Mumonkan - Doris Zölls - E-Book

Mumonkan E-Book

Doris Zölls

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Beschreibung

Alte Zen-Weisheiten in neuer und zeitgemäßer Deutung

Koans sind Fragen aus der chinesischen Zen-Tradition zu wichtigen Lebensthemen wie: Wer bin ich? Wovor habe ich Angst? Was ist der Sinn meines Lebens? Die Antworten, intuitiv und spontan, führen über den Intellekt hinaus in die Tiefe unserer Persönlichkeit. Einengende Verhaltensmuster werden aufgelöst. So ist Handeln in einer neu gewonnenen Freiheit möglich.

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Seitenzahl: 361

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Das Buch

Wer bin ich? Was ist der Sinn meines Daseins? Wie kann ich glücklich leben? Koans, chinesische Weisheiten aus der Zen-Tradition, können uns Antworten auf diese Art Fragen geben. Sie sind häufig paradox, so wie der Titel dieses Buches selbst: Mumonkan, das heißt Das torlose Tor. Um Koan-Weisheiten zu begreifen, sind herkömmliche Denkweisen untauglich. Spontan anders als bisher zu denken und zu reagieren, führt zu Klarheit und Erkenntnis. So befreien Koans zu erfrischend neuen Sichtweisen auf das Leben.

Die Autorin

Doris Zölls, Myô-en An, geboren 1954, ist seit 2003 spirituelle Leiterin des Benediktushofs. Die evangelische Theologin wurde von Willigis Jäger, Kyo-un Roshi im Jahr 2000 als Zen-Meisterin autorisiert. Sie gehört außerdem zur Sanbô-Zen Schule, Japan, und steht in der chinesischen Chan-Tradition. Doris Zölls ist verheiratet und hat drei Kinder.

Doris Zölls

Mumonkan

Sich selbst finden in den Weisheiten alter Zen-Koans

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: © shutterstock/ Elina Li | BildNR. 292073996; © shutterstock/ Blurry Me | BildNR. 521148118; © Kalligrafie: Koun Yamada, siehe Titel »Mumonkan«, Kösel 2011

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24214-5V001

www.koesel.de

INHALT

KOAN-DEUTUNG HEUTE

LEERE

Jôshûs Hund (Koan 1)

Ein Mann von großer Kraft (Koan 20)

Weder gut noch böse denken (Koan 23)

Weder der Wind noch die Fahne (Koan 29)

FORM IST LEERE, LEERE FORM

Hyakujôs Fuchs (Koan 2)

Eine Frau kommt aus dem Samadhi (Koan 42)

Vorwärtsgehen von der Spitze einer Stange (Koan 46)

Ein nicht erreichter Buddha (Koan 9)

NUR DIES

Guteis Finger (Koan 3)

Masagin (Koan 18)

Kashyapas Fahnenstange (Koan 22)

Buddhas Blume (Koan 6)

Das siebenstreifige Gewand (Koan 16)

Die Rufe des Nationallehrers (Koan 17)

Kyozans Traum (Koan 25)

Jôshû durchschaut die Frau (Koan 31)

Die Zypresse im Garten (Koan 37)

ABLEHNUNG UND VORLIEBEN

Kanshiketsu (Koan 21)

Tokusans Essschalen (Koan 13)

Hogens Bambusrollos (Koan 26)

Nansens Kein Ding (Koan 27)

Jôshû prüft die Einsiedler (Koan 11)

Tozans 60 Stockschläge (Koan 15)

WAS IST BUDDHA?

Geist ist Buddha (Koan 30)

Weder Geist noch Buddha (Koan 33)

Ein Nicht-Buddhist fragt Buddha (Koan 32)

Wer ist jener Eine (Koan 45)

NICHT-WISSEN

Nicht-Wissen ist der Weg (Koan 34)

Kyôgen am Baum (Koan 5)

Keichû fertigt Karren (Koan 8)

Seizei arm und allein (Koan 10)

ÜBUNG

Zuigan ruft sich selbst Meister (Koan 12)

Alltag ist der Weg (Koan 19)

Isans Wasserkrug (Koan 40)

Shippei (Koan 43)

HABEN

Nansens Katze (Koan 14)

Der Barbar hat keinen Bart (Koan 4)

Bashôs Shujo (Koan 44)

ERFÜLLUNG

Jôshû: Wasch deine Essschalen (Koan 7)

Tosotsus drei Schranken (Koan 47)

Begegnung mit einem vollendeten Meister (Koan 36)

Der eine Weg Kempôs (Koan 48)

Oryûs drei Schranken (Koan 49)

SICH FINDEN

Seijo und ihre getrennte Seele (Koan 35)

Ryûtans Name hallt seit langem nach (Koan 28)

Unmons »Verfehlen durch Worte« (Koan 39)

Ri und Mi (Koan 24)

GEIST DER RUHE

Eine Kuh geht durch das vergitterte Fenster (Koan 38)

Bodhidharma beruhigt den Geist (Koan 41)

Zum Schluss: Erwachen zu dem, was wir wirklich sind

Dank

Literatur

Anmerkungen

KOAN-DEUTUNG HEUTE

Der Mumonkan ist wohl eines der berühmtesten Koanbücher. Viele Kommentare gibt es zu ihm, die ihn auf die unterschiedlichste Weise zu entschlüsseln versuchen. Meine Auslegung will jedoch keinen neuen Kommentar zu den zahlreich vorhandenen Darstellungen hinzufügen. Mein Buch ist eine Sammlung von Teishos zu den Koans aus dem Mumonkan, die ich in meinen Zen-Sesshins gehalten habe. Die Teishos erheben nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, sie legen die Koans weder geschichtlich noch literaturkritisch aus. Teishos holen die Koans in die Gegenwart. Sie entheben sie ihrer Geschichte und sind als allgemeine Unterweisung für die Zen-Praktizierenden einerseits Motivation, sich der Übung des Zazen hinzugeben, und gleichzeitig führen sie die Zuhörerinnen und Zuhörer an die Grenze ihres Verstehens, sie fordern sie indirekt dazu auf, den Mut aufzubringen, sich aller Vorstellungen, die ihnen bislang Halt gegeben haben, zu entledigen und in das Erleben des Hörens zu kommen.

Ein Erleben kann nicht mit Worten erklärt oder auch nur annähernd verstanden werden. Darum geht es im Zen auch nicht. Zen ist eine Lebenshaltung, das Leben unmittelbar zu erkennen jenseits von Worten und Schriften.

Das klingt widersprüchlich, geht es doch bei Koans gerade um Worte. Das ist genau die große Herausforderung, die Worte nicht mit unserem Denken zu begreifen, sie nicht mit unserem Intellekt zu erfassen, sondern sie zu erleben. Dies erfordert von uns, dass wir unser Denken übersteigen müssen, gleich einem kleinen Kind, das Geschichten erlebt und nicht den Worten Bedeutung gibt. Für uns Erwachsene gleicht dies einem freien Fall ins Ungewisse. Durch die Koans werden wir auf einmal dazu aufgerufen, das unvoreingenommene Bewusstsein eines Kindes wiederzuerlangen. Arbeiten wir mit Koans, werden wir dazu getrieben, um sie überhaupt begreifen zu können, in die Welt des Nicht-Verstehens einzutauchen. So verrückt es klingen mag: Worte zu erleben, führt in ein ganz anderes Verständnis von ihnen. Uns eröffnet sich eine Welt eben jenseits von Worten und Schriften. Aufzuhören, Worte mit unserem Wissen zu verstehen, ihre Bedeutung, die wir ihnen geben, aufzuheben und sich dadurch in ein Nicht-Wissen einzulassen, was sie ausdrücken, was sie mir sagen wollen, verlangt eine völlig neue Zugangsweise, ein ganz anderes Hören. Dabei stoßen wir beim Hören der Koans zuerst auf unser Unverständnis. Wir müssen uns dabei auf unsicheren Boden wagen, auf ein Terrain, dem wir ansonsten ausweichen. Nichts zu wissen, macht uns Angst und ist eine schwere Übung für uns Erwachsene.

Bereits mit dem Titel des Buches »Mumonkan« führt uns Meister Mumon auf dieses unsichere Feld. Mumonkan heißt übersetzt: das torlose Tor. Das ist paradox. Entweder es gibt ein Tor oder es gibt keines. Von unserem logischen Verständnis her schließen sich torlos und Tor schlichtweg aus. So mutet Mumon uns bereits in der Überschrift diesen Widerspruch zu. Es wäre zu leicht, dies einfach als Nonsens abzutun und zu meinen, Zen ist eben absurd und macht sich einen Spaß daraus, die Menschen zu verwirren. Das wird gerne als ein gängiges Argument gegen Koans gebraucht.

So wurden und werden auch heute noch die Worte der alten Meister missverstanden. Sie werden als verrückt abgetan, eben weil ihre Worte uns nicht in den Kopf gehen wollen. Die Koans der Meister waren schon zu ihrer Zeit für die Menschen ein großer Affront. Da wir uns so sehr dem »logischen« Denken verpflichtet glauben, ist uns ein anderes Verständnis völlig fremd. Doch auch wenn Koans für unsere Ohren verrückt klingen und im ersten Moment unverständlich erscheinen, ja sogar unsinnig, darf man sie nicht als leeres Gerede abtun und meinen, es sei eben eine Masche im Zen, absurd zu erscheinen.

Damit bauen wir nur wieder die verrückten Zen-Antworten in unser »logisches« Denkmuster ein und stempeln sie als nicht verstehbar ab, ohne dem nachgehen zu müssen, ob es nicht an unserem Denken liegt, das uns ihren Wahrheitsgehalt vorenthält. Sie verlangen auf einem ganz anderen Weg verstanden zu werden und dann erleben wir: sie sind kein Blödsinn. Doch es erscheint uns leichter, mit unserem »logischen« Denken die Verrücktheit zu einem Label des Zen zu machen, dann stimmt unser Weltbild wieder. Dies zeigt sehr schön die folgende Erzählung:

Ein Zen-Meister war verreist und ein junger Novize musste ihn vertreten. Des Nachts klopfte ein Wandermönch ans Tempelportal. Der Novize öffnete, grüßte freundlich und sagte zu dem Mönch, der begehrte die Nacht über zu bleiben: Zeige mir dein Gesicht, bevor deine Eltern geboren wurden!

Der Mönch zog eine Sandale von seinem Fuß und schlug dem Novizen damit ins Gesicht. Der Novize lächelte mühsam und hieß den Gast willkommen. Nachdem sie ein einfaches Mahl gegessen hatten, fragte der ebenfalls sehr junge Mönch den Novizen: »Kanntest du die Antwort des Koan, das du an mich gerichtet hast?«

»Nein«, musste der Novize bekennen, »aber ich erkannte sofort, dass deine Antwort richtig war. Deine Antwort kam spontan und stimmte mit dem überein, was ich bisher über Zen alles gelesen habe.«

Der Mönch schwieg und nippte an seinem Tee. Aber er hatte etwas im Gesicht, das den Novizen argwöhnisch werden ließ.

»Das war doch die richtige Lösung?«, erkundigte er sich. Da fing der Mönch an zu lachen und sagte: »Ach weißt du, auch ich habe viel über Zen gelesen.«

Koans sind nicht abwegig, sie sind auch keine Rätsel. Sie bringen die »wirkliche« Wirklichkeit, wie sie ist, zum Ausdruck und nicht wie wir sie uns in unseren Vorstellungen und Bildern malen.

Uns sind unsere Bilder vom Leben so vertraut, unsere Vorstellungen so ans Herz gewachsen, dass wir nicht mehr merken, wie wir die Abbilder als die Wahrheit betrachten. Wir kommen nicht auf die Idee, sie könnten vielleicht die Wirklichkeit verzerren, sie anders darstellen, als sie eigentlich ist. Koans versuchen uns diese unsere Bilder zu entreißen, unsere Konzepte zu zerstören und uns unmittelbar mit der Wirklichkeit zu konfrontieren.

KOANS – DOKUMENTE DER UNMITTELBAREN WIRKLICHKEIT

Ursprünglich waren Koans ein amtliches mit Autorität versehenes Dokument, auf das sich jedermann verlassen konnte. Sie beinhalteten neue Vorschriften, verwiesen darauf, was von jetzt an zu gelten hat. Sie waren verbindlich.

Es kommt nicht von ungefähr, dass Zen diesen Begriff »Koan« für seine Botschaft übernahm. Die Aussagen der großen Meister bekommen dadurch die gleiche Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit wie ein offizielles Dokument. In den Zen-Koans jedoch geht es nicht um amtliche Dokumente, die sich je nach Zeit und Regierung ändern können. In Koans geht es um die unumstößliche Wirklichkeit, die keiner Zeit, keinem Herrscher und auch keiner Mode unterliegt. Sie erwecken uns zu einem neuen Bewusstsein, das immer und überall Autorität besitzt. Es mag unseren Verstand übersteigen, doch darin besteht gerade ihre wahre Autorität. Sie sind nicht an unser wankelmütiges Denken und an die sich unentwegt verändernden Vorstellungen gebunden. Sie eröffnen eine völlig neue Sicht der Wirklichkeit, die den Anspruch erhebt, das alles umfassende Sein zu erfassen, ja zu leben. Das Koan wird im Zen zu einem Dokument der unmittelbaren Wirklichkeit. Mit unserem »normalen« Denken ist diese Wirklichkeit nicht zu verstehen, ist doch das Denken selbst nur wieder ein Ausdruck der Wirklichkeit und steht nicht über ihr, von wo aus sie diese beschauen und bedenken könnte. Unser Intellekt ist gebunden an festgefahrene Vorstellungen, Konzepte und kann über seine »gestrickten« Muster nicht hinausgehen. Er ordnet die Wirklichkeit nach seinen Vorgaben ein, grenzt sie ab, vergleicht sie. Die Wirklichkeit jedoch zu erkennen, dazu braucht es ein ganz neues Erleben. Dieses Erkennen wird im Zen als das große Erwachen beschrieben. Wir erwachen aus den Träumen, lassen die Bilder hinter uns, die wir uns über das Leben machen. Wir lernen, unmittelbar des Lebens gewahr zu werden. Als Buddha beim Aufgehen des Morgensterns diese neue Sicht erfuhr, rief er aus: »Ich und das ganze Universum sind eins.« Dies ist ein Erkennen, das alle Denkmuster übersteigt. Wie sollte ein Ich nicht abgegrenzt sein. Um das andere als anderes zu verstehen, muss ich da nicht dem anderen gegenüberstehen? Was bedeutet es, mit allem eins zu sein? Es ist kein Gedanke, den Buddha in dem Moment gedacht hat, es war ein ganzheitliches Erleben, Körper, Geist und Seele lösten sich auf. Es gab keinen Körper mehr, der etwas erlebte, keinen Geist, der darüber nachdachte, keine Seele, die etwas fühlte. Er war das Erleben selbst. Das Leben erkannte sich als Leben. Es gab ihn als das ganze Universum. Ein Erleben ist unumkehrbar, wie wenn ich mich an einem Feuer brenne und jetzt weiß, was Feuer ist. Ich kann davon erzählen, doch nicht weitergeben, was ich erlebt habe. Diese Unmittelbarkeit des Brennens anderen deutlich zu machen und mein Erleben weiterzugeben, geht nicht. Jeder kann das Feuer nur für sich selbst erfahren. Und so ist es auch mit dem Erkennen der Wirklichkeit. Ich kann darüber erzählen. Es ist und bleibt nur ein Bild und nicht die Wirklichkeit selbst. Daher ruft Zen dazu auf, dass jeder von uns sie selbst erleben sollte.

Unbewusst erleben wir sie unentwegt. Wir sind immer in dieser Realität, doch unsere Gedanken, Vorstellungen und Prägungen liegen wie schwere Decken auf ihr und lassen uns sie nicht wahrnehmen. Auch wenn ich es mir noch so sehr vornehme, dies zu verwirklichen. Ein noch so starkes Ich kann das nicht erreichen, denn auch unser Ich hat keine andere Struktur wie unsere Gedanken. Die Koans haben die Kraft, diese Decken hochzuheben, sie verbrennen sie mit dem Feuer der Unmittelbarkeit. Koans zwingen uns, unsere Denkmuster zu übersteigen, sie hinter uns zu lassen und uns auf das, was wirklich ist, einzulassen. Es mag sich im ersten Moment leicht anhören, die dicken Decken der Vorstellungen zu entfernen, doch diese Decken liegen schwer auf uns. Sie sind eingebrannten Malen gleich, die uns zu dem machen, wie wir uns verstehen. Sie erwecken den Anschein, uns zu stabilisieren, machen uns glauben, in ihnen ein Zuhause zu haben. Doch sie sind so zerbrechlich, ihre Stabilität trügt. Alle Erlebnisse, die wir Menschen von Anbeginn machten und auch heute noch machen, setzen wir in Geschichten. Wir ordnen Erlebtes in Bekanntes ein, vergleichen es mit ähnlichen Erfahrungen und bauen damit Mauern auf, hinter denen wir glauben, das Leben zu verstehen, und vor allem, uns vor Leid und vielleicht sogar vor dem Tod schützen zu können.

Doch die Welt ist so unermesslich weit und unentwegt tut sich Neues auf, wir kommen mit unseren Geschichten nicht nach, alte Erzählungen belegen Neues, dienen nur noch als Kostüme. Diese Narrationen haben sich bis ins Körperliche hinein verfestigt. Sie zu lösen, von ihnen frei zu werden, bedeutet, sie wirklich körperlich abzulegen, nicht mehr in Geschichten zu leben, sondern direkt zum Erleben zu werden und damit die Wirklichkeit unmittelbar zu erfahren. Das ist die Übung des Zen.

So kann es im Zen nie um eine neue Theorie, um andere Interpretationen vom Leben gehen. Allein das Erleben selbst ist der Mittelpunkt von Zen. Wir wollen den Tee selbst trinken und uns nicht nur davon erzählen lassen, wie er schmeckt.

Die Koans sind jedoch keine Hilfsmittel, in diese Unmittelbarkeit zu kommen, indem sie unseren Verstand so überfordern, dass er auch mit noch so vielem Hin-und-her-Überlegen nicht weiterkommt und er es dann aufgibt, eine Lösung zu finden. Die Koans sind diese Wirklichkeit selbst. Alles ist die Wirklichkeit selbst und nicht ein Mittel, um die Wirklichkeit zu erleben. Alle Dinge sind das Leben selbst und dienen nicht dazu, das Leben dahinter, davor oder danach zu leben.

So ist die Übung des Zen, das Leben zu leben und nicht nur nachzuerzählen. Wie schwimmen geht, was man dabei erlebt, hat mit Schwimmen selbst nichts zu tun. Erst wenn ich selbst schwimme und eins mit diesem Schwimmen werde, lässt mich das Schwimmen unmittelbar sein.

Die Dinge, das Leben nur zu bedenken, zu bewerten, es mit anderem zu vergleichen, hinterlässt in uns das Gefühl, nicht wirklich zu leben. Eine Sehnsucht, ja manchmal sogar eine Gier nach Leben steigt in uns auf. Diese Gier verschwindet auch nicht, wenn wir immer neuen Events hinterherlaufen, das nützt nichts. Solange wir nicht in diese Unmittelbarkeit eintauchen, werden wir nicht fähig sein, uns wirklich lebendig und erfüllt zu fühlen und zu handeln. Solange die Unmittelbarkeit uns nicht erfasst, bleibt die innere Leere, der Hunger nach Leben. Es braucht einen ganz neuen Weg, um aus der eingefrästen Spur unseres gewohnten, von Gedanken gebremsten Lebensgefühls zu steigen.

Im Zen wird dafür ein drastisches Bild gebraucht: in einen tiefen Brunnen fallen, ohne zu wissen, wo und wie man aufkommt. Das macht Angst und wir versuchen immer, mag sie auch noch so gering sein, etwas Sicherheit in petto zu haben. Doch auch nur ein bisschen Halt und wir sind meilenweit von dem Erleben entfernt.

Diejenigen jedoch, die den Sprung ins Bodenlose wagten, erzählen uns, dass er überwältigend ist. Meister Unmon schrie in diesem Moment:

»Die Welt ist unermesslich weit wie dies!«

Meister Ba rief mit so lauter Stimme »Kaatz«, dass sein Schüler Obaku drei Tage taub war.

Meister Mumon, der die 48 Koans zu dem Buch des Mumonkan sammelte, hatte selbst mit dem Koan »Hat ein Hund Buddha-Natur«, an dem er sechs Jahre lang hart gearbeitet hatte, ein solch tiefes Erlebnis, das er in einem Gedicht niederschrieb:

Ein Donnerschlag, bei klarem, blauem Himmel!

Alle Wesen auf Erden haben ihre Augen geöffnet.

Alles unter der Sonne hat sich sogleich verneigt.

Der Berg Sumeru springt auf und tanzt.

Vielleicht war seine Erfahrung mit diesem Koan der Auslöser, die Koansammlung zusammenzustellen und sie zu dem Buch des Mumonkan zu vereinen. Er wollte wohl auch andere Zen-Übende in dieses Erleben kommen lassen, mit einem Koan so eins zu werden, dass es ihre Gedankenspirale durchbricht und »die ganze Welt springen und tanzen« kann.

Mumon fügte in seinem Buch zu den Koans noch ein Gedicht und einen Kommentar hinzu. Ich werde nur manchmal beide mit heranziehen. Meistens steht in meinen Teishos nur das Koan im Fokus.

Mumon schrieb, dass er die Koans ohne eine Ordnung zusammengestellt hat. So sehe ich mich in der Freiheit, meine Ordnung bzw. Unordnung mit ihnen zu erstellen. Ich habe die Koans nach dem, was ich in ihnen erlebt habe, Themen zugeordnet und möchte sie, liebe Leserinnen und Leser, einladen, sich mit mir auf den Weg des Zen zu begeben. Es ist kein anderer Weg als in unser Leben selbst, in unsere Ängste, unsere Prägungen, aber auch auf den Weg der Befreiung.

Wir sind oft durch unsere Muster und Konditionierungen in unserem Leben so gefesselt. Sie hindern uns, uns frei und offen auf unser Leben einzulassen. Sie zu durchbrechen und uns in eine Offenheit und Freiheit vorzuwagen, und vor allem unser Urvertrauen wiederzufinden, das ist das Erleben mit Koans.

Es ist das Urvertrauen, das uns den Mut gibt, uns dem Leben mit all seinen Schwierigkeiten und Herausforderungen zu stellen.

Wir Menschen glauben, durch die schweren Erlebnisse in unserem Leben haben wir das Urvertrauen verloren und könnten dadurch dem Leben, den Mitmenschen immer nur noch mit Abstand begegnen. Dieses Urvertrauen ist jedoch nur verschüttet von den vielen Enttäuschungen. Es ist nicht weg. Enttäuschungen ließen einen Panzer um uns herum wachsen, der jegliche Nähe oder auch Sorglosigkeit nicht mehr zulässt. Vielleicht können wir auf dem Zen-Weg dem Urvertrauen wieder näherkommen, es wieder spüren, den Panzer vielleicht sogar sprengen und an unser Urvertrauen wieder herankommen, auch wenn es tief verschüttet ist.

Jedes Koan bricht eine Bahn in diesen Schuttberg, lässt wieder Licht bis in die Tiefen unseres Seins dringen, räumt Geröll weg und eröffnet uns den Blick für das, was wir wirklich sind.

BUDDHAS ERWACHEN

Es gibt zwei Aspekte, die das Erwachen des Buddha kennzeichnen. Einmal die Erkenntnis, dass alles, aber auch wirklich alles miteinander verbunden ist und nichts für sich allein steht. Gerne wird für dieses allumfassende Sein das Bild eines Flusses genommen, in dem alle Formen enthalten sind, der sich unentwegt neu zeigt, und doch immer derselbe ist. Jede Form, jedes Phänomen ist eine Welle des Flusses. Keine Welle ist von der anderen getrennt, keine kann außerhalb des Flusses existieren. Möchte ich jedoch die Welle fassen, rinnt sie mir durch die Finger. Nichts kann ich festhalten, nichts hat eine feste Substanz, und doch ist sie in dem Moment des Eintauchens in die Welle ganz existenziell zu erfahren. In jedem Moment erlebe ich in dieser ganz konkreten Welle den Fluss. Als Bild kann ich eine Welle festhalten, doch ist sie nie die Welle, in die ich gesprungen bin. Im Nachhinein schreibe ich meiner Erfahrung mit der Welle meine Eigenschaften zu, bestimme sie und mache sie fest in meinem Kopf. Im Augenblick des Aufsteigens einer Welle jedoch ist sie »einfach nur« diese Welle. Meine Gedanken sind rasend schnell, schieben sich sogleich zwischen mich und das Erleben und verhindern in dem Moment das unmittelbare Leben. Ich erfahre dann nur das, was ich darüber denke. So sind wir zwar in jedem Moment im Fluss, doch in den seltensten Fällen erkennen wir uns wirklich darin. Wir sind unsere Gedanken über ihn. In den Fluss eintreten heißt im Zen, mit dem Leben mitgehen, ohne uns an die Wellen zu klammern. Erst so ist es uns möglich, die Unendlichkeit des Flusses in der Endlichkeit seiner Wellen zu erfahren. Fluss und Wellen sind nicht getrennt, nur in den Wellen kann ich den Fluss empfinden. Allein in den unendlichen Formen des Lebens bin ich das Leben. Identifiziere ich mich mit den Wellen bzw. den Formen, versuche ich sie festzuhalten, erfahre ich immer nur ihre Vergänglichkeit und das Gefühl des Verlustes prägt sich mir ein. Lasse ich sogleich wieder los, spüre ich die Unendlichkeit des Flusses. Im Eintauchen in die Wellen, im Auftauchen aus ihnen, ohne mich an sie zu klammern, lebe ich die Dynamik des Lebens. Ich bin in jeder Welle der nicht endende Fluss. Geborenwerden und Sterben werden zu Wellen des Lebens, sie stehen sich nicht mehr gegenüber, sie werden zum Ausdruck des Lebens. Diese Substanzlosigkeit wird im Zen LEERE genannt. Nicht weil da nichts ist, nicht weil die Dinge keine Bedeutung haben. Sie sind jedoch nicht das, was ich in sie hineindeute. Da ich den Fluss nur in seinen Wellen erleben kann, ist jeder Moment, jedes noch so kleine Ding die große und einzige Chance, eins mit dem Leben zu werden. Ich gebe den Dingen keine Eigenschaften, halte sie nicht in meinen Gedanken fest, damit verlieren sie ihre Isoliertheit. Es gibt keinen eigenständigen, getrennten Kern, den es festzuhalten gäbe. In ihrer unentwegten Wandelbarkeit erlebe ich die Beständigkeit.

Ein weiterer Aspekt, der sich aus der Substanzlosigkeit allen Seins erschließt, ist, dass die Zeit aufgehoben wird. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sie gehören unserem »normalen« Denken an, das linear verläuft. Ich denke, dass eine Welle entsteht, besteht und vergeht. Im Erleben fallen diese Zeiten zusammen. Es gibt keine Zeit mehr. Wir bezeichnen dies als Augenblick. Doch auch dieses Wort trifft es nicht. Ewigkeit ist Erleben, ist die Aufhebung der Zeit. Die Worte können es nicht erreichen, denn sie entstammen ja unserem Denken und damit der Zeit selbst. Ansatzweise können wir immer wieder erleben, wie Zeit sich auflösen kann. Oft in Extremsituationen, wo unser Denken an seine Grenzen stößt und nicht mehr weiterweiß, und angesichts des Todes, da wird der Moment zeitlos. Wir erfahren Ewigkeit.

Diese Zeitlosigkeit, dieses All-Eins-Sein, erleben wir in den Koans.

DIE WORTE SIND DAS JETZT

Beim Lesen der Teishos dürfen Sie nie vergessen, dass es auch bei meinen Worten um Beschreibungen geht und diese noch nicht das Erleben sind. Vielleicht können Sie manchmal in das Erleben der Worte eintauchen, sodass die Worte Sie ganzheitlich berühren. Darüber würde ich mich sehr freuen. Es geht nämlich bei jedem Koan darum, in die Erfahrung der Wirklichkeit zu kommen und nicht wieder ein neues Konzept aufzubauen, auch nicht wenn es um ein wunderbares Zen-Konzept geht. Viele Zen-Meister haben es daher vermieden, mit Worten zu lehren. Sie wollten ihre Schüler nicht noch mehr in den Dschungel ihrer Gedanken treiben. Gelingt es uns, die Koans zu erleben, die Worte wirklich zu schmecken, uns von ihnen erschüttern zu lassen, indem wir sie eben nicht bedenken, ist es sogar möglich, in den Wellen der Worte den Fluss zu erfahren.

Einheit, Substanzlosigkeit, sie führen dazu, nicht zu unterscheiden. Wenn alle Phänomene, alle Dinge Wellen des einen Flusses sind, sie alle das Leben ausdrücken, sind sie in jedem Moment für uns ein Blitz des Lebens selbst. In ihrem Ausdruck mögen sie sich gewaltig unterscheiden, doch in ihrem wirklichen Sosein sind sie aus demselben »Stoff«, nicht zu vergessen, dass sie keine Festigkeit besitzen. Das Leben ist in jedem Moment genau in dieser Form wirksam. Es gibt keinen Moment, wo dies nicht der Fall wäre. Dies bestimmt die Haltung in der Übung des Zen.

Wir schulen uns in der Achtsamkeit, in jeden Moment ganz und gar einzutauchen, das Leben nicht unbewusst an uns vorüberziehen zu lassen. Dafür brauchen wir die Konzentration, ansonsten tragen uns unsere Gedanken in die unterschiedlichsten Welten, die mit dem Hier und Jetzt nichts zu tun haben. Das Jetzt wird zum Fokus unserer Aufmerksamkeit. Ich binde meine Gedanken bildlich gesprochen an den Pflock des Jetzt. Dieser kann unterschiedlich sein. Im Zazen ist es das Einfach-nur-Sitzen. Es kann aber auch der Augenblick des Atems sein, der sich ohne unser Zutun unentwegt zeigt. Der Körper ist ganz still, nichts bewegt sich, die Gedanken kommen durch die Aufmerksamkeit auf den Atem zur Ruhe, die Gefühle ziehen sich zurück. Ich erlebe jeden Moment das Ein- und das Ausatmen. Es kann aber auch ein Schritt sein, ein Handgriff, ein Wort, ein Bild, egal was sich gerade als Jetzt auftut, ich nehme es wahr und hänge keinen einzigen Gedanken daran. Wenn wir diese Übung auf das Koan übertragen, dann gibt es in den Koans Worte, die uns vielleicht gegen den Strich laufen oder die uns gerade gut gefallen. Ich nehme jetzt das Wort und mache es zu meinem Jetzt. Ich gebe ihnen nicht meine Bedeutung. Ich bedenke sie nicht. Ich schaue, lausche, lasse sie klingen ohne einen Hauch von Bewertung, nicht einmal einen Anflug von Benennung. Wir werden bald merken, dass dies nicht so einfach ist. Dieses reine Gewahrsein des Augenblicks wird unentwegt von unseren Gedanken dazu durchkreuzt. Doch wir geben nicht auf, immer und immer wieder kehren wir zu diesem Jetzt zurück. Wir merken, wie unser Geist ihn bedenken möchte, ihn bewerten, vergleichen, eine Geschichte dazu erfindet. Wir richten die Aufmerksamkeit wieder auf das Jetzt. Arbeiten wir mit Koans, dann sind die Worte unser Jetzt. Sie werden merken, wie schwer es ist, den Worten nicht unsere Bedeutung zu geben. Sie nicht verstehen zu wollen. Worte sind noch schwerer als ein Schritt oder ein Atemzug. Sie ziehen uns sofort auf die Ebene des Denkens. Wir dürfen jedoch nur in ihren Klang eintauchen. Immer und immer bewegen wir sie in uns und vermeiden jegliches Darüber-Nachdenken. Lassen wir uns darauf ein, eröffnet sich ihr »wirklicher« Sinn. Ich erlebe sie. Immer wieder konnte ich feststellen, wie Koans in mir tiefe Muster an die Oberfläche schwemmten. Manchmal war es mir gar nicht bewusst, doch auf einmal tat sich im Außen, in der Begegnung mit einem Mitmenschen ein Problem auf, bedrängte mich, ja stürzte mich manchmal sogar in ein tiefes Loch. Unerträglich, unüberwindbar erschien mir die Situation. Ich ging weiter mit dem Koan, sprach es in mir immer und immer wieder und konnte auf einmal erleben, wie der Knoten aufbrach, sich der Widerspruch löste, die Gegensätze, die mir unversöhnlich erschienen, sich enträtselten.

Wenn ich zurückblicke, geschah dies immer dann, wenn ich aufgab, etwas verstehen zu wollen, den Widerspruch als solchen annahm. Das war kein intellektueller Akt. Aus dem Aufbäumen gegen diese Gegensätze wurde ein Sich-Hineingeben. Oft war es aus der letzten Verzweiflung heraus, weil ich die Gegensätzlichkeit nicht mehr aushielt. Nie war es ein Tun meinerseits, immer war es ein Geschehen. Dies zuzulassen jedoch ist das Schwere, unser Ich muss aufgeben, etwas zu machen, etwas richten und lösen zu wollen. Bis diese Ich-Aktivität unseres Geistes das Wollen aufgibt, dauert es oft lange. Doch jetzt gilt, nicht nachlassen, immer wieder die Aufmerksamkeit auf das Jetzt lenken und den unterscheidenden Geist nicht das Ruder übernehmen lassen, das ist die Übung.

Das stille Sitzen ist dafür eine der wirksamsten Übungen. Unser unruhiger Geist kann sich nicht austoben. Die stille Haltung zwingt ihn nieder, er muss aufgeben. Je heftiger er rast, umso mehr schmerzt unser Körper, je mehr er in die Vergangenheit oder Zukunft strebt, umso stärker baut sich in meinem Körper eine Spannung auf. Nur die Konzentration auf das Jetzt, auf diesen Atemzug, auf dieses Koan, lässt den Körper entspannen. Tritt kein Gedanke in den Vordergrund, kann ich mich in das Jetzt fallen lassen, der Körper entspannt sich und die Schmerzen lösen sich. Dies ist ein wundersames Zeichen und zeigt uns, wo sich unser Geist gerade befindet. Jeder Moment ist mein Jetzt. Jeder Moment lässt mich den Fluss erleben. Das Jetzt des Koans ist sehr wirkungsvoll, denn es gräbt sich tief in unser Inneres ein, in dem sich viele Prägungen versteckt halten, die doch im Alltag unser Handeln unbewusst bestimmen. Die meisten Konditionierungen sind unbewusst. Koans können sie an die Oberfläche treiben. Das kann oftmals zu einer großen Erschütterung führen. Jetzt geht es darum, darin nicht stecken zu bleiben, sondern einfach weiterüben und sich nicht irremachen lassen. Viele Zen-Praktizierende haben sich auf diesen Weg eingelassen, haben nicht haltgemacht vor dem scheinbaren Abgrund. Durchbrachen sie den letzten Vorhang, war dies stets ein Erlebnis der Befreiung.

NICHT VERSTEHEN WOLLEN – KLINGEN LASSEN

Mit diesem Buch möchte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, einladen, sich auf Koans einzulassen, ohne dass Sie sie verstehen, ohne dass Sie sich dazu eine Meinung bilden, hören Sie sie einfach, lassen Sie sie klingen, lassen Sie sie stehen, ohne sie verstehen zu wollen. Vertrauen Sie darauf: Koans erschließen sich Ihnen, und nicht umgekehrt. Sie lösen nie ein Koan. Das Koan löst Sie. Seien Sie offen für diesen Sprung, dass Sie nichts mehr in Händen halten, Sie nackt und bloß sind.

LEERE

JÔSHÛS HUND

KOAN 1

Ein Mönch fragte Jôshû in allem Ernst:

»Hat ein Hund Buddha-Natur oder nicht?«

Jôshû sagte: »MU!«

Jôshû war einer der berühmtesten Zen-Meister im Alten China. Ihm verdanken wir nicht nur dieses Koan, sondern zugleich die herausragende Übung mit MU, mit dem Tausende von Mönchen und Zen-Praktizierenden geübt haben und es heute noch tun. Ein paar wenige Worte zu Meister Jôshû. Er lebte im 8. und 9. Jahrhundert und war bereits zu seinen Lebzeiten ein sehr berühmter Meister. Gelernt hatte er bei Meister Nansen1. Nach dessen Tod ging er 20 Jahre auf Wanderschaft, vertiefte bei den unterschiedlichsten Zen-Meistern seine Kenntnisse und ließ sich mit 80 Jahren in einem kleinen Kloster in der Stadt Jôshû nieder, wo er noch 40 Jahre lehrte.

Es heißt, dass Jôshû mit sanfter Stimme unterrichtete und daher sein Zen »Mund-und-Lippen-Zen« genannt wurde. Seine Worte waren sehr kraftvoll und standen den Unterweisungen der anderen Meister, die mit Schreien und Schlagen ihre Mönche führten, nicht nach. Der Legende nach soll bei Jôshûs Reden ein kleines, flimmerndes Licht aus seinem Mund ausgeströmt sein, und seine leisen Worte sollen die Kraft eines Donners gehabt haben.

Auch dieses Koan, das im ersten Moment die so kurze, unscheinbare Antwort MU zum Inhalt hat, ist so gewaltig in seiner Aussage, dass dieses MU seitdem zur Grundlage der Zen-Praxis für viele wurde.

ALLE WESEN HABEN BUDDHA-NATUR

Das Koan greift eine Aussage des Buddhismus auf, in der es heißt: »Alle Wesen haben die Buddha-Natur.« Dies darf nicht so verstanden werden, dass in allen Lebewesen ein göttlicher Kern oder eine unsterbliche Seele existiere. Mitnichten! Gerade Buddhas große Erkenntnis war es, dass es kein festes, eigenständiges Selbst gibt, sondern sich alles in unentwegtem Wandel und wechselseitiger Abhängigkeit zeigt. Nichts ist fest, auch nicht ein Selbst oder eine Seele. Sie selbst sind der Wandel. Dies zu erkennen und zutiefst zu verkörpern wird Erwachen genannt. Jeder Moment offenbart die Wirklichkeit als ein unentwegt in Erscheinung tretendes Bewusstsein. Jedes Phänomen ist daher Ausdruck dieser einen Bewusstheit. Alles besitzt dieselbe Natur. Alles ist Buddha. Buddha heißt erwacht zu sein. Gleichzeitig ist Buddha der Ehrennamen für Shakyamuni Gautama2, der diese Wirklichkeit zutiefst verkörperte. Zudem wird Buddha nicht nur als Ehrennamen Shakyamunis oder für das Erwacht-Sein benutzt, sondern Buddha steht auch für die Bewusstheit selbst. Buddha ist das Absolute, das sich in allem vollzieht. Doch Buddha ist kein philosophischer Begriff, mit dem das Absolute einen Namen bekäme. Buddha ist das Absolute, ist das Eine selbst. Alle Spekulationen, wie man sich das vorstellen könnte, werden im Zen weggewischt, denn da das Denken ebenso ein Phänomen des Absoluten ist, kann es dieses nicht bedenken. Allein in einer ganz konkreten Situation ist es möglich, für einen Augenblick, der jenseits aller Zeit liegt, diese Natur allen Seins zu erleben. Nur im unmittelbaren Hier und Jetzt eröffnet sich die Buddha-Natur. Jeder Versuch, dies denkerisch oder sprachlich auszudrücken, bleibt immer hinter dem Erleben zurück.

So heißt es zwar, alle Wesen besitzen die Buddha-Natur, doch schon bei dem Wort »besitzen« werden wir irregeführt. Nichts und niemand kann die Buddha-Natur wie ein Hab und Gut besitzen. Sie ist kein fester Kern, der in dem unentwegten Wandel bestehen bliebe. Die Buddha-Natur kommt nicht zu unserem normalen Dasein hinzu. Alles ist die Buddha-Natur. Sie hat keine Eigenschaften, die sie festlegen. Sie ist die unentwegte Veränderung selbst und darin beständig. Sie kann daher nicht benannt und nicht festgehalten werden. So wird sie auch mit Leere bezeichnet.

DIE LEERE IST DIE FORM

Leere bedeutet nicht Nichts, im Sinne eines Nihilismus. Leere heißt: ohne Zuordnungen, ohne ein eigenständiges, stabiles Selbst. Je nach Augenblick kann etwas so oder so erscheinen. Nichts ist festzuschreiben. Alles ergibt sich in jedem Moment neu. Damit birgt die Leere eine unendliche Potenzialität in sich. Mit unserem Verstand geben wir allem Eigenschaften, belegen wir alles mit Begriffen. Damit entziehen wir es dem Erleben, geben ihm eine feste Seinsstruktur, wir ordnen alles, legen es fest und vergleichen es miteinander. Doch keine Form ist fest, keine ist eigenständig oder unabhängig, kein Moment ist stabil oder dauerhaft. Alles ist in unentwegter Veränderung und mit allem anderen in einer unbegrenzten wechselseitigen Abhängigkeit zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort neu.

So heißt es im Herzsutra3: »Form ist Leere, Leere Form.«

Die Leere ist in jedem Moment die Erscheinung selbst, nichts Geistiges, das als stabiler Kern oder als Essenz zu einer Form dazukommt. Die Leere ist die Form. Dies ist jedoch allein im unmittelbaren Erleben für uns erfahrbar.

Tritt die Form in Erscheinung und wir erleben uns unmittelbar eins mit ihr, erkennen wir in diesem Moment die Buddha-Natur. Sie ist sowohl meine wahre Natur, wie die aller Formen. So kann ich mich eins mit dem Objekt erleben. Ich erwache zu mir selbst. Der Form jedoch den Namen Buddha zu geben, wäre falsch, damit würde Buddha zu einem Begriff, zu einer Eigenschaft werden. Buddha ist das unmittelbare Erleben der Wirklichkeit, die Bewusstwerdung des Augenblicks.

In der Tradition versuchte man dieses Erleben mit Bildern zu beschreiben. Ein zentrales Bild dafür ist die Welle eines Flusses. Eine Welle symbolisiert die Form, der Fluss die Leere. In den Wellen erleben wir den Fluss. In der Form die Leere. Doch kann ich nicht sagen: diese Welle ist der Fluss. Die Welle erscheint in einem Augenblick und in diesem Moment erfahre ich in ihr den Fluss. Form ist Leere, Leere Form. Dieser Satz darf nie zu einem Glaubenssatz erhoben werden. Wir würden damit der gewaltigen Erfahrung Buddhas die Lebendigkeit nehmen, sie als etwas Denkerisches weitergeben und nicht als unmittelbares Erleben. Dann ergeht es uns wie dem Mönch im Koan, der den Satz »Alle Wesen haben die Buddha-Natur« zwar auswendig hersagen konnte, doch diese Aussage nicht spürte und so von Zweifeln geplagt war. Ein Glaubenssatz trägt nicht im Alltag. Bei jeder kleinen Schwierigkeit kommen Zweifel an der Richtigkeit. Bei dem Mönch waren es vielleicht die Zweifel, ob seine Entscheidung, ins Kloster eingetreten zu sein, wirklich richtig war? Ist seine wahre Natur wirklich Buddha? Zweifel über Zweifel. Wo sehe ich die Buddha-Natur, wie spüre ich sie bei mir, wie bei viel niedrigeren Wesen als mich, z. B. bei Hunden, die noch dazu von den Kreaturen als unterstes Glied der Kette gesehen werden. Wie sollen sie alle die gleiche Buddha-Natur haben? Es gibt doch gravierende Unterschiede.

MU

Es ist schnell dahingesagt, alle Formen seien von Natur aus Buddha. Bedenke ich es jedoch genauer, würde das bedeuten, es gäbe nichts Schlechteres und nichts Besseres. Wie kann das sein? Das steht hinter der bedrängenden Frage des Mönches.

Die Frage führt ihn noch weiter. Wenn es wirklich keinen Unterschied gibt und alles bereits die Buddha-Natur hat, warum sollte ich mich dann anstrengen, Buddha zu werden? Es ist doch bedeutungslos, ob ich mich als Mönch anstrenge oder das Leben in vollen Zügen genieße? Alles ist ja Buddha. Warum bin ich überhaupt Mönch geworden und habe mich dem normalen, vielleicht angenehmeren Leben entzogen? Das ist wirklich eine schwerwiegende existenzielle Frage.

Mit diesem Anliegen geht der Mönch zu seinem Meister und fragt ihn in »allem Ernst«, sprich: in großer existenzieller Not:

»Hat ein Hund Buddha-Natur?«

Jôshû antwortet kurz und bündig: »MU!«

Das ist ein Schlag. Völlig unerwartet, völlig unverständlich. Der Mönch steht fassungslos da. Einfach nur dieses MU.

Jôshû reißt mit diesem kleinen Wörtchen MU den Mönch aus all seinen Überlegungen. Er drängt ihn in den Bereich des Nicht-Verstehens. Er zieht ihm den Boden unter den Füßen weg, denn nichts ist so schwer auszuhalten, wie nichts zu wissen.

Alles, was wir mit den Sinnesorganen aufnehmen, belegen wir sofort mit einem Begriff, setzen es in einen Zusammenhang, ordnen es und spinnen einen roten Faden, wo alles passt und sich schlüssig anfühlt. Damit stabilisieren wir uns in der Welt.

Gleichzeitig erleben wir aber ständig, dass unsere Gedankenkonstrukte nicht tragen, sie die Komplexität des Lebens nicht erfassen können. Vieles geht uns einfach nicht in den Kopf, und wir können sehr gut nachempfinden, wie verwirrt der Mönch war und Jôshû um eine Erklärung bittet. Doch Jôshû erklärte ihm nicht den schwierigen Sachverhalt, er sagte einfach MU.

MU ist wie ein unerwarteter Hieb. Es hält das Denken des Mönches an. MU ist keine Antwort. Jôshû reißt den Mönch ins Hier und Jetzt, wie wenn er ihn in einen See geworfen hätte und er nur noch nach Luft schnappte.

Dieses Schnappen nach Luft ist unmittelbar. In dem Moment sind wir ganz da. Kein Gedanke taucht auf, nur noch nach Luft ringen.

Mit MU holt Jôshû den Mönch in einen solchen Augenblick. Es ist so verrückt, dass der Mönch es nicht verstehen kann. Die Möglichkeit eröffnet sich, MU als Augenblick des Lebens zu erfahren. »Erlebe MU. Sei MU. Hör auf zu denken! Kein Verstehen lässt dich die Frage nach der Buddha-Natur erkennen.«

Wollen wir unsere wahre Natur erleben, ist dies nur möglich, indem wir aufhören die Dinge zu benennen, zu kommentieren oder zu bewerten.

In die Wellen des Lebens springen, sich von ihnen tragen und umherwerfen lassen, in sie eintauchen! Das Leben wird unmittelbar. Im Hier und Jetzt gibt es keine Zeit, sich an irgendeinem Begriff festzuhalten.

Klammern wir uns an einen Augenblick, geschieht dies meist aus Angst, etwas zu verlieren, oder aus Angst vor dem Neuen. Aber wie sollte es möglich sein, das Leben festhalten zu wollen, wo es sich doch unentwegt wandelt. Das Erlebte kann nur beständig erscheinen, wenn wir uns ein Bild davon machen, wir uns Geschichten davon erzählen. Doch die Bilder sind nicht das unmittelbare Erleben. Sie sind nur Abbilder und entbehren der Lebendigkeit. Wir sind es so gewohnt, in Bildern und Geschichten zu leben, dass wir verlernt haben, unmittelbar da zu sein, und die Bilder erscheinen uns realer als die Wirklichkeit. Wir sind zu unseren Erzählungen geworden und agieren aus ihnen heraus.

Die Bilder hindern uns daran, den Augenblick angemessen zu leben. Wir sind in unseren Prägungen und Abbildern gefangen, sehen nicht, was wirklich ist. Es geht daher darum, aus den Bildern aufzuwachen, sie als Konstrukte zu erkennen und so von ihnen frei zu werden.

KEINE GEGENSÄTZE

Nehmen wir das Leben mit unseren Sinnesorganen wahr, unterscheidet unser Geist sogleich die Dinge als angenehm oder unangenehm. Das Angenehme wollen wir festhalten, beim Unangenehmen gehen wir in Widerstand. Angenehm und Unangenehm werden zu Gegensätzen, die sich ausschließen.

Wir teilen im Grunde genommen alles in Gegensätze. Heilig und profan, groß und klein, schön und hässlich, die Pole sind unendlich. Setzen wir die Pole in Gegensätze, erleben wir z. B. klein nicht als klein, sondern nur im Gegensatz zu groß. Damit kann klein nie groß sein. Das ist jedoch nicht das Leben. Klein als wirklich klein zu erleben, heißt klein in seiner wahren Größe zu erleben. Im Shinjinmei4 wird diese Haltung deutlich. Dort heißt es: »Wo weder Vorliebe noch Abneigung, ist alles offen und klar.«

Unser Verstand setzt uns da Grenzen, er lebt in Gegensätzen. Sie aufzuheben bedeutet, das Vergleichen unseres Intellektes zu durchbrechen.

Dies versucht Jôshû bei dem Mönch. Er will ihn aus dem unterscheidenden Geist von Hund und Mensch, von Buddha-Natur und keine Buddha-Natur reißen. Jôshû ruft »MU«.

Im MU gibt es keinen Gegensatz.

Einfach nur MU.

Das ist die Übung mit MU.

Der Augenblick ist Mu!

Das ist leicht gesagt.

Wie können wir unsere gegensätzlichen Gedanken loslassen?

In der Einleitung habe ich schon darauf hingewiesen, dass die Konzentration auf einen Punkt ein wichtiger Einstieg ist. MU wird zu unserem Fokus. Wir lassen unserem Denken keine Chance abzuschweifen. Alles, was ich wahrnehme, wird zu MU. Alles, was ich berühre, ist MU. Es wird bald ein Druck in uns entstehen. Wir nehmen dem Denken alle Möglichkeiten, den Dingen irgendeinen anderen Sinn zu geben außer MU. Wir können sie nicht mehr in ein Schema einordnen außer MU, ihnen keinen sinnvollen Bezug in unserem Leben geben außer MU. Das bedrängt uns. Unser Geist gerät vielleicht in Angst und Verzweiflung.

Diese Verzweiflung und dieser Druck sind, so verrückt es klingen mag, die besten Voraussetzungen dafür, die Gedanken loszulassen und in den Augenblick zu kommen.

Unserem Denken keine Chance lassen, sich etwas anderem zuzuwenden, damit zwingen wir es, Vergleiche aufzugeben. Wir lassen ihm nichts, woran es sich halten könnte außer MU.

Identifizieren wir uns mit unseren Gedanken, taucht unser Ego auf. »Ich denke, dass …, Ich glaube, dass … usw. Lassen wir nicht einen solchen Gedanken zu, stirbt unser Ego, wir werden zu Nichts. Wir werden zu MU … Nichts. Nichts, ruft Jôshû. Sei MU. Es ist wie ein Sterben.

Wir werden zu Nichts, und doch erfahren wir gleichzeitig: wir sind alles.

Nichts sein und gleichzeitig alles sein.

Dies ist nur zu erleben, nicht zu denken.

Hören wir daher auf, darüber nachzudenken. Unser Kopf kann es nicht klären.

Darin besteht die Übung: MU zu sein, das Jetzt zu sein. Dieser Atemzug, dieser Schritt, dieser Moment, dieses MU.

Seien wir der Augenblick. Leben wir darin unser wahres Sein, das Leben und Tod umfasst.

Wenn wir nicht festhalten am Leben im Gegensatz zum Tod, sind Leben und Tod zwei Pole, doch keine Gegensätze. In beiden drückt sich das Eine aus.

Die Wirklichkeit ist Eine. Unserem Denken jedoch ist nur die Welt der gegensätzlichen Phänomene zugänglich.

Ziehen wir unsere Bewertungen zurück, wie wir das in unserer Übung praktizieren, zeigt sich der Moment, in dem sich die Einheit auftut. Wir erkennen im Augenblick das alles umfassende Sein. Jedes Phänomen wird zum Vollzug des Einen, in allem erweist sich das Absolute. Daher ist die Übung: alles zu MU werden zu lassen, in allem Mu zu spüren, ihm nachzulauschen. Egal, was wir berühren, egal, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, wir lassen die Bewertung weg, werden eins mit dem Augenblick.

Die Übung ist nichts anderes, als da zu sein. Alle bewertenden Gedanken werden durch MU abgeschnitten. Wir werden zu MU, zu MU, nur MU.

Alles – Nichts

eine Wirklichkeit

Hier ist das Leben

Jetzt ist das Leben

Alles MU

Kaum ein Wort ist im Zen mehr missverstanden worden als dieses Wort MU. Es wurde mit Nichts übersetzt, und damit sofort mit dem Nihilismus in Verbindung gebracht. Das Nichts wurde zum Sinnlosen.

Doch dieses Nichts im Zen hat nichts mit unserem westlich verstandenen Nichts zu tun. Das Nichts entzieht sich unserem Intellekt. Es wird im Moment, in dem wir alles zu Nichts werden lassen, zu Allem. Das allumfassende Sein, das durch nichts definiert werden kann, tut sich auf. Das Nichts wird zum Absoluten. Nichts wird Alles. Es gibt keine Gegensätze mehr.

ZU NICHTS WERDEN

Einmal kam ein Herr zu mir ins Gespräch, der in Japan lebte und dort von einem Zen-Meister die Übung des MU bekam. Er übte, doch hatte er das Gefühl, nicht wirklich »voranzukommen«. Er verstand nicht, was es mit dem MU