sah er Niko mit leicht schief gehaltenem Kopf besonders aufmerksam und wertschätzend direkt ins Gesicht und paraphrasierte einfühlsam, was dieser gerade gesagt hatte.
Das eigentlich Attraktive an Werner war – wie bei allen Ärzten – die völlig abstrakte Vorstellung von seinem aufopferungsvollen und sehr bedeutsamen Dasein als Arzt: dass ein so großer, schwerer, ernster Mann sich gewissermaßen freiwillig klein machte, sich nach unten beugte und in die Knie ging, um kranken Menschen, Frauen, Kindern zu helfen, und ganz sanft und zärtlich mit ihnen sprach. Das war eine Art von Attraktivität, die wahrscheinlich nicht von allen Menschen gleichermaßen wahrgenommen werden konnte. Manche hätten vielleicht nur die unförmigen grauen Filzpantoffeln an Werners Riesenfüßen gesehen (Größe 48) oder die Sportsocken oder seine billige Plastikuhr oder die sich oben am Kopf ausdünnenden Haare.
Niko war auf eine ganz andere, viel offensichtlichere Weise attraktiv als sein Schulfreund, auch wenn er, was den Haarwuchs betraf, noch sehr viel benachteiligter war, das heißt schon längst so gut wie kahl. Sowohl äußerlich als auch in seinem Charakter ähnelte er einem Jagdhund oder einem Rennpferd, das keine Vorstellung von seinem eigenen Wert und seiner Schönheit hat. Wenn er lachte, leuchteten die Zähne in seinem gebräunten Gesicht wunderbar weiß und nordamerikanisch regelmäßig, und seine Augen strahlten im gefährlichen Blau von David-Hockney-Swimmingpools oder Abklingbecken in Atomkraftwerken. Abgesehen davon hatte er gar nichts Gefährliches an sich, im Gegenteil: Er war ein völlig harmloser, höchst verträglicher Mensch, der fest an das Gute in der Welt und im Menschen glaubte, seiner Ehefrau Claire und seinen Kinder Raffi und Cordelia treu ergeben war und darüber hinaus – abgesehen von seinem Beruf – nicht viele andere Interessen hatte. Sein spärliches Resthaar rasierte er sich jeden Morgen unter der Dusche ab, was seiner Attraktivität aber so gut wie keinen Abbruch tat, so edel war die Form seines Kopfes. Er hatte die austrainierte, sehnige Figur eines Langstreckenläufers; nur seine Beine waren etwas zu kurz geraten, aber das merkte man nur, wenn man unmittelbar hinter ihm ging, und auch dann störte es nicht besonders.
In Maryland hatte Niko eine Unistelle gehabt; in Deutschland verdiente er sein Geld mit dem Programmieren von Software, ein ertragreiches Hobby, das er schon lange betrieb und jetzt zu seinem Beruf gemacht hatte. Er war spezialisiert auf bestimmte Arten von medizinischer Software. Eines seiner allerersten Programme hatte er schon zu Schulzeiten geschrieben und damit ein hübsches Sümmchen verdient. Werner hatte ihn seinerzeit sehr dafür bewundert, und diese Bewunderung hielt auch jetzt noch an.
Das Light-Bier schien Werner einen Teil seiner Lebensgeister zurückgegeben zu haben. »Nikko!«, rief er und hob seine Flasche, »Nikko! Willkommen zurück in Deutschland!«
Das Haus der Hullis war im gleichen Stil möbliert wie ihr Garten: Alles war groß, und von dem Großen gab es viel. Die Sicherheit ihrer Kinder war ein überaus wichtiger, allem anderen übergeordneter Gesichtspunkt; zum Beispiel hatte Tinchen an der Wand anstelle des alten, schon etwas wackeligen Treppengeländers einen neuen Handlauf aus einem matt gebürsteten, wahrscheinlich unzerstörbaren Edelstahlrundrohr unausreißbar in die Wand einzementieren lassen; das Rohr hatte einen Durchmesser von mindestens fünf oder sechs Zentimetern.
In der Küche bewunderte Claire ein raumschiffgroßes Riesengerät, das dort ungefähr ein Viertel der gesamten Arbeitsfläche einnahm: den Thermomix. Claire hatte keinen blassen Schimmer, um was es sich dabei handelte. (Ihrer Meinung nach klang der Name nach einem Spezialapparat für Alten- und Pflegeheime: ein Gerät, in dem man tiefgekühlte Convenience-Produkte aufwärmen und dann zahnlosengerecht pürieren konnte?)
Auch in der Küche hingen an jeder Wand und sogar über dem Herd (was angesichts des Hulli’schen Sicherheitsdenkens erstaunte) viele von den Kindern vollständig bis in alle vier Ecken und über alle vier Ränder hinaus mit Wachsmalkreiden ausgemalte Bilder, größtenteils die Ergebnisse langer Ergotherapiesitzungen. Es gab auch noch einen zweiten Fotokalender mit einem anderen Motiv, auf dem die Wangen von Heinrich und Lene aber genauso rot leuchteten wie auf dem Kalender neben dem Eingang und wie vermutlich auf allen Bildern, die je von den beiden gemacht worden waren.
Und hier, in diesem Gerät – in diesem Thermomix –, berichtete Tinchen, befanden sich genau in diesem Moment alle Bestandteile ihres Abendessens! (Das hieß bis auf die Nachspeise, die stand schon im Kühlschrank, und bis auf den Salat: Auf keinen Fall wollte Tinchen nämlich übertreiben oder gar lügen.)
»Wirklich?«
Ja, wirklich! In einem Thermomix konnte man nämlich:
– Fisch dünsten,
– Soße anrühren,
– Reis garen
– und Gemüse zubereiten, und das alles auf einmal.
Etwas verlegen und von ihrer eigenen Begeisterung beschämt deutete Tinchen auf die verschiedenen Ebenen und Vorrichtungen, die dieses Kunststück möglich machten, und erklärte auch die Funktionsweise des Spatels mit der patentierten Sicherheitsmanschette.
Tinchen liebte ihren Thermomix mit der ganzen Zärtlichkeit, die eine vernachlässigte Ehefrau ihrem armen, bescheidenen und abgerissenen, dafür aber handwerklich umso begabteren Geliebten entgegenbringt, der ihr in Abwesenheit ihres vielbeschäftigten Gatten in Haus und Hof zur Hand geht; er war für sie ein Trost und eine Erleichterung ihres komplizierten Fast-Alleinerziehenden-Lebens. Allerdings war sie sich bewusst, dass ein so besonderer und origineller Mensch wie Claire möglicherweise ganz andere Maßstäbe an die Essenszubereitung anlegte als sie, und schämte sich deswegen ein bisschen für ihre schlichte, proletarische Leidenschaft.
Claire zeigte sich beeindruckt, und das war nicht bloß eine Show, die sie aus Gründen der Höflichkeit abzog. Tinchen war eine so freundliche und ehrliche Person und sah so nett aus mit ihren roten Wangen und rehbraunen Augen und der braunen Streublümchentunika, dass sogar Claire das Lachen im Hals stecken blieb. Wenn man sich auch nur ein bisschen in Tinchen hineinversetzte, dann musste man einfach zugeben, dass so ein Thermomix wirklich eine super Sache war!
Tinchen ihrerseits war ehrlich beeindruckt von dem, was Claire ihr etwas später erzählte, während sie zusammen den Salat schnippelten. Sie sah sich dadurch in allem bestätigt, was sie schon bisher über die Familie von Koppenstein gedacht und geglaubt hatte. (Weil die Arbeitsplatte fast völlig mit Elektrogeräten zugestellt war, mussten sie die Schnippelei einander gegenübersitzend an dem winzigen Küchentisch erledigen und stießen dabei ständig mit den Knien aneinander.)
Raffi, der kleine, fünfjährige Raffi, sollte schon in diesem Herbst in die Schule kommen! Die von Koppensteins wollten ihn vorzeitig einschulen. Das erzählte Claire Tinchen, nachdem der Thermomix sich als Gesprächsthema erschöpft hatte. Raffi konnte lesen (schon ziemlich lange) und schreiben, allerdings nur in Großbuchstaben – »Aber irgendwas muss er in der Schule ja auch noch lernen!«, rief Claire und lachte. Ja, genau, in beiden Sprachen, Deutsch und Englisch. Ehrlich gesagt wurde es höchste Zeit, dass für ihn die Schule losging, bevor er sich selbst den ganzen Schulstoff in Eigenregie beigebracht hatte.
»Vielleicht ist er ja hochbegabt!«, schlug Tinchen mit verlegenem Kichern vor und schob, wie um sich zu rechtfertigen, gleich die Geschichte der Tochter eines Kollegen von Klaus-Werner nach, deren IQ sich als unmessbar erwiesen hatte – so hoch war er. »Und die Charlotte, die konnte nämlich auch schon so früh lesen, deshalb bin ich überhaupt nur darauf gekommen.«
Jetzt war es an Claire, verlegen zu lachen und dazu abwiegelnde Gesten und Geräusche zu machen. Tinchen hatte wahrscheinlich recht, und natürlich hatte sich Claire bereits ausgiebig mit dem Thema auseinandergesetzt, doch es war ein Gebot des guten Geschmacks, Tinchen gegenüber so zu tun, als ob sie diese Möglichkeit noch nie in Betracht gezogen hätte.
»Was, Raffi? Du meinst, dass er vielleicht …? Nein, das glaub ich nicht. Ich glaube, er liest einfach nur gern.«
»Und was – was liest er denn so?«, fragte Tinchen ehrlich interessiert, während sie eine Tomate mit einem speziell gezackten Tomatenmesser achtelte, das vorne abgerundet war.
»Ach, praktisch alles, was er in die Finger kriegt, meistens ein paar Sachen gleichzeitig. Im Moment ist er ganz wild auf Harry Potter. Ich glaube, inzwischen ist er beim dritten Band. Auf Englisch.«
Tinchen dachte an ihren Bald-Zweitklässler Heinrich, der noch weit davon entfernt war, Bücher zu lesen, weder nacheinander noch gleichzeitig, und schon gar keine fremdsprachigen Achthundertseitenschinken, und schauderte ein bisschen vor Ehrfurcht und Bewunderung. Sie war nicht neidisch. Sie war nicht einmal traurig oder wütend über die Ungerechtigkeit, mit der die Talente auf die verschiedenen Menschen verteilt waren. Stattdessen nahm sie sich ganz fest vor, sich unbedingt vom Beispiel der von Koppensteins inspirieren zu lassen, mit Heinrich noch regelmäßiger das Lesen zu üben und zusammen mit ihm dem beflügelnden Vorbild des kleinen, vermutlich hochbegabten Raffi nachzueifern, aus dem sicher einmal ein hervorragender Schüler werden würde.
Beim Essen erzählte Claire, wie schwierig es gewesen war, die Einschulung durchzusetzen, wie wenig die Entscheidungsträger offenbar von fantasievollen und schlauen kleinen Jungen verstanden und welche lächerlichen Einwände sie an den Haaren herbeigezogen hatten, um sie davon abzubringen, Raffi mit fünf in die Schule zu schicken. In ihren Augen waren das alles nur Beispiele für die typisch deutsche Bedenkenträgerei.
»Dass wir ihm ›seine Kindheit stehlen‹ und lauter so Zeug. Ha!« Über derartige Unsinnseinwände konnte Claire nur lachen. »Und bei ›solchen Kindern‹ würde ›das Soziale‹ ja auch oft nicht Schritt halten.« Durch ihren Tonfall brachte sie deutlich zum Ausdruck, was sie von diesen Argumenten hielt.
»So ein Blödsinn«, sekundierte Niko, »oder? Ich meine, was soll das überhaupt sein, ›das Soziale‹?«
»Gut – vielleicht hat er ja den Bart gemeint«, wandte Claire mit funkelnden Augen ein, »wahrscheinlich hat er den Bart gemeint. Der Bart hat ihn ein kleines bisschen aus dem Konzept gebracht. Vermutlich war Raffi das erste Kind mit Bart, das ihm unter die Augen gekommen ist.«
Werner und Tinchen hörten zu und nickten ernst und etwas angestrengt. Es fiel ihnen nicht ganz leicht, sich in die Situation hineinzudenken und zu -fühlen: Werner, weil sein übermüdetes Gehirn immer wieder sekundenlange Komplettaussetzer hatte, während derer er nur noch Vogelgezwitscher und Gekrächze wie von einer Krähe hörte (Letzteres immer dann, wenn Niko mit Reden dran war); und Tinchen, weil sie einfach viel zu sehr daran gewöhnt war, in dieses spezielle Fernglas von der anderen Seite her hineinzuschauen. Heinrich kam in der Schule gerade noch so mit. Er war nicht mit fünf und auch nicht mit sechs, sondern mit sieben eingeschult worden, und sogar das war vielleicht noch zu früh für ihn gewesen, und über »das Soziale« und was damit gemeint war wusste Tinchen, im Unterschied zu Niko, ziemlich gut Bescheid. »Er ist sozial eben noch nicht so weit«, hieß es über Heinrich, wenn die anderen Kinder auf dem Schulhof nicht mit ihm spielen wollten, wenn Viertklässler um ihn einen Kreis bildeten, in dem er von einem zum anderen geschubst wurde, oder wenn unbekannte Täter sein Federmäppchen in der Kloschüssel versenkt hatten, und das stimmte ja auch, denn anderen Kindern passierte so etwas nicht. Während sie für Lene, die auf ihrem unumkippbaren Tripp-Trapp-Stuhl saß und mit den dicken Beinchen baumelte, das Fischfilet sehr sorgfältig nach Gräten absuchte, bemühte sich Tinchen, sich in die Lage ihrer Freunde hineinzuversetzen. Hätte sie – wenn Heinrich mit fünf so weit entwickelt gewesen wäre wie Raffi jetzt – vielleicht genauso hartnäckig wie die von Koppensteins darauf bestanden, ihn in die Schule schicken zu dürfen? Wäre sie in diesem Fall genauso empört gewesen wie Claire und Niko, wenn jemand versucht hätte, das zu verhindern? Leider reichte ihre Fantasie nicht aus, um diese Fragen zu beantworten.
»Ich erwarte ja nicht mal eine besondere Förderung! Ein Kind wie Raffi kann man nicht schulisch auslasten, das seh ich auch so – geschenkt! Aber dass ein Kind geradezu ausgebremst wird, dass es daran gehindert wird zu lernen«, sagte Claire und gestikulierte mit ihrer Gabel, »das ist nicht okay. Wozu geht man denn in die Schule, wenn nicht zum Lernen?«
»Ja, genau, wozu?«, ergänzte Niko. Wenn Niko lächelte (so wie jetzt), dann machten seine weißen Zähne sein Gesicht noch schöner und sympathischer, wie eine besonders schmeichelhafte Beleuchtung. Man sah ihm an, dass er nicht aus Eitelkeit lächelte, sondern weil es ihm angenehm war, freundlich zu sein, und weil er wusste, dass er anderen dadurch eine Freude machen konnte.
»Genau«, rief Tinchen erfreut, »das stimmt. Schule ist zum Lernen da!« Sie war froh darüber, dass das Gespräch wieder an einem Punkt angelangt war, in dem sie alle übereinstimmten. Dass man in die Schule ging, um zu lernen, war eine Art kleinster gemeinsamer Nenner von Brüchen völlig verschiedener Größenordnungen.
Beim Anblick von Tinchens freundlichem, gutwilligem Gesicht kam Claire jetzt doch der Gedanke, dass es vielleicht (moralisch und menschlich) besser wäre, sich etwas zurückzuhalten. Oder war sie vielleicht sogar schon zu weit gegangen? Hatte sie Werner und Tinchen dadurch verletzt, dass sie Raffis Talente zu sehr herausgestrichen hatte? Sie wusste und dachte jetzt wieder daran, dass Heinrich ein Sorgenkind mit gewissen, unbestimmten Problemen war. Andererseits war das weder ihre noch Raffis Schuld, und sie konnten auch gar nichts daran ändern, versuchte sie, ihr aufsteigendes schlechtes Gewissen niederzukämpfen, und es ging ihr ja auch nicht im Geringsten darum, aufzutrumpfen oder anzugeben. Es musste doch erlaubt sein, davon zu sprechen, was sie beschäftigte; um nichts anderes ging es ihr. Ich hab es ja nicht böse gemeint, sagte sie sich. (Nur dass es manchmal eben nicht genügte, es nicht böse zu meinen, das wusste sie selbst.)
Tinchen beugte sich über Heinrichs Teller und begann, mit einer Gabel wie mit einem Rechen das Stückchen Fisch auf seinem Teller systematisch nach Gräten abzuharken. Wie beim Rasenmähen musste man dabei gut aufpassen, dass die Bahnen ganz genau aneinander anschlossen oder sich sogar überlappten und keine unbearbeiteten Streifen zurückblieben. Noch passender war vielleicht der Vergleich mit der Arbeit eines Minensuchers, der ebenfalls sehr gut daran tat, von dem abzusuchenden Stück Land kein Fitzelchen auszulassen. Wieder versuchte Tinchen, so gut sie konnte, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn man Angst davor haben musste, dass das eigene Kind »nicht ausgelastet« oder gar »ausgebremst« wurde. Eigentlich war es ja ganz leicht: Sie musste nur Heinrichs Fall in Gedanken umdrehen. Sie musste nur Schwarz durch Weiß ersetzen oder Minus durch Plus oder leer durch voll. Es war eine einfache Aufgabe in Kopfgeometrie, eine simple geistige Gymnastikübung, die ihr aber trotzdem nicht gelingen wollte, obwohl sie sich Mühe gab.
»Dah hist eihnhe Ghäthe«, trompetete Heinrich plötzlich so laut in ihr Ohr, dass sie einen stechenden Schmerz im Trommelfell spürte. »Mhama! Ikh habh eihnhe Ghäthe gefundnh!« Triumphierend hielt Heinrich ein halbtransparentes, gebogenes Mordwerkzeug von der Länge eines Zahnstochers in die Höhe, das er aus seinem Fisch gezogen hatte, der nach der Versicherung des Fischhändlers hundertprozentig grätenfrei war. (Natürlich hatte Tinchen nachgefragt; sie fragte immer nach.)
Die Gräte glitzerte bedrohlich. Sie war an einem Ende dicker und am anderen tödlich spitz.
»Ah!«, rief Tinchen erschrocken, und das Rotkehlchenrot ihrer Wangen verbreitete sich über ihr gesamtes Gesicht, floss ihren Hals hinunter und in ihr sittsames und gar nicht tiefes Dekolleté hinein, »was ist denn das? Gut aufgepasst, Heinrich, gut aufgepasst! Meine Güte!« Sie legte sich eine Hand auf den geblümten Stoff in ihrer Herzgegend, um sich zu beruhigen, und schüttelte den Kopf.
»Heinrich – das hast du gut gemacht«, lobte Werner, der bei dieser Vorstufe eines medizinischen Notfalls schlagartig hellwach geworden war und sich am Tisch zu seiner ganzen imposanten Oberarztgröße aufgerichtet hatte. »Leg das Ding am besten hierhin, auf die Serviette! Gut so! Mann, Mann, Mann – das hätte auch schiefgehen können. Und jetzt sollten wir wohl besser alle noch mal unseren Fisch auf Gräten untersuchen.« Das war nicht mehr das zu Tode erschöpfte, kaum hörbare, schwer verständliche Murmeln von vorhin, das war die sonore, autoritätsgewohnte Stimme des Mediziners – die Stimme des Dr. med. habil. K.-Werner Hullemann.
Claire zog ein bisschen den Kopf ein, zog ein bisschen die Augenbrauen hoch, unterdrückte nicht ganz erfolgreich ein Grinsen und schaute vorsichtig zu Niko hinüber, um herauszufinden, ob ihm die Verwandlung auch aufgefallen war und um ihn gegebenenfalls darauf aufmerksam zu machen. Diese hysterische Grätenfurcht war ja wieder mal total übertrieben, aber auch ziemlich typisch für die Hullis, oder? Und gleichzeitig auch wieder irgendwie nett und liebenswert! Das telepathierte sie, lautlos, aber unmissverständlich, so klar und deutlich, als ob sie es mit lauter Stimme ausgesprochen oder aufgeschrieben und den Zettel über den Tisch gereicht hätte, zu Niko hinüber, wie es nur zwei Menschen möglich ist, die einander seit Ewigkeiten kennen, eine enge innere Verbindung zueinander haben und deshalb wechselseitig ihre Gedanken lesen können.
Parallel dazu spielte sich auch zwischen den Hullis ein kleiner unhörbarer Dialog ab: Werner, alias Dr. K.-Werner Hullemann, schickte nämlich über seinen Teller hinweg einen ziemlich strengen Blick zu seiner Frau hinüber. Sie hatte entweder falsch eingekauft oder falsch gekocht oder beides. Jedenfalls war ihr ein Fehler unterlaufen. So etwas durfte nicht passieren, da waren sie sich ja wohl einig. Gleichzeitig drückte sein Blick auch aus, dass er wusste, dass jeder mal Fehler machen konnte und dass Tinchen sich deswegen keine zu argen Vorwürfe machen sollte. (Die Ehe der Hullis war eindeutig nach ganz anderen Prinzipien konstruiert als die der von Koppensteins.)
Tinchen senkte ergeben und schuldbewusst den Kopf, denn Werner hatte recht: So etwas durfte nicht passieren. Wenn es allein nach ihr und ihren mütterlichen Instinkten gegangen wäre, dann hätte sie ihren Kindern überhaupt keinen Fisch serviert, niemals! Aber Fisch war doch so gesund, hieß es überall! Sie hatte es doch selbst im Studium gelernt! Und die Omega-3-Fettsäuren waren doch so gut für das kindliche Gehirn! Das hatte auch ihr Kinderarzt Dr. Gutmann bestätigt. Oder stimmte Werner etwa nicht mit ihr in der Auffassung überein, dass Seefisch – nicht Süßwasserfisch! – unverzichtbar für eine ausgewogene Ernährung war und dass es für Heinrich kaum etwas Wichtigeres gab als eine ausgewogene Ernährung? Und wie sollte man absolut sicher sein, dass in einem garantiert grätenfreien Fischfilet sich nicht doch noch irgendwo eine Gräte versteckt hielt? Wenn die Gräten sich so tief im Fleisch versteckten und sich so hinterhältig tarnten? Das war doch überhaupt nicht möglich! Dagegen kam nicht einmal ihr Thermomix an!
»Fisch macht mich Power«, äußerte die kleine Lene plötzlich etwas rätselhaft, »aber Gräten sind ganz dolle gefährlich!« Sie sprach sehr laut und einigermaßen deutlich und baumelte dabei begeistert mit den Beinen.
»Von Ghäthnh kannh manh tot wheadnh«, schrie Heinrich.
»Aber man muss sie doch nicht mitessen«, sagte Raffi verwundert.
»Abha wennh! Wennh du die Ghäthe mhithisst, dannh bisth du tot! Stimpt’sh, Mama?«
Das eigentlich Irritierende an Heinrichs Redeweise war, dachte Claire, die ihre guten und edlen Vorsätze schon wieder vergessen hatte, dass sein Brüllen immer den Eindruck erweckte, als wüsste er nicht, in welcher Umgebung er sich befand. Man wollte ihn unwillkürlich darauf hinweisen, dass er sich täuschte, dass er weder in einem Maschinenraum stand noch auf dem Deck eines sturmumtosten Schiffs und dass derzeit auch kein Hubschrauber neben ihm startete oder landete, dass es deshalb auch wirklich keinen Grund gab, derart zu brüllen.
Nach dem Grätenzwischenfall, den die Hullis offensichtlich für sehr viel gravierender hielten als ihre Gäste, war die Stimmung am Tisch gedämpft.
Besteck klapperte auf Tellern, dickwandige Saftgläser wurden mit einem lauten Klonk auf dem Tisch abgesetzt, und die Beine von Werners Stuhl schabten in der peinlichen Stille unangenehm kreischend über das helle Birkenlaminat, als er halb aufstand und sich über den Tisch lehnte, um sich noch etwas Reis aus dem Thermomix-Garkörbchen zu nehmen, das genau in der Mitte der Tischplatte stand wie ein besonders prunkvoller, ererbter Tafelaufsatz.
»Sport heißt auf Englisch ›stark‹«, behauptete jetzt Lene, die Königin des unterhaltsamen Tischgesprächs, fröhlich ins Blaue hinein.
Raffi runzelte die Stirn. »Was meinst du damit eigentlich?«
Tinchens Stimme klang belegt, als sie Claire und Niko zu trinken anbot. Claire ließ sich Sprudelwasser aus einer Plastikflasche mit blauem Boden geben. (Die Hullemanns waren auch im Besitz einer Soda-Club-Sprudelmaschine, und zwar vor allem deshalb, weil Tinchen hoffte, mithilfe von hausgemachtem Sprudelwasser Heinrichs Saftkonsum und damit auch seine Kalorienaufnahme drosseln zu können; in der Küche stand der Sodabrunnen zwischen dem Thermomix und einer Schweizer Espressomaschine, die besser und größer, viel größer und auch höher war als viele Profigeräte und in Fachkreisen als »Espresso-Rolex« bekannt war.)
Die Familie Hullemann sah, wie sie da so aufrecht und steif und mit rechtwinklig abgewinkelten Armen um den Massivholzausziehtisch herumsaß, wie eine Versammlung von vier Moai-Idolen von den Osterinseln aus, die in einer zu kleinen Hütte zusammengekommen waren: die gleichen massigen Körper, die gleichen grimmigen Gesichter (nur bei Lene nicht; sie baumelte immer noch voller Schwung mit den Beinen und ordnete das Essen auf ihrem Teller zu einem Muster an, dessen Bedeutung nur sie selbst verstand). Die Hullikinder waren alles in allem verblüffend gut erzogen, vor allem im Vergleich zu Raffi, das mussten der Neid und Claire den Hullis lassen: Messer und Gabel handhabten sie mit bewundernswerter Geschicklichkeit, und sie fassten, anders als andere Kinder, auch nicht mit den Fingern ins Essen, um bei der Nahrungsaufnahme nachzuhelfen.
»Kann ich noch Nudeln, bitte!«, fragte Heinrich sehr höflich, wenngleich aus vollem Hals.
»Ich auch, ich auch, bitte! Kann ich bitte noch Nudeln?«, jubilierte Lene.
»Nudeln!«, sagte Tinchen und warf Claire und Niko einen sonderbar bedeutungsschwangeren, schamerfüllten und flehenden Blick zu. »Aber gerne!«
Es half nichts. »Was? Das sind doch gar keine Nudeln«, sagte Niko, der manchmal wirklich sehr begriffsstutzig sein konnte, als er bemerkte, dass Tinchen ihren Kindern grüne Bohnen auf die Teller legte, »das sind doch – ach so. Ach so, diese Art von Nudeln! Ich verstehe.« Claire hatte unter dem Tisch nach ihm getreten.
Werner hatte sich noch mehr aufgerichtet und machte sein ernstes, strafendes Oberarztgesicht. »Wir essen diese Art von Nudeln deshalb so gerne«, dozierte er und sah seinen Freund Niko dabei an wie einen besonders dämlichen Medizinstudenten, der bei der Chefarztvisite einen schlimmen und eigentlich unverzeihlichen Fauxpas begangen hat, »weil diese Art von Nudeln so viele Vitamine hat. Fast so viele Vitamine wie echtes Gemüse, aber Heinrich mag leider kein Gemüse. Deshalb gibt es bei uns auch kein Gemüse. Nur Nudeln. Das ist sehr schade, aber es geht leider nicht anders.«
Niko sah jetzt weniger nach edlem Rennpferd aus als nach Schaf. Bei seinem Anblick musste Claire schon wieder ein Grinsen unterdrücken. Heinrich und Lene fielen heißhungrig über ihre wieder aufgefüllten Teller her, ohne sich darum zu kümmern, was die Erwachsenen von sich gaben.
»Kann ich auch noch ›Nudeln‹ haben, bitte?«, fragte Claire mit einem Sphinxlächeln und hielt Tinchen ihren Teller hin.
»Papa!«, rief Raffi plötzlich, offenbar weil sein schafgewordener Vater ihm leidtat und er ihm zu Hilfe kommen wollte, »Papa, she’s calling them ›Nudeln‹, because they won’t eat them otherwise, you understand? It’s a ruse. A ruse, to make them eat their vegetables! And I’m talking English, so that they won’t understand me. Otherwise the whole thing wouldn’t work anymore!«
Tinchen schaute Raffi so erschrocken an wie eine übernatürliche Erscheinung. Der Bart, die Einschulung, die dicken Bücher – das war eigentlich schon mehr als genug für sie. Diese letzte Szene überzeugte sie endgültig davon, dass Raffi ein Wesen war, das man überhaupt nicht mit normalmenschlichen Maßstäben messen durfte. Claire lächelte Raffi zu und schaffte es immerhin, ihre Freude über den Scharfsinn ihres Sohnes und über seine ganze bärtige Drolligkeit (eine Freude, die sehr groß war und sehr tief ging) nicht übermäßig deutlich zu zeigen. Werners Gesichtsausdruck dagegen war überhaupt nicht mehr zu deuten, so viele Gefühlsregungen vermischten sich darin, und so sehr versuchte er gleichzeitig, alle diese Regungen zu unterdrücken und sie nicht nach außen dringen zu lassen. – Es war nicht einfach, an die alten Zeiten einer Freundschaft anzuknüpfen, wenn erst einmal Kinder im Spiel waren!
Als Buße für seine Verfehlung tat Niko sein Bestes, um Werner zu einem weiteren Light-Bier zu überreden, und Claire fing etwas unvermittelt von ihrer neuen Stelle an, die der Grund dafür war, dass die von Koppensteins die USA verlassen hatten und nach Deutschland zurückgekehrt waren.
»Ehrlich gesagt war es reines Glück, dass ich die Stelle gekriegt habe«, sagte sie.
»Sie hat überhaupt nicht auf die Ausschreibung gepasst«, sagte Niko.
»Nein, überhaupt nicht. Ich war eigentlich nur die Quotenfrau. Aber dann –«
»Ihr müsst dazu wissen, dass dieses Departement aus zwei Instituten besteht …«
»… die miteinander total verfeindet sind! Und zwar seit Jahren. Das soll angeblich schon in den Sechzigern losgegangen sein.«
»Claire war am Anfang nur auf Platz drei der Liste.«
»Richtig. Und auf Platz eins und zwei waren die jeweiligen Wunschkandidaten der beiden verfeindeten Institute.«
»Sie konnten sich nicht einigen! Sie konnten sich nicht einigen!«, rief Niko. »Deshalb haben sie Claire genommen. Erzähl doch noch mal das mit Darmstadt, Claire!«
»Was? Ach so, ja. Also, das war so: Der Chef des ersten Instituts hatte gerade einen Ruf nach Darmstadt bekommen, und er hat dem Minister dann damit gedroht, dass er den Ruf annimmt und nach Darmstadt geht, wenn der Kandidat des anderen Instituts die Stelle bekommt. Und der Chef des anderen Instituts wollte lieber in den vorzeitigen Ruhestand gehen, als mit dem Kandidaten des ersten Instituts zusammenzuarbeiten.«
»Und deshalb mussten sie Claire nehmen!«, wiederholte Niko triumphierend.
»Ja, als Kompromisskandidatin. In Wirklichkeit können sie sich natürlich glücklich schätzen, dass sie mich bekommen haben!«, sagte Claire lachend. »Übrigens, das geht schon seit Ewigkeiten so bei denen. Das ist so eine Art Blutrachesystem, wie in Albanien: Weil du mir meine Stellenbesetzung versaut hast, versau ich dir deine.«
Niemand dachte mehr an Gräten oder Nudeln. Werner erinnerte sich jetzt daran, dass er irgendwann in grauer Vorzeit, damals, als er noch jung und schön und gut ausgeschlafen gewesen war, ähnliche Geschichten von Chefarztberufungen gehört hatte, und jetzt fiel ihm auch das Schatzkästchen voller Medizineranekdoten wieder ein, das er immer in der Hosentasche mit sich herumtrug, auch wenn er in seiner Totalerschöpfung die meiste Zeit nicht daran dachte. Von manchen Details mancher dieser Geschichten wurde Niko, der in solchen Dingen sehr empfindlich war, angst und bange und sogar ein bisschen übel.
Niko hatte schon ein paar Mal besorgt auf seine Armbanduhr geschaut und sich ein paar Mal bei Claire erkundigt, wie lange Cordelias Kurs denn eigentlich ging und ob sie den Weg von dort zu den Hullemanns auch wirklich kannte und ob sie womöglich ihr Handy zu Hause vergessen hatte, und immer hatte Claire ihn vertröstet und beruhigt und sich dabei ein bisschen über seine übertriebene Besorgnis lustig gemacht. Gegen Ende der Mahlzeit, als Tinchen schon aufgestanden war und damit begonnen hatte, die leergegessenen Riesenplatten abzutragen und ihren Geschirrspülautomaten damit zu bestücken, und Werner davon sprach, in Bälde seine Espressomaschine anwerfen zu wollen (die Espresso-Rolex, die für ihn das zu sein schien, was der Thermomix für Tinchen war, wahrscheinlich weil sie ihn so zuverlässig mit einer Wachhaltedroge versorgte, auf die er für sein familiäres und berufliches Funktionieren unbedingt angewiesen war), erschien Cordelia, das zweite – nein: das erste Kind der von Koppensteins dann endlich doch noch auf der Bildfläche.
Sie war nicht ganz zwölf Jahre alt, wirkte aber deutlich älter. Auf den ersten Blick schien sie auch größer und wohlgenährter zu sein als ihre zierlichen Eltern, obwohl das in Wirklichkeit – wenn man sie alle drei nebeneinandergestellt oder mit Maßband oder Waage nachgemessen hätte – gar nicht der Fall war. Zwischen ihrer zarten Mutter und ihrem drahtigen Vater sah sie aus wie ein fast erwachsener Kuckuck, der von zwei überaus bemühten Zaunkönigen gepflegt und gehätschelt wird. Sie war früher ein dickes Kind gewesen – auf völlig andere, energischere, explosivere, sehr viel weniger teigige und schlaffe Weise dick als Heinrich –, für das man immer Hosen einer bestimmten Marke hatte kaufen müssen, weil ihr alle anderen zu eng gewesen waren. Dann war sie im Laufe eines Jahres sehr gewachsen, und alles, was bisher zu viel gewesen war, hatte sich neu über ihren gestreckten Körper verteilt, sodass sie jetzt fast ideale Proportionen hatte. Ihr welliges, dickes braunes Haar, das sie von wer weiß wem geerbt hatte (jedenfalls nicht von Niko, ihrem glatzköpfigen Vater, und auch nicht von der eher fusselhaarigen Blondine Claire), trug sie mit großem Stolz offen und achtete peinlich genau darauf, immer einen Teil davon über eine Schulter nach vorne fallen zu lassen, um bloß nicht zu strebermäßig rüberzukommen. Ihrer Mutter sah sie auffallend wenig ähnlich: Weder hatte sie Claires elegante Stupsnase noch die veilchenfarbenen Augen noch das herzförmige Elfengesicht und zum Glück auch nicht Claires eher unansehnliche, kleine Zähne mitbekommen. Die einzige äußerliche Gemeinsamkeit zwischen den beiden war der sehr schön geschwungene Mund, der aber im Kontext von Cordelias anders geformtem Gesicht eine ganz andere Bedeutung annahm, sodass die Ähnlichkeit erst auffiel, wenn man sich die Mühe machte, ihre Gesichter Punkt für Punkt miteinander zu vergleichen.
Ja, Cordelia war hübsch, sogar noch hübscher als ihre gutaussehenden Eltern; hübscher als ihr gebräunter, blauäugiger Vater mit seinem edlen Haupt und sogar hübscher als Claire. Das dachten sie unwillkürlich alle, dachten es sozusagen im Chor, als Cordelia hinter Werner, der auf ihr Klingeln hin die Haustür aufgemacht hatte, das Wohnzimmer der Hullemanns betrat.
Klar war außerdem, dass Cordelia zu den Menschen zählte, die durch ihr bloßes Erscheinen die Temperatur in einem Raum verändern konnten.
»Und warum darf er mit Bart essen?« Das war das Erste, was Cordelia sagte, noch bevor sie gegrüßt oder die Gastgeber auch nur eines Blickes gewürdigt hatte. Ihre Aussprache war auffällig präzise: Niemand sollte sich damit herausreden können, dass er sie nicht richtig verstanden hatte. »Ich denke, das ist verboten?«
Obwohl das ein unfreundlicher Akt und auch nicht besonders höflich oder wohlerzogen war, lachten Claire und Niko wie über die ungewöhnlich drollige Äußerung eines viel jüngeren Kindes und gingen im Übrigen nachsichtig über den Fehltritt hinweg, der anscheinend von ihnen beiden mit pubertärer Geistesverwirrung oder allgemeiner Cordeliahaftigkeit entschuldigt wurde. Cordelia begrüßte ihren Vater (und nur ihn), indem sie ihm im Vorbeigehen zärtlich und herablassend die Glatze tätschelte, und setzte sich dann auf einen freien Stuhl.
»Und? Wie war’s?«, fragte Niko neugierig.
»Wie wohl.«
»Oh! Da bin ich wohl besser still!« Besänftigend hob Niko die Hände und machte gleichzeitig ein zärtlich-belustigtes Gesicht, als ob die Grobheit seiner Tochter eine genauso harmlose und amüsante Marotte wäre wie Raffis Bart, eine Marotte, die niemandem wehtat und an der sie alle gemeinsam ihren Spaß haben konnten.
»Wir haben eine Gräte gefunden«, informierte Lene Cordelia freundlich über die Vorgeschichte, »beinahe wären wir gestorben.«
»Ikh!«, korrigierte Heinrich hastig, mit dem Übereifer des ewigen Underdogs, der es sich nicht leisten kann, auch nur auf den allerkleinsten Erfolg zu verzichten. »Ikh hab die gefudnh. Stimmbt’s, Mama? Dhas wa ikh! Die wa nämlikh hiesenghoß, die Ghäthe, soooo ghoß wa die! Ud die wa in meim Fisch dinh.«
»Genau, mein Bruder hat die nämlich in seinem Fisch gefunden.« Lene strahlte und nickte.
»Aha. Dann frag deinen Bruder doch mal, warum er so schreit. Ach, und richte ihm aus, dass er sich die Nase putzen soll. Weil, das ist wirklich widerlich. Wäh!«
»Cordelia!« Claire und Niko hatten gleichzeitig den Namen ihrer Tochter gerufen. Sie lachten verlegen und waren jetzt doch peinlich berührt von Cordelias Benehmen.
»Jetzt aber mal ehrlich, Cordelinchen!« Niko war unter seiner gleichmäßigen Teakholzbräune rot angelaufen (was interessante Farbspiele auf seiner Glatze ergab); Claire wies Cordelia streng wegen ihrer »Unhöflichkeit« zurecht. Leider war es ihr nicht möglich, ihrer Tochter ausdrücklich und aus vollem Herzen zu widersprechen. Ganz kurz dachte sie über diese Option nach und verwarf sie gleich wieder: Nein, einen Satz wie »Das ist gar nicht widerlich« oder »Das ist völlig normal« brachte sie einfach nicht über die Lippen, weil er nicht stimmte. Mit einer gewissen Traurigkeit und einem gewissen Selbstvorwurf erkannte sie, dass sie dazu ein sehr viel freundlicherer, großzügigerer und einfühlsamerer Mensch hätte sein müssen, als sie tatsächlich war.
Werner hatte in seinem Aussehen wieder etwas Strenges, Oberarztmäßiges angenommen; aus irgendeinem Grund schien er wütend auf seinen Sohn und seine Frau zu sein, und seine glänzende Rübennase bewegte sich auf sonderbare Weise. Tinchen, ziemlich rot im Gesicht und bis in den mausezähnchenbesetzten Halsausschnitt ihrer Tunika hinein, war schon aufgesprungen und so schnell sie konnte nach Papiertaschentüchern gelaufen. Eigentlich hatte sie sich ganz fest vorgenommen, immer eine Packung Tempos zur Hand zu haben und Heinrich regelmäßig zum Naseputzen anzuhalten, und zwar, um das Eintreten genau dieses Falles zu verhindern: dass irgendjemand sich von dem Anblick ihres Sohnes belästigt fühlte oder gar darunter leiden musste, und sie machte sich Vorwürfe und schämte sich, weil sie an diesem Abend so von ihren Gastgeberpflichten abgelenkt gewesen war, dass sie einfach nicht mehr daran gedacht hatte.
»Dash is dokh bloßh Hotz!«, sagte Heinrich zu Raffi und zuckte gleichgültig mit den Schultern, aber seine raue Stimme klang dabei weniger laut als sonst. Sie klang fast leise.
»Nimm doch einfach den Ärmel«, schlug Raffi vor, »so mach ich das immer. Oder hier oben an der Schulter, wenn man kurzärmlig ist.« Raffi machte Heinrich vor, was er meinte.
»Oder vielleicht abschlecken?«, meinte die pragmatische und unbekümmerte Lene.
»Oder sollen wir spielen, dass wir Außerirdische sind, die keine Nasen haben?«, fragte Raffi, »und wir haben eine Kieme hier am Hals. Und wenn wir uns die Nase putzen, dann sollten wir uns halt nicht die Nase putzen, sondern die Kieme. Und statt in der Nase zu bohren, bohren wir dann immer hier in unserer Kieme, schaut mal, so! Und dann sollten wir geschimpft kriegen von unseren Eltern, weil wir in der Kieme bohren. Und unsere Eltern sollten aber eben halt auch Aliens sein.«
Lene und Heinrich kicherten, während Raffi hingebungsvoll vorführte, wie er in seiner »Kieme« bohrte.
»Wäh!«, sagte Cordelia, »Mama? – Außerdem, das heißt ›Kiemen‹ und nicht ›Kieme‹. Kie-men!«
Für Cordelia etwas zu essen zu finden war nicht ganz leicht, obwohl sie nach eigenen Angaben »voll viel« Hunger hatte, weil ihre Eltern ihr zu ihrem Kurs »voll wenig« Proviant mitgegeben hatten. Tinchen bot ihr zunächst die Reste des allgemeinen Abendessens an, die sie »ratzfatz« für sie aufwärmen könne (genau: im Thermomix), aber Cordelia mochte keinen Reis und keine Soße und keine »Nudeln«, und der Fisch, den sie vielleicht gegessen hätte, war schon weg, wofür Tinchen, der Grätengefahr wegen, heimlich dankbar war.
Während Tinchen in dem bauchigen Küchenkühlschrank herumfuhrwerkte, der die Ausmaße einer mittelgroßen Abstellkammer hatte, und aufzählte, was sie Cordelia alles anbieten konnte (Birnen? Vollkorntoast? Fettreduzierter Putenaufschnitt? Fettreduzierter Käseaufschnitt? Kernlose Trauben, für deren absolute Kernlosigkeit sie sich allerdings nicht verbürgen konnte? Fleischsalat von Du darfst? Vollkornknäckebrot? Rote Bete aus dem Glas? Schmelzkäseecken (Fettgehalt 15%)? Blumenkohlsuppe von gestern? Oder sollte sie vielleicht noch schnell drei, vier TK-Brötchen für sie aufbacken?), stand Cordelia gelangweilt in der Küche herum und ordnete ihr Haar.
»Tiefkühlbrötchen?«, also das klang ja nicht gerade … »Ach, egal!« – Was bitte war »Tomaterich«? – Ein innovatives Produkt aus der Kräuterquarkforschung, das sich noch in der Erprobungsphase befand, aber auf gar keinen Fall gesundheitsschädlich war, dafür hätte Tinchen nicht nur die Hand, sondern ihre ganze Person ins Feuer gelegt. – Nein, vielen Dank, das wollte Cordelia dann doch eher nicht probieren. »Aber trotzdem, vielen Dank! Nein, wirklich! Vielen Dank!«
Schließlich entschied sie sich für den letzten 0%-Fett-Naturjoghurt, der eigentlich für Heinrichs Frühstück vorgesehen gewesen war, und für ein Stück Apfelstrudel, das Werner sich unter erheblichen Qualen vom Mund abgespart und in einer vor Tinchens luftdichten Dosen aufbewahrt hatte, um es vor dem Kühlschrank stehend zu verschlingen, wenn er von seiner nächsten kräftezehrenden Sechsunddreißig-Stunden-Schicht nach Hause gekommen sein würde. Becherchen und Tellerchen nahm sie mit ins Wohnzimmer, zog die Deckelfolie vom Joghurt ab und legte sie sorgfältig mit der schmutzigen Seite nach unten auf den Tisch, entweder mit Absicht (was Werner, der sie scharf ins Auge gefasst hatte, durchaus für möglich hielt), oder weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um auf die Details ihrer Umgebung zu achten. Niko und Claire beobachteten sie liebevoll von zwei Seiten beim Essen; es fehlte nur noch, dass Niko bei jedem Löffel Joghurt, den sie sich in den Mund schob, seine eigenen Lippen mitbewegt hätte. Dabei fragten sie sie nach dem Klavierkurs aus, von dem sie gekommen war. Waren die anderen besser gewesen als sie? Wie hatte sie gespielt? Und dann, was hatten die Dozenten dazu gesagt? Und über die Arpeggios in der Mozartsonate? Waren sie bis zu der schwierigen Stelle mit dem Übergreifen gekommen? Wie ging es jetzt weiter? Hatte sie neue Freundinnen gefunden? Waren ihre Fingersätze okay gewesen? Und vierhändig, hatten sie dort vielleicht auch mal vierhändig gespielt, in den Pausen zum Beispiel?
»Ich hab das Lartscho gespielt«, sagte Cordelia.
»Largo!«, verbesserte Claire.
»Ich sag aber Lartscho!«